Sortiermaschinen - Steffen Mau - E-Book

Sortiermaschinen E-Book

Steffen Mau

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Beschreibung

Der kosmopolitische Traum von einer grenzenlosen Welt hat in den letzten Jahren tiefe Risse bekommen. Aber war er überhaupt jemals realistisch? Steffen Mau zeigt, dass Grenzen im Zeitalter der Globalisierung von Anbeginn nicht offener gestaltet, sondern zu machtvollen Sortiermaschinen umgebaut wurden. Während ein kleiner Kreis Privilegierter heute nahezu überallhin reisen darf, bleibt die große Mehrheit der Weltbevölkerung weiterhin systematisch außen vor. Während die Mobilität von Menschen über Grenzen hinweg in den letzten Jahrzehnten stetig zunahm und Grenzen immer offener schienen, fand gleichzeitig eine in Wissenschaft und Öffentlichkeit unterschätzte Gegenentwicklung statt. Vielerorts ist es zu einer neuen Fortifizierung gekommen, zum Bau neuer abschreckender Mauern und militarisierter Grenzübergänge. Grenzen wurden zudem immer selektiver und – unterstützt durch die Digitalisierung – zu Smart Borders aufgerüstet. Und die Grenzkontrolle hat sich räumlich massiv ausgedehnt, ja ist zu einer globalen Unternehmung geworden, die sich vom Territorium ablöst. Der Soziologe Steffen Mau analysiert, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die neuen Sortiermaschinen Mobilität und Immobilität zugleich schaffen: Für erwünschte Reisende sollen sich Grenzen wie Kaufhaustüren öffnen, für andere sollen sie fester denn je verschlossen bleiben. Nirgends tritt das Janusgesicht der Globalisierung deutlicher zutage als an den Grenzen des 21. Jahrhunderts.

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Steffen Mau

Sortiermaschinen

Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert

C.H.Beck

Inhalt

1. Borders are back!

2. Staatlichkeit, Territorialität und Grenzkontrolle

3. Öffnung und Schließung: Die Dialektik der Globalisierung

4. Fortifizierung: Grenzmauern als Bollwerke der Globalisierung

5. Filtergrenzen: Die Gewährung ungleicher Mobilitätschancen

6. Smart Borders: Informationelle und biometrische Kontrolle

7. Makroterritorien: Rückbau von Binnengrenzen, Aufwertung von Außengrenzen

8. Exterritorialisierung von Kontrolle: Die Ausweitung der Grenzzone

9. Globalisierte Grenzen

Versicherheitlichung von Mobilität

Verschachtelte Kontrollräume

Gestufte Rechte

Globale Hierarchie

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Kapitel 1 – Borders are back!

Kapitel 2 – Staatlichkeit, Territorialität und Grenzkontrolle

Kapitel 3 – Öffnung und Schließung: Die Dialektik der Globalisierung

Kapitel 4 – Fortifizierung: Grenzmauern als Bollwerke der Globalisierung

Kapitel 5 – Filtergrenzen: Die Gewährung ungleicher Mobilitätschancen

Kapitel 6 – Smart Borders: Informationelle und biometrische Kontrolle

Kapitel 7 – Makroterritorien: Rückbau von Binnengrenzen, Aufwertung von Außengrenzen

Kapitel 8 – Exterritorialisierung von Kontrolle: Die Ausweitung der Grenzzone

Kapitel 9 – Globalisierte Grenzen

Register

Für Gustav und Bennet Balthasar

Der Paß ist der edelste Teil

von einem Menschen.

Er kommt auch nicht

auf so eine einfache Weise zustand

wie ein Mensch.

Ein Mensch kann überall zustandkommen,

auf die leichtsinnigste Art

und ohne gescheiten Grund,

aber ein Paß niemals.

Dafür wird er auch anerkannt,

wenn er gut ist,

während ein Mensch

noch so gut sein kann

und doch nicht anerkannt wird.

Bertolt Brecht

Flüchtlingsgespräche 1940/41

1.

Borders are back!

Die dramatischen Bilder von der türkisch-griechischen Grenze, die im Frühjahr 2020 über unsere Fernsehschirme flimmerten, waren an Wucht nicht zu überbieten: Busse, die tausende Geflüchtete durch die Türkei an die Grenze brachten, türkische Sicherheitskräfte, die Menschen auf die Grenze zutrieben, dazwischen Elendslager mit zum Trocknen aufgehängter Wäsche, eine griechische Grenzpolizei, die hektisch Betonsperren aufstellte und Stacheldraht ausrollte, aufflackernde Blendgranaten, dazu mannshohe Hochleistungsventilatoren, die Tränengaswolken auf die türkische Seite hinüberbliesen. Szenenwechsel: fast zeitgleich am John F. Kennedy Flughafen, New York. Stundenlang standen hunderte Passagiere eingepfercht in schmalen Gängen, warteten, um in die USA hineingelassen zu werden. Nachdem über Nacht aufgrund steigender Covid-19-Infektionszahlen verschärfte Einreisebestimmungen für die USA erlassen worden waren, kam es zu chaotischen Szenen. Die ad hoc angeordneten Temperaturmessungen und die Befragung der Einreisenden führten zu massiven Verzögerungen, zu einem Rückstau, für den der Flughafen nicht ausgelegt ist. Menschen wurden pulkartig zusammengedrückt, es ging nur langsam voran. Kommentatoren sprachen von einer menschlichen Petrischale, in der sich das Virus optimal verbreiten könne.

Beide Szenen sind emblematisch für die Barriere- und Sortierwirkung von Grenzen: Grenzen halten auf, drängen zurück, schließen aus, üben Filterwirkung aus. Durch Szenen wie diese sind Grenzen in den letzten Jahren auf geradezu dramatische Weise in unser Bewusstsein zurückgekehrt. Viele hatten sich im Nachklapp des Falls der Berliner Mauer allzu schnell und bereitwillig der Illusion hingegeben, wir lebten im Zeitalter sich öffnender Schranken, erweiterter Mobilitätsmöglichkeiten und durchlässiger werdender Grenzen. Die Grenze schaffte es 2009 sogar zusammen mit dem Paternoster, dem Käseigel und dem Kassettenrecorder in das «Lexikon der verschwundenen Dinge»[1], gerade so, als gehöre sie ins Museum. Berlin als die Stadt der Teilung durch den Eisernen Vorhang symbolisiert dabei in besonderer Weise den Abschied von einer durch Grenzabschottung strukturierten Welt. «Die Mauer muss weg», war eine Forderung im Herbst 1989, heute lebt der Mauerstreifen nur noch als touristischer Parcours weiter.

Zumindest auf den ersten Blick scheint vieles dieser Sichtweise – die Grenze als Relikt vergangener Zeiten – Recht zu geben, denn Trenddaten zeigen auf, dass die grenzüberschreitenden Transaktionen und Bewegungen in den letzten drei Dekaden und auch schon davor massiv zugenommen haben.[2] Grenzen werden immer häufiger überquert, ihr Abschottungscharakter scheint aufgeweicht, die Durchlässigkeit wird vermeintlich größer. Dies gilt nicht nur für die Kommunikation über das Internet, die Handels- und Produktionsketten, Finanzströme oder die Verbreitung von Informationen und kulturellen Gütern, sondern auch für die verschiedenen Formen der Mobilität von Menschen, um die es in diesem Buch geht. Der Binnenraum des Nationalstaates wird immer öfter, immer selbstverständlicher und von einem immer größer werdenden Personenkreis verlassen, das Hin und Her über die Grenze erscheint als Normalzustand. In der Analyse dieser Veränderungen waren Thesen von den «vanishing borders»[3] oder der «borderless world»[4], die allesamt ein Obsoletwerden von Grenzen oder sich steigernde Grenzporosität beschworen, keine akademischen Hirngespinste, sondern vielfach aufgegriffene und gern zitierte Etiketten. Sie schienen wesentliche Trends begrifflich zu bündeln. Die Globalisierung galt dabei als mächtige Antriebskraft mit grenzöffnendem, manchmal gar grenzbrechendem Charakter, der man sich kaum entgegenstellen könne.

Sozialtheoretisch wurden die Entbettung aus ortsgebundenen Zusammenhängen und die Entterritorialisierung von Sozialbeziehungen sogar als wesentliche Entwicklungsmomente der Moderne herausgearbeitet.[5] Nun seien wir nicht mehr an einen Ort gefesselt, sondern spannten unsere Sozialbeziehungen über große Distanzen auf, seien unentwegte Grenzüberschreiter und eilten mit Siebenmeilenstiefeln um den Erdenball. Während der Auslandsaufenthalt noch vor einigen Jahrzehnten als «exotischer» Ausnahmefall galt, sind grenzüberschreitende Arbeits-, Sozial-, Familien- oder Liebesbeziehungen und transnationale Lebensläufe heute Normalität geworden, haben sich veralltäglicht.[6] Prozesse der Entterritorialisierung, Denationalisierung und Transnationalisierung waren demgemäß ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, das Festhalten am Begrenzten, Nationalen und Immobilen galt als rückwärtsgewandt, weil es die gewaltige Öffnungsdynamik in vormals geschlossenen und umgrenzten Gesellschaften ignorierte. Sogar von einer «atopischen Gesellschaft», einer Gesellschaft, die ihre territorialen Begrenzungen radikal aufhebt, ist gesprochen worden, manche sahen die Weltgesellschaft am Horizont aufsteigen.[7] Im globalen Miteinander gab es kein Halten mehr, jedenfalls keines, bei dem Grenzen eine herausgehobene Rolle spielen sollten.

Auch wenn diese Sichtweise keine optische Täuschung gewesen sein mag, hat sie den Entgrenzungscharakter der Globalisierung doch überbetont und ein einseitiges Bild produziert. Schon die Frage, ob die Steigerung des «Grenzverkehrs» den Schluss zulässt, dass eine Grenze durchlässiger oder funktionsuntüchtig geworden ist (oder nicht), ist keineswegs banal, auch wenn häufig von dem einen auf das andere geschlossen wird. Möglicherweise ist der Fokus auf die Entgrenzung auch einer spezifischen Welterfahrung der Gruppe der «frequent travellers» [8] geschuldet, die als die wesentliche Trägerschicht der Grenzüberschreitung angesehen werden kann. Für diese Gruppe – also die zur Mobilität Befähigten und Berechtigten – bedeutet Globalisierung zumeist Öffnung, De-bordering und eine Erweiterung von Mobilitätschancen. Auch die Wortführer des Globalisierungsdiskurses gehören zweifellos zur Gruppe derer, die hochmobil unterwegs sind und ihre Thesen auf Podien in Boston, Kapstadt oder Seoul popularisieren konnten. Wer selbst reisen darf und für wen Grenzen kaum noch Mobilitätseinschränkungen bedeuten, mag dazu geneigt sein, die eigenen Erfahrungen zu verallgemeinern und gegenläufige Entwicklungen zu unterschätzen. Das wäre eine déformation professionnelle der Konferenztouristen, aber vielleicht verbieten sich solche Mutmaßungen an dieser Stelle.

Zwar wäre es falsch, die Erfahrungen der Grenzüberschreitung auf einige wenige Gruppen Privilegierter zu beschränken – ganz im Gegenteil: sie reichen weit darüber hinaus und haben eine globale Skalierung –, aber die schnelle, reibungslose, ungehinderte und komfortable Grenzpassage ist beileibe kein ubiquitäres Phänomen. Die tagtägliche Grenzerfahrung eines großen – des größeren! – Teils der Weltbevölkerung ist die des Ausschlusses, der Mobilitätsabwehr, der Wegversperrung, des Draußen-Seins, des Re-bordering. Immer noch gilt: An kaum einem anderen Ort – so der soziologische Klassiker Georg Simmel – zeigt sich das «unbarmherzige Auseinander des Raumes»[9] so deutlich wie an der Grenze. An Grenzen finden einschneidende Prozesse der sozialen Teilung statt.[10] Auch in der globalen Weltgesellschaft leben wir in Gebietsparzellen, und Grenzen übernehmen Aufgaben der Filterung, der Absonderung und des Zirkulationsmanagements. An Grenzen wird nicht nur kontrolliert, viele Gruppen werden an Grenzen zurückgewiesen; die eingangs erwähnte Situation an der türkisch-griechischen Grenze ist wahrlich kein Einzelfall.

Den Prozess der Globalisierung in seinem Kern als Entgrenzung zu verstehen, ist daher vereinseitigend, aus meiner Sicht sogar irreführend. Auch und gerade unter Bedingungen der Globalisierung setzen Grenzregime territoriale Kontrolle und Selektivität durch, sind machtvolle Sortiermaschinen der globalisierten Welt. Deswegen ist es wissenschaftlich kaum zu rechtfertigen, Globalisierung mit porösen oder gar verschwindenden Grenzen zu assoziieren oder gleichzusetzen und nicht als einen komplexen, in sich auch widersprüchlichen Prozess zu fassen. Diese Voreinstellung hat blinde Flecken geradezu zum Wissenschaftsprogramm gemacht und gegenläufige Entwicklungen ausgeblendet. Letztere lassen sich nur entschlüsseln, wenn man Globalisierung nicht nur als grenzüberschreitende Transaktionen oder Ströme, sondern deutlich umfassender versteht, und zwar als über den Nationalstaat und die Nationalgesellschaft hinausreichende Bezogenheit.[11] Bei der Globalisierung geht es über die Grenzüberschreitung hinaus um Modi der Interdependenz, die Grenzhärtungen, Mobilitätsabwehr und Grenzselektivität mit einschließen. Die Frage an die Globalisierung ist dann nicht nur, wie «alte Grenzen» geöffnet werden oder verschwinden, sondern wie sich die Grenze verändert und welche Sortierlogiken «neue Grenzen» bedienen. Unter den Bedingungen umfänglicher, ja massiver Mobilitätsströme kommt es bei der Grenzgestaltung darauf an, nur die gewünschte Mobilität zuzulassen und unerwünschte zu kontrollieren, gegebenenfalls abzuwehren. Bei einem solchen Globalisierungsverständnis gehören Öffnung und Schließung zusammen, man kann, um den dialektischen Kern der Globalisierung zu erfassen und begrifflich zu schärfen, sogar von Öffnungsglobalisierung und Schließungsglobalisierung sprechen. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille.

Es ist ein verbreitetes Missverständnis, die für die Globalisierung konstitutiven neuen Formen der Schließung auf eine schlichte (und vor allem ideologisch motivierte) Anti-Globalisierung zu reduzieren. Andersrum wird ein Schuh draus: Weil es Globalisierung gibt, gewinnen Grenzen an Bedeutung, werden sukzessive aufgewertet und als Sortiermaschinen gebraucht. Grenzabschließung und Grenzkontrolle sind folglich nicht nur globalisierungskompatibel, sondern integraler Teil und Voraussetzung für Öffnung. Um es noch einmal zu unterstreichen: Die Globalisierung bringt die Grenze nicht zum Verschwinden, sondern induziert und erzwingt fortwährend Schließung, Selektivität und Intensivierung von Kontrolle. Natürlich kann das Insistieren auf Grenzfunktionen auch als Gegenglobalisierung auftreten; meistens handelt es sich jedoch um eine Facette der Globalisierung selbst, um Formen der Schließung im Dienst der Globalisierung. Öffnung und Schließung gehen in der Globalisierung Hand in Hand: Dass kaum einer der Schließungsaktivisten bereit ist, die eigenen Mobilitätsprivilegien und Öffnungsgewinne einzuschränken, weist bereits in diese Richtung.

Die Coronakrise war ein Erfahrungsschock, durch den vor allem die westlichen Gesellschaften aus einer Situation gelebter Freizügigkeit und hoher Mobilität in einen Zustand des Innehaltens und der Mobilitätsunterbrechung hineinkatapultiert worden sind. Als die dramatischen Bilder aus Wuhan im Januar 2020 zum ersten Mal zu uns drangen, wirkten sie äußerst verstörend: Straßensperren, Polizisten mit Fiebermessgeräten, die sie wie Waffen auf Passanten richteten, in ihren Wohnungen eingeschlossene Menschen, die sich aufmunternde Worte zuriefen, Militär, das durch die Straßen patrouillierte, geschlossene Bahnhöfe, Busstationen und Flughäfen. Nur wenige Wochen später wurden auch «im Westen» viele Freiheits- und Grundrechte eingeschränkt, die uns eigentlich als unhintergehbar erschienen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat kein Ereignis die politische Geographie auf derart dramatische Weise verändert, dass Staaten auf allen Kontinenten ihre Grenzen und Zufahrtswege von heute auf morgen verschließen ließen. Bis auf wenige Länder haben fast alle UN-Vertragsstaaten Maßnahmen der Grenzschließung getroffen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, darunter Einreiseverbote, die Errichtung von Zäunen und Sperren, Grenzkontrollen, die Unterbrechung des internationalen Flugverkehrs, Visumbeschränkungen, die Anforderung von Gesundheitsinformationen und Quarantäneauflagen. Die Bevölkerungen wurden innerhalb kurzer Zeit territorial fixiert und voneinander getrennt. Aus der hoch mobilen globalen Weltgesellschaft wurde über Nacht eine Insassengesellschaft nationalstaatlicher Kompartimente.

Eine solch dramatische und weltumspannende Grenzverriegelung ist ohne Zweifel singulär, deshalb trifft sie ins Mark unseres kollektiven Selbstverständnisses. Hier tritt an die Oberfläche, was unter Normalbedingungen verborgen bleibt: der Staat als spezifisches Ensemble aus Territorialität, Autorität und Kontrollausübung, der soziale Beziehungen und Bewegungsformen durch weitgehende Eingriffsrechte zu strukturieren vermag und Mobilität und Aufenthalt lizensiert oder verhindert. Hier offenbart sich, dass der Staat – allen Unkenrufen zum Trotz – nach wie vor erhebliche Fähigkeiten besitzt, um durch Grenzpolitik Räume zu trennen und Mobilität zu unterbinden. Der Staat ist kein Statist der Globalisierung, kein schwacher, ohnmächtiger Akteur, der den Phänomenen der Grenzüberschreitung nur unbeteiligt zuschauen kann. Ganz im Gegenteil: Seine oft verborgene und zurückgenommene Macht trat in der Pandemie unübersehbar hervor. Dabei verstärkte er auf spektakuläre Weise das Element territorialer Kontrolle und spielte seine Fähigkeit zur Selbst- und Fremdabschottung aus. Im Hintergrund dieser Verriegelungspolitik stand die für den Souveränitätsbegriff zentrale politische Vorstellung der Abwehr von äußeren (und inneren) Gefahren.

Nun aktualisiert sich diese Grenzbedingtheit des Staates nicht nur beim Ausbruch von Epidemien, sie begleitet uns eigentlich immer. Die Coronakrise dreht daher die Globalisierung nicht zurück, sondern bringt – für viele möglicherweise überraschend – ihr sonst verdecktes und übersehenes Gegenbild zum Vorschein. In kaum einem anderen Politikbereich finden wir so viele unterschiedliche, teils sogar widersprüchliche Entwicklungen wie an der Grenze: Öffnung und Schließung, Entgrenzung und Grenzverstärkung, Abbau und Intensivierung von Kontrolle, Mobilisierung und Immobilisierung – das alles findet gleichzeitig statt. Für eine präzise Beobachtung dieser janusköpfigen Entwicklung muss man sich aber von der konventionellen Vorstellung der Schlagbaumgrenze lösen: Die Grenze der Globalisierung ist eine andere als die des nationalstaatlichen Containers und des nationalgesellschaftlichen Territorialmodells des 20. Jahrhunderts. Heute haben wir es mit einem Ensemble von Kontrollorten, Kontrolltechnologien und Kontrollinfrastrukturen zu tun, das Mobilität ermöglichen, kanalisieren oder verhindern kann. Der Kontrollposten am Rand des Flächenstaates, der die Grenze für Reisende schließt oder öffnet, ist hingegen ein Auslaufmodell. Die Grenze des 21. Jahrhunderts entfernt sich von der Grenzlinie und greift räumlich weit über den nationalen Container hinaus. Obwohl das Nationale der Bezugspunkt bleibt, können wir die Grenze selbst als Teil der Globalisierung begreifen. Um diese neue Grenzpolitik sichtbar zu machen, erweitern wir den Blick über die statische Grenzlinie, das Kontrollhäuschen und die rot-weiß gestreifte Schranke hinaus und stellen die Frage: Wie operiert die Grenze als Sortiermaschine heute? Wie verändert sich Grenzkontrolle politisch, räumlich und technologisch? Welche Formen nimmt sie an, welche Funktionen übt sie aus?

Meine Perspektive auf die Grenze stellt, wie gesagt, die Personenmobilität ins Zentrum (nicht Waren, Informationen, kulturelle Artefakte, Finanzströme etc.). Es können und sollen allerdings nicht alle hierbei relevanten Funktionen betrachtet werden, sondern in erster Linie die operativen Funktionen der Kontrolle. Andere Funktionen können sich auf Identität, Integration oder symbolische Abgrenzung beziehen; sie werden hier aber eher am Rande behandelt, ebenso bleiben Grenzkonflikte und Sezessionsbestrebungen weitgehend unberührt. Grenzen stellen für mich Prozesse, Technologien und Infrastrukturen dar, mit Hilfe derer Sortiervorgänge durchgesetzt werden und die das Zusammenspiel von Territorialität, Zirkulation und Aufenthalt regulieren. Grenzen sortieren in zweierlei Hinsicht: räumlich-territorial und mobilitätsbezogen. Räumlich könnte man daher von der Separierungsfunktion der Grenze sprechen, indem Territorien und Bevölkerungen voneinander getrennt werden, und mobilitätsbezogen von der Selektivitätsfunktion, indem Personen gefiltert werden. Beide Aspekte sind gleichwohl eng miteinander verkoppelt. Die räumlich-territoriale Ordnungsleistung – das «Wo» der Grenze – spielt historisch für die staatliche Selbstbehauptung eine große Rolle: Grenzen waren in der Geschichte umstritten, Grenzverläufe haben sich verschoben, nicht selten schloss der Grenzbegriff im Sinne des englischen frontier auch die militärische Durchsetzung und Befestigung eines Grenzverlaufs ein. Heute richten sich Grenzpraktiken und Grenzregime viel stärker auf die Frage der Filterung und Regulierung von Mobilität; zwar erbringt die Grenze weiterhin eine räumlich-territoriale Ordnungsleistung, aber das Gewicht hat sich tendenziell auf die Selektivitätsfunktion verlagert. Aus der Mobilitätsperspektive ist die Grenze dafür zuständig, Unterscheidungen zu markieren und durchzusetzen: zwischen denen, die passieren dürfen, und jenen, die aufgehalten oder zurückgewiesen werden, zwischen erwünschten und unerwünschten Reisenden. Bei den Grenzen von heute geht es kaum noch um die staatliche Selbstbehauptung gegenüber rivalisierenden Nachbarstaaten, sondern um das Management von Mobilität, um die Grenzpassage.[12]

In diesem Buch soll die reorganisierte Grenze mit einem nachgeschärften Beobachtungsradar erfasst werden, der die Grenzfunktionen in den Blick nimmt. Wir steuern, so meine These, im Hinblick auf die Bewegung von Personen keineswegs auf die grenzlose und deterritorialisierte Gesellschaft zu. Vielmehr sind Grenzen, Grenzbefestigungen und Grenzkontrolle Teil der Globalisierung! Aber sie sind in einem radikalen Prozess der operativen, technologischen und räumlichen Veränderung begriffen, um zu perfomanten und die Globalisierung stützenden Grenzen zu werden. Als Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen will ich zunächst noch einmal den klassischen Zusammenhang zwischen Territorialität und Grenzkontrolle rekapitulieren, weil er für unser heutiges, auf den Verlauf der Grenzlinie fixiertes «Bild der Grenze» von erheblicher Bedeutung ist (Kapitel 2). Danach nehme ich mich des Entgrenzungsimperativs der Globalisierungsliteratur an und setze ihm die Vorstellung einer gleichzeitig be- wie entgrenzenden Globalisierung – einer Dialektik von De- und Re-bordering – entgegen (Kapitel 3). Kapitel 4 wird nicht nur zeigen, dass zeitgleich mit der Globalisierung rund um den Globus Mauerbauaktivitäten einsetzten und sich das Interesse an Fortifizierung substantiell erhöhte, es beschäftigt sich zugleich mit den Antriebsfaktoren neuer Abschottung und den an diesen Grenzen entstehenden Lagern der Prekarität, in denen Menschen gesammelt, rückgestaut oder aufgehalten werden. Danach wird die Filterfunktion der Grenze betrachtet, die, so die These, zwar von Anbeginn zur Grenze gehörte, aber in der Globalisierung immer genauer justiert wird, so dass man heute von einer «global mobility divide» sprechen kann (Kapitel 5). Im sechsten Kapitel stehen die «smart borders» im Mittelpunkt, eine jüngere Entwicklung der Nutzung digitaler Technologien der Überwachung, Authentifizierung und Klassifikation, die traditionelle und papierbasierte Kontrollformen obsolet machen. Teil der Veränderung von Grenzregimes ist außerdem das Entstehen neuer makroterritorialer Arrangements im Rahmen von regionalen Integrationsprojekten (Kapitel 7): Hier werden – oberhalb des Nationalstaates, aber auch unterhalb der globalen Ebene – neue Zirkulationsräume geschaffen, die im Binnenverhältnis Offenheit herstellen, im Außenverhältnis aber Schließung reproduzieren oder sogar steigern. Schließlich ist auf Entwicklungen der Exterritorialisierung von Kontrolle, auf Kontrollverschiebungen sowie auf den Einsatz von Kontrolltechnologien und auf Strategien der «Fernkontrolle», die auf Transitländer oder Herkunftsländer von Reisenden gerichtet sind, hinzuweisen (Kapitel 8).

Das Buch folgt den Spuren der Transformation der Grenze zur Sortiermaschine. Bei diesem Begriff handelt es sich um eine Metapher, mit der die Selektivität von Grenzpassage und Grenzkontrolle hervorgehoben werden soll. Meine Analyse zielt nicht auf spezifische Fälle oder historische Zeitenläufe. Gleichwohl sollen Beispiele und Veränderungstrends meine Thesen unterfüttern. Das Panorama ist – so vermessen das klingt – global. Dabei soll gezeigt werden, dass das alte Modell einzelstaatlicher territorialer Souveränität und Kontrolle der Personenmobilität von einer vervielfältigten und mehrfach skalierten Grenzordnung abgelöst worden ist (wie in Kapitel 9 noch einmal abschließend zusammengefasst). Hierbei kommt es zu einer beträchtlichen Differenzierung und Verflechtung von Grenzpolitiken, mit denen Staaten versuchen, territoriale Kontrolle aufrechtzuerhalten und die Gleichzeitigkeit von Mobilitätssteigerung und Mobilitätsverhinderung in den Griff zu bekommen. Es entsteht eine verschachtelte Kontrollordnung mit unterschiedlichen Skalierungen, die den engen Zuschnitt auf nationale Territorien schon längst verloren hat. Die Grenze als Sortiermaschine ist heutzutage ein komplexes Arrangement, das Mobilität einem Sicherheitsparadigma unterwirft, über vielfach verschachtelte Kontrollräume operiert, Zonen der Zirkulation herstellt, sich an der Sozialfigur des vertrauenswürdigen Reisenden orientiert und eine globale Hierarchie der ungleichen Mobilitätsrechte erzeugt. Die Grenze der Globalisierung ist zugleich eine Grenze, an der Ungleichheit erzeugt und auf Dauer gestellt wird.

2.

Staatlichkeit, Territorialität und Grenzkontrolle

Anton Dendemarchenko bewirbt seine Dienste als Tourguide damit, dass man nunmehr «the country that does not exist» besuche. Gemeint ist Transnistrien, gelegen am südöstlichen Zipfel Europas, unweit des Schwarzen Meers, aber – leider – ohne eigenen Zugang dorthin. Besuchern wird mit großer Neugierde begegnet. Zwar sind die Einheimischen über das Internet und das Fernsehen umfassend über das Weltgeschehen informiert, aber zu gern würde man wissen, warum sich Fremde in das kleine Land verirren. Anton allerdings weiß um den Reiz: Wo sonst ließe sich eine Zeitreise in das «sowjetische Jahrhundert»[1] unternehmen, auf der man Protzarchitektur mit Sowjetsternen, zu Denkmalen gewordenen Panzern oder alten Wolgas, Ladas und Saporoshs am Straßenrand begegnen kann? Er hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht. Und in der Tat: Manches scheint in diesem Landstrich stillzustehen.

Das Land, das nicht existiert, liegt mit einer Nord-Südausdehnung von 200 Kilometern und einer Breite von etwa 20 Kilometern eingekeilt zwischen der Republik Moldau und der Ukraine. Eine halbe Million Menschen – Moldauer, Russen, Ukrainer – leben hier. Als die Sowjetunion zerfiel, spaltete sich Transnistrien ab und strebte Eigenständigkeit an – jedoch ohne Erfolg. Heute hängt es finanziell und militärisch am Tropf Russlands und ist zum Spielball regionaler Interessenpolitik geworden: Einerseits will Moskau einem möglichen EU-Beitritt Moldaus durch den ungelösten Territorialkonflikt den Wind aus den Segeln nehmen, andererseits soll durch die Kontrolle des kleinen Landstrichs auch die angrenzende Ukraine im Zangengriff gehalten werden. Würde die Republik Moldau ohne Transnistrien der EU beitreten, verliefe die EU-Außengrenze direkt durch eine einstmals administrativ und auch kulturell integrierte Region hindurch, mit erheblichen Folgen für die sozialen Netzwerke, Familien und wirtschaftlichen Verbindungen vor Ort.