Sphaera - Lili J. Hentschel - E-Book

Sphaera E-Book

Lili J. Hentschel

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Beschreibung

Krieg entbrennt zwischen den Sphaeren – und Naimi steht vor ihrer größten Herausforderung. Nachdem die Schattenschwingen in ihre Heimat Anthros eingedrungen sind, kehrt Naimi zurück und findet Fiumea in magischen Nebel gehüllt und die Bewohner in den Wäldern versteckt. Während ihr Zwillingsbruder Noah mit Mut und Verstand versucht, die verängstigten Menschen zu vereinen, steht Naimi vor einer gefährlichen Wahl: Soll sie, kann sie sich Nahkhiir, dem Herrscher der Schattenschwingen, stellen, um Anthros zu retten?  Unterstützung findet sie in Aris, dem Paron von Morgensang, der Naimis Herz schon einmal zum Beben brachte. Doch Aris hütet Geheimnisse – und die Verbindung zu Naimis Doppelgängerin Avia bedroht nicht nur Naimis Leben, sondern das Schicksal gleich zweier Sphaeren. Hin- und hergerissen zwischen ihrer Liebe, ihrer Verantwortung und ihren eigenen Ängsten wird Naimi erneut durch die Pforte gedrängt und auf eine Reise geschickt, die sie an die Grenzen ihrer Kraft führt: Von einer mysteriösen Zwischenwelt, in der alle Realitäten verschmelzen, bis zu den goldenen Mauern Chrysochorias, wo das Grauen in der Dunkelheit lauert.  Während Naimi nach einem Weg zurück sucht, um sich selbst und ihre Welt zu retten, spitzt sich der Konflikt in Fiumea zu. Der entscheidende Kampf rückt näher und Naimi muss sich der Frage stellen, wer sie wirklich ist – und wozu sie bereit ist, um jene zu retten, die sie liebt.    Ein fesselndes Finale voller Magie, Leidenschaft und Hoffnung – ideal für Leser*innen, die sich nach epischen Welten und tiefen Emotionen sehnen.

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Seitenzahl: 507

Veröffentlichungsjahr: 2025

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WREADERS E-BOOK

Band 260

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Copyright © 2025 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Bestellung und Vertrieb: epubli, Neopubli GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Jasmin Kreilmann unter Verwendung von Motiven von iStockphoto.com: © Faultier und Freepik.de

Illustrationen: Elci J. Sagittarius

Lektorat: Pascal Hoffmann

Korrektorat: Nyura Sheva

Satz: Ryvie Fux

www.wreaders.de

Für meine Familie. Ihr seid der Baum, an dem ich wachsen und blühen kann.

 Prolog

Auf dem winterkalten Gesicht des jungen Mädchens stach die Hitze des Feuers besonders intensiv. Sie ließ ihre Tränen noch vor ihrem Kinn verdunsten. Schweiß rann ihren Rücken hinab und zog in der winterlichen Kälte schmerzende Spuren. Elsas lockiges Haar ruhte traurig und platt auf ihrem Rücken und sie glaubte, nie wieder etwas anderes zu fühlen als das hier: Hitze, Kälte und ein klaffendes Loch, wo einst ihr kleines Herz geschlagen hat. Das Mädchen war zehn und lebte in dem kleinen Fischerdorf Mogi unweit von Fiumea. Sie bewohnte mit ihren Eltern das schlichte Haus in der zweiten Straße parallel zur Küste. Es stand allein und hatte zu seinen Nachbarn ein gutes Stück Platz, und doch züngelten die Flammen bereits im schmalen Gartenstück. Gerade dort, wo sie noch im letzten Sommer mit ihrer jüngeren Schwester und ihrem heißgeliebten Mischling getobt hatte. Dieser Tag, ihr zehnter Geburtstag, stand ihr nun so deutlich vor Augen, dass sie glaubte, Junis-Lou und Kundera in den Flammen und dem Rauch tanzen zu sehen. Doch wenn sie blinzelte, war da niemand, nur ein Tränenschleier, der das Brennen ihrer Augen nicht lindern konnte. Über ihrer Schulter hing noch nutzlos und schlaff der leere Weidenkorb an seinem Lederriemen, der nun kein Zuhause mehr hatte. Schwer gefüllt hatte sie ihn ganz bis zur Straßenecke getragen. Die Leute von der Abfallentsorgung schoben ihren Karren nicht in die nur notdürftig ausgebaute Straße, deren Schlaglöchern Elsa selbst zu Fuß, so beladen, kaum ausweichen konnte. Sie hatte sich darauf konzentriert, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Mehrmals war sie so heftig in den Schotter getreten, dass der Kies hochstob. In den Löchern der Straße hatte sich Regenwasser gesammelt, das über Nacht zu kleinen Eisflächen gefroren war. Verzückt hatte das Mädchen beobachtet, wie sich darin die Strahlen der Morgensonne spiegelten und wie auf dem Eis dünne Netze entstanden. Sie war auf die Kaskaden von Licht gehüpft – und ihr Herz war ihr in den Magen gerutscht, als sie kichernd auf der glatten Fläche der Pfützen ausrutschte.

Die Straßenlaternen hatten geflackert, ehe sie ausgingen. Es war nicht mehr zu leugnen gewesen: Ein neuer Tag war angebrochen. Sie hatte ihren Korb an der Straßenecke abgesetzt und ihren vom Tragen schmerzenden Nacken gelockert. Dann hatte sie den Korbinhalt zum dort bereits aufgehäuften Abfall geschüttet. Der Gestand war ihr tief in die Nase gezogen. »Bäh!«

Vielleicht hätte sie sofort den Heimweg antreten sollen, statt den kleinen Umweg zu nehmen. Vielleicht hätte sie nicht schauen sollen, ob ihr liebster Krämer schon die Rollläden hochschob und ihr noch ein Toffee zusteckte. Vielleicht, nur vielleicht hätte es etwas geändert. Später würde sie sich diese Fragen stellen und diese Vorwürfe machen.

Auf dem Rückweg hatte sie beobachtet, wie sich in einem weiten Bogen der Horizont rötlich verfärbt hatte. Etwas daran war ihr seltsam erschienen.

Als sie erneut in ihre Straße eingebogen war, hatte sie aus den Augenwinkeln erneut das rotgoldene Flimmern bemerkt. Es war mystisch und kaum zu erkennen gewesen, da die Sonne schon so hoch gewandert war. Schön sieht das aus, hatte sie gedacht. Sie hatte den Kopf in alle Richtungen gedreht und gehofft, den Ursprung zu entdecken. Ein Geruch kitzelte in ihrer Nase, der Duft geselliger Sommerabende am Lagerfeuer. Doch sie hatte nur ein unstetes Flackern und ein wenig Rauch entdeckt. Irgendwo nahebei musste es ein Feuer geben. Elsa hatte überlegt, ob jemand ein stark verspätetes Neujahrsfeuer entzündet hatte. Vielleicht war derjenige krank gewesen und hatte deshalb entschieden, die Feier nachzuholen? Oder jemand hatte noch Reste und wollte sie nicht aufbewahren? Verwundert hatte sie die Stirn gerunzelt und noch einige weitere Augenblicke gebraucht, um zu begreifen, dass da hinten keine Feier stattfand. Es war auch kein Lagerfeuer. Sie blickte geradewegs in Richtung ihres Zuhauses und erkannte jäh, was dort brannte. Es war ihr Haus.

Sie war atemlos die Straße entlang gerannt. Hatte vor ihrem Zuhause gestanden und gesehen, wie es lichterloh brannte. Das Bild brannte sich in ihren Kopf, in ihr Herz, und doch konnte sie es nicht begreifen. Die Sekunden zogen sich wie Stunden und zeitgleich war es nur ein Wimpernschlag bis zum Mittag. Elsa hatte jedes Zeitgefühl verloren, während sie starr vor dem brennenden Haus stand, unfähig, sich zu bewegen. Eine Stille dröhnte in ihren Ohren und in ihrem Herzen, die das Züngeln und Zischen der gierigen Flammen übertönte. Ein Stück ihrer Seele war an diesem Morgen mit dem Haus verglüht. Der Rauch stach in ihrer Lunge und auf ihrem Gesicht zogen die Tränen ihre heiße Spur. Sie weinte tonlos, sah mit an, wie ihr Leben zerbrach. Sie vergoss all ihre Tränen, dieses eine Mal, und danach niemals mehr.

Menschen rannten herbei und um Elsa herum schwoll das Geschrei und die Aufregung an. Sie vermochten das Feuer nicht zu löschen und das junge Mädchen wagte nicht, mit jemandem zu sprechen oder auch nur den Blick vom Haus zu wenden. Als nur noch glimmende Asche übrig war, wischte sie sich die Tränen mit dem rußigen Handrücken ab. Langsam erwachte sie aus ihrer Starre und schrille Schreie drangen an ihr Ohr. Sofort rannte sie los zum Haus. Junis-Lou! Sie musste es sein, die um Hilfe rief. Sie musste in das Haus kommen und ihre Schwester finden. Ihre Eltern! Und natürlich Kundera. Doch sie kam nicht weit. Ein starker Arm hielt sie zurück und sie versenkte augenblicklich ihre Zähne darin. Er ließ trotzdem nicht locker. Sie strampelte so lange, bis keine Luft mehr in ihren Lungen blieb und der Schrei abebbte. Keuchend verstand sie: Sie war es, die geschrien hatte. Ihre Beine sackten unter ihr weg und der Arm, zu dem ein kräftiger Mann gehörte, hockte sich zu ihr.

»Renn dort nicht hinein, kleines Mädchen. Es ist niemand mehr übrig.« Die Stimme war samten, doch was sie sagte, schnitt ihr tief ins Herz.

Nein!

Der Mann hielt sie noch einige Augenblicke fest, ehe er sie auf Armlänge von sich schob. Sie erkannte ihre Bissspuren an seinem Arm und in seiner Kleidung, die eindeutig zur Feuerwehr gehörte. Sie spürte seinen Blick auf sich, und doch konnte sie ihn nicht erwidern.

»Kleines Mädchen. Ich lasse dich jetzt los. Ich muss meinen Kameraden helfen. Du bleibst hier sitzen und wartest auf mich. Versprichst du mir das?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sie als trauriges Häufchen am Boden, strich ihr noch einmal sanft über die Wange und ging. In dem Moment, in dem er ihr den Rücken kehrte, fasste sie einen Entschluss. Nur mit den Kleidern, die sie am Körper trug, verweint, voller Ruß, hustend und durstig, lief sie los. Sie ließ ihr Haus hinter sich und als Nächstes ihre Straße. Bald war sie am Marktplatz und dann am Stadtrand angekommen. Sie ließ ihre Stadt hinter sich und wanderte, so weit ihre Füße sie trugen. Das Laufen dämpfte ihre lauten Gedanken. Stunden vergingen und ihre Beine wurde schwer. Sie legte sich dort, wo sie war, auf den Boden und fiel in einen bleischweren Schlaf. In ihre wilden Träume mischten sich die Stimmen ihrer Eltern, doch als sie erwachte, wurde ihr wieder bewusst, was geschehen war. Eine ganze Weile verharrte sie in diesem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen und wäre darin einfach verblieben. Schließlich wurde ein Reisender auf sie aufmerksam. Er las sie auf und brachte sie nach Fiumea. Und sie kehrte nie wieder zurück.

1

Frau Lundberg und Noah

Frau Lundberg

Nebel. Dicht schlang er sich um Fiumeas Häuser und ließ keine Töne hindurchdringen. Alles und jeder war in Watte gepackt. Die altehrwürdige Geschichte der Stadt verstummte. Der Gottesturm versank im wabernden Grau ebenso wie die dunkle Backsteinfassade der Bibliothek. Die Schulglocke bimmelte lautlos und nur das Blinken eines zerstreuten Lichtes erinnerte an den Schulbeginn. Die Kinder saßen nicht an ihren Plätzen.

Im Gegenteil.

Von einem unerklärlichen Schrecken gepackt hockten alle ganz hinten in ihren Klassenräumen, hatten Türen und Fenster verbarrikadiert und selbst die Eltern, Lehrerinnen und Lehrer hofften, dass das Wetter sich von den Schlössern abhalten ließe. Frau Lundberg, eine der Lehrerinnen, verstand selbst nicht das Grauen, das sie ergriffen hatte: Vom ungewöhnlichen Wetterphänomen abgesehen war immerhin nichts geschehen. Sie kniff die Augen zusammen und starrte hinaus in das Grau.

Am Morgen waren Lehrer und Eltern mit ihren Kindern wie üblich zur Schule gegangen, sofern sie sie fanden. Was sollten sie auch anderes tun? Es gab keinerlei Regelungen, was an einem üblicherweise sonnenbeschienenen Fleckchen Erde wie Anthros in so einem Fall zu tun wäre. Doch an normalen Unterricht war nicht zu denken gewesen. Die Kinder hatten auf ihrem Schulweg Schatten gesehen und waren verängstigt. Es waren vermutlich nur Mitschüler gewesen, doch ohne Laut ließ es sich nicht sicher sagen. Geschehen war bisher – nichts. Und genau diese vorgebliche Ruhe war es, vermutete Frau Lundberg, was sie alle am meisten grauste. In Fiumea war es niemals neblig und es war auch niemals still. Geräusche gab es viele: Die Vögel, der Wind, die Wellen, die Menschen. Im Normalfall störten sich die Fiumeaner an der fehlenden Ruhe und suchten Erholung auf dem Land. An diesem Vormittag aber herrschte ein fahles, kaltes, lebloses Licht, keine Vögel zwitscherten, keine Hufe klapperten, keine Räder waren auf dem Pflasterstein zu hören. Die Stille war so aufdringlich, dass nicht einmal die Eltern weggeschickt wurden. Keiner wollte freiwillig ein zweites Mal in die Witterung hinaus, geschweige denn die Kinder in so einer Situation allein lassen. Und so saßen und standen sie alle hier und Frau Lundberg konnte nicht anders, als sich für sie verantwortlich zu fühlen. Hier, in ihrem eigenen Klassenraum, in dem sie noch einen Tag zuvor unterrichtet hatte. Wobei die gestrige Lektion besonders gewesen war. Ein wenig Stolz erfüllte sie, als sie an die Stunden der Recherche dachte und an die Stunde, die sie über Omen und Zwillinge gehalten hatte. Ihre Spiegelung im Glas lächelte zufrieden. Es kaschierte beinahe ihr leises Schuldgefühl, das sie beim Gedanken an Familie Videkiss und ihr Schicksal üblicherweise plagte. Nein, sie hatte ihnen nie etwas getan. Doch insgeheim hatte sie die Vorurteile der anderen geteilt und nie hinterfragt. Nun, da das Mädchen verschwunden war, fielen ihr das Schweigen und die Ignoranz zunehmend schwer. Deshalb hatte sie diese brennende Rede über Vorurteile, Kausalitäten und Korrelationen gehalten. Jeden Moment rechnete sie mit den Beschwerden der Eltern, mit denen sie nun im Klassenraum gefangen war. Verstohlen sah sie hinüber zu ihnen, doch sie alle hatten zurzeit andere Sorgen. Und Frau Lundberg versicherte sich immer wieder, dass der Nebel und ihr Stundenthema nur korrelierten, aber nicht zusammenhingen.

»Hey, Anneli!«, sagte ein Junge namens Ole und lenkte Frau Lundbergs Aufmerksamkeit auf sich. Er stupste das Mädchen neben sich an, »Was meinst du, was mit den Vögeln los ist?«

Anneli richtete ihre schreckgeweiteten Augen auf Ole, doch sie erwiderte nichts. Auch die anderen Kinder schwiegen. Frau Lundberg schüttelte seufzend den Kopf. Die Eltern tuschelten leise und aufgeregt miteinander. Frau Lundberg verließ ihren Fensterplatz und bewegte sich auf die Gruppe zu. Sie musste sie irgendwie ablenken. Gerade holte sie Luft, um eines der Kinder nach einem vernünftigen Vorlesebuch zu fragen, als ein grässliches Klatschen sie zusammenzucken ließ. Wie eine gigantische, überreife Tomate klang es, die mit Wucht gegen eine Wand geschleudert wurde. Das Geräusch stellte ihr die Nackenhaare auf.

Dann geschahen mehrere Dinge auf einmal. Die Klasse fing an zu kreischen, ein seltsam schriller Ton nach all der Stille und dem Wispern. Die Eltern gerieten in Panik und sprangen auf, während sie versuchten, ihren Kindern die Sicht zu versperren, und Frau Lundberg fuhr herum und erkannte den Grund: Ein Vogel klebte mit seinem eigenen dickflüssigen Blut flach an der Scheibe, wo sie vor einem Augenblick gestanden hatte, und rutschte langsam und kläglich daran herab. Sein Schnabel schabte am Glas entlang wie Fingernägel auf einer Tafel, als er seine dicke, blutige Spur hinterließ. Und Frau Lundbergs Welt drehte sich und wurde schwarz.

 

Noah

Zur gleichen Zeit huschten zwei Gestalten gebückt aus dem Schutz der Bäume in Richtung Fiumea. Schon nach wenigen Schritten wurden sie von dem grauen Kokon, der die Stadt umhüllte, verschluckt. Sie hoben sich als dunkle Schatten vor grauem Grund ab, und nur, wer sich wirklich nah bei ihnen befand, hätte mit Sicherheit sagen können, dass es sich um Menschen handelte. Und man hätte noch näher stehen müssen, um auch ihre Worte mitanhören zu können.

»Bleib bei mir, Elsa«, sagte der aschblonde Mann dicht am Ohr seiner Gefährtin und tastete unsicher nach ihrer Hand. Sie verschränkte ihre Finger mit seinen, was ihn mehr beruhigte als sie. Der graue Schleier lag dicht um beide und obwohl Noah, der junge Mann mit dem aschigen Haar, vorgab, eine Orientierung zu haben, wusste er längst nicht mehr, wo genau in der Stadt sie sich befanden.

»Schau, da vorne ist die Schule!«

Es war Elsa, die sie beide schließlich wieder auf Kurs brachte. Ruckartig zog sie Noah nach links. Er stolperte über seine eigenen Füße in seinem Versuch, mit ihr Schritt zu halten. Keuchend holte er zu ihr auf.

»Denkst du wirklich, da ist noch jemand?«, fragte er und runzelte die Stirn. Diese Rettungsaktion war ihre Idee gewesen. Sie waren rechtzeitig genug aufgebrochen, hatten es aus der Stadt hinausgeschafft und vom Waldrand aus beobachtet, wie das Grau sich durch die Straßen gefressen und sich nach und nach alles einverleibt hatte. Die Vögel des Küstenortes waren auf einen Schlag hinaufgeflogen und hatten sich in wildem Gekreische nach wenigen Runden über den Dächern der Stadt in alle Winde zerstreut. Ein unheimliches Spektakel, das ihm immer noch die Haare zu Berge stehen ließ. Als hätte das Leben schnell von diesem Ort Reißaus nehmen wollen.

Selbstverständlich würde er helfen, die Bewohner der Stadt zu retten. Aber – dieselben Menschen, die ihn seit Jahren mieden, ihm Beine stellten, ihm Streiche spielten, ihn ohnmächtig auf der Straße hatten liegen lassen … Wollte er das tatsächlich? Sie würden ihn zurücklassen, wäre die Lage umgekehrt. Vermutlich wären sie sogar erleichtert, ihr böses Omen loswerden zu können … Vielleicht wollte er diese Menschen doch nicht so sehr retten, zumindest nicht unter Einsatz seines Lebens. Und bei allem, was er wusste, war das genau, was Elsa und er gerade taten.

Noah schnaubte frustriert, als er an den Tatendrang seiner Freundin dachte. Wieso war dieses Mädchen bloß so anders als die anderen? So selbstlos? Andererseits … war das nicht genau das, wofür er sie am meisten liebte?

»Ja«, erwiderte sie bestimmt und ihr Atem kitzelte sein Ohr, »ja, heute Vormittag wäre Unterricht gewesen, es sind sicher viele zur Schule gegangen. Sie müssen also hier sein. Hier – aah!«

Sie stieß einen kurzen Schmerzenslaut aus, stolperte und fing sich wieder. Es zuckte an Noahs Hand und seine Reaktion kam ein wenig spät. »Was? Was ist, Elsa?!«

Als er schützend die Arme um sie legte, stand sie längst wieder aufrecht.

»Ich … ich bin nur gestolpert. Alles gut! Das muss die Treppe der Schule sein. Lass uns reingehen.«

Sie erklommen die Treppen mit Bedacht und fanden die große Flügeltür der Schule offen vor. Aus dem Inneren drang Dunkelheit. Noah und seine Freundin tasteten sich an der Wand entlang weiter vor. Die unnatürliche Ruhe des Schulgebäudes ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Der Nebel waberte träge um seine Beine, schien sich aber nicht vollständig ins Gebäude hinein zu wagen. Aus einem Impuls heraus drehte er sich um und schob die mächtige Eichentür hinter ihnen beiden zu. Draußen lauerte etwas und beobachtete sie, das spürte er instinktiv. Doch sobald sie im Schulgebäude waren, fühlte er diese Bedrohung von sich abfallen. Langsam, knarzend, setzte sich die massive Tür in Bewegung und sperrte das wenige diffuse Licht, das sich noch mühsam seinen Weg durch das Grau bahnte, aus. Als sie mit einem lauten Schlag endgültig ins Schloss fiel, zuckte Elsa zusammen.

»Es war nur die Tür«, raunte er beruhigend.

»Wieso hast du sie überhaupt geschlossen?«, fragte sie irritiert. »Jetzt ist es stockfinster.«

»Ich weiß es selbst nicht.« Noah zuckte die Schultern und dachte kurz nach. »Ich denke, ich fühle mich sicherer so.«

Die junge Frau betrachtete ihn mehrere Herzschläge lang. Zumindest spürte Noah ihren Blick auf sich, denn in der Dunkelheit erkannte er nur ihre Umrisse. Schließlich legte sie ihre Hand auf seinen Arm, ehe sie tiefer ins Gebäude vordrang. Er lief ihr hinterher und befürchtete bereits, sie zu verlieren. Zur Orientierung ließ er eine Hand an der Wand entlanggleiten und fühlte die Schnitzereien der Türen unter seinen Fingern. Der Nebel lichtete sich immer weiter und seine Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit. Elsa war nicht mehr nur ein Schatten, sondern ihre sportlich federnden Bewegungen waren klar und abgegrenzt. Dumpf klangen ihrer beider Schritte auf dem harten Steinboden.

Nach einigen weiteren Metern blieb seine Freundin abrupt stehen. Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an, eine Augenbraue hochgezogen, den Mund leicht geöffnet. Es war ein sehr anziehender Ausdruck von Verwunderung und in jeder anderen Situation hätte Noah es geliebt, sie so zu sehen. Aber jetzt war nicht die Zeit dafür. Nur einen kurzen Moment gönnte er sich, um ihren Anblick zu genießen. »Was –?«

Ehe er seine Frage beenden konnte, drang ein lautes Kreischen durch die Tür auf ihrer linken Seite, auf der seine Hand ruhte. Erschrocken zog Noah die Hand zurück: Es war sein erster Klassenraum. Szenen seines ersten Schultags überlappten sich mit den Schreien und Noahs Herz schlug einen holpernden Takt.

»Das sind Kinder!«, rief er. Er hatte die Klinke bereits in der Hand, als seine Freundin ihn abrupt zurückriss.

»Halt!«, warnte sie. »Du weißt gar nicht, wer oder was hinter dieser Tür ist. Was denkst du, wieso diese Kinder schreien?«

Noah öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Elsa ergriff ihn an den Schultern und ihre Augen gruben sich in seine. Sie erdete ihn. Wie so oft. Er atmete durch.

»Lass uns wenigstens zuerst durch das Schlüsselloch schauen«, insistierte sie mit Nachdruck und schob ihn sanft beiseite. Sie beugte sich hinunter und spähte hindurch. Noah lehnte sich zu ihr. »Was siehst du?«

»Alles in Ordnung bisher«, meldete sie. »Ich sehe die Kinder, einige Erwachsene und … oh! Da liegt eine Gestalt am Boden. Warte … Ich denke, das ist Frau Lundberg!«

Noah straffte die Schultern. Frau Lundberg war seine Lehrerin gewesen. Kurz zog sich sein Magen zusammen. Was würden die Menschen sagen, wenn ausgerechnet er ihr zu Hilfe kam? Doch er schluckte seine Bedenken hinunter.

»Dann gehen wir lieber hinein.«

Sacht drückten sie die Klinke herunter und öffneten die Tür. Sie knarrte lauter als erwartet und alle Köpfe drehten sich zu ihnen um.

»Stehenbleiben!«, rief eine tiefe, barsche Stimme, kaum, dass sie die Schwelle überschritten hatten. Ein hochgewachsener Mann trat nach vorn und baute sich bedrohlich vor ihnen auf.

Elsa hob beide Hände in friedlicher Absicht und Noah tat es ihr gleich.»Wir sind hier, um euch zu helfen«, begann sie behutsam. Sie sprach langsam und besonnen. Zaghaft setzte sie einen weiteren Fuß in Richtung der Gruppe. Noah bemerkte ihre Anspannung. Wovor fürchtete sie sich? Er hatte angenommen, dass sie ein Teil der Gemeinschaft war.

»Wir kommen aus dem Wald außerhalb der Stadt. Dort hört der Nebel auf. Wir wollten euch holen«, erklärte sie weiter. »Wir wissen nicht, was das dort draußen genau ist und was es noch bringt, aber es ist eindeutig widernatürlich. Das fühlt ihr alle genauso wie wir, sonst wärt ihr nicht hier. Aber ihr seid verängstigt. Und jeder von uns ist das! Also wäre es besser, wenn wir die Stadt verlassen. Gemeinsam – wir können euch führen. Deshalb sind wir gekommen.«

Während sie sprach, hielt Noah beunruhigt den Blick auf Frau Lundberg geheftet, die immer noch am Boden lag. Eine Gruppe Kinder scharte sich bereits um ihre Lehrerin und auch er näherte sich zögerlich. Er kniete sich neben sie und fühlte ihren Puls. Alles in Ordnung. Erleichtert seufzte er.

»Bring bitte einen Lappen mit Wasser«, wisperte er einem blonden dünnen Jungen neben sich zu, »kühles Wasser, ja? Weder eiskalt noch warm.«

Aus dem Blick des Jungensprach Verunsicherung, aber er lief ohne Umwege zum Waschbecken am anderen Ende des Raumes, um Noahs Bitte zu erfüllen.

»Sagt wer?«, brummte währenddessen ein weiterer Mann an Elsa gewandt und erhob sich. Noah beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er war groß und bullig und musste sich nicht aufblähen, um Eindruck zu schinden.

»Die Waise und der Zwilling wollen uns also helfen, sagen sie«, höhnte er, »dabei ist das, was hier passiert, doch sowieso deren Schuld!«

Er zeigte mit dem Finger auf Noah und spuckte aus, um böse Geister fernzuhalten. Ein Raunen ging durch die Menge. Noah konzentrierte sich weiter auf die Kinder und ihre Lehrerin. Er vermied es, die Stadtbewohner direkt anzusehen, so wie er es schon immer getan hatte. Er hatte innerhalb vieler Jahre seine Methoden perfektioniert, um nicht aufzufallen: Im Gegensatz zu dem Hünen, der es sichtlich gewohnt war, gehört zu werden, war er es gewohnt, in den Schatten zu bleiben. Innerlich seufzte der junge Mann, aber äußerlich verzog er keine Miene.

Der blonde Junge kam währenddessen mit dem nassen Lappen zurück und Noah lächelte ihm kurz zu. Er wrang das Tuch ein wenig aus und tupfte Frau Lundbergs Stirn sanft mit dem kühlen Nass ab. Dann arbeitete er sich an ihren farblosen Wangen entlang in Richtung Halsschlagader. Ihr Puls schlug gleichmäßig und kräftig, es musste ihm bloß gelingen, sie zu wecken.

Er schüttelte den Stoff gerade aus und fächelte ihr frische, kühle Luft zu, als ihre Augenlider zuckten. Die Kinder erstarrten und hielten die Luft an. Langsam, ganz langsam, hob die Lehrerin ihre Hand. Sie fasste Noahs Handgelenk und stoppte seine Bewegungen. Endlich öffnete sie ihre Lider einen Spalt.

»Du bist – Noah, richtig?«, brachte sie leise hervor. Sie versuchte, den Kopf zu heben, und er stützte kurzerhand ihren Nacken und half ihr sich aufzusetzen. Dann zog er schnell die Hand wieder weg und war im Begriff sich zurückziehen.

»Warte«, sagte Frau Lundberg, jetzt schon etwas fester. Sie schüttelte den Kopf, wie um einen bösen Traum abzuschütteln.

Noah wandte sich ihr verwundert wieder zu. Doch bevor sie fortfahren konnte und bevor er erfuhr, was sie ihm sagen wollte, krallten sich Finger schmerzhaft in seine Schulter und zwangen ihn auf die Füße.

»Ergreift die beiden Sonderlinge!«, schrie jemand, packte Noahs Unterarme und drehte sie unsanft hinter seinen Rücken, sodass seine Gelenke knackten. Erschrocken wand der junge Mann sich im festen Griff der großen Pranken. Er wurde ruppig von Frau Lundberg und den Kindern weg und zu der Gruppe Erwachsener herumgerissen, die sich weiterhin am Ende des Klassenraums versammelt drängten. Erschrocken suchte er Elsa. Im Augenwinkel sah er ihre Locken ängstlich tanzen. Die meisten Männer und Frauen hatten sich in abwehrender Haltung vor ihnen aufgebaut. Noah starrte in die ablehnenden Gesichter und mit einem Mal wurde er ganz ruhig. Instinktiv handelte er, wie er es seit Jahren verinnerlicht hatte. Je unauffälliger er war, umso weniger Unheil würde ihm geschehen. Er unterdrückte seine hektische Atmung, doch sein wild pochendes Herz ließ sich nicht so leicht beruhigen.

»Lasst mich! Was macht ihr da?«, schrie seine Freundin dicht neben ihm. Sie war sein absolutes Gegenteil, wie sie sich wand und wild strampelte. Ein Büschel ihrer Locken streifte Noahs Gesicht. Er wandte sich ihr zu. Ihre vor Wut funkelnden Augen trafen seine und seine vorgebliche Ruhe schien sie nur noch mehr aufzubringen. Die Wangen der jungen Frau waren erhitzt und ihr Haar fiel ihr in die Stirn.

»Noah, tu doch was!«, rief sie und ihre Stimme überschlug sich. Sie schrie immer weiter, bis der bullige Mann hinter ihr seine Hand auf ihren Mund presste. Ihre Augen weiteten sich und Noah zuckte zusammen. Da brüllte der Mann unvermittelt auf und zog wütend die Hand zurück.

»Aua, du Biest!«, schimpfte er. »Bei allen Göttern, sie hat mich gebissen!«

Er schüttelte theatralisch sein Handgelenk und Noah erkannte einen ansehnlichen Abdruck von Elsas Zahnreihe auf seinem Daumenballen. Er war beeindruckt, auch wenn sein kurzes Lächeln ihm beinahe sofort auf den Lippen erstarb. Alarmiert traten weitere Männer hervor. Das war nicht gut. Ein wütender, ängstlicher Mob, der einen Schuldigen für den unheimlichen Wetterumschwung und Frau Lundbergs Zusammenbruch suchte. Und eine Waise und der Zwilling, die perfekten Sündenböcke. Noah schluckte, als er erkannte, was das bedeuten konnte.

Der Riese holte aus.

»Halt.«

Eine entschlossene Stimme brachte alle zum Schweigen. Sie gehörte nicht dem Hünen. Noah drehte den Kopf. Es war Frau Lundberg, die sich erhoben hatte und mit langsamen, bestimmten Schritten zwischen ihn, seine Freundin und die übrigen Erwachsenen trat. Im Gehen klopfte sie den Staub von ihrer Kleidung. Ihre Schülerinnen und Schüler folgten ihr wie Entenküken und stellten sich an ihre Seite.

Die Menge verstummte. Das war ein erstaunlicher Effekt, den Noah an Frau Lundberg schon als Schüler bewundert hatte. Trotz ihrer zierlichen Art schaffte sie es, die Menschen um sich herum zum Zuhören zu bewegen.

»Ich weiß, Thoer, ihr sucht einen Schuldigen für die ungewöhnlichen Umstände hier«, sie deutete Richtung Fenster. Noah folgte ihrem Blick und entdeckte eine rote Spur am Glas – war das Blut? Es schauderte ihn.

»Wir wissen nichts über diesen Nebel. Das verunsichert uns alle.«

Frau Lundberg sah die Umstehenden einen nach dem anderen an und drehte sich auch zu der kleinen Gruppe bei Noah um.

»Aber was wir wissen, ist, dass es keine Magie in Anthros gibt. Weder gute noch böse. Und ohne Magie können Elsa und Noah nichts hiermit zu tun haben. Ihr wisst das genauso gut wie ich. Lasst euch nicht von euren Vorurteilen blenden!

Lange genug haben wir alles Negative, das uns widerfahren ist, abergläubisch bestimmten Menschen und Omen zugeschrieben. Ich glaube, das ist falsch. Wir müssen lernen, uns eine eigene Meinung zu bilden. Nicht anhand der üblen Gerüchte hier in Fiumea oder irgendwelcher Gruselgeschichten, die unsere Urgroßeltern uns in frühester Kindheit erzählten. Sondern anhand von Fakten. Bildet euch eine Meinung. Aber urteilt erst dann. Und bis dahin und bis die angebliche Schuld dieser zwei jungen Leute nicht bewiesen ist, sollten wir sehen, was wirklich um uns herum passiert: Das Wetter ist … ungewöhnlich. Und wir sind alle verängstigt. Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir können hierbleiben, im Schulgebäude, mitten im Nirgendwo, und warten. Ich glaube nicht, dass das eine kluge Wahl ist. Oder wir versuchen, aus dem Nebel zu gelangen. Jetzt kommen Noah und Elsa und wollen uns helfen. Und als Dank nehmen wir sie fest? Thoer?«

Der zuckte bei der erneuten Nennung seines Namens zusammen. Kleinlaut schüttelte er den Kopf.

»Nein, Frau Lundberg.«

»Also, wärst du so freundlich?«

Thoer ließ Elsa knurrend los und wies achselzuckend an: »Hört auf Frau Lundberg.«

Die Lehrerin nickte zufrieden. Dann jedoch fixierte Thoer mit seinen kalten blauen Augen Noah. Er gab sich noch nicht geschlagen.

»Nun denn, Zwilling, sprich. Ihr seid also hier, um uns zu helfen, ja?«

Beinahe unmerklich zog der junge Mann die Schultern nach oben.

»J-ja«, brachte er hervor und drehte sich zu seiner Freundin. Bitte hilf mir, flehte er stumm und ihr Mundwinkel hob sich kaum merklich.

»Und wieso sollten wir euch das glauben? Welchen Grund habt ihr, uns zu helfen, wo ihr doch nie Versuche unternommen habt, Teil der Gemeinschaft zu sein?«

Elsa richtete ihre Aufmerksamkeit nun wieder auf den kräftigen Mann und in ihren Augen blitzte es. Außer Noah merke niemand, dass sie unauffällig tief durchatmete. Mit einem so lieblichen wie falschen Lächeln sagte sie: »Ihr solltet euch glücklich schätzen, dass wir euch trotz allem helfen wollten. Und wie ich bereits sagte, wissen wir einen Ort, an den wir gehen können. Aber so«, sie rieb sich die Handgelenke und Noah bemerkte, dass sie gerötet waren, »funktioniert das nicht, glaube ich.«

Sie pausierte kurz, ehe sie fortfuhr:

»Komm, Noah, wir gehen. Ich weiß, wann ich unerwünscht bin.«

Das Kinn nach oben gereckt marschierte sie los.

Der junge Mann sah unsicher zu den Kindern, die die ganze Szene mit geweiteten Augen verfolgt hatten. Einige bebende Unterlippen und gerötete Wangen erweckten sein Mitleid und als er sich schnell abwandte, begegnete er Frau Lundbergs Blick. Hilfesuchend zog er die Augenbrauen in die Höhe und folgte Elsa zur Tür. Hinter ihnen schwoll das Gemurmel an. Die junge Frau griff bereits nach der Klinke, als das inzwischen dritte »Halt!« sie stehenbleiben ließ.

»Lasst uns abstimmen«, sagte Thoer gepresst. Er klang bemüht, die Oberhand über die verfahrene Situation zu behalten. Noah entging Elsas siegreiches Lächeln nicht, als sie sich umdrehte.

»Wer ist dafür, dass wir diesen Beiden in den Nebel hinaus folgen?«

Einige wenige hoben die Hand, dann, entschlossen, Frau Lundberg und mit ihr alle Kinder. Mehrere tauschten Blicke miteinander und einzelne weitere meldeten sich. Auf Thoers Gesicht breitete sich bereits ein spöttisches Grinsen aus, als sich ein Schatten vor das Fenster schob und das restliche spärliche Licht aussperrte. Ein entsetztes Japsen erklang und augenblicklich schnellten auch die anderen Hände in die Höhe. Selbst Thoers Gesichtszüge entglitten.

»Also gut. Alle folgen Elsa und Noah«, verlangte Frau Lundberg mit Nachdruck über die Unruhe hinweg. »Und zwar genau jetzt.«

Dicht gedrängt lief die Gruppe zur Klassenzimmertür.

»Haltet euch an den Händen«, forderte Elsa die Gruppe ergänzend auf, »sonst verliert ihr einander.«

Sie nahm demonstrativ Noahs Hand und hob sie in die Höhe.

»So!«

Er streckte zögerlich seine andere Hand aus und war erleichtert, als Frau Lundberg ohne lange zu überlegen tat, wie ihr geheißen.

»Jetzt bitte immer abwechselnd: ein Kind und ein Erwachsener. Bleibt bei euren Kindern! Bildet eine Kette!«, befahl Frau Lundberg. Es kam zu einem kurzen Gerangel unter den Kindern, doch als der Schatten endlich vorübergezogen war und das trübe Tageslicht etwas mehr Sicht erlaubte, standen alle bereit und liefen hintereinander langsam aus dem Klassenraum.

An der massiven Flügeltür angelangt, ließ Elsa Noahs Hand jäh los. Die Luft kühlte seine Handfläche, wo sie ihn eben noch gehalten hatte. Augenblicklich vermissten seine Finger die ihren. Sie ging zur Tür und er stand einen Moment lang da und blickte erst seine Hand und dann den Rücken seiner Freundin an.

»Willst du nicht vielleicht hingehen und ihr helfen?«, murmelte Frau Lundberg in sein Ohr. Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. Ein aufmunterndes Lächeln umspielte ihre Augen. Keiner der starken Männer kam, um dem Mädchen mit der großen Eichentür zu helfen, und Noah setzte sich endlich in Bewegung.

Elsa zog und zerrte mit all ihrer Kraft. Sie lächelte, als sie ihn neben sich bemerkte, und gemeinsam wuchteten sie die massive Tür auf. Noah war sich nicht sicher, ob sie schon immer derart schwergängig gewesen war. Augenblicklich umhüllte sie grauer Nebel, der noch dichter als zuvor auf ihn wirkte. Wo seine Freundin eben noch gestanden hatte, blieb nur ein blasser Schatten. Er rief ihren Namen und stockte. Hatte er nicht gerade seine Stimme erhoben? Sie war kaum mehr als ein Flüstern. Er versuchte es erneut – mit demselben Effekt. Gänsehaut lief über seine Arme. Er tat einen entschlossenen Schritt auf den Schatten zu, in dem er sie vermutete, und fasste ihre Hand. Sie wirkte klamm.

Noah führte sie zurück zu Frau Lundberg. Er hatte eine ungefähre Ahnung, wie weit entfernt sie stand, und verfehlte sie nicht.

Nachdem sie ihre Kette wiederhergestellt glaubten, marschierten sie los, hinaus in den Dunst und Schritt für Schritt die steinerne Treppe hinab. Ein weiterer großer Schatten zog an ihnen vorbei und sie hielten kurz an. Etwas sauste nah an Noahs Kopf durch die Luft und streifte sein Haar. Sie warteten, bis das Grau wieder eine unbewegliche und dichte Wand bildete, ehe sie sich erneut in Bewegung setzten. Zu ihrer Linken blitzte es immer wieder auf und ein dunkles Vibrieren in seiner Brust und unter seinen Füßen ließ ihn an Donnergrollen denken. Noah ertappte sich dabei, dass er hoffte, niemanden zu verlieren. In Gedanken versunken und den Blick auf seine Füße gerichtet, deren dunkle Schatten langsam mehr Kontur annahmen, merkte er nicht, dass Elsa stehen geblieben war. Er lief direkt in sie hinein und stieß mit der Stirn an ihren Hinterkopf. Ihre Haare kitzelten in seiner Nase und verhedderten sich an seinen Ohren.

»Bei den Göttern, was ist de–?!«

Weiter kam er nicht, denn als er an seiner Freundin vorbei sah, blieb ihm jedes weitere Wort im Hals stecken. Eine Gestalt kauerte dort, mit entfernt menschlichen Zügen. Sie erhob sich aus den ausfransenden Enden des Nebels. Um ihre Schultern hing ein schwarzer, lederner Umhang und sie zuckte unregelmäßig, während ein unangenehmes Schmatzen an Noahs Ohren drang. Er erblasste.

»Bei allen Sphaeren, was ist das?«, hauchte Elsa mit brüchiger Stimme, doch er konnte nur stumm den Kopf schütteln.

Frau Lundberg, die ebenfalls angehalten hatte, drängte sich an den beiden vorbei, und Noah ergriff ihr Handgelenk.

»Nicht!«

Doch die Gestalt stoppte bereits in ihren Bewegungen und horchte. Langsam wichen alle drei rückwärts und schirmten mit halb ausgestreckten Armen die Kinder ab, die neugierig unter ihnen hindurchlugten. Einige Erwachsene keuchten entsetzt. Was war das für ein Ding?

In einer einzigen, trägen Bewegung richtete sich das Wesen auf. Sein Umhang umspielte seine schmale Gestalt. Wie er sich zwischen Armen und Körper spannte, war es Noah, als sähe er Flügel. Im gleichen Atemzug entdeckte er die blutigen Reste eines kleinen Tiers vor den Füßen der Gestalt. Er drehte schockiert den Kopf in alle Richtungen, doch die Waldgrenze war noch zu weit weg; sie würden es nicht dorthin schaffen. Zurück zur Schule war ebenfalls keine Option.

Die Gestalt drehte sich suchend um ihre eigene Achse. In diesem Moment kreischte eines der Kinder hinter Noah auf. Ein Mann rief »Pscht!« und eine Frau schlug ihm die Hand vor den Mund, aber zu spät: das Wesen hatte sie bereits entdeckt. Es hatte menschliche Gesichtszüge und tiefschwarze Augen in einem aschfahlen Gesicht. Reste von Blut liefen seine Mundwinkel herab, die es zu einem grausamen Lächeln verzog. Nun hob es beide Arme und öffnete knarzend seine ledernen Flügel.

»Lauft!«, schrien Noah und Elsa wie aus einem Munde und zogen ihre kleine Gruppe so schnell es ging voran. Nach wenigen Schritten verlor Noah Frau Lundbergs Hand, doch er wagte es nicht, stehen zu bleiben. Noch hörte er sie hinter sich.

Ein helles Kreischen ertönte und Noah und Elsa stürzten Hand in Hand die Brücke entlang, die Fiumea und die Wiese vor der Pforte trennte. Sie rannten auf den Wald zu und alles um sie her verschwamm. Nur die ersten Bäume behielt Noah fest im Blick. Das Schlagen von Flügeln wurde lauter und sein Griff um Elsas Hand immer fester. Jetzt ist es aus, dachte er und der Windstoß der riesigen Flügel trieb ihm die Haare in die Augen. Er machte einen letzten, verzweifelten Satz. Sie landeten beide im Dreck und robbten voran. Da wurde das Geräusch der Flügel mit einem Mal leiser. Noah wagte einen Blick über die Schulter. Hoch oben über dem Gras riss die Gestalt ihren Mund zu einem letzten Schrei auf, dessen Ton nicht mehr bei ihnen ankam, schlug mit den Flügeln, drehte ab und flog davon.

Noah stand mit weichen Knien auf und wollte soeben seiner Freundin auf die Beine helfen, als er erkannte, dass sie schon stand. Sie hob die Mundwinkel, ein echtes Lächeln war es aber nicht.

»Du brauchst mir nicht aufhelfen«, sagte sie. Doch er erkannte am Zittern ihrer Stimme, dass sie nur ihre Angst überspielte. Er legte ihr seine Hand auf den Arm.

»Bist du verletzt?«

»Nein, bin ich nicht. Und du?«

Noah schüttelte den Kopf. »Was war das gerade?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Elsa schüttelte sich.

»Wo sind die anderen?«

Es war niemand zu entdecken und die Bäume waren nur noch wenige Schritte entfernt.

»Sie müssen den Wald erreicht haben …«, murmelte er und trat einige wackelige Schritte darauf zu. »Das ist die einzig logische Erklärung. Komm, wir gehen ebenfalls. Wir werden sie wiederfinden. Ich gebe dir mein Wort.«

Er wollte bloß weg von diesem Wesen, was auch immer es gewesen war, und seiner Freundin schien es nicht viel anders zu gehen. Sie schloss wortlos zu ihm auf und gemeinsam betraten sie den Wald.

2

Naimi

Die Stille, die uns umfing, ließ meine Ohren summen. Vor uns lag das flache Land und in der Ferne glommen die Lichter unseres Nachbardorfes Mogi an der Küste. Die Pforte im Rücken, fanden sich rechts von uns der Fluss und ein wenig südlich die Brücke, die über ihn hinweg in Richtung Stadt führte. Der ablandige Abendwind wehte mir die Haare in die Augen. Ich wischte sie immer wieder aus dem Gesicht und klemmte sie schließlich hinter meine Ohren, wo sie allerdings auch nicht lange blieben. Bald stellte ich meine Versuche ein und wandte mich zu Aleena, die sich bereits prüfend umsah. Sie hatte Avitate nie verlassen und in ihrem Gesicht rangen unterschiedliche Emotionen miteinander. Und dennoch war ihr Blick geschärft. Sie war, anders als ich, nicht bloß die Bürgerin einer Stadt, sondern ausgebildet für den Kampf. Das offene Feld, das uns keinen Sichtschutz bot, beunruhigte sie. Auch mir behagte es nicht. Mit zu Schlitzen verengten Augen beobachtete Aleena die Umgebung genau. Das Plateau war gesäumt von Büschen, die die steile Küste an den meisten Stellen verbargen. Im Augenwinkel konnte ich den Gedenkstein meiner Eltern erahnen. Ich deutete nach Westen, wo die Stadt noch außerhalb unserer Sicht lag, und wir setzten uns wortlos in Bewegung.

Leise liefen wir am Rand der Wiese entlang auf den Fluss zu. Auch wenn das einen geringen Umweg bedeutete, blieben wir so in den immer länger werdenden Schatten. Es war friedlich um uns herum. Auffällig friedlich. Der Wind von der See war das einzige Geräusch in meinen Ohren. Wieso war es so still? Ich hatte mit Kampf gerechnet, mit dem schaurigen Nebel, der Nahkhiir bei unserer letzten Begegnung umgeben hatte, aber nicht mit der klaren Abendluft von Anthros. Und wo waren die Grillen, die Vögel, die üblichen Geräusche der Nacht? Aleena und ich sprachen kein Wort, während wir uns der Brücke näherten, um keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Wir selbst entdeckten zwar niemanden, doch das hieß nicht, dass uns nicht dennoch etwas auflauerte. Ich sehnte die Dunkelheit herbei. Mit jedem Schritt wurde ich nervöser und schreckhafter: War das dort ein Schatten bei den Bäumen? Gehörte das leise Rascheln des Laubes zu einem Tier? Zu einem Feind? Fiumea war noch immer nicht zu erkennen, während jede Faser meines Körpers bereits angespannt war. Ich lugte hinüber zu Aleena, um mich zu vergewissern, wie sie die Lage einschätzte, doch ihre Miene war undurchdringlich.

Bald schon näherten wir uns der Brücke und die ersten Umrisse der Stadt zeichneten sich als blasser Schatten vor der Dämmerung ab. Ich versuchte, mehr zu erkennen, als Aleena mich unvermittelt am Arm packte. Vor Schreck machte ich einen kleinen Satz. Es gelang mir gerade so, einen Aufschrei zu unterdrücken.

»Was ist?!«, wisperte ich nervös.

Ich folgte ihrem Blick aus aufgerissenen Augen und obwohl ich nichts erkennen konnte, stellten sich meine Nackenhaare auf. Es lag etwas in der Luft. Ich dachte an das Schwert, das an meinem Gurt baumelte. Aleena hatte es mir geliehen, obwohl ich den Umgang damit nicht beherrschte. Es war nur von mittlerer Größe, damit ich es leichter handhaben konnte, doch es war immer noch schwer und unpraktisch zu tragen und schlug beim Gehen gegen meinen Oberschenkel. Wir hatten nicht gewusst, was uns in Anthros erwarten würde, und im Notfall, so hatten wir gehofft, könnte ich mich damit zumindest verteidigen. In diesem Moment war ich mir dessen nicht so sicher.

»Hörst du das?«, fragte Aleena heiser und drückte meinen Arm fester. Ich horchte aufmerksamer. Doch da war nichts, nur das Rauschen des Meeres und mein eigenes pochendes Herz. Ich schüttelte zögernd den Kopf, lauschte erneut und merkte nur ihr stoßweises Atmen. Was meinte sie?

Wir standen beide regungslos, als ich es endlich wahrnahm. Leise, in der Ferne, erklang ein rhythmisches Klatschen, wie die Flügelschläge eines großen Raubvogels, und es wurde immer lauter. Etwas kam näher. Instinktiv tastete ich nach dem Heft meines Schwertes und war nun doch dankbar, es bei mir zu haben. Mein Herz hämmerte so laut gegen meinen Brustkorb, dass es das unheimliche Geräusch beinahe übertönte. Aleena zerrte mich ruppig in die wenigen Büsche zu unserer Rechten. Es raschelte unüberhörbar, als wir uns darin verbargen. Die kargen Zweige und Dornen kratzten über mein Gesicht. Ein dünnes Rinnsal bahnte sich seinen Weg meine Wange entlang und ich wischte es mit dem Handrücken fort. Mit der anderen Hand umklammerte ich noch immer das Schwert und musste nachgreifen, weil meine schweißnassen Finger immer wieder abrutschten. Ich schluckte und versuchte, meinen Puls zu beruhigen und die aufsteigende Panik zu vertreiben. Das feuchte Schmatzen und Klatschen der Flügel wurde immer lauter. Neben mir hörte ich Aleenas schnellen Atem. Das Astwerk bot uns wenig Tarnung und wir waren nur zu zweit. Ich hoffte, dass die Dämmerung unser Freund blieb und uns gut genug versteckte. Mit der Linken schob ich die Zweige ein Stück beiseite, um einen Blick auf den langsam dunkelnden Himmel zu erhaschen. Die Dornen bohrten sich tief in meine Handflächen, doch ich bemerkte es kaum. Ich hatte keine gute Sicht – mehr als feuerrot gefärbte Wolken, die ersten flackernden Sterne und gelegentlich einen vorüberziehenden Schatten erkannte ich nicht. Immerhin schien bisher noch niemand auf uns aufmerksam geworden zu sein.

Der Abendhimmel nahm ein tiefer werdendes Blau und schließlich ein beinahe vollkommenes Schwarz an, während sich immer wieder rhythmische Flügelschläge hoch über uns näherten und wieder entfernten. Je dunkler es wurde, und je seltener die Flügelschläge erklangen, umso entspannter wurde ich, und ich fühlte auch Aleenas Anspannung langsam von ihr abfallen. Die letzten Geräusche verstummten. Wir waren nicht entdeckt worden. Mehrere weitere Minuten warteten wir, bis vollends Ruhe eingekehrt war. Allmählich kamen die natürlichen Töne der Nacht zurück, als hätten alle Lebewesen in Fiumeas Umgebung beschlossen, dass die akute Gefahr vorüber war. Ich wandte mich an Aleena, als meine Atmung und mein Puls sich normalisiert hatten.

»Waren das Schattenschwingen?«

»Ich gehe davon aus.«

Aleena gelang es, selbst aus einem Graben am Wegesrand und durch einen Dornenbusch hindurch würdevoll hinauszuklettern. Ich robbte hastig hinter ihr her und riss mir bei der Gelegenheit gleich den linken Ärmel auf. Ich hatte geahnt, dass der Stoff zu wenig widerstandsfähig war, doch Aleena hatte auf Elementarkleidung für mich bestanden. Ich sah seufzend an mir herab. Die lockere Kampfkleidung, die ich trug, war voller Erde, sowohl die Hose aus Avitater Seide als auch mein Brustschutz aus festem Leder. Ich klopfte unauffällig den gröbsten Schmutz von den Ärmeln meines ozeanblauen Oberteils und stellte mich neben sie. Meine Gefährtin war schon bereit aufzubrechen, als ich mich aufrichtete. Sie beachtete mich kaum und verzog keine Miene, aber ich wusste, dass sie das gleiche ungute Gefühl hatte wie ich. Einen Moment lang schwiegen wir beide. Inzwischen waren auch die wenigen Konturen von Fiumea verschwunden, die ich zuvor ausgemacht hatte, und das wunderte mich: Brannte denn in keinem der Häuser Licht? Normalerweise war über der Stadt bei Nacht eine Art leuchtender Schimmer zu sehen. Ich wusste es, da ich oft genug um diese Zeit außerhalb der Stadt unterwegs gewesen war. Es hatte immer so heimelig ausgesehen, dass ich den instinktiven, dringenden Wunsch verspürt hatte, in einem dieser Häuser selbst daheim zu sein. Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Nun war davon nichts zu erkennen.

Ohne ein weiteres Wort setzte sich Aleena in Bewegung und riss mich aus meinen Gedanken. Ich eilte hinter ihr her, hinauf auf die gepflasterte Straße. Unsere Schritte hallten auf den Steinen und unser Atem ging regelmäßig. Unser Puls aber blieb hoch. Ich fürchtete, dass die Schattenschwingen uns hörten. Bei dem Gedanken lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Am Himmel glommen noch die blassen Sterne, als wir die ersten Straßenlaternen erreichten. Alle paar Meter erhellten sie mit ihrem fahlen, funzeligen Licht den Weg vor uns und wir hielten uns außerhalb ihrer Lichtkegel. Trotz unseres mulmigen Gefühls folgten wir ihnen und näherten uns Fiumea. Die Straße bog nach rechts ab und Aleena, die vor mir lief, blieb abrupt stehen. Ich starrte sie überrascht an.

»Wieso hältst du an?«

»Pscht!«, machte sie unwirsch und winkte mir ungeduldig. Zuerst verstand ich nicht, was sie von mir wollte, aber als ich den Blick hob, war es mir schlagartig klar. Vor uns erhob sich die Nebelwand, grau und wabernd und undurchdringlich. Eine einzelne Straßenlaterne markierte die Grenze zu diesem Schattenreich und wurde immer wieder von grauen Schwaden umtanzt. Ihr Licht flackerte. Mal verschwand sie im Nichts, dann tauchte sie in klaren Konturen wieder auf. Ich schnappte nach Luft.

»Genau hier«, wisperte ich atemlos, »genau hinter dieser Laterne steht unser Haus. Nur wenige Meter weiter …«

»Das Haus selbst ist jetzt erst einmal egal, wir müssen deine Familie finden«, schalt mich Aleena.

Das stimmt. »Ich weiß«, murmelte ich und schlang fröstelnd die Arme um meinen Oberkörper.

»Na dann los, gehen wir.«

Sie zog an meinem Arm, aber ich hielt dagegen.

»Meinst du nicht, wir sind dort drinnen im wahrsten Sinne des Wortes gefundenes Fressen für Nahkhiir und seine Schattenschwingen?«

»Nun …«, begann Aleena und ließ meinen Arm los. Sie blickte an mir vorbei zu Boden und überlegte.

»Hast du denn einen besseren Vorschlag?«

Ehe ich etwas erwidern konnte, zog sie scharf die Luft ein.

»Sieh mal da!«

Ich folgte ihrer Hand und musterte den Boden neben dem gepflasterten Pfad. Als der Nebel die Straßenlaterne das nächste Mal freigab, fiel ihr Licht genau darauf: Menschliche Spuren. Einige dunkle, fast schwarze Flecken deuteten auf vergossenes Blut hin und zertretenes Gras bildete beinahe eine Art Pfad. Die Spur führte zum Fluss, weg von Fiumea und bergauf in den Wald.

Ich schlug die Hand vor den Mund. Natürlich!

»Ich weiß jetzt, wo sie sind!«, rief ich erstickt. »Komm mit!«

Dieses Mal war ich es, die bereits losrennen wollte, doch Aleena hielt mich auf. Eindringlich bohrte sich ihr Blick in meinen.

»Halt! Noch nicht. Wir wissen doch gar nicht, ob wir nicht beobachtet werden.«

Ich erschrak. Daran hatte ich vor lauter Sorge in diesem Moment keinen Gedanken mehr verschwendet. Mein Mut sank.

»Du hast natürlich recht. Wie dumm von mir! Was schlägst du dann vor, Aleena? Sollen wir uns irgendwo bis zum Tag verstecken?«»Ja, sozusagen. Wir gehen dort hinein.«

Sie deutete auf das dichte Grau. Keuchend riss ich mich von ihr los. Das konnte nicht ihr Ernst sein!

»Was?!«

»Dort drinnen kann niemand von uns gut sehen. Wir nicht, aber auch sie nicht. Nahkhiir mag eine Ausnahme bilden, aber nicht sein Gefolge. Wir sollten uns dort also gut tarnen können«, erklärte Aleena. »Und wenn wir uns lange genug verstecken, verwischen wir damit unsere Spuren. Du hast doch gesagt, dein Haus steht da.«

Ich schauderte bei dem Gedanken, aber ich vertraute auch Aleenas Urteilsvermögen. Und womöglich hatte sie tatsächlich recht, auch wenn es sich gerade widersinnig anfühlte. Dort drinnen waren wir geschützter als hier draußen. Die Erinnerung an das Gefühl im Nebel erleichterte mir die Entscheidung allerdings nicht gerade.

Mein Kopf zuckte leicht, als ich widerwillig nickte.

Aleena rang sich ein aufmunterndes Lächeln ab und bot mir ihre Hand an. Ich nahm sie und fühlte, dass nicht nur meine vor Angst und Anspannung klamm war. Gemeinsam betraten wir das dichte Grau.

Eine unnatürliche, allumfassende Lautlosigkeit hüllte uns ein wie ein Tuch. Ich spürte Aleenas Hand in meiner, doch ihre Gestalt war im Nichts verschwunden. Hier war es beinahe heller als die Nacht außerhalb – eine graue, pulsierende Masse. Das fahle Licht darin hatte keinen Ursprung und kein Ende. Für einen Moment war ich orientierungslos und Panik stieg in mir hoch. Doch ich verdrängte den Gedanken und fokussierte mich auf einen anderen: Das hier war meine Heimat. Wir mussten es zu unserem Haus schaffen. Ich war so oft zum Fluss und zum Wald und wieder zurück spaziert, dass ich den Weg dorthin im Schlaf gefunden hätte. Also würde ich ihn auch jetzt finden. Ich schluckte den Kloß aus Angst hinunter und zupfte Aleena sacht an der Hand, um ihr zu bedeuten, dass wir jetzt losgingen. Sie folgte mir ohne Widerstand.

Ich führte uns blind, und dennoch wusste ich, dass wir richtig liefen. Unter meinen Füßen erspürte ich die bekannten Pflastersteine, die der Nebel geschluckt hatte. Ich zählte die Schritte.

»Eins – zwei – drei – vier …«

Ein Schatten huschte vorbei, so nah, dass ein unhörbarer Windhauch meine Wange streifte. Scharf sog ich die Luft ein, doch ich blieb nicht stehen. Sie konnten uns genauso wenig sehen und hören wie wir sie – mit einer einzelnen, ganz besonderen Ausnahme, doch an die wollte ich jetzt nicht denken.

Ein erleichtertes Seufzen entfuhr mir, als meine Fingerspitzen kurze Zeit später kühles Metall ertasteten. Es war das Tor zu unserem Garten. Ich schob die Klinke hinunter, darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen. Gleich würde das Tor knarzen und quietschen. Ich kniff die Augen zusammen, als ich es aufschob. Lautlos. Das Tor vibrierte in meiner Hand, als Rost über Rost schabte, aber ich hatte in meiner Angst ganz vergessen, dass kein Ton herausdringen würde. Ich atmete die Luft aus, von der ich nicht gewusst hatte, dass ich sie zurückhielt, und führte Aleena zur Tür des Hauses. So oft war ich mit meiner Oma in diesem Garten gewesen, es gab keine Wurzel und keinen Strauch, dessen Lage ich nicht in- und auswendig kannte. Ich tänzelte um Hecken und Büsche geschickt wie eine Ballerina, doch Aleena hatte es nicht so leicht. Mehr als einmal zog sie ruckartig an meiner Hand, wenn sie über Wurzelwerk stolperte oder in einen Strauch lief. Und obwohl ich wirklich versuchte Rücksicht zu nehmen, hörte ich regelmäßig ihr verärgertes Fluchen.

Die Terrassentür war unverschlossen, wie immer. Ich drehte den kühlen Knauf, zog die Tür auf und das glimmende Grau zog umgehend ins dunkle Haus. Ich schob Aleena hinein und schob die Tür hastig hinter mir zu. Mit einem Knall rastete das Schloss ein. Erschrocken zuckten wir beide zusammen. Aleena sog scharf die Luft ein.

»Entschuldige«, wisperte ich und zog die Schultern hoch, »mir war nicht bewusst, dass das so laut wird.«

Aleena rümpfte die Nase und betrachtete nicht gerade glücklich ihre zerrupfte Kleidung. Ich besah sie mir ebenfalls genauer, so gut es die Dunkelheit zuließ. An ihrem rechten Arm war ein beachtlich langer Schnitt und ihre Hosenbeine waren nicht nur dreckig, sondern auch stellenweise gerissen. Ich bedauerte meine achtlose Führung durch die Dunkelheit, als ich das Blut bemerkte, das sich an ihrem Ellenbogen sammelte.

»Hast du dich stark verletzt?«

Ich deutete mit dem Kinn zu Aleenas Schnitten, aber sie zuckte bloß die Schultern und wischte sich mit der flachen Hand über die Wange. »Schon in Ordnung. Wir sollten jetzt erst einmal prüfen, dass wir wirklich allein sind.«

Wir gingen vorsichtig tiefer in die Wohnung. Ich griff routiniert nach der kleinen Lampe auf dem Kaminsims und entzündete darin ein schwaches Licht. Das Wohnzimmer war beinahe, wie ich es kannte. Nur – chaotischer. Bücher lagen überall auf dem Fußboden verstreut und ergaben eine Unordnung, die ich Noah nicht zugetraut hatte. Doch der Rest des Hauses war unverändert und verlassen. Ich war trotz allem ein wenig enttäuscht. Auch wenn es reichlich unwahrscheinlich war, hatte ein winziger Teil von mir gehofft, dass Noah und Geri hier auf mich warten würden. Es war natürlich besser, wenn sie sich nicht im Nebel befanden, versicherte ich mir selbst. Wir würden sie im Wald sicher wohlbehalten antreffen.

Nachdem wir alle Räume durchsucht hatten, kehrten wir ins Wohnzimmer zurück, wo Aleena achtlos einige Bücher vom Sofa schob. Sie blieben mit geknickten Buchrücken und Eselsohren halb übereinander liegen. Der Anblick versetzte mir einen unerwartet heftigen Stich.

»Wir sollten einfach hier warten«, sagte sie und ließ sich auf das Sofa sinken, bereit, ihre Worte in die Tat umzusetzen. Ich bückte mich und erlöste die Bücher aus ihrer misslichen Lage. Als ich mich wieder aufrichtete, fiel mein Blick auf meine Freundin. Selbst in diesem Moment saß sie noch würdevoll und aufrecht da. Ich zögerte und trat von einem Bein aufs andere. Sie musterte mich.

»Du wirkst unruhig.«

»Ja … Ich gehe noch einmal hoch in mein Zimmer«, brachte ich schließlich heraus. »Ich war sehr lange nicht mehr zu Hause … und ich brauche einen kleinen Moment für mich, glaube ich.«

Aleenas Blick wurde mild und sie lächelte verständnisvoll.

»Aber sei vorsichtig.«

Ich klopfte mit einem Zwinkern ans Heft meiner Waffe, ehe ich mich zur Treppe wandte. In einer Hand die Lampe, die andere am Schwert stieg ich Stufe um Stufe in den ersten Stock.

Die Holzstufen knarzten unter meinen Füßen und ich fluchte innerlich. Über all den Ereignissen der vergangenen Monate hatte ich anscheinend vergessen, wohin ich treten musste, um mich lautlos durch das Haus zu bewegen. Am Absatz des ersten Stocks blieb ich stehen und horchte sicherheitshalber noch einmal. Hörte ich jemanden atmen? War dort ein Schatten? Ich glaubte überall Geräusche zu vernehmen, doch es war nur meine Fantasie, die mir Streiche spielte. Immerhin hatten wir das gesamte Haus durchsucht. Vorsichtig schob ich mich weiter in Richtung meines Zimmers. Sobald ich es betreten hatte, fiel die Anspannung schlagartig von mir ab. Ich seufzte. Hier drin fühlte ich mich immer sicher und behütet, selbst wenn vor dem Fenster die Welt unterging – was sie, zugegebenermaßen, gerade tatsächlich tat.

Was wollte ich überhaupt hier, außer Erinnerungen hinterherjagen? Es gab nichts für mich zu holen und ich hätte umgehend wieder gehen sollen. Stattdessen bewegte ich mich traumwandlerisch durch den Raum und ließ meine Finger über meine alte Kommode, den Bettpfosten und meinen Schreibtisch gleiten. Auf dem Bett lag die gleiche Tagesdecke wie an dem Tag, als ich gegangen war, und kurz überlegte ich, ob Noah wohl seither mein Zimmer nicht mehr betreten hatte. Dann jedoch fiel mein Blick auf mein Bett: Dort lag sauber zusammengelegte Kleidung, bereit für einen neuen Tag. Die hatte mit Sicherheit nicht ich so ordentlich drapiert. Ich ließ meine Finger liebevoll über den Stoff gleiten und einer spontanen Eingebung folgend stellte ich die Lampe auf der Kommode ab und zog mich um. Ich streifte die seidene, kühle Hose ab und freute mich über das Gefühl des einfachen beigen Leinens auf der Haut. Endlich legte ich auch den ledernen Körperschutz ab. Die ozeanblaue Bluse darunter behielt ich allerdings an – sie war zur Verstärkung meines Elementars gedacht und ich wusste nicht, ob mir das nicht noch nützlich sein würde. Ich betrachtete noch einmal den Riss am Ellenbogen. Dann zuckte ich mit den Schultern, ehe ich meine eigene bereitgelegte Lieblingsbluse einfach darüber zog. Die zwei Teile fügten sich nahtlos ineinander, als wären sie füreinander und für mich geschaffen. Eine Mischung aus zwei Welten. So fühlte ich mich endlich mehr wie ich selbst und setzte meinen Weg durch das Zimmer fort.

Meine Finger schwebten erneut über der Kommode und ich öffnete wahllos einige meiner Schubladen. Ich weiß nicht, was ich mir erhoffte zu finden, es war eine völlig unbewusste Handlung. Als ich meine Bürste in der oberen Schublade entdeckte, zog ich sie hervor und strich mit dem Daumen verträumt über die Borsten, sodass sie einzeln zurückschnellten. Sachte ließ ich sie durch meine zotteligen Haare gleiten. Ich genoss das angenehme Gefühl auf der Kopfhaut wie eine kurze Liebkosung. Seufzend legte ich die Bürste zurück an ihren Platz, während mein Blick auf etwas Glänzendes dahinter fiel. Ich fischte es hervor. Es war eine Halskette, die ich seit Jahren nicht mehr in der Hand gehalten hatte. Das Amulett, das meine Mutter immer getragen hatte! Ich hatte nicht mehr gewusst, dass ich es überhaupt besaß. Zärtlich fuhr ich mit der Fingerspitze die Konturen des Anhängers nach. Er hatte die Form eines goldenen Vogels mit langen, markanten Schwanzfedern. Rote Adern durchzogen das Tier und als ich es in der Hand hielt, schien es zum Leben zu erwachen. Ich erinnerte mich wieder daran, als kleines Mädchen gern mit der Kette gespielt zu haben. Oft genug hatte ich meine Mutter gebeten, sie mir zu leihen, aber sie hatte stets abgelehnt. Wenn du einmal groß bist, hatte sie gesagt, wirst du dein eigenes Amulett besitzen. Und ich hatte ihr geglaubt und gewartet.

Jetzt zog ich Mamas Schmuck mit einer entschlossenen Bewegung über meinen Kopf und fühlte mich dabei ein kleines bisschen schuldig, als die feingliedrige Kette sich an die Konturen meines Halses und an mein Schlüsselbein schmiegte. Beinahe hatte ich das Gefühl, einen leichten Flügelschlag zu spüren, während der Vogel sanft auf meiner Brust landete, als hätte er schon immer dort gewohnt. Eine kurze Erinnerung an das strahlende, liebevolle Lächeln meiner Mutter blitzte vor meinem geistigen Auge auf und erfüllte mich mit einem warmen Gefühl. Seufzend schob ich die Schublade wieder zu und setzte meinen Rundgang durch mein Zimmer fort.

Auf dem Schreibtisch lagen einige Papiere, von denen ich mir nicht sicher war, ob ich sie dort hingelegt hatte. Ich runzelte die Stirn und trat näher heran. Dann nahm ich einen der handbeschriebenen Zettel in die Hand und hielt ihn näher ans Licht. Noahs Schrift.

Komm zurück!

Mehr stand dort nicht und trotzdem schossen mir Tränen in die Augen, die ich entschlossen weg blinzelte. Ich ließ das Blatt zu Boden gleiten und griff ein weiteres.

Ich vermisse dich.

Auf einem Dritten stand bloß:

Es tut mir leid.

Eine dicke Träne rollte nun doch meine Wange hinab und ich schniefte. Es waren Dutzende Papierstücke, alle im selben Ton. Auf den meisten stand nur ein einzelner Satz, vielleicht einmal zwei. Für jeden Tag, den ich fort gewesen war, schien mein Bruder einen neuen Brief angefangen zu haben. Ich fuhr mit den Fingern über die Stückchen Papier und fühlte mich gerührt und überfordert zugleich. Noah. Der Noah, der nie etwas zu mir sagte, das seine Gefühle offenbarte, hatte hier so viel mehr für mich hinterlassen. Mein Herz wurde schwer, als ich mir der Liebe bewusstwurde, die hinter seinen Worten lag. Und wie er in der Lage war, so offen zu schreiben und mir dieselben Worte niemals ins Gesicht zu sagen. Wie wir beide so oft falsch abgebogen waren und auf parallelen Straßen aneinander vorbei gefahren sind. Vielleicht würde sich eine neue Chance ergeben, wenn das alles hier vorbei war. Ich richtete den Blick aus dem Fenster, sehnte mich danach, die Blätter des Ahornbaumes im Nachtwind wehen zu sehen. Kurz erahnte ich ein Trugbild des Baumes im undurchdringlichen Grau, so sicher war ich mir, was genau vor meinem Fenster stand. Im gleichen Moment wurde mir bewusst, dass wir wie auf einem Präsentierteller saßen, gut ausgeleuchtet, und zog schnell die Vorhänge zu. Es gab hier nichts mehr, das mich hielt, und so trat ich zurück in den Flur und schloss die Tür.

Meine Füße trugen mich allerdings noch nicht die Treppe hinunter, sondern den Korridor entlang zu Noahs Zimmer. Vor vielen Monaten hatte ich vor genau dieser verschlossenen Tür gestanden und geklopft. Ich hatte meinen Bruder gebeten, mit mir zu kommen. Und war schließlich ohne ihn gegangen. Ich schob lautlos die Tür auf und meine schwermütigen Gedanken beiseite und betrat das Zimmer meines Zwillings. Augenblicklich sog ich scharf die Luft ein: Sein Bett war ungemacht, der Überwurf hing lieblos an einer Ecke fest und der Rest lag auf dem Boden. Seine Schubladen waren aufgerissen und Kleidung lag überall verstreut und der größte Teil außerhalb seiner Kommode. Es sah entsetzlich falsch aus und entsetzlich wenig nach dem ordnungsliebenden jungen Mann, den ich gekannt hatte.