Sophienlust 122 – Familienroman - Judith Parker - E-Book

Sophienlust 122 – Familienroman E-Book

Judith Parker

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Beschreibung

Denise von Schoenecker verwaltet das Erbe ihres Sohnes Nick, dem später einmal, das Kinderheim Sophienlust gehören wird. Die beiden sind echte Identifikationsfiguren. Dieses klare Konzept mit seinen beiden Helden hat die zu Tränen rührende Romanserie auf ihren Erfolgsweg gebracht. Joschi Wilke wusste genau, was ihn daheim erwartete, wenn er nicht pünktlich zum Mittagessen erschien. Aber das war ihm momentan gleichgültig. Wenn er an das Gezeter seiner Tante Anna dachte, stieg Unmut in ihm hoch. Und Onkel Fritz tat stets das, was seine Frau wollte. Auch er machte ihm ständig ungerechte Vorwürfe. Bruno war jedoch noch gemeiner zu ihm. Sein Vetter schikanierte ihn bei jeder Gelegenheit.

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Sophienlust –122–

Nirgends bin ich zu Hause

Roman von Judith Parker

Joschi Wilke wusste genau, was ihn daheim erwartete, wenn er nicht pünktlich zum Mittagessen erschien. Aber das war ihm momentan gleichgültig. Wenn er an das Gezeter seiner Tante Anna dachte, stieg Unmut in ihm hoch. Und Onkel Fritz tat stets das, was seine Frau wollte. Auch er machte ihm ständig ungerechte Vorwürfe. Bruno war jedoch noch gemeiner zu ihm. Sein Vetter schikanierte ihn bei jeder Gelegenheit.

Nein, es gefiel ihm gewiss nicht in der engen Mietwohnung des alten Hauses in der Maibacher Hauptstraße, und deshalb würde er es heute einmal darauf ankommen lassen, dachte Joschi aufsässig. Es war ja Sonnabend, der Tag, an dem er nachmittags nicht im Gemüseladen arbeiten musste. Neulich hatte jemand gesagt, es sei eine Schande, dass seine Verwandten ihn zum Arbeiten schickten, obwohl seine Eltern ihm ein kleines Erbe hinterlassen hätten. Vom Vormundschaftsgericht bekämen sein Onkel und seine Tante das Unterhaltsgeld monatlich für ihn überwiesen.

Andere Jungen mit zehn Jahren konnten nachmittags spielen. Aber er musste jeden Wochentag gleich nach der Schule zum Gemüsehändler gehen und arbeiten. Erst abends hatte er Zeit für seine Schularbeiten. Und seinen Verdienst musste er voll und ganz seiner Tante abliefern. Wenn er woanders leben könnte, würde er nie mehr zu seinen Verwandten zurückkehren.

Tränen schossen in die dunklen Jungenaugen. Manchmal war Joschi schrecklich unglücklich, sodass er am liebsten geweint hätte. Dabei war er früher so glücklich gewesen, als seine Eltern noch gelebt hatten. Vor zwei Jahren hatte er seinen Vater durch einen Betriebsunfall verloren, und seine Mutter war bald darauf ebenfalls gestorben. Die Leute sagten, an gebrochenem Herzen.

Joschi erreichte das Ortsende von Maibach. Von dort führte ein schmaler Pfad mitten durch eine saftig-grüne Wiese zum Waldrand. Im Wald aber befand sich eine Lichtung, auf der er vor Kurzem Rehe gesehen hatte. Man musste nur still stehen bleiben, dann konnte man sie von ganz nahe sehen. Vielleicht würde auch das Rehkitz wieder da sein. Vor einer Woche hatte es noch unsicher auf seinen staksigen langen Beinen gestanden. Seine Mutter hatte es zärtlich abgeleckt.

Ganz warm wurde es dem Jungen ums Herz bei dem Gedanken an die Rehe. Der schwermütige Ausdruck wich aus seinen Augen, als er mit dem Wind, der das hohe Gras spielerisch niederstrich, um die Wette lief. Er war noch in dem glücklichen Alter, in dem man schnell vergaß und sich über alles Schöne freuen konnte. Wie die meisten Jungen hatte er die Bücher von Karl May mit Begeisterung gelesen. Nun versuchte er sich genauso wie die Indianer in den Büchern lautlos anzuschleichen, um die Rehe nicht zu verscheuchen. Als er die Lichtung vor sich liegen sah, hielt er den Atem an und blickte über die von den Sonnenstrahlen überflutete Stelle. Aber kein einziges Reh war zu sehen.

Joschi war sehr enttäuscht, weil er fest überzeugt gewesen war, wieder Rehe anzutreffen. Doch plötzlich stutzte er. Was war denn das? Auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung schimmerte etwas Rotes. Ein Stück Papier? Nein, es sah eher aus wie ein Stück Stoff.

Und dann zuckte der Junge wie unter einem Schlag zusammen, als er nackte Kinderbeine erblickte. Er sprang auf und lief zu dem Dornenstrauch, unter dem ein kleines Mädchen in einem roten Kleid zusammengekrümmt lag. Ganz übel wurde ihm bei diesem Anblick. Blut sickerte dem Kind aus einer Kopfwunde und verklebte das hellblonde Haar. Die Augen in dem bleichen Gesichtchen waren fest geschlossen.

Joschi berührte die Kleine vorsichtig, aber sie bewegte sich nicht. Dann tastete er über ihre nackten Beine. Sie fühlten sich ganz kalt an. Auch ihm wurde ganz kalt vor Angst. Vielleicht war das kleine Mädchen tot?

»Was haben sie dir nur getan?«, fragte Joschi verzweifelt. Er hockte sich nieder, presste sein Ohr auf die Brust des Mädchens und horchte. Aber er konnte nicht hören, ob das kleine Herz noch schlug, weil sein eigenes Herz so laut hämmerte.

Panik erfasste ihn. »Was mache ich nur?«, fragte er sich. Dabei rollten Tränen über sein Gesicht. Ich muss Hilfe holen, dachte er dann. Vielleicht ist es noch nicht zu spät? Vielleicht kann man das kleine Mädchen ja noch retten?

Joschi zog die zarte Kindergestalt auf ein weiches Moosstück und deckte sie mit seiner grob gestrickten Wolljacke zu. »Ich komme gleich wieder«, flüsterte er benommen und betrachtete noch einmal das stille Kindergesicht. »Ich muss dich allein lassen, kleines Mädchen«, fuhr er fort und erschrak vor seiner eigenen Stimme. Bis zur Straße ist es ja nicht weit, dachte er, als er losrannte.

Außer Atem erreichte er die Landstraße. Schon von weitem erblickte er ein Auto. Voller Aufregung winkte er, aber der Wagen fuhr an ihm vorbei. Ein zweiter kam, ein dritter. Doch keiner hielt an.

Joschi wischte sich die Tränen immer wieder fort. Was sollte er nur tun? Wieder zurücklaufen zu der Lichtung?

Mit diesen Gedanken sprang Joschi von dem Baumstumpf, auf den er sich gesetzt hatte, auf und jagte zu der Lichtung zurück. Schon von weitem erblickte er das Kind. Es lag noch immer bewegungslos auf dem weichen Moos, zugedeckt mit seiner Jacke.

Auf keinen Fall durfte er das kleine Mädchen noch einmal hier allein zurücklassen, überlegte der Junge. Er nahm das Kind auf seine Arme. Niemals hätte er gedacht, dass ein Kind so schwer sein könnte. Raschelte es da nicht im Unterholz?

Der Schweiß rann Joschi übers Gesicht, als er mit seiner Last förmlich floh.

Keuchend, über Baumwurzeln stolpernd, immer wieder angstvoll in das leichenblasse Kindergesicht blickend, schleppte Joschi sich durch den Wald. Als er endlich die Landstraße erreicht hatte, weinte er vor Erleichterung. Völlig erschöpft bettete er den schlaffen Kinderkörper ins hohe Gras am Straßenrand. »Sie ist bestimmt tot«, flüsterte er, weil die Kleine noch immer kein Lebenszeichen von sich gab.

Im gleichen Augenblick hielt ein Auto, und eine noch junge Frau mit hochgesteckten mittelblonden Haaren stieg aus. »Um Gottes willen, was ist geschehen?«, fragte sie entsetzt. Dabei richteten sich ihre dunkelbraunen Augen zuerst auf das kleine Mädchen und dann auf den völlig verstörten Joschi.

Der Junge brachte vor Aufregung kein Wort über die Lippen.

»Ist das Kind gestürzt?«, fragte die junge Frau und kniete sich nieder. »Die Kopfwunde sieht böse aus.«

»Ist sie tot?« Joschi sah die Unbekannte verzweifelt an.

»Nein, sie lebt, aber sie muss sofort ins Krankenhaus gebracht werden. Wie heißt du?«

»Josef Wilke. Aber alle nennen mich Joschi. Ich habe das Mädchen im Wald bei der Lichtung gefunden. Ich …«

»Dann komm. Ich bin Ärztin, mein Junge.«

»Dann können Sie ihr bestimmt helfen.« Ein Aufatmen ging durch Joschis Körper, aber noch immer lief ihm der Schweiß übers Gesicht.

»Ein wenig. Wir bringen die Kleine sofort ins Krankenhaus.« Behutsam hob Frau Dr. Anja Frey den leichten Kinderkörper hoch und bettete ihn auf den hinteren Sitz. »Steig auch hinten ein, Joschi. Halte ihren Kopf. Kennst du das kleine Mädchen?«, fragte sie.

»Nein.« Joschi musste plötzlich wieder weinen. Der Schock war doch zu groß gewesen. Mit seinen zehn Jahren war er noch sehr empfindsam und ein echtes Kind. »Ich hatte solche Angst, so schreckliche Angst«, erzählte er leise. »Vielleicht war es ein Verbrecher? Ich …«

»Das wird man alles im Krankenhaus feststellen.« Frau Dr. Frey nickte dem Jungen im Rückspiegel zu. Sie war fast sicher, dass es sich nicht um ein Sittlichkeitsverbrechen handelte. Sie glaubte eher an einen Unfall. Aber wie kam das Kind in den Wald?

»Erzähl mir bitte noch einmal ganz genau, wo du das Mädchen gefunden hast. Das wirst du auch der Polizei erzählen müssen, Joschi.«

»Bei der Lichtung unter einem Dornenstrauch lag es. Ich habe zuerst gedacht, dort liege ein rotes Papier oder ein Stück Stoff. Ich wollte nämlich die Rehe sehen. Aber dann sah ich, dass es ein Kind war.«

»Wir sind da!«, rief die junge Ärztin und fuhr in die Einfahrt des Maibacher Kreiskrankenhauses. Kurz darauf wurde das kleine Mädchen, das sich noch immer nicht rührte, auf eine Bahre gelegt und ins Haus getragen.

Frau Dr. Frey fasste Joschi bei der Hand und folgte den Sanitätern mit der Bahre. »Warte hier«, bat sie und deutete auf eine hellbraune Holzbank. »Ich muss zuerst mit dem Arzt von der Ambulanz sprechen. Danach habe ich Zeit für dich.«

»Ja.« Joschi setzte sich. Noch immer fühlten sich seine Beine ganz taub an, und sein Herz schlug dumpf in der Brust. Wie schrecklich, wenn das Mädchen tot gewesen wäre.

Frau Dr. Frey sprach mit dem Arzt, der das Kind danach untersuchte. »Bis auf die Kopfwunde scheint ihr nichts passiert zu sein«, erklärte er. »Die tiefe Bewusstlosigkeit ist auf eine schwere Gehirnerschütterung zurückzuführen. Die Kleine muss unglücklich gestürzt sein.«

»Und … Ich meine, sonst ist nichts geschehen?«, fragte die Ärztin.

»Sie meinen, ob das Kind missbraucht worden ist? Nein, nichts dergleichen. Ich glaube nicht einmal, dass die Verletzung und die Gehirnerschütterung auf ein Verbrechen zurückzuführen sind. Schwester Sieglinde, sorgen Sie dafür, dass ein Bett auf der Kinderstation vorbereitet wird. Wie heißt die Kleine?«

»Ich habe keine Ahnung, Kollege. Der Junge – er heißt Josef Wilke – hat das Kind im Wald gefunden.«

Der Arzt säuberte die Kopfwunde. »Sie muss noch geröntgt werden«, erklärte er und legte einen provisorischen Verband an.

»Gut, ich werde mich inzwischen bemühen, den Namen des Kindes herauszufinden. Möglicherweise wird es schon gesucht. Am besten wäre es wirklich, sofort die Polizei zu verständigen.«

»Das halte ich auch für das Beste, Kollegin.«

Joschi saß still auf der Bank und wartete. Als die nette Ärztin mit den lieben Augen wieder zurückkam, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Er stand auf und lief ihr entgegen. »Wie geht es ihr?«, fragte er aufgeregt.

»Es ist nicht so schlimm. Sie ist nur noch bewusstlos. Wahrscheinlich ist auch die Kopfverletzung nicht ganz so schlimm. Das Kind muss unglücklich gefallen sein. Wir werden jetzt zusammen zur Polizei fahren und …« Anja Frey unterbrach sich, weil ihr Blick auf einen großen dunkelhaarigen Mann in einem eleganten sandfarbenen Anzug fiel, der an der Schwingtür stehen blieb und sich suchend umblickte. Er machte einen völlig verstörten Eindruck. Deshalb brachte sie ihn sogleich mit dem kleinen verletzten Mädchen in Zusammenhang.

Die Ärztin hatte sich nicht getäuscht. Der Unbekannte kam auf sie zu und sagte: »Ich war bei der Polizei. Auf meinen Wunsch hin hat man von dort gleich im Krankenhaus angerufen und … Sie ist doch hier?«, fragte er, sich selbst unterbrechend, nervös. »Ich meine, meine kleine Silke. Es wurde mir auf der Polizeistelle gesagt, soeben sei ein kleines Mädchen hier eingeliefert worden und …«

»Wenn das kleine Mädchen ungefähr vier Jahre alt ist und hellblondes halblanges Haar hat, könnte es sich um Ihr Kind handeln.«

»Es ist bestimmt meine Tochter.« Der ungefähr fünfunddreißigjährige Mann hatte Mühe, sich zu fassen.

Joschi sah ihn an, dann lief er einfach davon, als geniere er sich, Dank anzunehmen. Erschrocken blickte die Ärztin ihm nach. »Verzeihen Sie«, murmelte sie und folgte dem Jungen. Aber sie holte ihn nicht mehr ein. Der Erdboden schien ihn verschluckt zu haben.

Anja Frey kam zu dem jungen Mann zurück und sagte. »Er hat nämlich Ihre Tochter gefunden. Ich verstehe nur nicht, warum er fortläuft, Herr …« Fragend sah sie den Fremden an.

»Verzeihen Sie. In meiner Aufregung habe ich ganz vergessen, mich vorzustellen. Ich heiße Martini, Jens Martini. Ich bin Architekt und verbringe hier meine Ferien. Ich …, aber das tut nichts zur Sache. Kann ich zu Silke?«

»Beruhigen Sie sich erst einmal, Herr Martini. Silke geht es den Umständen nach ganz gut. Sie ist gerade beim Röntgen. Sie muss eine Zeit lang im Krankenhaus bleiben.«

»Ja, natürlich.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Verzeihen Sie«, bat er wieder und hielt ihr das aufgeklappte Zigarettenetui hin.

»Vielen Dank, ich rauche nur sehr selten.« Anja Frey lächelte. »Ein Glück, dass Joschi das Kind gefunden hat. Denn nicht oft verirren sich um diese Jahreszeit Einheimische oder Touristen in den Wald. Später ja, weil die Lichtung, auf der Joschi Ihre Tochter fand, bekannt ist. Selbst bei Tag kann man dort immer wieder Rehe beobachten.«

»Das ist es«, murmelte Jens Martini. »Darum ist sie hingelaufen. Ich …« Weiter kam er nicht, denn der Arzt, der die kleine Silke behandelt hatte, erschien.

»Keine Schädelfraktur.« Er reichte Jens Martini die Hand und stellte sich vor. »Das Kind schwebt nicht in Lebensgefahr.«

»Ich bin Silkes Vater«, sagte der Architekt. »Da bin ich aber froh. Kann ich meine Tochter sehen?«

»Ich bringe Sie zu ihr.« Der Arzt nickte Frau Dr. Frey zu, als diese sich verabschiedete.

Jens Martini reichte der Ärztin die Hand und bat sie um die Adresse des Jungen, der seine Tochter gefunden hatte.

»Leider kenne ich sie auch nicht. Aber ich werde mich bemühen, den Jungen zu finden. Sobald ich weiß, wo er wohnt, verständige ich Sie«, versprach die junge Ärztin. »Dazu bräuchte ich aber Ihre Adresse.«

Jens Martini erwiderte, dass er mit seinem Töchterchen im Gasthof Zum Bären abgestiegen sei. Dann folgte er dem Arzt zur Kinderstation.

*

Frau Dr. Anja Frey blickte auf ihre Armbanduhr. Ihr Mann und ihr Töchterchen würden schon ungeduldig auf ihre Heimkehr warten.

Als sie wieder in ihrem Auto saß und Maibach verließ, um nach Wildmoos zu fahren, wo sie mit ihrer kleinen Familie in einem hübschen Landhaus wohnte, dachte sie wieder an den seltsamen Jungen, der einfach davongelaufen war, als der Vater des kleinen Mädchens erschienen war. Vielleicht würde sie in dem Kinderheim Sophienlust etwas über ihn erfahren. Nick war doch ein Teufelskerl. Er kannte fast jeden in dieser Gegend. Aber zuerst wollte sie heimfahren.

Nun wandten sich die Gedanken der Ärztin ihrem Mann Stefan zu. Er war ebenfalls Arzt. Gemeinsam übten sie die Praxis in Wildmoos aus. Danach dachte Anja Frey an ihr Stieftöchterchen, die kleine Felicitas, die Filzchen genannt wurde, und an ihre alte Tante Elise, die ihr den Haushalt führte.

Genau wie sie vermutet hatte, wurde die Ärztin von ihren Lieben stürmisch begrüßt. Filzchen, ein niedliches Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren, die im Nacken zusammengebunden waren, und strahlenden blauen Augen, kam ihr entgegengelaufen. »Mutti, endlich! Vati und ich haben schon geglaubt, dir sei etwas zugestoßen. Und Tante Elise ist ganz verärgert, weil sie das Essen so lange hat warm halten müssen.«

»Ihr hättet doch essen können, Filzchen.« Anja gab dem Kind einen Kuss und strich dem Spaniel über den Kopf.

»Du kennst doch Vati«, erwiderte Filzchen altklug und blinzelte sie dann an.

»Ja, ich kenne Vati.« Das helle Glück lachte der jungen Frau aus den Augen, als ihr Mann unter der Haustür erschien. Dass er vor noch gar nicht so langer Zeit nach einem Unfall teilgelähmt war, schien kaum glaubhaft zu sein. Heute war er ein völlig gesunder, gut aussehender Mann, der ebenso wie sie in seinem Beruf aufging.

Auch seine Augen drückten seine ganze Liebe aus, als er Anja an sich zog und sie auf den Mund küsste. Er wusste, er hatte es nur ihr zu verdanken, dass er wieder gesund geworden war.

Am Mittagstisch erzählte Anja von ihrem Erlebnis. Gespannt sah Filzchen sie an. »Mutti, gleich nach dem Essen müssen wir nach Sophienlust fahren. Bestimmt kennt Nick den Jungen. Auch Pünktchen könnte ihn kennen. Und wenn niemand weiß, wo der Junge wohnt, können wir doch die Huber-Mutter fragen«, schlug sie vor, denn ihr Vertrauen in die Greisin mit den seherischen Fähigkeiten, die seit Jahren in Sophienlust lebte, war grenzenlos. Immer wieder wurde die uralte Frau bei unlösbar scheinenden Problemen zurate gezogen. Besonders die Kinder waren fest überzeugt, dass sie alles wusste und auch in die Zukunft blicken konnte.

Anja Frey war nicht ganz dieser Meinung, aber sie hütete sich, Filzchen etwas von ihrem Glauben zu nehmen.

»Den Namen Wilke habe ich schon einmal gehört«, mischte sich Elise Karsten ein. »Irgendwann habe ich einmal etwas von einem Unfall gelesen. Aber ich kann mich nicht mehr entsinnen.«

»Es wird wohl am besten sein, wenn ich nachher nach Sophienlust fahre«, sagte Anja Frey.

»Darf ich mitfahren, Mutti?« Filzchen klatschte in die Hände und sah Anja dabei erwartungsvoll an.

»Aber ja, mein Kleines.«

»Stoffel behalte ich aber lieber hier«, meinte Dr. Stefan Frey. »Neulich hat er einmal die Dogge Anglos angeknurrt. Zwar soll Anglos sanft sein, aber trotzdem will ich nichts riskieren.«

*

Das Kinderheim Sophienlust war um diese Jahreszeit nur halb belegt. Für die Heimleiterin, Frau Rennert, und die Kinderschwester Regine waren diese Monate recht erholsam. Meist nahmen die Angestellten auch am Beginn des Jahres Urlaub. Denn in den Sommermonaten ging es stets sehr turbulent zu, sodass sie alle Hände voll zu tun hatten.

Die größeren Kinder saßen bei den Schularbeiten, während die kleineren, darunter auch die vierjährige Heidi Holsten, mit Schwester Regine zum Spielplatz gegangen waren, wo es eine Schaukel, eine Rutsche und ein Reck gab.

Der Bernhardiner Barri, der sich als Beschützer der Kleinen fühlte, sonnte sich auf der Wiese. Die Schäferhündin Bella lag etwas abseits im Schatten einer Linde.

Schwester Regine, eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren und blauen Augen, stand unten an der Rutsche, um die Kleinen, die voller Begeisterung immer wieder heruntersausten, aufzufangen. Ab und zu hob Barri seinen dicken Kopf und blickte vorwurfsvoll zu der Kinderschwester hinüber, so als ob er sagen wollte, dass es nun endlich genug damit sei. Doch dann sprang er plötzlich auf und fing an zu bellen.

»Wer kommt denn da?«, rief Schwester Regine.

»Das ist Filzchen!«, jubelte Heidi Holsten. Dabei sprang sie vom Sandkasten, wo sie den feinen Sand eifrig in die Formen gefüllt hatte, auf. Lustig wippten ihre blonden Rattenschwänzchen. »Filzchen, wie hast du uns gleich gefunden?«, fragte sie glücklich und strahlte ihre Freundin aus ihren blauen Augen schelmisch an.

»Tante Rennert hat mir gesagt, dass ihr hier seid.« Filzchen reichte Schwester Regine die Hand und machte vor ihr einen Knicks. »Mutti hat heute ein kleines Mädchen ins Krankenhaus gebracht«, erzählte sie sogleich lebhaft und blickte sich nach allen Seiten um, um festzustellen, ob auch alle zuhörten. »Ein Junge hat es im Wald gefunden. Es hat eine tiefe Wunde am Kopf. Aber das Kind wird nicht sterben, hat Mutti gesagt. Und nun will sie die großen Kinder fragen, ob sie den Jungen kennen.«

Das Interesse der Kleinen für den Spielplatz war erlahmt. Alle wollten ins Haus, um zu hören, was los war. Schwester Regine selbst war neugierig geworden und kehrte mit den Kindern und den beiden Hunden zum Herrenhaus zurück.

Barri jedoch überlegte es sich unterwegs anders. Er trottete gemächlich zu dem Holzschuppen, in dem sich der alte Justus, der ehemalige Verwalter von Sophienlust, eine Werkstätte eingerichtet hatte. Der alte Mann und der Bernhardiner hingen wie gute alte Freunde aneinander.