Sozialphilosophie - Rahel Jaeggi - E-Book

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Rahel Jaeggi

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Beschreibung

In der Reihe C.H.Beck Wissen erscheinen kurze Einführungen in die Disziplinen der Philosophie. Die Bände sind knapp und konzise für ein allgemeines Lesepublikum geschrieben. Neben einer Einführung in die Geschichte der jeweiligen philosophischen Disziplin liegt der Schwerpunkt der Bände auf der systematischen Entfaltung des Themas und dessen Relevanz für die Philosophie der Gegenwart.

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Rahel Jaeggi/Robin Celikates

SOZIALPHILOSOPHIE

Eine Einführung

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Wie funktionieren Gesellschaften? Gibt es kollektives Handeln? Und wie kann ein freies Individuum zugleich Teil einer Gesellschaft sein? Wie entsteht Entfremdung und was bedeutet Macht? Rahel Jaeggi und Robin Celikates geben eine fundierte und allgemeinverständliche Einführung in die Fragen, Grundbegriffe und Argumentationsweisen der Sozialphilosophie. Zugleich bieten sie einen Überblick über die Geschichte und die wichtigsten Positionen der Disziplin.

Über die Autoren

Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie und Sozialphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Robin Celikates ist Associate Professor für Politische Philosophie und Sozialphilosophie an der Universität von Amsterdam.

Inhalt

1. Was ist Sozialphilosophie?

Die sozialphilosophische Perspektive

Sozialphilosophie, Soziologie und Politische Philosophie

Horkheimer, Honneth und die Aufgaben der Sozialphilosophie

Sozialphilosophie – Versuch einer Bestimmung

2. Gemeinschaft und Gesellschaft

Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft

Zwei Arten von Sozialität

Solidarität

3. Individuum und Gesellschaft

Individualismus

Holismus

Plädoyer für einen gemäßigten Holismus

Irreduzibel soziale Güter

4. Freiheit

Freiheit und Freiheitshindernisse

Aspekte von Freiheit

Freiheit als Modus des Vollzugs

5. Anerkennung

Fichte und Hegel

Formen der Anerkennung

Ambivalenzen der Anerkennung

Anerkennung im Konflikt

6. Entfremdung

Von Rousseau über Hegel zu Marx

Nach Marx

Entfremdung und Aneignung

7. Macht

Was ist Macht? Vier Bestimmungsversuche

Erweiterungen des Machtbegriffs

Dimensionen der Macht

Der produktive Effekt von Macht

8. Ideologie

Drei Verständnisse von Ideologie

Drei Dimensionen der Falschheit von Ideologien

Probleme und Alternativen des Ideologiebegriffs

Die kritische Funktion des Ideologiebegriffs

9. Schluss: Sozialphilosophie und Sozialkritik

Dank

Literaturverzeichnis

Personenregister

1. Was ist Sozialphilosophie?

Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon,

nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier,

das nur in Gesellschaft sich vereinzeln kann.

Karl Marx

Auf den ersten Blick erscheint die Antwort auf die Frage, was Sozialphilosophie ist, ganz einfach: Sozialphilosophie ist diejenige Teildisziplin der Philosophie, die sich mit dem Sozialen befasst, die nach der Gestalt unserer sozialen Praktiken und Institutionen, also nach unserer gesellschaftlichen Lebensform fragt. Auf welche Weise aber tut sie das? In welcher Hinsicht fragt sie nach «dem Sozialen», was versteht sie darunter und wie unterscheidet sie sich dabei von anderen Teildisziplinen der Philosophie oder gar von anderen Wissenschaften wie der Soziologie, die einen ähnlichen Gegenstandsbereich haben? In erster Annäherung lässt sich Sozialphilosophie als das philosophische Projekt charakterisieren, das die Gesellschaft zugleich evaluativ und analytisch zu erfassen sucht. Die kritische Reflexion auf die Strukturen der sozialen Wirklichkeit soll also mit deren sozialtheoretischer und sozialontologischer Durchdringung kombiniert werden. Ein genaueres Verständnis dieser ersten, noch recht abstrakten Bestimmung lässt sich anhand von zwei Beispielen gewinnen, die zeigen, welche Art von auch zeitdiagnostisch relevanten Fragen eine so verstandene sozialphilosophische Perspektive aufzuwerfen erlaubt.

Die sozialphilosophische Perspektive

Eines der meistdiskutierten Probleme unserer modernen Gesellschaften ist das der Arbeit, oder konkreter: das Schicksal einer «Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist» (Arendt 1958a, S. 13) und die gleichzeitig vor der Herausforderung steht, Arbeit unter veränderten Bedingungen neu zu definieren. Von der Frage eines Mindestlohns über die nach dem Umgang mit dauerhafter Arbeitslosigkeit bis zur Wochenarbeitszeit und der Anrechnung von Sozialversicherungszeiten steht Arbeit im Mittelpunkt teilweise erbittert geführter gesellschaftspolitischer Debatten.

Nun kann man sich diesem Thema soziologisch widmen, indem man beispielsweise die Veränderungen der Arbeitswelt unter den Bedingungen der digitalen Revolution oder des Neoliberalismus untersucht. Und man kann politikwissenschaftlich Möglichkeiten der Transformation von Versicherungssystemen prüfen. Ein sozialphilosophischer Zugang unterscheidet sich von diesen Ansätzen zunächst, indem er sich mit der Thematik nicht nur in deskriptiver, also beschreibender Hinsicht auseinandersetzt, sondern auch in normativer, bewertender sowie in analytischer und sozialontologischer Hinsicht. Die Sozialphilosophie stellt also nicht nur die Frage, wie zeitgenössische Arbeitsverhältnisse verfasst sind oder wie die Individuen sich (empirisch) zu ihrer Arbeit verhalten; sie fragt auch begrifflich und evaluativ danach, was Arbeit und die durch sie geprägten sozialen Verhältnisse eigentlich sind und wie die gesellschaftliche Organisation von Arbeit verfasst sein sollte.

Schwieriger ist es, den sozialphilosophischen Zugriff von dem anderer Teildisziplinen der praktischen Philosophie abzugrenzen. Die praktische Philosophie, zu der neben der Sozialphilosophie auch die Moralphilosophie und die Politische Philosophie gehören, ist insgesamt derjenige Teil der Philosophie, der sich mit der Frage befasst, was wir tun sollen (und warum). Diesen normativen Fokus teilt die Sozialphilosophie mit den anderen genannten Disziplinen. Nun lässt sich aus der am individuellen Handeln ausgerichteten Perspektive der Moralphilosophie möglicherweise die Entwürdigung der Beschäftigten in bestimmten Arbeitsverhältnissen brandmarken. Und aus der an gerechtigkeitstheoretischen Fragen orientierten Perspektive der (zeitgenössischen) Politischen Philosophie ließe sich die Frage stellen, welche Entlohnung als angemessen gelten kann, aber auch, ob es ein Recht auf ein bedingungsloses Grundeinkommen gibt.

Danach allerdings, was sinnvolle oder nichtentfremdete Arbeit sein könnte, wird aus diesen Perspektiven kaum je gefragt (vgl. Rössler 2012). Arbeit kann aber nicht nur ungerecht verteilt oder entwürdigend, sondern auch entfremdet sein. Gerade die Unterscheidung von sinnvoller und entfremdeter Arbeit gehört zu den charakteristischen Fragestellungen der Sozialphilosophie. Diese analysiert Arbeit als eine soziale Institution und ein in sozialen Praktiken – genauer: in arbeitsteiligen, institutionell vermittelten Kooperationszusammenhängen – realisiertes spezifisch menschliches Vermögen. Dabei nimmt sie zum einen die Weisen in den Blick, in denen ein gelingendes individuelles und kollektives Leben von der Gestalt dieser Institutionen und Praktiken abhängig ist, und damit die spezifische Integrationsfunktion der Arbeit in modernen Gesellschaften. Zum anderen untersucht sie die möglichen «Pathologien» der Arbeit – also jene problematischen Aspekte des modernen Arbeitsprozesses, die sich subjektiv etwa in Entfremdungserfahrungen und im Leiden an erzwungener Flexibilisierung ausdrücken, objektiv in den Krisen und Dysfunktionalitäten gesellschaftlicher Institutionen (vgl. auch Smith/Deranty 2012). Ob es etwa ein «Recht auf Arbeit» gibt oder nicht, ist dann weniger eine Frage individueller Rechte und Ansprüche. Vielmehr ist es ein Problem, das sich nur beantworten lässt unter Rückgriff auf ein bestimmtes Verständnis von Arbeit als Medium sozialer Kooperation, eine bestimmte Auffassung von Gesellschaft als sozialem Kooperationsverhältnis und die Analyse der Schwierigkeiten, die sich so an den «Schnittstellen zwischen Individuen und Gesellschaft» ergeben können.

Ein zweites für unsere Gesellschaft drängendes Problem ist die Kommodifizierung, also die Vermarktlichung von immer mehr Lebensbereichen, die bisher nicht oder jedenfalls nicht vollständig der Marktlogik unterworfen waren. Hier kann man gerechtigkeitstheoretisch thematisieren, dass die Verwandlung von öffentlichen Gütern wie Bildung, Gesundheit oder städtischem Raum in kaufbare Waren soziale Ungleichheiten reproduziert, da sich dann nicht mehr alle Zugang zu diesen Gütern leisten können. Und man kann aus Sicht der Moralphilosophie versuchen, die mit Praktiken wie der bezahlten Leihmutterschaft verbundenen Formen der Instrumentalisierung zu adressieren, die sozial Schwache zu Mitteln der Erfüllung von Wünschen anderer machen. Allerdings reicht eine solche Betrachtung aus sozialphilosophischer Perspektive nicht weit genug, um die ganze Dimension des Problems zu erfassen: Nimmt man einmal an, die vorausgehenden sozialen Ungleichheiten ließen sich durch die Umverteilung von Ressourcen ausgleichen, dann stellt sich immer noch die Frage, ob unsere sozialen Praktiken und die Integrität öffentlicher Güter nicht missverstanden, verzerrt oder beschädigt werden, wenn sie als Waren aufgefasst und der Logik des Marktes ausgesetzt werden (vgl. Anderson 1993; Radin 2001).

Die Sozialphilosophie fragt demnach auch in diesem Fall nicht nur nach der Rechtfertigbarkeit individueller Handlungen oder der Legitimität politischer Institutionen und politischer Maßnahmen, sondern auch und vor allem nach der Gestalt sozialer Institutionen, Praktiken und Selbstverständnisse; diese wiederum stellen Bedingungen für das gelingende Leben der Einzelnen und die Funktionsfähigkeit des sozialen Gefüges dar. Die Sozialphilosophie versucht mit den für sie charakteristischen begrifflichen Werkzeugen – dazu gehören Begriffe wie «Verdinglichung», «Entfremdung» oder «Ideologie», aber auch (positiv) «Anerkennung», «Kooperation» oder «Solidarität» – den problematischen Charakter der bei der Vermarktlichung involvierten sozialen Praktiken und Institutionen und deren Auswirkungen auf intersubjektiv geprägte Welt- und Selbstverhältnisse zu thematisieren. Das heißt etwa, dass untersucht werden muss, wie sich das soziale Gut «Bildung» im Zuge der Vermarktlichung strukturell – und nicht bloß mit Blick auf Verteilung und Zugang – zu einer quantifizierbaren Jobqualifikation verändert und die Institution der Universität zu einer Ausbildungsanstalt, die sich an kurzfristiger und ökonomistisch verengter Nützlichkeit orientiert.

Sozialphilosophie, Soziologie und Politische Philosophie

Als eine Unterdisziplin der praktischen Philosophie fragt die Sozialphilosophie danach, wie Menschen leben und handeln sollen. Dabei versteht sie Menschen aber nicht als isolierte Individuen, sondern als Mitglieder einer sozialen Welt, die auf nicht nur instrumentelle Weise von gelingenden Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens abhängig sind – eben als zoon politikon, oder, wie Marx es formuliert, als «Tier, das nur in Gesellschaft sich vereinzeln kann». Die Sozialphilosophie thematisiert damit die angemessene Gestalt unserer sozialen Institutionen und Praktiken und fragt, inwiefern diese die Möglichkeiten von Individuen, ein gelingendes Leben zu führen, befördern oder untergraben können. Wenn nämlich Menschen sich «nur in Gesellschaft vereinzeln können», dann schaffen sie als genuin soziale Wesen in ihrem Handeln gemeinsam immer auch die überindividuellen Voraussetzungen ihres individuellen Handelns. Damit scheint die Sozialphilosophie auf eine anspruchsvolle These festgelegt zu sein: «Das Soziale» – soziale Praktiken, Institutionen und Beziehungen – ist als konstitutive Bedingung von Individualität und Freiheit zu verstehen.

Bei aller Nähe zur Soziologie (hinsichtlich des Gegenstandsbereichs) unterscheidet sich die Sozialphilosophie von dieser also durch eine normativ geleitete Reflexion auf das Funktionieren sozialer Institutionen und auf soziale «Pathologien» bzw. Fehlentwicklungen und Krisen. Außerdem stellt die Sozialphilosophie grundlegende methodologische und sozialontologische Fragen, die sie in gewisser Hinsicht zu einer Instanz der Metareflexion für die soziologische Gesellschaftstheorie und die Sozialwissenschaften werden lassen (vgl. Hollis 1995; Risjord 2014). Von der Politischen Philosophie hingegen unterscheidet sich die Sozialphilosophie trotz aller Überschneidungen nicht nur durch den breiteren Fokus auf gesellschaftliche (im Unterschied zu politisch-institutionellen) Erscheinungen, sondern auch dadurch, dass sie eine sozialtheoretische und sozialontologische Analyse der Struktur und Dynamik gesellschaftlicher Verhältnisse anstrebt. Damit reicht sie auch aus der praktischen Philosophie im engeren Sinne heraus: Bei allem Interesse an einer bewertenden Einordnung sozialer Phänomene geht es ihr doch nicht alleine um die normative Bedeutung sozialer Praktiken und Institutionen; stärker als eine rein normative Theorie (die wir im Folgenden auch als «normativistisch» bezeichnen) ist sie an der empirischen Beschreibung und der begrifflichen Durchdringung der sozialen Welt mit ihren spezifischen Problemlagen interessiert (vgl. Dewey 1923; Ferrara 2002; Pollmann 2005, Kap. 1). Die grundlegenden Begriffe der Sozialphilosophie – etwa die oben genannten der Entfremdung und der Verdinglichung – sind daher immer zugleich beschreibend und bewertend und exemplifizieren die für sozialphilosophische Ansätze charakteristische Einheit von Analyse und Evaluation bzw. Kritik (vgl. Fischbach 2009). Dabei stellt die Sozialphilosophie auch Fragen nach der Ontologie des Sozialen, etwa: Wie ist die soziale Wirklichkeit überhaupt beschaffen, wie ist Gesellschaft strukturiert, was ist ein Kollektiv, und was sind Institutionen?

Sozialphilosophie wird also sowohl durch einen bestimmten Gegenstandsbereich als auch durch eine bestimmte Herangehensweise definiert. Teils rückt sie Phänomene in den Fokus, die von anderen Disziplinen nicht zur Kenntnis genommen werden: den Zuschnitt sozialer Institutionen und Praktiken sowie soziale Problemlagen, die sich an der Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft ergeben (vgl. Kap. 2 und 3). Teils betrachtet sie dieselben Phänomene – etwa die Probleme der Arbeit und der Vermarktlichung – aus einer anderen Perspektive. Auf diese Weise werden auch so zentrale Begriffe wie «Freiheit» oder «Macht» in der Sozialphilosophie ganz anders verstanden als in der Politischen Philosophie (vgl. Kap. 4 und 7).

Die Vorstellung von einer Art «Arbeitsteilung» zwischen Politischer Philosophie und Sozialphilosophie ist daher irreführend, denn zwischen Phänomenen des gesellschaftlichen Lebens, zu dem auch Bereiche wie die Familie gehören, die «unterhalb» der politisch verfassten Institutionen des Zusammenlebens angesiedelt sind, und dem engeren Phänomenbereich der politischen oder staatlichen Institutionen ist nicht so einfach zu unterscheiden. Eine solche Gebietsaufteilung würde zudem verkennen, dass der Deutungsanspruch der Sozialphilosophie wesentlich stärker ist: Auch die politischen und rechtlichen Institutionen müssen nämlich, in sozialphilosophischer Perspektive, aus dem sozialen Kontext heraus verstanden werden, in den sie unweigerlich eingebettet sind. Ganz ähnlich wie durch Pragmatismus, Feminismus und critical race theory inspirierte nichtideale Ansätze argumentiert die Sozialphilosophie, dass Politische Philosophie und Rechtsphilosophie bereits falsch ansetzen, wenn sie ihre Gegenstände aus deren jeweiligen sozialen Zusammenhängen herauslösen und rein normativ etwa danach fragen, was eine gerechte Gesellschaft oder was eine freiheitssichernde Verfassung ausmacht (vgl. Young 1990, Einleitung; Mills 1997, Einleitung). Auch hier zeigt sich, dass für die Sozialphilosophie nicht nur ein besonderer Gegenstandsbereich, sondern auch eine besondere Herangehensweise kennzeichnend ist. So verstanden stellt die Sozialphilosophie nicht allein eine Ergänzung, sondern eine Alternative zu bestimmten Ansätzen der Politischen Philosophie dar, wie sie im zeitgenössischen politischen Liberalismus vorherrschen (vgl. Geuss 2008).

Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten erscheinen uns diejenigen Bestimmungsversuche als unzureichend, die Sozialphilosophie – wie etwa im angelsächsischen Kontext üblich – mit der Politischen Philosophie gleichsetzen oder sie als «eine Art Residualkategorie» verstehen, «unter der man die Thematisierung all der auf den oder die Anderen bezogenen philosophischen Fragestellungen zusammenfasst», die nicht in den anderen Disziplinen der praktischen Philosophie aufgehen (Liebsch 1999, S. 11). Ebenso ungenügend ist die Zuspitzung, der zufolge die Sozialphilosophie der auf Zeitdiagnose spezialisierte Zweig der praktischen Philosophie sei, auch wenn die theoretisch fundierte zeitdiagnostische Ausrichtung für sozialphilosophische Analysen, wie wir sehen werden, durchaus charakteristisch ist.

Auf die Frage, welche theoretischen Paradigmen und welche Autoren eigentlich zum Kanon der Sozialphilosophie gehören, ergeben sich aus unserer Sicht folgende Antworten. Einige Autoren lassen die Sozialphilosophie mit Platon beginnen, als Teil einer praktischen Philosophie also, in der Ethik und Politische Philosophie noch nicht geschieden sind. Dagegen schlagen wir vor, ihre Ursprünge an die Entstehung der modernen westlichen Gesellschaften und an den Beginn der kapitalistischen Modernisierung zu binden. Erst zu dieser Zeit nämlich kommt die Gesellschaft als von Staat und Recht unterschiedener Gegenstandsbereich überhaupt in den Blick, und erst zu dieser Zeit entsteht in Europa ein klares Bewusstsein für das Problem des Sozialen – nicht zuletzt auch in Gestalt der «sozialen Frage» –, das nicht auf die Frage nach der Stabilität und Legitimität der politischen Ordnung zu reduzieren ist.