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Eine kleine Gruppe von Freunden kann es nicht lassen und muss das unheimliche Spiel Gläserrücken ausprobieren. Doch was als kleiner Spaß beginnt, wird sehr bald bitterer Ernst. Hätten sie nur im Entferntesten geahnt, was in der Vergangenheit geschehen ist, dann hätten sie es niemal gemacht. Nun haben sie den Stein ins Rollen gebracht und da stellt sich die Frage, wie kann man ES aufhalten? Jede einzelne Minute am Tag wird nun zu einer Gefahr für die Freunde. Werden sie es überleben?
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2018
Ruby Bley
Es ist Sommer 2017 und das Wetter ist einfach herrlich. In den Gärten hört man das Gejauchze von spielenden Kindern, welche sich in ihren Planschbecken austoben. Hier und da hört man aus den einzelnen Gärten, leise Musik. Es scheint, als haben einige größere Grillfeste. Die Luft ist erfüllt von dem Geruch, von Kohle und brutzelndem Fleisch. In einem kleinen, ruhigen Stadtteil von Gelsenkirchen trifft sich wie jeden Freitag und Samstag, eine Gruppe von sechs jungen Leuten. Sie alle sind zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt und die Clique besteht aus drei Mädchen und drei Jungen. Sandra ist die Älteste von allen, jedoch ist sie die Kleinste. Ab und zu bekommt sie den Spitznamen Zwerg von ihren Freunden. Sie hat langes, schwarz glänzendes Haar. Michaela, ihre beste Freundin ist etwa eineinhalb Köpfe größer als sie und hat eine lange, blonde Mähne. Dann ist da noch die Nachbarin von Sandra, Bianca. Die beiden kennen sich schon ihr halbes Leben. Bianca hat schulterlanges, rot gelocktes Haar. Von der Größe her ist sie genauso hoch gewachsen, wie Michaela. Patrick, einer der Jungen, ist der Freund von Michaela. Er sieht sehr sportlich aus, ist etwa 1,86 m groß und trägt mit seinen schwarzen Haaren eine schicke Kurzhaarfrisur. Die beiden haben sich vor einem halben Jahr in einer Diskothek kennen gelernt und sind seitdem fest zusammen. Lukas ist der beste Freund von Patrick. Beide machen gerade eine Ausbildung in derselben Firma für Sanitäranlagen. Im Gegensatz zu Patrick ist Lukas etwas stabiler gebaut und hat längeres, zerzaustes Haar. Man könnte dazu neigen diese Frisur als Gestrüpp zu bezeichnen, weil sie so wüst aussieht. Dennoch macht es ihn irgendwie sehr sympathisch und es steht ihm ausgezeichnet. Immer mit im Schlepptau ist der kleine Bruder von Lukas.
Er heißt Thomas und ist der Jüngste aus der Gruppe. Keiner der anderen möchte ihn missen, denn wenn einmal die große Langeweile im Anflug ist, fällt ihm immer etwas ein, was man anstellen kann. Er sieht seinem Bruder Lukas überhaupt nicht ähnlich, da sie nicht denselben Vater haben. Wie jedes Wochenende gehen sie in den nahe gelegenen Wald. Sie sind einfach anders als die normalen Jugendlichen heutzutage. Während andere sich nur auf Partys aufhalten, verbringen sie lieber gemeinsam ihre Zeit. Auf Discotheken haben sie alle nicht sonderlich Lust. Dort ist es ihnen zu laut, zu voll und viel zu stickig.
Sie legen eher Wert darauf, miteinander ein wenig zu plaudern oder Blödsinn zu machen, als sich irgendwo zu betrinken. Auf dem Weg zum Wäldchen, gehen sie an einer beleuchteten Straße entlang. Da es schon fast zweiundzwanzig Uhr ist, ist es draußen schon recht dunkel geworden und man kann nur die ersten Bäume am Waldrand erkennen, weil sie von dem Licht der Laternen angestrahlt werden. Es sieht so aus, als würden sie direkt in ein schwarzes Nichts hinein gehen.
Der Anblick dieser Kulisse lässt einem trotz der warmen Nächte, einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Obwohl sie sich seit etwa einem halben Jahr hier regelmäßig treffen, gruselt es sie hin und wieder schon ein wenig.
Sandra, die älteste mokiert sich: »Meine Mutter hat schon wieder voll rumgestresst heute!«
Neugierig schaut Lukas sie an und will wissen, was vorgefallen ist.
»Ach, ich habe mich für heute fertig gemacht und dann kam wieder von ihr, wie gefährlich das doch sei und man kann doch nicht bis in die Puppen in einem Wald rum sitzen, das wäre nicht normal.«
»Mach dir nichts draus«, meint Lukas: »Meine Eltern sind genauso drauf. Die machen sich um jedes Bisschen einen Kopf.«
Während sie gelassen und gleichzeitig angespannt, weiter dem kleinen holprigen Pfad folgen, verschwindet hinter ihnen immer mehr und mehr das Licht der Straßenlaternen, welches vereinzelt durch das Gewirr der Bäume zu sehen ist. Ein laues Lüftchen lässt die Blätter, der am Wegrand wachsenden Sträucher rascheln. Zwischendurch hört man ein leises Fiepen, welches einige Mäuse im Unterholz von sich geben. Sie laufen über Stock und Stein immer tiefer in den Wald hinein, bis sie zu einer größeren Weggabelung kommen.
»So, da wären wir endlich«, sagt Michaela richtig erfreut.
Mitten auf der Gabelung steht ein großer, langsam vor sich hin modernder Baumstumpf. Anscheinend hat man den Baum bis zu einer Höhe von etwa sechzig Zentimeter abgesägt und den Rest mit der Wurzel stehen gelassen. Direkt daneben liegen zwei kurze Baumstämme, an deren Seiten große Pilze sprießen. Doch in der Nacht kann man sie nicht wirklich erkennen. Das mit den liegenden Baumstämmen ist sehr praktisch, denn sie können sie als Sitzgelegenheit nehmen und den Stumpf nutzen sie als Art, kleinen Tisch. Jetzt wo jeder seinen Platz gefunden und sich nieder gelassen hat, reden sie gemütlich über das, was auf der Arbeit und in der Schule die ganze Woche über geschehen ist. Auch die Probleme, welche zu Hause aufkommen, werden hier häufig besprochen. Sie sagen immer, dass sie sich hier den Frust von der Seele reden können und es dann verborgen im Wald bleibt, so dass sie davon nichts mehr mit nach Hause nehmen müssen.
»Meine Politiklehrerin ist so eine Hexe«, beginnt Thomas aufgeregt zu erzählen.
»Die hat mich doch heute tatsächlich aus der Klasse geworfen. Dabei habe ich gar nichts gemacht.«
Neugierig schauen ihn alle an.
»Das Handy von meinem Sitznachbar hat geschellt und irgendein Spaßvogel zeigt mit fuchtelndem Finger auf mich. Egal, wie oft ich der Alten sagte, dass mein Handy gar nicht an ist, es hat sie nicht interessiert!«
Das führt zu neuen Diskussionen und sie reden angeregt über ihre Schulzeit. Zwar kommt dieses Thema sehr oft auf, aber irgendwie scheint ihnen hierbei der Gesprächsstoff nie auszugehen. Aber das kann man ja auch verstehen, wenn man nur selbst an seine Schulzeit zurück denkt, da gibt es unendlich viele, tolle Geschichten.
»Ach, ich hab da ja noch etwas«, meint Bianca freudig und holt aus ihrer Tasche eine extrem große Kerze.
»Was ist das denn für ein Brecher?«, fragt Patrick lachend und kann sich kaum noch auf dem Baumstamm halten.
Darauf erwidert Bianca: »Ja, hier ist es immer so düster, wir sehen uns doch nur dann, wenn sich jemand eine Zigarette anzündet. Und da sie so groß ist, hat sie auch mehrere dicke Dochte und hält ein kleines bisschen Wind aus.«
»Na, dann mach mal.«, meint er skeptisch.
Bianca nimmt ihr Feuerzeug aus der Hosentasche und zündet sie an. Tatsächlich, die Flammen halten dem leichten Wind stand. Nun können sie sich auch in dem Schein der Flammen sehen, wenn sie miteinander reden. Allerdings lässt das schummrige Licht, den Wald um sie herum noch unheimlicher wirken.
Vorher, als sie sich nur auf ihr Gehör konzentriert haben, wussten sie nach kurzer Zeit, zu was die einzelnen Geräusche gehören. Aber jetzt, da es den kleinen Lichtschein der Kerze gibt, drehen sie sich bei dem kleinsten Geräusch um, weil sie jetzt schemenhaft erkennen können, was sich dort bewegt. Der Abend schreitet voran und allmählich geht ihnen der Gesprächsstoff aus. Da fällt Thomas ein, dass er ein Kartenspiel in der Hosentasche hat. Er hat es immer in der Schule bei sich, um in den Pausen etwas mit seinen Mitschülern Pokern zu können und genau das will er jetzt auch tun, schließlich haben sie ja nun etwas Licht. Bianca und Sandra haben dazu nicht sonderlich Lust, denn Kartenspiele sind nicht wirklich ihre Leidenschaft. Außerdem drückt Sandras Blase ganz schön und sie wackelt unruhig hin und her. Sie rügt sich selbst dafür, heute so viel Kaffee getrunken zu haben. Daher entscheiden sie sich ein Stück tiefer in den Wald zu laufen, damit Sandra in ein Gebüsch gehen kann.
»Aber ich kann doch jetzt nicht einfach hier in den Wald pinkeln.«, meint Sandra zerknirscht und etwas angewidert.
»Warum denn nicht? Das machen wir doch alle, wenn wir hier sind und zum Klo müssen.«
»Ja aber ich muss sonst nicht, wenn wir unterwegs sind und außerdem können die anderen mich bestimmt sehen.«
Bianca versucht sie zu beruhigen.
»Da kann keiner was sehen, aber wir können gerne noch ein paar Meter weitergehen und dann gehst du an der Seite in ein Gebüsch.«
Etwas zögerlich willigt Sandra dann schließlich ein.
Immer tiefer laufen die beiden in den Wald hinein. Zwischendurch drehen sie sich kurz um, nur um zu schauen, ob sie noch das Licht der Kerze erspähen können. Erst als es kaum noch zu erkennen ist, bleiben sie stehen.
»So, hier kann dich keiner mehr sehen. Dann geh hier rechts schnell in das Gebüsch, ich warte auf dich.«
Sandra bahnt sich widerwillig den Weg durch das, auf dem Boden liegende Geäst und alte Laub, bis sie hinter dem Busch ist.
»Mist! Mist verdammter!«
»Was ist los?«, will Bianca sofort wissen und geht erschrocken zu Sandra.
Ihr Puls beschleunigt sich leicht und sie wird auf einmal ganz nervös.
»Ach, ich wollte gerade meine Hose runter ziehen, als hinter mir etwas geknackt und geraschelt hat. Ich habe mich so erschrocken, dass mir mein Handy runter gefallen ist. Da das Display aber aus ist, weiß ich nicht wo es hingefallen ist.«
Vor lauter Schreck und Besorgnis um ihr Handy, hat Sandra vergessen, dass sie eigentlich auf die Toilette muss und macht nur schnell ihre Hose wieder zu. Gemeinsam tasten die beiden auf dem Boden nach dem Telefon, sie können es jedoch nicht zwischen dem Laub finden. An einer Tour hören sie hinter sich zerbrechendes Gehölz, so als wenn jemand auf kleine Äste tritt und diese unter der Last bersten. Die Geräusche werden immer lauter und scheinen näher zu kommen. Jetzt ist ihnen das Handy vollkommen egal, sie wollen nur noch zurück zu den anderen. Sie merken, wie Adrenalin in ihnen aufsteigt und sie hasten um das Gebüsch herum, um wieder auf den Weg zu gelangen. Sie sehen kaum die Hand vor Augen und das Licht der Kerze ist nirgendwo mehr zu erkennen. Wirsch blicken sie in alle Richtungen. Da die beiden durch die anhaltenden Geräusche immer tiefer in ihre Angst hinab rauschen, rennen sie Hand in Hand einfach drauf los. Egal wo hin. Sie wollen einfach nur weg. Nach ein paar Minuten lassen ihre Kräfte nach und die beiden werden langsamer.
»Müssten wir nicht eigentlich schon längst wieder bei den anderen sein? Soweit waren wir doch gar nicht weg.«, sagt Sandra vollkommen außer Atem.
Ihre Beine fühlen sich an, als würden sie aus Pudding bestehen.
»Normal schon. Ich glaube wir sind in die falsche Richtung gerannt. Sollen wir die anderen einfach mal rufen?«
»Nein, bloß nicht! Wenn da wirklich jemand ist, dann findet er uns.«
Ängstlich und schnell atmend gehen sie weiter. Allerdings rennen sie nicht mehr, denn beide haben bereits von dem kurzen Stück immense Seitenstiche. Das Rascheln und Fiepen der Tiere um sie herum dröhnt durch die Stille der Nacht. Sandra hat solch eine Angst, dass ihre Augen heiß anlaufen und schon Tränen beginnen, sich ihren Weg zu bahnen. Sie versucht angestrengt die salzigen Perlen weg zu blinzeln, was ihr jedoch nicht wirklich gelingt. Nach ein paar weiteren, tapsigen Schritten können sie im Dunkeln nach und nach etwas erkennen. Die Bäume stehen hier nicht mehr so dicht bei einander, so dass der Mond ihnen ein wenig Licht spendet.
»Wie spät haben wir es eigentlich?«, möchte Bianca wissen.
Sandra schaut mit zusammengekniffenen Augen auf ihre Uhr. Sie muss sich ein Stück drehen, damit sie die Zeiger im Mondlicht sehen kann.
»Es ist jetzt zwanzig vor zwölf. Wir sind schon recht lange weg, normal müssten die anderen uns schon längst suchen.«
Bianca nickt mit leichten Sorgenfalten.
»Hoffentlich.«
Mittlerweile schmerzen die Füße der beiden und gerade als sie sich einfach auf den Boden setzen wollen, um sich kurz auszuruhen, erkennen sie schemenhaft ein kleines Haus.
»Schnell, lass uns da mal klopfen. Vielleicht kann uns jemand sagen, wie wir wieder aus dem Wald kommen.«
»Bianca nicht! Was ist wenn da ein Mörder oder so etwas wohnt?«, fleht Sandra sie panisch an.
»Ach du spinnst doch! Wenn dann ist es ein Forsthaus oder ein Zweithaus. Viele Menschen haben eine Hütte am oder im Wald.«
Alles Flehen von Sandra hilft nicht. Bianca steuert schnurstracks auf das Haus zu. Doch mit einem Mal bleibt sie abrupt stehen.
»Was ist los?«, flüstert Sandra verschüchtert und sie merkt, dass direkt ihre Hände beginnen zu zittern.
»Das Haus scheint leer zu stehen.«
Zögerlich und eher mit tapsenden Schritten, gehen sie weiter auf die Hütte zu. So schnell, wie das Adrenalin anstieg, so schnell ist es durch die kleine panische Flucht auch schon fast aufgebraucht. Prompt macht sich die Blase von Sandra wieder bemerkbar. Da sie soweit gelaufen sind, sie anscheinend doch niemand verfolgt hat und das Haus unbewohnt zu sein scheint, geht sie hinter das nächste Gebüsch am Wegesrand.
»Oh man. Das nächste Mal werde ich vorher keinen Kaffee trinken. Das ist ja ekelhaft.«
Bianca kann nicht anders und muss sich über das Getue von Sandra amüsieren.
»Man kann sich auch anstellen.«
Nachdem Sandra sich wieder richtig angezogen hat, begutachten die beiden das Haus weiter von Nahem. Die Angst scheint wie verflogen zu sein und Neugier fesselt sie. Es muss schon lange leer stehen, denn es sieht sehr verwittert aus. Das Holz ist ausgeblichen, rissig und an einigen Stellen moosbedeckt. Plötzlich hören sie hinter sich etwas. Schlagartig drehen die beiden sich um und versuchen die Geräusche zu orten. Es sind ihre Freunde. Weil die beiden so lange weg waren, machten sie sich auf den Weg, um Sandra und Bianca zu suchen.
»Was macht ihr denn hier so tief im Wald?«, fragt Lukas verdutzt.
»Ach, frag nicht. Wir haben etwas gehört und sind dann einfach nur noch gerannt. Leider in die falsche Richtung, wie wir dann festgestellt haben.«, erklärt Sandra.
»Was ein schmuckes Häuschen! Steht es leer? Das habe ich hier noch nie gesehen. Und ich dachte immer ich war schon im gesamten Wald.«, unterbricht Patrick sie.
Kaum, dass er dieses sagt, sehen sich alle das Haus an.
»Stimmt, ich kannte es bisher auch nicht. Warum treffen wir uns denn jetzt nicht immer hier? Dann müssen wir beim nächsten Regen oder Gewitter nicht doof zu Hause rum sitzen.«, wirft Michaela aufgeregt ein.
Sie waren alle hin und her gerissen, doch als sie eine Weile darüber diskutiert haben, ist es beschlossene Sache.
»Wir gehen jetzt besser wieder nach Hause, sonst hab ich noch mehr Theater mit meinen Eltern.«, meint Michaela leicht genervt.
Auf dem Rückweg ruft Lukas immer wieder auf Sandras Handy an, damit sie es wieder finden. Nach etwa zehn Anrufen hören sie es endlich klingeln. Lukas geht hinter das Gebüsch und kommt prompt mit dem verlorenen Telefon hervor. Sandra ist überglücklich und fällt ihm vor Freude und Dankbarkeit um den Hals.
»Danke, danke, danke. Ich wüsste nicht, was ich ohne mein Handy machen sollte.«
Sie laufen weiter und jetzt, wo sie die Lichter der Straße sehen können, sind sie innerlich ein wenig erleichtert, auch wenn es niemand von ihnen zugeben würde. Als Erste verabschiedet sich Michaela, die anderen gehen gemeinsam noch ein Stück weiter. Wie es sich gehört, bringen die Jungen, die Mädchen bis zu den Haustüren, dann verabschieden auch sie sich.
Als Sandra in das Haus ihrer Familie kommt, steht ihre Mutter mit verschränkten Armen vor ihr. Kurz stockt Sandra, da sie nicht damit gerechnet hat, dass sie noch wach ist. An dem finsteren Gesichtsausdruck erkennt sie, dass sie nichts Gutes zu erwarten hat.
»Wo kommst du jetzt her, mein liebes Fräulein?! Hatte ich nicht gesagt, dass ich nicht möchte, dass du bis mitten in die Nacht in diesem dämlichen Wald hockst? Wenn dann doch mal etwas passiert, was ist dann?! Du machst dir auch um gar nichts Gedanken. Dass du dir nicht vorstellen kannst, dass ich mir vielleicht Sorgen um dich mache, aber soweit denkst du ja nicht! Du willst immer, dass wir dich wie eine Erwachsene behandeln, dann verhalte dich auch so!«
Weiter vor sich her schimpfend geht Sandras Mutter in das Wohnzimmer. Kaum, dass sie aus dem Flur ist, atmet Sandra tief durch und denkt nur, Man, die lässt einen ja nicht einmal zu Wort kommen. Da Sandra weiß, dass es besser ist ihre Mutter jetzt nicht mehr anzusprechen, geht sie schnurstracks auf ihr Zimmer. Schnell macht sie sich bettfertig und legt sich auf ihr Bett. Auf dem kleinen Nachttisch links neben ihr liegt ihr Laptop, welchen sie sich nimmt. Bevor sie schlafen geht möchte sie noch kurz mit ihren Freunden schreiben, auch wenn sie sich bis eben noch gesehen haben. Gerade als sie online ist, macht es auch schon Bing.
Sandra hat eine Nachricht von Michaela. Sie schreibt ihr, dass sie auch großen Ärger bekommen hat, als sie zur Tür herein kam. Bei den anderen aus der Gruppe läuft es viel entspannter ab. Allerdings haben sie ihren Eltern auch nicht gesagt, dass sie sich in einem Wald aufhalten.
So, ich geh jetzt schlafen. Dann treffen wir uns morgen Abend um achtzehn Uhr direkt vor dem Wald, schreibt Sandra ihren Freunden und klappt den Laptop zu.
Sie wälzt sich von einer Seite auf die andere. Irgendwie kann sie nicht so recht einschlafen, denn sie muss die ganze Zeit darüber nachdenken, was ihre Mutter ihr an den Kopf geworfen hat. Sicher kann sie die Angst von ihr verstehen und es tut ihr auch leid, dass sie sich immer wieder deswegen streiten, aber sie kann nicht begreifen warum ihre Mutter nicht versucht, sie auch einmal zu verstehen.
Mittlerweile denkt Sandra schon seit geschlagenen zwei Stunden über alles nach und schläft letztendlich doch ein, allerdings eher vor Erschöpfung als durch Entspannung. Auch im Schlaf kommt sie nicht zur Ruhe. Sie träumt von dem Knacken im Wald und was sie noch alles erlebt hat. Das ganze mischt sich in ihrem Kopf zu einem ausgewachsenen Alptraum zusammen. Am anderen Morgen steht sie wie gerädert erst um zehn Uhr auf. Zuerst wundert sie sich, dass niemand zu Hause ist, aber dann fällt es ihr ein. Es ist Samstag, also Einkauftag. Sie setzt sich in die Küche und schüttet sich den Rest Kaffee ein, welchen ihre Mutter Sandra netter Weise übrig gelassen hat.
Als ihre Eltern wieder daheim sind, spricht sie mit ihrer Mutter über den Vorabend und entschuldigt sich bei ihr. Nachdem jeder der beiden seinen Standpunkt in Ruhe erklärt hat, artet das Gespräch aus und sie geraten wieder aneinander. Sauer und mit den Füßen stampfend, geht Sandra auf ihr Zimmer und schmeißt sich frustriert auf das Bett. Langsam schweift ihr Blick auf die Uhr. Nur noch sechs Stunden, denkt sie sich. Allmählich beruhigt sie sich wieder und beginnt sich Anziehsachen rauszusuchen, welche sie am Abend tragen möchte. Um halb sechs geht sie Wortlos los und kommt als Erste bei dem abgemachten Treffpunkt an. Als die anderen nacheinander eintrudeln, wird sich euphorisch begrüßt. Man könnte meinen, sie alle hätten sich seit Jahren nicht mehr gesehen. Sandras Blick wandert an Michaelas rechter Seite entlang.
»Wieso hast du denn so eine große Tasche dabei?«
»Das wirst du gleich schon sehen.«
Darauf rät Lukas ins Blaue hinein.
»Gib dir keine Mühe. Uns hat sie es auch noch nicht erzählen wollen.«
Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu dem Häuschen. Weil sie sich heute etwas eher getroffen haben als sonst, ist es noch hell. Vorsichtig und langsam betreten sie die kleine Hütte. Von innen sieht sie gar nicht so schlimm aus, wie alle befürchtet haben.
Auf der linken Seite stehen eine kleine Spüle, ein Herd mit Ofen und ein alter Kühlschrank. Zwar sehen sie so aus, als wenn sie ihre besten Jahre schon hinter sich haben, dennoch könnten sie ihren Zweck noch erfüllen, wenn es hier Strom geben würde. Direkt daneben, fast mittig im Raum, steht ein alter Tisch mit vier klapprig aussehenden Holzstühlen. Wenn man nach rechts schaut, sieht man ein altes, graues Sofa, zwei dazugehörige Sessel und einen kleinen, runden Tisch. Über dem Sofa ist ein Regalbrett, auf welchem ein verstaubtes, silberfarbenes Radio steht. Ob das noch funktioniert?, fragt sich Lukas. Wenn man in der Eingangstür steht und geradeaus schaut, dann sieht man eine Treppe, die nach oben zu zwei Schlafräumen führt. Direkt hinter dieser Treppe ist ein kleines Badezimmer, mit einem Waschbecken, einer Toilette und einer engen Dusche. Wenn es hier nicht so staubig wäre, dann könnte es richtig gemütlich sein. Kaum in der Hütte angekommen, kramt Michaela in ihrer großen Tasche.
»So. Jetzt zeig ich euch, was ich hier drin habe.«
Sie holt drei verschiedene Tüten Chips hervor, zwei Flaschen Cola und sechs Pappbecher. Alle sind ganz begeistert, denn sie selber sind nicht auf die Idee gekommen, etwas mitzunehmen. Auch heute haben sie wieder eine Menge, worüber sie reden können.
Draußen wird es immer dunkler. Michaela hat nicht nur an Chips und Getränke gedacht, sondern auch wieder an Kerzen. Das ist mit eine ihrer besten Ideen, denn in der Waldhütte funktioniert nicht eine Lampe. Gemeinsam sitzen sie in dem kleinen Wohnraum und machen es sich auf dem Sofa und den Sesseln gemütlich. Thomas hat wieder seine Karten mitgebracht und gemeinsam spielen sie verschiedene Spiele. Von nun an ist das ihr kleines Häuschen, ihr Geheimnis. Bei jedem Treffen räumen sie etwas auf und machen sauber. Zusammen albern sie in dem Haus herum, spielen Brett- und Kartenspiele und hören Musik. Nach sechs weiteren Treffen, wollen sie endlich einmal dort zusammen übernachten. Die Mädchen erzählen ihren Eltern jeweils, dass sie bei der anderen Schlafen, die Jungen sagen einfach nur Bescheid, dass sie zu einem Kollegen gehen.
Gemeinsam schleichen sie am Abend, bepackt mit großen Sporttaschen in welchen Decken und Kissen sind, durch den Wald. Sie schauen sich immer wieder um, ob auch niemand in der Nähe ist. Endlich kommen sie an der Hütte an. Freudig treten alle ein und zünden als Erstes die Kerzen an.
»Wo wollen wir heute eigentlich schlafen? Oben in den beiden Zimmern oder alle zusammen hier unten?«, will Lukas wissen.
Sie beraten sich eine geraume Zeit und kommen zu dem Endschluss, dass sie oben schlafen. Die Mädchen nehmen das linke Zimmer und die Jungen, das Rechte. An diesem Abend spielen sie viele verschiedene Spiele, wie die anderen Wochenenden zuvor auch. Zusammen sitzen sie in dem kleinen Wohnraum und pokern. Die Jungen haben sich, zum Leidwesen der Mädels, durchsetzen können. Jedoch als ihnen das zu langweilig wird, kommt das altbewährte Spiel Wahrheit oder Pflicht dran. Michaela muss beginnen und darf zwischen den beiden Optionen wählen. Nimmt sie Wahrheit, kann sie mit einer unangenehmen Frage rechnen, dafür kennt sie ihre Freunde zu gut. Nimmt sie Pflicht wird es wohl auch nichts Besseres werden. Schließlich entscheidet sie sich doch für Pflicht.
»Bitte lass jetzt nichts Fieses kommen.«, brabbelt sie vor sich hin.
Bianca überlegt kurz und hat dann einen Einfall.
»Du musst drei Mal alleine um das Haus herumlaufen.«
Michaela schaut aus dem Fenster.
»Okay, das ist ein Leichtes.«
Bianca denkt, dass Michaela das nicht annehmen würde, weil es stockduster da draußen ist, aber Michaela ist nicht so leicht zu verängstigen. Schnurstracks geht sie mit erhobenen Haupt vor die Tür, welche sie laut scheppernd hinter sich ins Schloss fallen lässt. Die erste Runde läuft sie froh gestimmt um das Haus und Bianca ärgert sich ein wenig, dass die Aufgabe sie keine Überwindung kostet. Bei der zweiten Runde geht Michaela schon ein wenig langsamer. Hastig schaut sie sich um. Da war ganz deutlich ein Knacken zu hören.
»Das war sicher nur ein Hase, der durch das Geäst hoppelt.«, versucht sie sich zu beruhigen.
Sie dreht sich wieder um und läuft die beiden letzten Runden fertig. Als sie wieder in der Hütte ist sagt sie jedoch kein Wort darüber, dass sie etwas gehört hat, denn wenn sie das macht, dann hat Bianca mit der Aufgabe erreicht was sie wollte. Nun ist Patrick dran und er muss für zehn Minuten in das dunkle Badezimmer, ohne Kerze oder sonstige Lichtquelle. Auch diese Aufgabe finden alle, ja sogar Patrick lustig. Danach ist Bianca an der Reihe. Weil sie die ganze Zeit versucht hat, sich jeweils für die anderen etwas Fieses als Pflicht auszudenken, nimmt sie vorsichtshalber Wahrheit.
»Feigling! Aber gut. Wovor hast du am meisten Angst?«, will Thomas wissen.
Sie überlegt kurz und sagt dann: »Ich denke die meiste Angst habe ich vor dem Tod.«
Diese Antwort verwundert niemanden, denn wer hat keine Angst davor. Sandra schaut auf ihre Uhr.
»Was? Wir haben schon halb drei?«
Erstaunt darüber, wie schnell die Zeit verging, beenden sie ihr Spiel, räumen alle schnell ihre Sachen zusammen und gehen schlafen.
Am anderen Morgen stehen alle wie gerädert auf. Der Schlafmangel hat die Freunde deutlich gezeichnet.
»Machen wir das heute wieder?«, möchte Thomas wissen.
»Ich denke, wenn unsere Eltern uns das gestern abgekauft haben, dass wir bei Freunden schlafen, dann werden sie das heute auch.«, gibt Sandra zum Besten.
Und so ist es abgemacht. Doch nun gehen sie erst heim und verabreden sich wieder am Abend, am Waldeingang. Zu Hause bei den einzelnen gibt es zur Abwechslung keinen Ärger und auch keine Verbote, erneut bei Freunden zu schlafen. Die Eltern der Mädchen sind einfach nur froh, dass es nicht wie sonst heißt, Wir treffen uns im Wald. Als sich die Clique am Abend wieder sieht, hat diesmal zur Überraschung Thomas einen braunen Beutel dabei. Auch er möchte um keinen Preis verraten was darin ist. Nur eines sagt er, dass es ein Spiel sei. Kaum in der Hütte angekommen kann Bianca ihre Neugier einfach nicht mehr zurück halten.
»Was ist das denn für ein tolles Spiel? Sollen wir sofort damit beginnen?«
Doch Thomas bleibt weiterhin geheimnisvoll.
»Nein, jetzt noch nicht. Das machen wir erst etwas später.«
Das so hinnehmend, bringen alle gut gelaunt und herumalbernd ihre Sachen auf die Zimmer.
»Oh man, wenn meine Eltern wüssten, dass wir jetzt auch noch im Wald schlafen. Ich glaub ich hätte lebenslangen Hausarrest und dürfte euch nie wieder sehen.«, faselt Michaela.
Aber auch Bianca und Sandra würde es nicht anders ergehen. Bianca holt einen rosafarbenen Schlafanzug aus ihrer Tasche und erzählt voller Stolz etwas dazu.
»Seht mal, den habe ich neu gekauft. Ist der nicht niedlich?«
Sandra und Michaela schauen sie stirnrunzelnd an, denn sie können dem Rosawahn von Bianca nichts abgewinnen. Sie haben keine andere Wahl und ziehen sie neckisch auf. Als die drei alles oben verstaut und sich von ihrem Gelächter erholt haben, trotten sie langsam die Treppe hinunter, zu dem kleinen Wohnbereich. Die Mädchen verhalten sich, als wenn sie sich Wochenlang nicht mehr gesehen hätten und sind ununterbrochen am plauschen. Der neuste Klatsch und Tratsch über die ganzen Promis scheint ganze Wochen füllen zu können.
Sie diskutieren, wer wohl eine Schönheitsoperation gemacht hat, welche Promis mit wem zusammen oder auseinander sind und die ganzen restlichen, kleinen Eskapaden von ihnen. Da dieses nicht wirklich ein Thema für die Jungen ist, spielen sie wie gewohnt eine Runde Poker, um sich schon auf den restlichen Abend einzustimmen. Bei ihren Gesprächen geht es Hauptsächlich um Autos und wann wer seinen Führerschein macht. Patrick hat seinen schon und gibt Lukas ein paar Tipps, da er gerade seine ersten beiden Fahrstunden hinter sich hat. Tomas will sich direkt an seinem siebzehnten Geburtstag anmelden und wünscht sich daher nur Geld von allen Verwandten.
Er lernt jetzt schon fleißig mit Lukas die Theoriefragen und ist wirklich gut darin. Allmählich gehen den Mädchen die Gesprächsthemen aus, doch auf Pokern haben sie keine Lust. Das überlassen sie lieber der männlichen Fraktion. Gemeinsam überlegen sie was sie noch spielen könnten, aber sie kommen auf keinen gemeinsamen Nenner. Wahrheit oder Pflicht will niemand außer Sandra spielen, Kartenspiele jeglicher Art fallen auch raus, auch Scharade ist nicht gerade das, was sie begeistert. Weil Michaela nichts mehr einfällt, steht sie auf und holt noch ein wenig Knabberzeug, welches sie mitgebracht hat. Sie stellt es für alle auf den Tisch und setzt sich wieder mit auf das alte Sofa. Als alle in Gedanken versunken sind und nicht wissen, was sie noch machen können, will Thomas endlich sein Geheimnis lüften.
»Na gut, dann erlöse ich euch. Wir haben eh in etwa zwanzig Minuten Mitternacht.«
Sie sehen ihn neugierig und gespannt an. Was er da wohl mitgebracht hat?, fragen sich alle. Mit großen Augen starren sie den Beutel an, welchen Thomas jetzt langsam hoch nimmt und feierlich öffnet. Um die Spannung zu erhalten, zelebriert er das Auspacken nach besten Kräften. Zuerst kramt er einige Zettel heraus. Sie sind nicht sehr groß, etwa zehn mal fünf Zentimeter. Diese legt er auf den Tisch, an dem alle sitzen. Gebannt schauen sie weiter zu, was da noch alles kommt, denn Zettel sind ja noch nicht wirklich ein Spiel. Nun holt Thomas ein kleines Glas hervor und stellt es mitten auf den Tisch.
»Ah, spielen wir Gläserrücken?«, fragt Bianca aufgeregt und grinsend.
»Ja, ich dachte das wäre das Passende für unsere gefundene Hütte, mitten im Wald.«, strahlt Thomas.
»Ach ne. Das muss doch nicht sein. Das ist doch alberne Kinderkacke und klappt eh nicht.«, mosert Lukas vor sich her.
Daraufhin zieht Sandra ihn auf.
»Wieso Kinderkacke? Hast du etwa Schiss?«, und sie beginnt ihn auszulachen.
Brummig knurrt er zurück.
»Schiss? Ich und Schiss! Tz.«
Diese Aussage hört sich allerdings alles andere als mutig an und daher müssen jetzt auch die anderen lachen.
»Hey, ein Versuch ist es doch wert. Entweder es klappt oder wir hatten wenigstens unseren Spaß und haben es mal ausprobiert. Was soll denn da schon groß passieren?«, fragt Thomas in die Runde.
»Naja, passieren kann da schon recht viel. Zumindest, wenn man dem Glauben schenkt, was man alles so im Internet liest und durch Hörensagen mitbekommt.«, entgegnet ihm Sandra.
Thomas fängt an das Spiel aufzubauen und stellt alles was auf dem Tisch steht, daneben auf den Boden. Auf den einzelnen Zetteln stehen Buchstaben, Zahlen, Ja und Nein. Es trifft sich ganz gut, dass der Tisch rund ist, denn Thomas muss die einzelnen Zettel in einem Kreis hinlegen. Er platziert sie in alphabetischer Reihenfolge und von Null bis Neun nacheinander. Ja und Nein kommen in den gelegten Kreis, so dass sie sich gegenüber liegen. Das Glas stellt er direkt in die Mitte des Kreises verkehrt herum auf den Tisch. Um sie herum sind bereits Kerzen angezündet, damit sie ein wenig schummriges Licht in der Hütte haben.
»So, nun ist soweit alles fertig. Ich erkläre euch kurz ein paar Regeln dazu. Das Glas darf keinesfalls umgekippt werden, denn sonst kann, wenn ein böser Geist anwesend sein sollte, er heraus. Auch sollten wir versuchen ernst dabei zu bleiben und niemals, ich wiederhole, niemals nach unserem Todestag oder der Art zu sterben fragen. Wirklich niemals. Einer von uns sollte das Glas nicht berühren und vorsichtshalber alles aufschreiben, wenn etwas passiert. Und, was auch ganz wichtig ist, nicht einfach die Hände wegnehmen und aufhören. Immer zuerst fragen ob es in Ordnung ist, wenn ihr das macht. Das Gespräch beenden wir so, dass wir uns verabschieden und dann das Glas in großen Bögen immer mehr zur Mitte wandern lassen und mit den Kreisen kleiner werden. Alles klar soweit?«, erklärt Thomas.
Alle nicken, während sie versuchen sich das Lachen zu verkneifen. Weil niemand mehr Fragen dazu hat, legen alle bis auf Lukas, einen Finger auf den Glasrücken. Er will lieber alles notieren, da ihn ein ungutes Gefühl beschleicht, dieses jedoch auf keinen Fall zugeben will. Langsam lassen sie das Glas kreisen und Thomas übernimmt zu Beginn das Fragen.
»Geist wir rufen dich, bist du anwesend?«
Nichts passiert.
»Ist ein Geist anwesend? Dann sag es uns.«
Auch dieses Mal geschieht nichts. Nun können sie ihr Gekicher nicht mehr zurück halten. Thomas versucht sie etwas zu beruhigen und sagt ihnen noch einmal, dass sie es ernst nehmen sollen, kann aber selber sein Lachen kaum unterdrücken. Immer wieder zucken seine Mundwinkel und wollen in die Höhe schießen. Gemeinsam atmen sie tief durch und beruhigen sich allmählich. Das Glas lassen sie ununterbrochen auf dem Tisch seine Runden ziehen und immer wieder fragt Thomas, ob jemand anwesend ist.
Nach fast einer Stunde ist Michaela genervt.
»Das ist ja alles gut und schön, aber da scheint nicht wirklich etwas zu passieren und mein Arm tut mir auch so langsam weh. Jetzt will ich mal nach einem Geist fragen, wer weiß vielleicht bekomme ich eher eine Antwort als du.«
Thomas hat dagegen nichts einzuwenden, da er mittlerweile auch keine Lust mehr hat Selbstgespräche zu führen und immer das Gleiche zu sagen, oder besser gesagt zu fragen.
»Wenn hier irgendwer anwesend ist, dann melde dich verdammt noch mal. Wir sind alle müde und so langsam macht es keinen Spaß mehr, eine Belustigung für euch da drüben zu sein!«, sagt Michaela in einem schroffen Ton.
»Hey, sei nicht so respektlos. Ich hab ja gesagt, dass es nicht klappen muss. Vielleicht sollte Sandra ab jetzt das Fragen übernehmen.«, fährt Thomas sie an.
Lukas sitzt währenddessen nur gelangweilt daneben und muss sich bemühen seine Augen offen zu halten, denn wenn man die ganze Zeit über beobachtet, wie andere ein Glas auf einem Tisch kreisen lassen, hat dieses unweigerlich eine hypnotische Wirkung auf jemanden. Sandra willigt ein, das Fragen zu übernehmen.
»Geist, bist du da? Ist jemand hier, der mit uns reden möchte?«
Auch bei ihr passiert nichts. Nach weiteren etlichen Versuchen, haben sie keine Lust mehr und wollen nur noch schlafen. Nur Sandra möchte es noch ein paar Minuten probieren und tatsächlich, das Glas wandert auf Ja. Sofort sind alle hell wach und es ist für sie klar, irgendjemand hier muss das Glas schieben. Nachdem aber jeder versichert, nichts damit zu tun zu haben, schauen sie ein wenig zerknirscht drein.
Sandra fragt weiter.
»Bist du ein guter oder ein böser Geist?«
Nichts Passiert, außer, dass das Glas weiterhin auf dem Tisch kreist.
»Verzeihung, ich stelle die Frage anders. Bist du ein guter Geist?«
Das Glas wandert auf Ja. Lukas schreibt sofort auf, was alles vor sich geht.
»Woher kommst du? Aus Welcher Stadt?«
Nun zieht das Glas vier Runden, bevor es zu dem ersten Zettel rutscht.
Nachdem Lukas die Buchstaben aufgeschrieben hat liest er laut vor.
»Amorbach. Das kenne ich gar nicht.«
»Wo liegt Amorbach?«, will Sandra wissen.
Wieder kreist das Glas ein paar Mal. Das nächste Wort ergibt Bayern. Thomas möchte, dass sie den Geist nach dem Namen fragt. Daraufhin bekommen sie prompt eine Antwort und finden heraus, dass der Geist männlich ist und Magnus heißt. Durch weitere Fragen erfahren sie, dass er 1923 im Alter von zweiunddreißig Jahren gestorben ist. Er wurde erstochen, weil er seine Kinder beschützt hat, doch auf die Frage wovor er sie beschützen wollte, erhalten sie keine Antwort mehr. Erst als sie wissen möchten, ob er noch da ist, wandert das Glas auf Ja. Da er scheinbar keine große Lust verspürt noch weitere Fragen zu beantworten, möchten alle das Gespräch beenden, doch Magnus lässt sie nicht gehen und das Glas rutscht auf den Zettel mit dem Nein.
»Und was machen wir jetzt?«, fragt Patrick stirnrunzelnd Thomas.
»Lass uns noch mal fragen und wenn dann wieder ein Nein raus kommt, dann beenden wir das Gespräch, indem wir uns verabschieden und das Glas immer enger kreisen lassen, bis wir in der Mitte angekommen sind. Danach lassen wir es stillstehen und drehen es um. Normal kann nichts passieren, weil wir das Glas auskreisen lassen.«
Genau dieses müssen sie auch tun, da Magnus sie nicht gehen lassen mag.
»Puh. Und es hat auch wirklich niemand geschoben?«, möchte Patrick von allen wissen.
Sie schütteln stumm ihre Köpfe. Keiner von ihnen wusste bis eben, dass es eine Stadt namens Amorbach gibt und um dieses zu überprüfen schaut Lukas direkt mit seinem Handy im Internet nach. Doch sie sind im Wald und der hat nicht besonders guten Empfang. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die Internetseiten aufbauen und Lukas das findet, wonach er sucht.
»Die Stadt gibt es wirklich und sie wurde 1816 bayrisch. Davor gehörte sie dem Fürstentum Leiningen an.«
Ein wenig verblüfft schauen sich alle an. Niemand hat damit gerechnet. Sie bedauern nur, dass sie nicht noch den Nachnamen erfahren haben, denn dann hätten sie weiter nachforschen können, ob es diese Person wirklich einmal gab. Mittlerweile ist es halb drei in der Früh und alle sind reif für das Bett. Direkt nach dem Gläserrücken ist der Adrenalinspiegel so weit abgesunken, dass sie aus dem Gähnen und Augenreiben nicht mehr heraus kommen. Ein wenig übermüdet schleppen sie sich die Treppe zu ihren Nachtlagern hinauf. Nur ganz kurz denken sie noch über das Geschehene nach, bis sie alle im Land der Träume versinken.
Um acht Uhr am Morgen schellt der Wecker, den die Mädchen gestellt haben. Noch sehr müde stehen sie auf.
»Wir müssen uns beeilen. Ich habe Zuhause gesagt, dass ich spätestens um zehn Uhr wieder da bin, weil wir heute bei meinen Großeltern zum Essen eingeladen sind.«, sagt Sandra abgehetzt.