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Ein Buch, das schockiert, aber auch Hoffnung verbreitet 1968 - Eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein Unfassbar, was sich hinter der frommen Fassade einer streng religiösen Flüchtlingsfamilie abspielt. Manipulation, Demütigung und Misshandlung im Namen Gottes kennzeichnen das tägliche Leben des fünfzehnjährigen Lukas. Er schafft es nicht, sich aus der Hölle seines Elternhauses zu befreien. Als er Marie kennenlernt, beginnt er sein bisheriges Leben zu hinterfragen. Zwischen beiden entwickelt sich eine leidenschaftliche Beziehung. Doch Lukas' Eltern versuchen mit allen Mitteln, den Kontakt zu Marie zu unterbinden.
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Seitenzahl: 275
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Claus Cant
SOS
eines Teenagers
Familiendrama nach einer wahren Geschichte
Impressum
© Eckhard Blenkle, Althoffstr. 20 52457 Aldenhoven Auflage (2025) Illustrationen: Umschlaggestaltung: Claus Cant
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Inhaltsverzeichnis
1 Mein fünfzehnter Geburtstag 3
2 Sünde in der Badewanne 14
3 Schläge im Namen des Herrn 19
4 Vergebung der Schuld 23
5 Die große Ehre 26
6 Hänseleien 35
7 Der Ausraster 42
8 Erster Besuch bei Marie 51
9 Bruch eines Versprechens 71
10 Maries heilende Hände 79
11 Die Beichte 84
12 Maries seltsamer Wandel 91
13 Die vertagte Entscheidung 97
14 Gespräch mit Bruder Markus 109
15 Lukas´ heimliche Mission 119
16 Marie im Krankenhaus 126
17 Maries Brief 131
18 Erster Besuch im Krankenhaus 136
19 Die Falle 141
20 Maries Entlassung 145
21 Die Flucht 151
22 Gescheiterte Vermittlung 167
23 Ringen um eine Lösung 173
24 Zärtliche Berührungen 185
25 Böses Erwachen 195
26 Kino, Wodka und The Who202
27 Ernüchternde Nachrichten 213
28 Fehlendes Mitgefühl 221
29 Besuch bei Oma und Opa 223
30 Zweiter Besuch im Krankenhaus 234
31 Der endgültige Bruch 243
32 Maries Geschenk 246
33 Der Schock 252
34 Der besondere Abschied 258
Epilog 265
1 Mein fünfzehnter Geburtstag
1. Mai 1968 in einer Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Mama, meine Großeltern, zwei Schwestern und ich hatten in der guten Stube rund um den Wohnzimmertisch Platz genommen. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft. Vor uns stand der mit meinem Namen und einer 15 verzierte Käsekuchen. Ein Kunstwerk. Mama konnte großartig Kuchen backen.
»Wo bleibt Papa nur?«, fragte sie in die Runde.
Ich zuckte mit den Achseln und musterte sie. Mama hatte ihre leicht ergrauten Haare zu einem Dutt hochgesteckt.
Mein Blick wanderte weiter. Meine Schwestern trugen ihr Haar zu Pferdeschwänzen gebunden, dazu lange Röcke, die die Knöchel bedeckten, und hochgeschlossene Blusen. Oma hatte ein elegantes, dunkelblaues Samtkleid angezogen. Opa und ich steckten in dunklen Anzügen. Meine Hose war etwas zu lang. Mama sagte dazu: »Da wächst du noch rein.«
Plötzlich ging die Tür auf und Papa betrat den Raum. Mit stolzgeschwellter Brust baute er sich breitbeinig vor uns auf.
»Na, wie gefalle ich euch?« Mama schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Waldemar, das ist doch nicht dein Ernst. Wo hast du denn das Teil ausgegraben? Das Jackett ist doch viel zu eng.«
»Finde ich nicht«, entgegnete er erhobenen Hauptes, kam auf mich zu und hob den Arm. Ich zuckte kurz. Er streichelte mir durchs Haar, so ungewohnt sanft. »Na, mein Großer, noch einmal alles Gute zu deinem Geburtstag«, sagte er und setzte sich neben mich.
Ich starrte auf seinen gestreiften Anzug. Eine goldene Anstecknadel blinkte mir entgegen.
»Hast du die zum achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen?«
»Wieso?«
»Weil da eine 18 draufsteht.«
Vor Schreck wäre er fast vom Stuhl gefallen. Er sprang auf, fummelte hektisch an seinem Revers herum, bis er die Nadel gelöst hatte. Er ging zur Kommode, riss eine Schublade auf und ließ sie darin verschwinden.
»Was bedeutet die 18?«
»Das ist ein Andenken an früher.«
»Warum hast du sie jetzt abgenommen?«
Papas Gesicht war kreideweiß, er schwieg. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, zündete sie an und nahm einen tiefen Zug. Er rannte hin und her, ohne ein Wort zu sagen.
Opa Horst beugte sich zu mir herüber: »Die Zahl 18 steht für Adolf Hitler. Der erste Buchstabe im Alphabet ist das A, der achte das H«, flüsterte er. »Ich glaube, dein Papa hat vergessen, sie abzunehmen.«
»Du wolltest doch nicht mehr rauchen, Papa«, rief Ruth dazwischen. Sie war ein Jahr jünger als ich und meine Lieblingsschwester. Daniela war zwölf. Sie war eine Petzliese und konnte nichts für sich behalten. Wir gingen alle drei auf dieselbe Realschule. »Das erzähl' ich Papa und Mama«, drohte sie nicht nur, wenn sie mich beim Rauchen auf dem Schulhof erwischt hatte.
Mama drehte sich zu Papa um. »Komm, setz dich, Waldemar. Wir wollen anfangen.«
Papa nickte. Er ging zum Aschenbecher auf der Vitrine, drückte die Zigarette aus und setzte sich wieder neben mich.
»Erzähl' doch noch einmal eine Geschichte aus eurer Heimat.«
Papa und meine Großeltern hatten früher auf einem Gut in der Nähe von Insterburg ca. 100 Kilometer östlich von Königsberg in Ostpreußen gelebt. Ich konnte nicht genug kriegen, von den Geschichten aus dieser Zeit.
»Warte, bis wir gebetet haben«, sagte er und faltete die Hände. »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast. Amen.«
Während Mama jedem ein Stückchen Kuchen auf den Teller legte, lehnte sich Papa zurück. Er blickte in die Runde und holte tief Luft.
»Ja, Junge …«, begann er, »das waren Zeiten. Wir besaßen ein großes Anwesen und riesige Ländereien. Wir hatten Personal, vier Knechte, drei Mägde. Und viele Tiere gab es auf unserem Gut, Pferde, Kühe, Hühner und den Hofhund Rufus, der immer Ärger mit den Katzen hatte.«
Meine Großmutter senkte den Blick und ergänzte: »Jungchen, das war eine andere Welt. Wir waren angesehene Leute und verkehrten in den besten Kreisen. Dann kam dieser verfluchte Krieg ...«
Papa nahm ein Stück Kuchen in den Mund, schmatzte und leckte sich die Lippen. »Sophie, dein Käsekuchen schmeckt wieder fantastisch.«
Alle nickten zustimmend.
»Wenn Hitler den Krieg gewonnen hätte, sähe es in Deutschland jetzt anders aus«, sagte Papa.
»Aber ihr habt doch alles verloren durch ihn und den Krieg, oder nicht?«, fragte ich nach. Er atmete tief durch.
»Er hatte auch gute Seiten. Er hat die Autobahnen gebaut und Tausenden von Menschen einen Arbeitsplatz gegeben. Was glaubst du, wie es vor Hitler in Deutschland ausgesehen hat? Überall Schlangen von Arbeitslosen vor den Suppenküchen. Er hat die Leute wieder in Lohn und Brot gebracht. Und er hat den Deutschen ihren Stolz zurückgegeben. Auch der Krieg war am Anfang eine gute Sache. Wir haben gewonnen. Wir haben Gebiete im Osten zurückerobert und die Hälfte von Polen dazu. Wir haben Frankreich besiegt und ihnen Versailles heimgezahlt. Und die Engländer haben wir rausgeworfen aus Europa.«
Er hielt einen Moment inne und rieb sich den Nacken. »Dann ist er aber zu weit gegangen. Er hätte den Krieg nur vorher beenden sollen.«
Papas Augen funkelten vor Wut.
»Lass gut sein, Waldemar«, versuchte Mama ihn zu beruhigen.
Ich schaute Papa an. Sollte ich ihm die Frage stellen? Und dann traute ich mich. »Warst du auch ein Nazi?«
Er zögerte. Meine Großeltern tauschten seltsame Blicke aus.
»Nicht so richtig. Ich war in der Hitlerjugend.«
»Aber im Krieg bist du doch gewesen. Du hast mir deine Narben am Bauch gezeigt.«
Ich streckte meine Hand aus und berührte mit den Fingerkuppen seine Schläfe. »Und das hast du von einem Streifschuss.«
Mit einer schroffen Handbewegung stieß er mich zurück.
»Ich war nicht lange im Krieg. Erst gegen Ende, als alles schon bergab ging. Ich war nur ein paar Monate an der Front«, sagte er. Seine Stimme klang gereizt.
»Ja, ja, dein Vater war ein guter, tapferer Soldat. Er hat bis zum Schluss gekämpft«, bemerkte Oma mit einem ironischen Unterton.
Ich beugte mich nach vorne und wurde immer mutiger. »Hast du denn auch auf Menschen geschossen?«, platzte es aus mir heraus.
Papa antwortete nicht.
»Lass uns mal das Thema wechseln«, sagte Mama.
»Das ist ja wieder einmal typisch, Sophie. Du möchtest am liebsten die Vergangenheit aus deinem Gedächtnis streichen«, bemerkte Oma.
»Hitler hätte den Engländern den Rest geben sollen, anstatt in Russland einzumarschieren. Russland … da ist schon Napoleon nicht weit gekommen. Wenn wir den Krieg gewonnen hätten, wären wir jetzt die Herren in Europa und ich wäre Herr auf unserem Gut«, lamentierte Papa.
»Und ich die Herrin«, ergänzte Mama und lehnte sich grinsend zurück.
»Erzähl weiter, Papa.«
»Als die Russen immer näher an Ostpreußen heranrückten, wussten wir, dass es zu Ende geht. An einem Dienstag im Februar 1945 erhielten wir den Räumungsbefehl. Kannst du dich daran noch erinnern?«, fragte Papa wehmütig und schaute Opa an.
Der nickte und ergänzte: »Ja, Marek legte zwei Kastenwagen mit Stroh aus und montierte über jeden eine Plane. Die Hausmädchen packten die nötigsten Dinge ein, warme Kleidung und Verpflegung.«
Ich beugte mich vor. »Und dann ging es los?«
»Ja«, antwortete Papa. »Früh am Morgen, gleich am nächsten Tag. Die Zeit drängte. In der Ferne hörten wir bereits den Kanonendonner der Russen. Marek holte vier Trakehner aus dem Stall und spannte sie vor die Wagen. Die Landschaft war mit Schnee bedeckt und es war kalt, minus fünfundzwanzig Grad, unser Atem gefror an den Nasenlöchern.«
»Ich lenkte den ersten, Marek den zweiten Planwagen mit zwei Mägden«, ergänzte Opa. »Die anderen Bediensteten wollten den Hof nicht verlassen und blieben zurück.« Seine Augen glänzten.
Oma senkte den Kopf. »Was aus ihnen wohl geworden ist?«, fragte sie mit leiser Stimme.
Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Und wie ging es dann weiter?«
»Wir wollten eigentlich auf dem Landweg direkt nach Westen fliehen, doch dann erfuhren wir, dass russische Panzer schon bei Elbing die Küste erreicht und den Fluchtweg abgeschnitten hatten. Der einzige Ausweg blieb die Flucht über den Hafen Pillau am Frischen Haff. Bereits am ersten Tag warfen russische Schlachtflieger Bomben mitten in die Fuhrwerke. Danach kamen sie zurück und schossen mit ihren Bordkanonen auf die wehrlosen Flüchtlinge. Sie drehten bei, griffen noch mal an, wieder und wieder, bis sie keine Munition mehr hatten …«
Er hielt kurz inne.
»Erzähl weiter, Papa.«
»Nachdem die Attacke zu Ende war, hörten wir die getroffenen Pferde wiehern und die verwundeten Menschen schreien. Überall lagen Tote herum. Die waren schrecklich zugerichtet. Es war ein Bild des Grauens.«
Papa schaute auf den Boden.
»Und wo habt ihr geschlafen?«, wollte ich wissen.
»Manchmal in Scheunen, leerstehenden Häusern oder Schulen und häufig unter freiem Himmel. Es war ein harter Winter. Teilweise war das Schneetreiben so dicht, dass wir kaum die Wagen vor oder hinter uns sehen konnten. Eisige Ostwinde und furchtbare Schneestürme machten das Vorwärtskommen zur Qual.«
Papa holte tief Luft. »Irgendwann war der zweite Wagen mit Marek und dem größten Teil unseres Proviants verschwunden«, sagte er leise.
Ich bemerkte, wie seine Unterlippe zitterte.
»Und wir wissen bis heute nicht, was passiert ist.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen.
»Und ihr hattet nichts mehr zu essen?«, fragte ich.
»Nur noch etwas Brot, aber das war trocken und gefroren«, sagte Papa. »Einmal bekamen wir auf einem Bauernhof eine warme Steckrübensuppe.«
Er legte den Kopf in die Hände und fuhr mit zittriger Stimme fort.
»Überall, wo wir hinkamen, dasselbe Bild: eine weiße, verwüstete Landschaft, Wagen am Wegesrand, in Schneewehen stecken geblieben, tote Pferde, tote Soldaten und die Leichen von Zivilisten, meist Alte und Kinder.« Er zögerte und schluckte. »Und dann die Scheune …«
»Nein Waldemar, nicht vor den Kindern«, unterbrach Mama.
»Lass ihn doch, die Kinder sollen wissen, was wir alles durchgemacht haben«, widersprach Oma.
Papa zögerte, blickte Mama an und sagte: »Sophie, ich glaube, meine Mutter hat recht.«
Mama sprang auf und verließ wutschnaubend das Zimmer. Manchmal war sie etwas launisch und aufbrausend, aber meistens beruhigte sie sich schnell wieder.
Papa schaute ihr schweigend hinterher, während ich ungeduldig mit den Beinen wippte. Schließlich räusperte er sich und erzählte die Geschichte weiter.
»Einmal fuhren wir zwei Tage und Nächte hintereinander, ohne auszuspannen. Wir haben die Pferde richtig geschunden. Die Russen waren gefährlich nahe. Endlich glaubten wir uns halbwegs in Sicherheit. Da entdeckte ich eine Scheune. Wir hielten an, sprangen vom Wagen und öffneten das Scheunentor, um nachzuschauen, ob es darin etwas gab, was wir gebrauchen konnten. Wir fanden einen Schatz. Der Schuppen war bis zum Dach mit Strohballen gefüllt. Könnt ihr euch überhaupt vorstellen, was das für uns und die Pferde bedeutete?«, fragte Papa und schaute uns Kindern tief in die Augen.
Dann verfinsterte sich seine Miene. »Womöglich hat Mama recht, vielleicht sollte ich euch diese Szene ersparen.«
»Nein, Papa, erzähl schon weiter!«
Er musterte meine Großeltern. Sie nickten ihm zu.
»Wir spannten die Pferde ab, führten sie zum Heu und durchsuchten die Scheune nach nützlichen Gegenständen. Plötzlich ein Schrei.«
Papa zögerte einen Moment und holte tief Luft. »Deine Oma hatte etwas gefunden. Ein Bündel, aus zwei Kissen, fest miteinander verschnürt. Oben schaute ein Gesicht hervor. Das Gesicht eines Kindes, höchstens ein Jahr alt. Es sah aus, als ob es schliefe. Es hatte noch rosige Wangen.« Er schwieg einen Moment und rieb sich die Augen. »Aber es war tot.« Betretenes Schweigen. Meine Geschwister wischten sich die Tränen mit einem Taschentuch ab, meine Großeltern schauten sich versteinert an.
Oma schüttelte den Kopf und schaute mir tief in die Augen. Ihr Blick war so durchdringend, dass ich mich nicht vom Fleck rühren konnte. »Mein Gott, in welcher Hölle waren wir dort gelandet. Mütter, die ihre Kinder unbestattet liegen ließen«, fluchte sie und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Alles nur wegen des Braunen.«
Ich schaute in die kreidebleichen Gesichter meiner Schwestern. Sie hatten sich eng aneinandergeschmiegt und zitterten am ganzen Körper. Nur das Schluchzen von Oma war zu hören.
»Und als wir endlich in Pillau angekommen waren, kreisten russische Flieger über der Stadt und bombardierten den Hafen. Eine Bombe schlug zwanzig Meter neben uns ein. Im Wasser trieben Koffer und Taschen. Wir mussten unseren Planwagen und Pferde zurücklassen. Irgendwie haben wir es nach Kopenhagen und von da aus weiter nach Lübeck geschafft, mit Gottes Hilfe. Kinder, das könnt ihr euch nicht vorstellen«, fuhr Oma fort.
Plötzlich tauchte Mama wieder auf. »Seid ihr endlich fertig mit euren Kriegsgeschichten?«
Keiner antwortete.
Sie ging zur Vitrine und nahm zwei Flaschen und fünf Gläser, die sie auf den Tisch stellte. Den Männern goss sie einen Weinbrand, den Frauen einen Kirschlikör ein. Sie sah mich an. »Zur Feier des Tages darfst du heute einen Schnaps mittrinken.« Sie erhob ihr Glas. »Prost, auf unser Geburtstagskind. Aber jetzt lasst uns über die Zukunft sprechen.«
Opa stand auf und prostete mir zu. »Auf dich, mein Junge. Darauf, dass wir eines Tages in unsere verlorene Heimat zurückkehren können. Und dann wirst du den Hof übernehmen. Prost!«
Opa kippte den Schnaps in einem Rutsch runter. Ich nippte am Glas, schüttelte mich und stellte es auf den Tisch zurück.
»Aber uns geht es doch jetzt auch ganz gut«, erwiderte ich. »Ich fühle mich hier wohl.«
»Da hast du recht mein Junge, aber Heimat ist Heimat.«
Ich stutzte, wollte Opa jedoch nicht widersprechen.
»Lukas hat recht, uns geht es gut«, sagte Mama. »Wir haben genug zu essen, ein kleines Einfamilienreihenhaus und liebe Kinder. Das Wichtigste ist, wir haben eine neue Heimat in der Gemeinde gefunden und Jesus als unseren Erlöser ins Herz geschlossen. Lasst uns an die Zukunft denken.«
Papa nickte, wogegen Oma und Opa regungslos Mamas Ausführungen folgten.
Mama redete nicht gerne über die Vergangenheit. Vielleicht war das auch nicht so wichtig. Die schlimme Zeit war vorbei. Und im Hier und Jetzt bewunderte ich Papa. Wie er sein Leben nach der Flucht in der Fremde gemeistert und wie er eine neue Existenz aufgebaut hatte.
Er erzählte mir immer wieder davon, wie schwer das Leben kurz nach Kriegsende gewesen sei. Nach der Ankunft in Lübeck lebte er zunächst mit meinen Großeltern in Sammellagern, bevor sie in eine schäbige Zweizimmerwohnung in einem alten Fachwerkhaus ohne Heizung, Bad und Toilette umzogen. Für zehn Bewohner gab es zwei Plumpsklos im Hof.
Erst nachdem Papa Mama kennengelernt und geheiratet hatte, ging es aufwärts. Er bekam eine Stelle in der Versicherungsbranche angeboten und verdiente für damalige Verhältnisse gutes Geld. Der neue Chef war gleichzeitig das Oberhaupt einer freikirchlichen Gemeinde. Alle nannten ihn nur Bruder Johannes. Er gewährte unserer Familie ein zinsloses Darlehen, sodass meine Eltern ein kleines Reihenhaus kaufen konnten.
Papa und Mama waren von der Hilfsbereitschaft so beeindruckt, dass sie der Gemeinde beitraten. Die Gläubigen hießen sie mit offenen Armen in ihrer Mitte willkommen. Meine Eltern sprachen immer von ihrer neuen Heimat. Jeden Sonntag besuchten sie den Gottesdienst. Sie konnten es kaum erwarten, die Frohe Botschaft zu hören und unter ihresgleichen zu sein. Auch meine Geschwister und ich freuten uns riesig. Wir wurden während der Andacht von Schwester Brunhilde im Nebenraum betreut, die uns aus der Bibel vorlas und zusammen mit uns betete. Manchmal durften wir sogar im Freien spielen: Seilspringen, Verstecken, Wer hat Angst vorm schwarzen Mann, Gummitwist und vieles mehr. Es war für uns der Höhepunkt der Woche. Unser Leben verlief so wunderbar harmonisch.
2 Sünde in der Badewanne
An einem Samstagvormittag, Ende Mai, durfte ich wie immer als Erster in die Badewanne steigen. Meine Schwestern folgten mir. Sie mussten im selben Wasser baden.
Genüsslich verteilte ich den Schaum über meinem Körper. Von draußen hörte ich Mamas Stimme. Sie sang:
»Seit ich ausging, dich zu suchen,
seit ich unterm Kreuz dich fand,
ist die Brücke abgebrochen,
die mich mit der Welt verband ...«
Es war eines von den Liedern aus der Bibelstunde. Ich stimmte mit ein. Durch den Gesang waren wir verbunden, wie eine unbesiegbare Gemeinschaft.
Mama und Papa gaben mir ein sicheres Zuhause, Geborgenheit und, das war das Wichtigste, sie machten aufgrund ihres festen Glaubens alles richtig.
Wir lebten bescheiden, aber vermissten nichts: keinen Fernseher, kein Radio, keine sündhaften Veranstaltungen wie Kirmes, Volksfeste oder Vereine. Unser Leben war von Jesus Christus geprägt. Seine Liebe gab uns Sinn und festen Boden unter den Füßen. Mama sprach immer von einer inneren und äußeren Keuschheit, die wir streng einhalten mussten. So durften zum Beispiel die Frauen keine Hosen tragen, sich nicht schminken oder die Haare färben. Als besonders schwere Sünden galten Hochmut, Neid und sexuelle Verfehlungen.
Ich nahm den Lappen, ein Stück Seife und wusch mir den Hals. Ich weiß nicht warum, aber plötzlich kam mir Marie in den Sinn. Sie war ein zierliches Mädchen aus meiner Klasse, mindestens einen Kopf kleiner als ich. Neulich hatte sie mich angelächelt, mitten im Unterricht, einfach so. Ich fragte mich zum ersten Mal, was draußen, außerhalb meiner Familie und der Gemeinde auf mich wartete.
Marie war sehr krank und fehlte oft in der Schule. Wenn sie anwesend war, musste sie oft in einem Nebenraum inhalieren.
Ich schloss die Augen und sah sie vor mir. Ganz nah. Ihr blondes Haar glänzte, ihre taubenblauen Augen funkelten, ihre zarten rosa Lippen waren leicht geöffnet. Ihr Schönheitsfleck am Kinn lachte mich an.
Behutsam streifte ich den Waschlappen über meinen Bauch. Ich merkte, wie etwas mit mir passierte, wie sich eine merkwürdige Kraft in meinen Körper schlich.
Der Teufel hat dich ergriffen, flehte eine innere Stimme. Hör sofort auf damit!
Ich biss mir auf die Lippen und kniff mit Daumen und Fingern, so fest ich konnte, in meine Oberschenkel. Aber ich spürte keinen Schmerz. Im Gegenteil, mein Penis wurde noch größer. Ich betrachtete meinen Schoß. Unfassbar, mit welcher Gewalt der Teufel zugeschlagen hatte. Mir wurde fast schwindelig, mein ganzer Körper glühte. Meine linke Hand näherte sich dem sündigen Teil. Ich konnte nicht anders. Ich umfasste meinen Penis mit der Handfläche und begann ihn mit sanften Auf- und Abwärtsbewegungen zu reiben, immer schneller und fester.
»Marie …«, stöhnte ich. Und dann passierte es einfach. Mein Körper zitterte und Sekunden später explodierte er. Ich hatte das Gefühl, als wenn jemand einen Wasserhahn in mir aufgedreht hätte.
»Lukas, was ist los? Soll ich dir den Rücken waschen?«, rief Mama von draußen.
Ich zuckte zusammen und stotterte. »Nein, ich bin schon fertig.«
In dem Moment öffnete sich die Tür und sie steckte ihren Kopf durch den Spalt.
»Ist alles in Ordnung?«
Panikartig legte ich meine Hände auf den Schoß.
»Ja … mach … die Tür bi … tt … e zu, es zieht.« Sie verschwand keineswegs wieder. Stattdessen trat sie ein, schlug die Tür hinter sich zu und starrte auf meinen Schoß.
»Du hast doch nicht etwa Hand an dich gelegt?«
»Was meinst du?«, fragte ich.
»Nimm die Hände mal weg.«
»Nein Mama, ich schäme mich so sehr.«
Sie kam auf mich zu und holte mit einer Hand aus. Reflexartig hielt ich mir die Hände vors Gesicht und schloss die Augen. Und dann knallte es.
»Schande!«, rief sie.
Ich versank vor Scham im Boden. Wie konnte ich mich nur so gehen lassen? Wie konnte ich meinen Eltern das antun?
»Schau mich an Lukas.«
Meine Hände zitterten. Langsam ließ ich sie nach unten gleiten und öffnete die Augen.
Sie hatte sich über mich gebeugt. Ihr Blick war starr, fast unheimlich.
»Das darf nicht wahr sein«, sagte sie, zog den Stopfen aus der Wanne und fasste sich an den Kopf. Bevor sie das Badezimmer verließ, drehte sich noch einmal um.
»Gott wird dich dafür bestrafen.«
Für einen Moment schwieg sie und dann kullerten plötzlich Tränen über ihre Wangen. Sie kam zurück, griff in das Wandregal und knallte eine Flasche Scheuermittel auf den Toilettendeckel.
»Du schrubbst die Wanne gründlich sauber. Deine Schwestern können unmöglich in dem teuflischen Wasser baden.«
Wutschnaubend verließ sie das Badezimmer und knallte die Tür zu.
»Ruth, Daniela, ihr müsst warten. Das Wasser muss erst neu aufgeheizt werden«, hörte ich sie keifen.
Ich war wie gelähmt. Mit zittrigen Knien stieg ich aus der Wanne und trocknete mich ab. Bevor ich mich anzog, betrachtete ich noch einmal meinen Körper. Obwohl der Teufel schon fast wieder verschwunden war, schüttelte ich mich vor Ekel.
Dann nahm ich einen Schwamm und das Reinigungsmittel, schrubbte die Wanne und spülte sie mit dem letzten warmen Wasser sorgfältig ab. Auf Zehenspitzen schlich ich mich nach unten in die Küche.
Plötzlich stand Mama mit erhobener Hand hinter mir. »Du gehst sofort auf dein Zimmer«, schrie sie. »Du bist vom Teufel besessen.«
Ich traute mich nicht, ihr zu widersprechen. Schweigend und mit hängendem Kopf ging ich die Treppe wieder hinauf.
»Und dort bleibst du, bis der Papa zurückkommt, und rührst dich nicht vom Fleck. Verstanden?«, rief sie mir noch hinterher.
»Ja, Mama«, antwortete ich leise.
»Was? Ich habe dich nicht verstanden.«
Ich holte tief Luft: »Ja, Mama.«
Ich legte mich aufs Bett und starrte an die Decke. Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Wie konnte ich das nur tun? Ob mir Mama meinen Fehltritt noch einmal verzeihen könnte, oder Papa? Würde Jesus mich jetzt noch lieben? Durfte ich meine Eltern auch in Zukunft zur Gemeinde begleiten? Und wie würde die Strafe Gottes aussehen?
Ich faltete die Hände.
»Lieber Gott, ich schäme mich so. Ich weiß, dass ich gesündigt habe. Beschütze mich vor weiteren unkeuschen Handlungen und gib meinen Eltern die Kraft, die sie brauchen, um mich auf den richtigen Weg zurückzubringen. Amen.«
3 Schläge im Namen des Herrn
Am Mittag hörte ich, wie Papa von der Arbeit nach Hause kam. Ich öffnete die Kinderzimmertür und lauschte. Mama las Ruth und Daniela aus der Bibel vor.
»Hallo ihr Lieben, endlich Wochenende.«
Wie üblich begrüßte er Mama und meine Schwestern mit einem saftigen Kuss.
»Papa, du kratzt. Hast du dich heute nicht rasiert?«, hörte ich Ruth sagen.
»Habe ich ganz vergessen«, antwortete er.
»Alles gut? Wo ist Lukas, Sophie?«
»Waldemar, ich muss sofort mit dir sprechen. Am besten nebenan.«
Ich hörte, wie sie ins Wohnzimmer gingen, und die Tür hinter ihnen zu fiel.
Ich legte mich zurück aufs Bett und zog mir die Decke bis zum Kinn hoch.
Plötzlich polterte es auf der Treppe. Hilfe! Das konnte nur Papa sein. Er riss die Tür so heftig auf, dass sie gegen die Wand krachte. Ich zuckte zusammen, riss die Augen auf und starrte ihn an. Er war mit einem Rohrstock und einer Bibel bewaffnet. Er warf die Heilige Schrift auf den Schreibtisch, riss mir die Decke weg und zog mich an den Füßen aus dem Bett. Ich knallte mit Bauch und Gesicht auf den Boden.
»Steh auf, du elender Sünder! Du hast den Pfad der Tugend verlassen! Du hast Jesus und uns beschmutzt!«
Er packte mich am Kragen und zog mich zu sich hoch. »Hose runter!«
Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Da stand mein Vater mit einem Stock vor mir. Ich konnte es nicht glauben. Ich öffnete den Gürtel und ließ die Hose bis zu den Füßen heruntergleiten.
»Und jetzt die Unterhose und dann beugst du dich über das Bett.« Er ließ den Rohrstock durch die Luft sausen. »Wird's bald!«
Ich zitterte am ganzen Körper und folgte seinen Anweisungen. Dann donnerten Hiebe auf mich herab. Ein, zwei, drei Mal, auf den nackten Hintern. Jeder Schlag brannte wie Feuer. Endlich hört er auf, dachte ich. Ich japste nach Luft.
»Junge, du hast uns fürchterlich enttäuscht. Du hast uns und Gott hintergangen.«
»Bitte nicht mehr schlagen, Papa. Ich werde es nie wieder tun.«
Er holte erneut aus und ließ weitere sieben Schläge folgen.
»Zehn Schläge, einer für jedes Gebot. Ich hoffe, das wird deine Seele reinigen.«
Ich biss mir auf die Zunge, um das Brennen auf dem Po zu unterdrücken. Meine Tränen konnte ich jedoch nicht zurückhalten. Ich drehte meinen Kopf langsam nach hinten, bis ich in seine Augen sehen konnte. Sie funkelten vor Zorn. »Wenn ich jetzt leiden muss, tue ich dann Buße, Papa? Wird dann alles wieder gut?«, fragte ich und schnappte nach Luft.
»Vielleicht, aber heute bleibst du im Bett«, sagte er und verließ den Raum.
Ich zog die Hose hoch, legte mich ins Bett und rollte mich wie eine Kugel zusammen.
Nach kurzer Zeit kam Papa noch einmal zurück. »Hier, du weißt ja, die Bibel irrt nie. Lese die Stellen. Vielleicht kannst du dann auch uns verstehen«, sagte er und überreichte mir einen Zettel.
Dann verschwand er wieder.
Ich las die Notiz: Sprüche 13,24, Sprüche 29,15, nahm die Bibel in die Hand und schlug die entsprechenden Stellen auf.
Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn;
wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.
Rute und Strafe gibt Weisheit; aber ein Knabe, sich selbst überlassen, macht seiner Mutter Schande.
Ich hatte die Schläge verdient. Ich richtete mich auf und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Einmal, zweimal und immer wieder bis mir das Blut von der Stirn über die Lippen lief.
»Ruhe da oben, sonst knallt es!«, schallte Papas Stimme durch das ganze Haus.
In der Nacht konnte ich kaum schlafen. Um vier Uhr schlich ich mich ins Badezimmer und zog vorsichtig die Hose hinunter. Der Stoff rieb über meine Haut wie ein Reibeisen. In meiner Unterhose waren Blutspuren. Ich nahm einen Spiegel aus der Kulturtasche und hielt ihn so, dass ich die betroffenen Stellen sehen konnte. Schwielen und Striemen bedeckten mein ganzes Hinterteil. Es brannte wie Feuer.
Ich zog die Hose behutsam hoch und humpelte zurück ins Bett. Wieder starrte ich an die Decke. Ich fühlte mich leer und als Sohn nutzlos - ich hatte versagt. Irgendwann bin ich dann eingeschlafen und erst am Morgen wieder aufgewacht.
4 Vergebung der Schuld
Mama stand vor meinem Bett und weckte mich.
»Frühstück, wir warten schon alle auf dich. Hier hast du frische Unterwäsche. Am besten du gibst mir die Dreckige gleich mit.«
Ich wollte mich aufrichten und aus dem Bett steigen. Aber egal, wie ich mich bewegte, ich hatte fürchterliche Schmerzen. Mama reichte mir die Hand und half mir auf zu stehen. Ich stand vor ihr, zog mich aus und übergab ihr meine dreckige Unterwäsche.
»Was sind denn das für komische Flecken?«, fragte sie und hielt sich die Unterhose unter die Nase.
»Das ist …« Ich zögerte. »Ich weiß es auch nicht so genau.«
Sie blickte auf meine Scham.
»Ich kenne ein Mittel gegen die Sünde. Ganz ohne Schläge. Ich kann sie dir austreiben.«
»Wie meinst du das, Mama?«
»Das erklär ich dir, wenn es wieder so weit ist.«
»Ich versteh nicht, was du meinst?«
»Warte ab, bis wir mal ganz alleine sind. Aber jetzt zieh dich schnell an und dann frühstücken wir alle zusammen«, sagte sie und ging nach unten.
Ich nahm frische Wäsche aus dem Schrank und zog mich an. Es dauerte eine Ewigkeit.
Langsam, wie ein alter Mann, stieg ich Stufe um Stufe die Treppe hinunter und humpelte ins Esszimmer. Alle hatten ihre Hände gefaltet und ihre Köpfe tief über den Tisch geneigt.
»Schön, dass ihr auf mich gewartet habt«, sagte ich. Keiner blickte auf. Keiner sagte etwas, nicht einmal meine Schwestern. Ich setze mich auf den Platz direkt gegenüber Papa.
»Lasst uns zum Herrn beten.«
Wir schlossen die Augen: »Vater, segne diese Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise. Zwei Dinge, Herr, sind not, die gib nach deiner Huld: Gib uns das täglich Brot, vergib uns unsre Schuld. Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast. Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet.«
Ich wartete auf das Amen, aber das kam nicht. Stattdessen fuhr Papa fort: »Herr wir bitten dich, unseren Sohn nicht zu verstoßen. Hilf ihm, zu dir zurückzukehren, rette seine Seele, denn dein ist das Reich und die Seligkeit … Amen.«
Totenstille.
Ich blickte auf. Papa hielt die Augen geschlossen und verharrte in seiner demütigen Position, die Stirn tief in Falten gelegt. Ruth schaute zu mir herüber, traute sich aber anscheinend nicht, etwas zu sagen.
»Guten Appetit«, durchbrach Papa die Stille.
Nachdem wir eingestimmt hatten, senkte sich wieder Stille über die Tafel. Wir Kinder schmierten uns Brötchen mit Butter und Marmelade. Papa schenkte Mama einen Kaffee ein. Erst als unsere Eltern ihr Brot belegt hatten, wagten wir den ersten Bissen.
Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her. Ich brachte kaum etwas herunter, wollte mir die Schmerzen aber nicht anmerken lassen.
Das Sonntagsfrühstück war bisher immer die Zeit, an der die gesamte Familie rege und fröhliche Gespräche führte. An diesem Tag war es anders. Ein Schweigen hing über uns, das niemand zu brechen wagte.
Schließlich schaute mich Papa beschwörend an und fragte: »Hast du die Bibelzitate gelesen?«
»Ja, habe ich, Papa.«
»Hast du sie auch verstanden?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Glaubst du, du bist ein Sünder?«
»Ja, das glaube ich.«
»Ist Jesus für dich auferstanden und sind deshalb all deine Sünden vergeben, wenn du ihn darum bittest?«
»Ja, das glaube ich.«
»Dann wirst du heute Nachmittag, in Anwesenheit der Brüder und Schwestern der Gemeinde, Jesus in Form eines offenen Gebetes um Vergebung bitten.«
»Ja Papa«, sagte ich, ohne zu überlegen. »Darf ich jetzt aufstehen?«
»Nein, du bleibst sitzen, bis wir alle fertig sind.«
Endlich, nach einer halben Stunde durfte ich zurück auf mein Zimmer. Ich war froh, dass mir meine Eltern einen Weg aufgezeigt hatten, wie ich mich wieder vom Teufel befreien konnte.
5 Die große Ehre
Am Nachmittag war es so weit. Wir fuhren zum Gemeindehaus.
Als wir ankamen, liefen Ruth und Daniela direkt zu dem Nebengebäude, in dem die Kinderstunde stattfand. Sie wurden freundlich von Schwester Brunhilde in die Arme genommen und drehten sich noch einmal um.
»Tschüss, Mama, tschüss Papa. Bis nachher«, riefen sie im Chor. »Bis später, ihr Lieben.«
Ich folgte meinen Eltern in Richtung Hauptgebäude. Ich war stolz, nicht mehr zu den Kleinen zu gehören, und gespannt, was mich erwarten würde. Gleichzeitig war ich nervös wegen des offenen Gebetes.
Vor dem Eingang wartete die Gemeinde. Männer in dunklen Anzügen, einige rauchten, Frauen mit langen Röcken oder hochgeschlossenen Kleidern. Alle plauderten miteinander.
»Guck mal, die da drüben«, sagte ich zu Mama. »Die sieht aber lustig aus. Was trägt die denn für eine komische Mütze?«
Mama hielt den Zeigefinger vor den Mund. »Nicht so laut Lukas. Das ist Schwester Johanna aus dem Erzgebirge«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Die Haube gehört zu ihrer Tracht.«
Wir betraten den Vorraum zum Gemeindesaal. Bruder Johannes kam federnd und leichten Schrittes auf uns zu. Ich erkannte ihn sofort. Er hatte mich vor einem Jahr getauft. Meine zweite Taufe. Damals durfte ich frei entscheiden. Ich ganz alleine. Ein tolles Gefühl, auch wenn ich den Taufablauf selbst eher in zwiespältiger Erinnerung behalten hatte. Aber seit diesem Zeitpunkt war ich endlich volles Mitglied der Gemeinde.
Bruder Johannes strahlte. Er war braun gebrannt, als wenn er gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt wäre. Am Revers seines dunkelbraunen Nadelstreifenanzugs trug er eine Ansteckplakette mit einem Kreuz. Das Motiv sah aus wie ein Orden.
»Gottes Segen. Wie geht es euch, Schwester Sophie und Bruder Waldemar?«, fragte er.
»Gut. Wir freuen uns auf die heutige Botschaft des Herrn, Bruder Johannes«, sagte Papa.
Dann wandte er sich an mich. Da stand er vor mir, der große Meister der Gemeinde, blickte mir fest in die Augen und reichte mir die Hand. Sein Händedruck war kräftig und seine Augen trafen mich wie ein Blitz.
»Du hast dich aber verändert, Lukas.«
»Ja, Bruder Johannes.«
»Kannst du dich noch daran erinnern, wie ich dich getauft habe?«
»Natürlich.«
»Du warst so tapfer. Du hast weder geschrien noch geweint«, bemerkte er mit einem Lächeln. »Und heute kommst du zum ersten Mal mit deinen Eltern in die Andacht. Das ist großartig.«
»Ja Bruder Johannes. Ich freue mich schon.«
»Das wird dir gefallen. Wir sind eine eingeschworene Truppe und halten immer zusammen. Wie die Besatzung auf einem Schiff. Hast du schon mal einen Bootsausflug gemacht? Alle halten zusammen. Alle sind aufeinander angewiesen und jeder kann sich auf den anderen verlassen. Wir sind die Auserwählten. Die wilde See kann uns nichts anhaben, denn wir haben uns und den Herrn, der uns leitet. Das Ganze ist ein Riesenspaß, obwohl unser Boot eigentlich mehr wie ein Rettungsboot ist. Willkommen an Bord.«
Sein Blick war so durchdringend, ich bekam fast weiche Knie.