Sophienlust 113 – Familienroman - Judith Parker - E-Book

Sophienlust 113 – Familienroman E-Book

Judith Parker

5,0

Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Pünktchen warf noch einen letzten Blick auf das Fohlen, das mit tollpatschigen Sprüngen über die Koppel zu der Mutterstute galoppierte. Dann folgte sie Nick. "Es ist das schönste Fohlen, das ich jemals gesehen habe", stellte sie begeistert fest und strich sich eine rotblonde Strähne aus der Stirn. Das war ein unsinniges Unterfangen, weil der Wind ihr die Haare immer wieder ins Gesicht blies. Dominik von Wellentin-Schoenecker, ein ungefähr fünfzehnjähriger bildhübscher Junge mit sehr dunklen Augen und schwarzen lockigen Haaren, nickte. "Ja, der kleine Hengst Pollux ist etwas ganz Besonderes. Er wird bestimmt ein wunderschönes Pferd werden. Das Schöne ist, dass ich Pollux vom ersten Augenblick seines Lebens an kenne. Ich glaube, er weiß das auch. Wenn er mich kommen hört, läuft er mir entgegen."

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Sophienlust –113–

Mit Vati wäre unser Glück erst richtig vollkommen

Roman von Judith Parker

Pünktchen warf noch einen letzten Blick auf das Fohlen, das mit tollpatschigen Sprüngen über die Koppel zu der Mutterstute galoppierte. Dann folgte sie Nick.

»Es ist das schönste Fohlen, das ich jemals gesehen habe«, stellte sie begeistert fest und strich sich eine rotblonde Strähne aus der Stirn. Das war ein unsinniges Unterfangen, weil der Wind ihr die Haare immer wieder ins Gesicht blies.

Dominik von Wellentin-Schoenecker, ein ungefähr fünfzehnjähriger bildhübscher Junge mit sehr dunklen Augen und schwarzen lockigen Haaren, nickte. »Ja, der kleine Hengst Pollux ist etwas ganz Besonderes. Er wird bestimmt ein wunderschönes Pferd werden. Das Schöne ist, dass ich Pollux vom ersten Augenblick seines Lebens an kenne. Ich glaube, er weiß das auch. Wenn er mich kommen hört, läuft er mir entgegen.«

Nick lächelte seine kleine Freundin, die mit vollem Namen Angelina Dommin hieß, an. Für ihn würde sie wohl immer Pünktchen bleiben. Kein Mensch hatte gewusst, wer sie war, woher sie kam und wie sie hieß, als er sie als kleines Mädchen von der Straße aufgelesen hatte. Wegen ihrer vielen Sommersprossen hatte er sie damals kurz entschlossen Pünktchen genannt. Dieser Name war ihr bis jetzt geblieben.

»Ich möchte auch einmal ein so hübsches Pferd haben«, erklärte Pünktchen und lächelte verträumt. »Weißt du, eine ganz schwarze Stute, die nur mir allein gehört.«

»Eines Tages schenke ich dir eine Rappenstute«, versprach Nick fest. »Wenn wir Diana von dem Rappen Berber decken lassen, könnte ein solches Fohlen geboren werden«, überlegte er. Dann blickte er auf seine Armbanduhr. »Wir müssen uns beeilen, Pünktchen, damit wir pünktlich zum Mittagessen in Sophienlust sind. In einer Viertelstunde wird gegessen. Komm!«, rief er und fasste impulsiv nach ihrer Hand, die sie ihm nur zu gern überließ.

Es war ein reizendes Bild, als der schwarzhaarige große Junge und das zierliche Mädchen mit den halblangen rotblonden Haaren und den strahlenden blauen Augen Hand in Hand den Weg ins Tal hinunterliefen, wo das Herrenhaus von Sophienlust stand, das Heim der glücklichen Kinder. Dort fanden alle Kinder, die Hilfe benötigten, einen sicheren Zufluchtsort.

Plötzlich blieb Pünktchen mit einem Ruck stehen. »Sieh nur, Nick, dort radeln Leute durch unsere schöne blühende Wiese. Dabei darf doch kein Mensch um diese Jahreszeit dort mit dem Rad fahren«, empörte sie sich.

»Wirklich! Das ist eine Gemeinheit!«, rief Nick. »Aber denen werde ich Bescheid sagen«, erklärte er energisch. »Komm, Pünktchen.« Er schlug bereits den Wiesenweg ein und blickte den vier Radlern entgegen.

Ein ungefähr vierzehnjähriges Mädchen mit rückenlangen mittelblonden Haaren, einem himbeerroten Blüschen und Blue Jeans radelte neben einem jungen Mann mit schwarzen lockigen Haaren, einem leuchtend blauen Hemd und einer ebenfalls blauen Hose sorglos durch das kniehohe Gras, zwischen dem Wiesenschaumkraut, Hahnenfuß und schon verblühter Löwenzahn wuchsen. Den beiden folgten zwei etwas jüngere blondhaarige Kinder, ein Junge und ein Mädchen.

Als die vier noch ungefähr zwei Meter von ihm entfernt waren, stellte Nick sich ihnen mit ausgebreiteten Armen in den Weg und rief: »Stehenbleiben!«

Verwundert stiegen die vier von ihren Rädern. »Was willst du denn?«, fragte der junge Mann etwas von oben herab.

»Hier ist das Radfahren verboten. Habt ihr denn nicht das Verbotsschild gelesen? Ich finde, es ist eine Unverschämtheit von euch, einfach mitten hinein in die Wiese zu fahren. Mit euren Rädern tötet ihr Käfer, Bienen und vielleicht auch junge Vögel. Aber ihr von der Stadt habt ja kein Gefühl für die Kreatur«, schimpfte er weiter. »Ihr kommt wie Horden angefahren und zerstört gedankenlos die Natur.«

»Mensch, spiel’ dich bloß nicht so auf«, erwiderte der junge Mann verärgert. »Du tust ja gerade so, als gehöre dir das hier alles. Wir haben es eilig.«

»Bitte, Gerhard, es hat doch keinen Sinn, dass du dich mit diesem Jungen anlegst«, rief nun das Mädchen mit der roten Bluse.

Auch Pünktchen war inzwischen angekommen. Fast feindselig blitzte sie den unverschämten jungen Mann an. »Das alles gehört Nick. Er ist der Erbe von Sophienlust und heißt Dominik von Wellentin-Schoenecker«, fügte sie triumphierend hinzu.

»Bitte, seid friedlich«, ergriff rasch wieder das hübsche Mädchen mit den rückenlangen blonden Haaren das Wort. »Es ist nämlich so …«

»Ja, Ilka hat sich den Fuß bei einem Sturz vom Rad bös verstaucht«, unterbrach sie der junge Mann. »Wir wollten zur nächsten Behausung, um ihn dort bandagieren zu lassen, damit wir weiterradeln können.« Sein Ton war inzwischen um einige Grade freundlicher geworden. »Wenn das wirklich dein Besitz ist, dann bitte ich dich im Namen meiner Begleiterin um Verzeihung.«

Nick brummelte etwas vor sich hin. Schließlich war er kein Unmensch und hielt es stets für seine Pflicht, zu helfen, wo Hilfe nötig war.

Pünktchen dachte genauso und stieß Nick an. Die Blicke der beiden trafen sich in vollem Einverständnis. Dann sagte Nick: »Also gut, dann kommt mit zu uns. Dort vorn liegt gleich Sophienlust. Wir haben auch ein Erste-Hilfe-Zimmer. Und unsere Kinderschwester Regine ist auch Krankenschwester.«

»Oh, da danke ich dir sehr!«, rief Ilka und machte ein recht wehleidiges Gesicht.

Pünktchen wurde auf einmal misstrauisch. Sie hatte doch vorhin gesehen, dass das Mädchen fröhlich gelacht hatte und auch fest ins Pedal getreten war. Aber vielleicht hatte sie sich getäuscht?

Wie meist in solchen Fällen siegte Pünktchens Hilfsbereitschaft. »Soll ich dir aufs Rad helfen?«, fragte sie freundlich.

»Ich werde das Rad bis zum Haus schieben«, entgegnete Ilka. Sie humpelte auffällig und verzog ihr Gesicht schmerzhaft.

Ungefähr fünf Minuten später erreichten die sechs jungen Leute Sophienlust.

»Wir haben Glück!«, rief Nick. »Unsere Hausärztin, Frau Dr. Frey, ist gerade da. Ach ja, Heidi hatte heute Morgen Halsschmerzen. Hoffentlich sind sie nicht schlimmer geworden.«

»Ja, da steht tatsächlich das Auto von Frau Dr. Frey«, bestätigte Pünktchen. »Komm, Ilka, ich helfe dir die Treppe hinauf.«

»Lass uns das lieber machen«, schlug Nick vor und nickte dem jungen Mann auffordernd zu.

Ilka stöhnte ganz entsetzlich, als sie zwischen den beiden mühsam die Stufen der Freitreppe hinaufstieg.

»Nanu, was ist denn geschehen?«, rief die Heimleiterin, Frau Rennert, die gerade aus dem Portal trat.

»Das ist Ilka«, stellte Pünktchen das Mädchen vor. »Sie hat sich den Fuß verknackst. Ein Glück, dass Frau Dr. Frey da ist.«

»Dann komm nur herein, mein Kind«, bat Frau Rennert gütig.

»Ich heiße Ilka Breitenfels«, stellte sich das Mädchen nun vor. »Und das sind meine Freunde. Wir wollten zur nächsten Jugendherberge, um uns dort mit anderen Freunden zu treffen.«

»Ja, und wir möchten auch gleich weiterradeln«, erklärte der junge Mann und nannte nun ebenfalls seinen Namen. »Ich heiße Gerhard Kümmel.«

»Gerhard, radelt nur voraus«, bat Ilka. »Ich komme nach, sobald ich mich etwas besser fühle. Ihr müsst auf alle Fälle fahren, denn sonst warten unsere Freunde vergeblich auf euch.«

»Gut, Ilka, das werden wir tun.« Der junge Mann nickte. Dann verabschiedeten sich die drei und schwangen sich wieder auf ihre Räder.

Ilka stieß einen fast erleichterten Seufzer aus, als ihre Freunde die Auffahrt hinunterradelten und durch das große schmiedeeiserne Tor fuhren. Dann setzte sie ihren Weg mit Hilfe von Nick und Frau Rennert fort. Endlich waren die Stufen der Freitreppe überwunden.

Voller Mitleid richteten sich viele Augenpaare auf das humpelnde Mädchen, als es die Halle betrat. Denn die meisten Kinder von Sophienlust waren gerade auf dem Weg zum Speisesaal gewesen.

»Das ist Ilka Breitenfels«, übernahm Nick die Vorstellung. »Sie hat sich den Fuß verstaucht.«

»Guten Tag, Ilka«, begrüßte man sie nun von allen Seiten.

Das Mädchen war sehr beeindruckt von der Freundlichkeit der fremden Kinder, aber auch von der großen Halle mit dem offenen Kamin, vor dem ein Bärenfell lag. Der große Raum mit dem Tisch, dem hochlehnigen Sofa und den bequemen, mit braunem Leder bezogenen Sesseln sowie den Gemälden in den breiten vergoldeten Rahmen erinnerte sie sehr an ihr Elternhaus, zu dem ein großes Gut am Ammersee gehörte.

Nun erschien Nicks Mutter, Denise von Schoenecker, die Sophienlust bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes verwaltete und viele Stunden hier verbrachte. Sie lebte mit ihrem zweiten Mann, Alexander von Schoenecker, auf dessen Gut Schoeneich, das nur wenige Kilometer von Sophienlust entfernt lag. Die beiden Güter waren durch eine Schnellstraße verbunden.

In Denises Begleitung befand sich eine hübsche junge Frau mit hochgesteckten blonden Haaren und gütigen dunkelbraunen Augen.

»Frau Doktor, wir haben Ihnen eine Patientin mitgebracht!«, rief Pünktchen und reichte der jungen Ärztin die Hand.

Ilka lächelte etwas unsicher, als sie die beiden Damen begrüßte. Auf einmal empfand sie so etwas wie Furcht und auch Beschämung.

Im Erste-Hilfe-Zimmer untersuchte Frau Dr. Frey Ilkas Fuß eingehend. »Tut es hier weh?«, fragte sie mehrmals.

Ilkas Antworten kamen etwas zu schnell und waren recht unsicher.

»Es ist keine Schwellung da. Auch ist nichts gebrochen. Schwester Regine, fühlen Sie doch mal«, bat die Ärztin dann die Kinderschwester, die in solchen kleinen Verletzungen ebenfalls genügend Erfahrungen gesammelt hatte.

»Auch ich kann nichts fühlen«, bemerkte Schwester Regine kopfschüttelnd.

Denises dunkle Augen richteten sich mit einem verstehenden Lächeln auf Ilka. Das trieb diese zu einem Geständnis. Mit vor Verlegenheit hochroten Wangen sagte sie leise: »Bitte, seien Sie mir nicht böse, weil ich Ihnen allen so viel Mühe gemacht habe. Denn ich habe …, ja, ich habe geschwindelt. Mir fehlt nichts. Ich habe auch den anderen ein Theater vorgemacht. Sind Sie mir nun sehr böse?«, fragte sie und sah dabei nur Denise an, zu der sie schnell Vertrauen gefasst hatte.

Nick, der still an der Tür gestanden und alles genau beobachtet hatte, stieß einen kleinen empörten Ruf aus. Doch seine Mutter verwarnte ihn mit einem Blick, worauf er den Mund hielt.

»Warum hast du uns allen eine Verstauchung vorgespielt?«, fragte Denise gütig. »Du musst doch einen Grund dafür gehabt haben.«

»Ja, den habe ich auch. Ich stamme von einem Gut am Ammersee«, berichtete Ilka beschämt. »Aber ich wollte mich von den anderen trennen. Ich hatte diesen Ferientrip zu viert satt. Darf ich für ein paar Tage hierbleiben? Ich zahle auch. Ich …«

»Darüber sprechen wir später«, erwiderte Denise. »Natürlich kannst du dableiben. Wir haben noch ein Bett frei.«

»Bei Irmela im Zimmer, nicht wahr?«, fragte Pünktchen sofort, die es draußen nicht mehr ausgehalten hatte und ebenfalls ins Erste-Hilfe-Zimmer gekommen war.

»Ja, Pünktchen, in Irmelas Zimmer. Wie alt bis du, Ilka?«

»Ich bin im vorigen Monat vierzehn geworden.«

»Dann bist du fast genauso alt wie Irmela Groote, Ilka. Herzlich willkommen in Sophienlust«, sagte Denise und streckte dem Mädchen die Hand entgegen.

»Dann sind Sie mir alle nicht mehr böse?« Ilka atmete tief auf. »Sie sind alle so lieb. Es gefällt mir großartig hier«, erklärte sie impulsiv und erwiderte Denises Händedruck fest.

Frau Dr. Anja Frey lachte plötzlich herzlich. »Ich wünschte, ich hätte immer so gesunde Patienten. Aber nun muss ich mich beeilen.« Sie verabschiedete sich und verließ, von Schwester Regine begleitet, das Zimmer.

»Es gongt schon zum zweitenmal«, stellte Frau Rennert fest. »Ihr wisst, unsere gute Magda kann sich blau und grün ärgern, wenn sie das Essen lange warmhalten muss.«

»Magda ist unsere Köchin«, klärte Pünktchen Ilka auf, die ihr sehr gefiel. Sicherlich würden sie schnell Freundinnen werden.

»Das wird Ilka noch alles erfahren«, meinte Nick. »Kommt jetzt in den Speisesaal«, forderte er sie dann auf.

Ilka folgte den beiden in den Speisesaal, wo die Kinder schon an den Tischen saßen. Als sie erfuhren, dass Ilka Breitenfels für unbestimmte Zeit in Sophienlust bleiben würde, waren sie hell begeistert.

Ilka nahm zwischen Pünktchen und Irmela Groote Platz. Irmela war ein ähnlicher Typ wie Ilka. Auch sie hatte langes blondes Haar und blaue Augen und war genauso groß und schlank.

»Man könnte euch für Schwestern halten«, stellte die elfjährige Angelika Langenbach fest, die ebenfalls zu den Dauerkindern von Sophienlust gehörte.

»Das stimmt«, pflichtete Pünktchen ihr bei. Heimlich bedauerte sie, dass sie noch nicht so groß wie die beiden Mädchen war, denn sie neigte sehr zur Eifersucht. Besonders Nick gegenüber, den sie wie keinen anderen Menschen liebte. Aber trotz ihrer jungen Jahre war ihr bereits klar, dass er ihr wohl niemals ganz allein gehören würde. Sein Schicksal war schon jetzt mit dem vieler anderer Menschen verbunden, und so würde es wohl immer bleiben.

Die Kinder waren an diesem herrlichen Sommertag besonders fröhlich gestimmt, denn es war der vierte Tag ihrer großen Sommerferien. Davon wurden auch die Erwachsenen angesteckt, obwohl es für sie alle Hände voll zu tun gab. Das Kinderheim war voll belegt, und zwanzig Kinder brachten viel Arbeit mit sich. Aber es war eine lohnende Aufgabe, die den Betreuern tiefe Befriedigung schenkte.

Ilka fühlte sich sehr wohl in dieser fröhlichen Gemeinschaft. Sie bereute es keinen Augenblick, sich mit einem Schwindel hier eingeschlichen zu haben. Doch plötzlich dachte sie daran, was sie zu diesem Schwindel getrieben hatte. Ein Schatten fiel über ihr Gesicht.

Gleich nach dem Essen zeigten die Kinder Ilka das Herrenhaus. Obwohl diese schon halb erwachsen war, freute sie sich doch wie ein kleines Mädchen beim Anblick des Papageien Habakuk, dessen umfangreicher Wortschatz ihr Zwerchfell zum Lachen reizte.

Schließlich befand sie sich in dem Zimmer, das sie von nun an mit Irmela teilen würde. Etwas bedenklich blickte sie auf die Sachen, die sie aus ihrem Rucksack zog. Ihre ganze Garderobe bestand momentan aus einem ziemlich zerdrückten Sommerkleid mit einem bunten Blumenmuster, zwei Blue Jeans, einigen Pullis, zwei bügelfreien Blusen und Unterwäsche. Dazu gehörte auch ein Schlafanzug und ein Nachthemd. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich hier landen würde«, stellte Ilka seufzend fest. »Darum habe ich auch nicht mehr dabei.«

»Mach’ dir wegen deiner Garderobe keine Sorgen.« Irmela trat an ihren Schrank und öffnete ihn. »Ich habe Sachen in Mengen. Weißt du, meine Mutter lebt in Bombay. Dort ist sie zum zweitenmal verheiratet. Anfangs mochte ich meinen Stiefvater nicht besonders. Aber nun verstehen wir uns ganz gut. Meine Mutter schickt mir viele Sachen aus Indien. Sie hätte es lieber, wenn ich zu ihr käme. Aber ich mag nicht. Ich bin viel lieber hier in Sophienlust, wo ich eine deutsche Schule besuchen kann. Ich möchte Medizin studieren und später Kinderärztin werden.«

»Toll. Ich weiß noch nicht, was ich werden möchte. Am liebsten lebe ich auf dem Land. Vielleicht heirate ich einmal einen Mann, der sich ebenfalls für die Landwirtschaft interessiert.«

»Leben deine Eltern noch?«, fragte Irmela.

»Ja«, antwortete Ilka leise. »Aber meine Mutter bewirtschaftet unser Gut allein.«

»Und dein Vater?« Irmela sah sie neugierig an. »Hat er einen anderen Beruf?«

»Irmela, weißt du, ich mag eigentlich jetzt nicht darüber reden«, wich Ilka aus. Dabei verdunkelte sich ihr Blick.

»Ich verstehe«, erwiderte Irmela. »Ich glaube, fast alle Kinder haben irgendwelche Probleme mit ihren Eltern. Ja, manchmal ist das Leben wirklich nicht einfach.« Sie seufzte leise auf und stellte von diesem Tag an keine Fragen mehr nach Ilkas Vater. Auch die anderen Kinder hatten schnell begriffen, dass Ilka irgendeinen Kummer mit sich herumtrug.

*

Bereits am dritten Tag trennte sich Ilka von den Kindern und schlug die Richtung nach Schoeneich ein. Von Weitem betrachtete sie mit sehnsüchtigen Augen das Wohnhaus des Gutes Schoeneich, das mitten in einem großen Park lag. Der schlossähnliche Bau mit dem Turm schien sie zu faszinieren. Aber sie wagte es nicht, weiterzugehen. Vor dem Parktor machte sie kehrt und eilte nach Sophienlust zurück.

»Findet ihr nicht, dass Ilka manchmal komisch ist?«, fragte Pünktchen, nachdem sich Ilka an einem Nachmittag wieder von ihnen getrennt hatte. »Sie sieht oft so traurig aus. Dabei kann sie doch so lustig sein.«

»Ich habe das Gefühl, dass sie großen Kummer mit ihrem Vater hat.« Angelika strich dem Bernhardiner Barri gedankenverloren über den Kopf. »Aber sie hat wenigstens noch Eltern.«

Pünktchen nickte: »Ja, das hat sie. Irmela, hat sie dir denn nichts über ihre Familienverhältnisse erzählt? Ihr schlaft doch in einem Zimmer. Am Abend, wenn alles still ist, hat man oft das Bedürfnis, jemandem sein Herz auszuschütten.«

»Gleich am ersten Tag hat mir Ilka ausweichende Antworten gegeben, so dass ich schnell begriffen habe, dass sie nichts erzählen will.«

Aber nicht nur den Kindern fiel auf, dass Ilka sich oft in der Nähe von Schoeneich herumtrieb. Auch Alexander sagte eines Abends zu seiner Frau: »Denise, ich kann mir nicht recht vorstellen, was das Mädchen immer wieder hierhertreibt.«

»Ich auch nicht. So aufgeschlossen Ilka sonst ist, so verschlossen ist sie, wenn man sie nach ihren Familienverhältnissen fragt.« Denise lehnte sich bequemer zurück und griff nach ihrem Weinglas. Es war die Abendstunde, in der sie mit ihrem Mann allein war, so dass sie ungestört über die Erlebnisse des Tages sprechen konnten. Nick und Henrik waren bereits zu Bett gegangen, das Personal hatte sich ebenfalls schon zurückgezogen.

Durch die offenen Fenster der Wohnhalle wehte die linde Abendluft und blähte die Vorhänge leicht auf.

Alexander zündete sich seine Pfeife an. Dann fragte er: »Weiß denn Ilkas Mutter, dass ihre Tochter in Sophienlust ist?«

»Ja, Ilka hat erst gestern mit ihr telefoniert. Frau Breitenfels scheint nichts dagegen zu haben, dass Ilka sich von ihren Freunden getrennt hat und nun bei uns ist. Ilka sagte mir, sie werde einen Scheck schicken. In dieser Beziehung scheint alles in Ordnung zu sein.«

»Vielleicht hat es ihr unser altes Haus angetan«, überlegte Alexander und zog dann genießerisch an seiner Pfeife.

»Mag schon sein, mein Lieber. Bist du mit Herrn Aspern zufrieden?«

»Ja, sehr. Er ist ein tüchtiger Verwalter. Trotzdem kann ich mich nur schwer daran gewöhnen, dass jemand da ist, der mir die meiste Arbeit abnimmt. Bisher habe ich die Arbeit auch ohne Hilfe bewältigt.«

»Sei doch froh, dass du einen so zuverlässigen Mann gefunden hast«, hielt Denise ihm vor. »Auf diese Weise hast du mehr Zeit für dein Privatleben. Wir können jetzt mehr beisammen sein und auch unsere Morgenritte viel länger ausdehnen. Außerdem wird dir die Arbeit nie ausgehen. Oder hast du den Berg Briefe und Rechnungen auf deinem Schreibtisch vergessen?«, neckte sie ihn.

»Na ja, von dieser Seite aus betrachtet muss ich wohl mit meinem jetzigen Los zufrieden sein. Aber du wirst noch erleben, dass ich ein wohlbeleibter Landwirt werde«, stellte er lachend fest.

»Du und dick!«, rief sie fröhlich. »Niemals! Du hast keine Anlage dafür.«

»Und du auch nicht, mein Liebes.« Verliebt lächelte er sie an.

*

Aber auch dem Verwalter von Schoeneich, Dietrich Aspern, war das Mädchen aufgefallen, das sich täglich in der Nähe des Gutshauses herumtrieb. Er hatte es allerdings bisher nur von Weitem gesehen und konnte sich ebenso wie die anderen keinen Reim darauf machen, weshalb das Mädchen so großes Interesse an Schoeneich hatte.