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Wo die Liebe hinfällt, wächst kein Gras mehr. Das wussten schon unsere Großmütter. Soll man sich dem Schicksal ergeben oder davor fliehen, wenn alles auf einen hereinprescht? Diese Entscheidung muss auch Ella für sich treffen. Es war nur ein kleiner Vertipper ihrerseits und dann ...
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Seitenzahl: 324
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Das Wochenende war sehr hart und als mein Wecker heute Früh um fünf Uhr schellt bin ich wie gerädert. Mein Mund fühlt sich staubtrocken an, als hätte ich seit einer Ewigkeit nichts mehr getrunken. Mit noch halb geschlossenen Augen schleppe ich mich träge aus meinem Bett. Das kalte Laminat unter meinen Sohlen lässt mir einen Schauer über den gesamten Körper laufen. Am liebsten würde ich noch ein paar Stunden hier liegen bleiben. Einfach nur da liegen und mich nicht bewegen. Auf meiner weichen Matratze, unter dem wohlig warmen Oberbett.
Mein Schädel dröhnt so sehr. Bei jedem Schritt habe ich in meinen Füßen das Gefühl, als würde ich auf Watte gehen. Immer wieder rüge ich mich selbst. Ich hätte nicht so viel trinken sollen. Irgendwie vergesse ich das jedes Mal aufs Neue. So langsam werde ich tatsächlich mit meinen achtundzwanzig Jahren zu alt dafür. Aber die Stimmung war einfach genial und ich habe mich mit meinen Freunden dazu hinreißen lassen.
Zu guter Letzt habe ich mich mit meiner besten Freundin gestritten. Ich weiß nicht einmal mehr genau, was ich gemacht habe. Das Einzige woran ich mich dunkel erinnern kann ist, dass sie auf einmal total wütend auf mich war und mich zur Sau gemacht hat.
»Das war ja wieder typisch. Immer wieder das Gleiche!«, motzte sie mich an.
Unentwegt habe ich ihr Nachrichten geschickt, um herauszufinden, was ich so Schlimmes getan habe. Doch da kam absolut nichts zurück. Gelesen hat sie meine Texte. Kim wird sich aber in ein paar Tagen wieder beruhigt haben. So ist es immer bei uns. Wir streiten und vertragen uns wieder. Das geht schon seit der fünften Klasse so.
Blindlinks hole ich ein paar Klamotten aus meinem Schrank und watschle schlaftrunken in mein viel zu kleines Badezimmer. Damals, als ich die Wohnung angemietet habe, war es mir egal, dass es so beengt ist. In dem Moment war ich einfach nur froh überhaupt eine Wohnung zu bekommen. Nun stört es mich sehr.
Wenn ich auf dem Klo sitze, kann ich mir ganz unproblematisch am Waschbecken die Zähne putzen oder zur anderen Seite meine Füße in der Dusche waschen. Es mag zwar sehr praktisch sein, doch ich hätte es gerne ein wenig geräumiger. Zumindest so, dass man sich vernünftig drehen und wenden kann und vielleicht ein bisschen Stauraum hat.
Widerwillig mache ich mich für die Arbeit fertig. Meine Haare stehen in alle Richtungen ab und frustriert versuche ich den braunen Haufen irgendwie zu bändigen. Heute muss es ein geflochtener Zopf tun. Schnell verwebe ich drei dickere Strähnen miteinander und lasse den Zopf über meine rechte Schulter hängen. Bald muss ich meine Haare wieder etwas nachschneiden lassen. Sie reichen mir geflochten schon fast bis zum Bauchnabel.
Weil ich in meinem eigentlichen Beruf als Bürokauffrau keine Anstellung bekommen habe, musste ich notgedrungen etwas anderes finden. Nun arbeite ich in einer Wäscherei. An sich ist die Arbeit in Ordnung und könnte tatsächlich sehr viel Spaß machen, aber bei uns herrscht Mobbing vom Feinsten. Jeder versucht jeden schlecht zu machen, damit er selber mehr Stunden oder eine bessere Position bekommt. Der Chef selbst unternimmt nichts dagegen. Ihm ist es schlicht egal.
Zu Beginn habe ich noch das Gespräch gesucht, doch da ich immer zurückgewiesen wurde, ertrage ich die Tage einfach nur. Es wird schon noch der richtige Job kommen. Vielleicht ist in zwei oder drei Monaten etwas Passendes für mich frei. Bald haben die aktuellen Azubis ausgelernt und machen Platz, weil sie nicht übernommen werden. Solange ist es dennoch gutes Geld, welches ich dort verdiene. Klar, es ist weniger als wenn ich in einem Büro arbeiten würde, aber es reicht aus.
Als ich aus der Tür trete, schlägt mir ein eisiger Wind in mein Gesicht und beschert mir eine Gänsehaut, welche mich zum frösteln bringt. Es ist viel zu kalt für einen Maimorgen. Oder bin ich noch zu sehr von der Party angeschlagen?
Meinen Kaffee werde ich unterwegs trinken, ich komme sonst nicht pünktlich um sechs Uhr an. Noch immer müde und kraftlos wanke ich zu meiner kleinen, grünen Knutschkugel. Die Farbe ist nicht ganz so der Hit, aber ich liebe mein Auto. Bisher war es immer sehr verlässlich. Am besten wird es sein, wenn ich die Fenster komplett öffne und mir den frischen Morgenwind um die Nase wehen lasse. So kann ich Glück haben putzmunter bei der Wäscherei anzukommen. Die Musik drehe ich etwas lauter und singe schallend einen meiner Lieblingssongs mit.
Ab und an bekomme ich verwirrte Blicke von Passanten und anderen Autofahrern hinterhergeworfen, welche zu dieser frühen Stunde schon unterwegs sind. Gut, ich kann sie verstehen. Singen kann ich nicht wirklich, aber es gehört für mich morgens einfach mit dazu. Meine Nerven werden gleich eh nur wieder strapaziert, da kann ich schon vorsorglich dem Frust ein wenig vorbeugen. Meine eigene kleine Entspannungstherapie.
Kurz bevor ich das Gebäude betrete, werfe ich noch einen Blick auf mein Handy. Nichts. Keine Antwort von Kim. Schnell werde ich ihr noch etwas schreiben, denn diese Funkstille lässt mir keine Ruhe.
Bitte lass uns nachher noch einmal
reden. Ich würde gerne wissen, was
ich verbrochen habe.
Ich gehe hinein und sofort fliegt mir der Duft von Waschmittel, heißem Wasser und Dampf entgegen. Kaum dass sich die Türen der Wäscherei hinter mir schließen, bekomme ich auch schon das Höchste an Gefühlen entgegengeprescht.
»Du bist ja immer noch hier!«, feixt eine der Angestellten herablassend.
Ich kenne noch nicht mal ihren Namen.
»Wo sollte ich denn sonst sein Frau, ähm… wie war doch gleich Ihr Name?«, entgegne ich frech grinsend und gehe dann einfach summend an ihr vorbei.
Augen zu und durch, das schaffst du schon. Es ist nur ein Tag wie jeder andere auch. Der Tag verläuft mit unzähligen Sticheleien und heute haben wir sogar eine Neue. Die junge Frau tut mir unendlich leid. Sie wird von den anderen schon fast in der Luft zerrissen. Egal was sie macht, es ist falsch. Ich beobachte das Spielchen eine Weile und schnappe mir die Neue, als es zur Pause geht.
»Komm mit«, sage ich und versuche sie aus der Schusslinie zu holen.
»Nein, was ist das süß. Pat und Patachon haben sich gefunden«, brüllt eine der Tussis aus dem Hintergrund und bekommt sich nicht mehr ein vor Lachen.
»Hi, ich bin Ella. Hör einfach nicht hin«, rate ich ihr und werfe den anderen einen verachtenden Blick zu.
Verschüchtert antwortet sie mir: »Ich, ich bin Lea.«
Gemeinsam gehen wir auf den Innenhof, um dort zu frühstücken und uns ein wenig zu unterhalten.
»Wie bist du hier gelandet?«, möchte ich von ihr wissen, denn sie ist noch sehr jung.
»Ich habe keine Ausbildungsstelle bekommen, daher musste ich übergangsweise einen Job in dieser Firma annehmen. So halte ich mich schon seit dem letzten Jahr über Wasser. Diese Woche wurde ich hier her versetzt, weil ihr einen Mangel an Personal habt. Aber es ist grauenvoll. Wie hältst du das aus? Bei uns ist alles sehr harmonisch und die Mädels arbeiten gut zusammen. Es macht dort immer sehr viel Spaß.«
Ihre Stimme klingt, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen.
»Dafür gibt es leider keine Anleitung. Ich überstehe es einfach und versuche bestmöglich weg zu hören. So schlimm wie bei dir, war es zu Beginn auch für mich. Doch nach ein paar Wochen hat es sich gelegt. Ich war schon kurz davor zu gehen, aber ich muss da durch, so lange ich es ertragen kann«, entgegne ich schulterzuckend.
Wir plaudern noch eine ganze Zeit miteinander. Kurz bevor es wieder rein geht, zünde ich mir eine Zigarette an. Eigentlich habe ich damit aufgehört, aber um die Nerven zu beruhigen brauche ich das ab und zu noch ein wenig. Zumindest in der Pause und eine nach Feierabend.
Als ein piepsendes Signal ertönt, atme ich auf. Endlich haben wir vierzehn Uhr. Mit meinem Unterarm wische ich mir erleichtert über die Stirn. Man kann ja sagen was man will, die Arbeitszeiten sind genial. So schnell es geht verlasse ich diesen trostlosen, von Hinterhältigkeit durchtränkten Ort und mache mich auf den Heimweg. Ich habe Glück. Gerade als ich ankomme wird ein Päckchen für mich geliefert. Endlich. Mein neues Handy ist da.
Ich freue mich wie ein kleines Kind und kann es kaum erwarten, es auszupacken. Zügig lege ich die neue Sim-Karte ein und tippe hastig die Kontakte von meinem alten Gerät in das neue Telefonbuch, denn irgendwie klappt das mit der Datenübertragung nicht. Wahrscheinlich bin ich so aufgeregt, dass ich diesen Menüpunkt immer wieder überlese. In meinem Bauch kribbelt es vor Freude.
Alles schaue ich mir ganz genau an. Einige Veränderungen gibt es schon zu den Vorgängern. Da ich mir nur alle drei Jahre ein neues Handy kaufe, überspringe ich jedes Mal zwei Generationen. Es ist schon faszinierend wie schnell die Technik voranschreitet. Zum Glück sind die meisten Apps in meinem Account gespeichert, so geht das mit dem Installieren recht fix und alles läuft im Hintergrund ab. Meinen Freunden sende ich sofort eine Nachricht über die neue Telefonnummer.
Ich:
Hi, das ist ab heute meine neue
Nummer, Ella
Von fast allen bekomme ich direkt die Antwort in Form eines Ok oder Smiley. Nur Kim reagiert immer noch nicht. Ich verstehe das nicht. Was habe ich denn so Schlimmes getan? Ich sollte jemand anderen fragen, was passiert ist. Vielleicht Susa oder Kai. Martin könnte auch Bescheid wissen.
Ich:
Hey Susa. Sag mal, weißt du was auf
der Party gewesen ist? Kim ist sauer
auf mich, aber ich weiß nicht warum.
Als Antwort bekomme ich nur lachende Smileys geschickt. Doch einige Minuten später erreicht mich ein Foto.
Nein! Jetzt weiß ich, was ich verbrochen habe. Von meinem Herzen fällt ein riesiger Stein ab und lässt mich aufatmen. Ich muss aus voller Kehle lachen. Eigentlich habe ich nicht wirklich etwas getan. Kim ist in einen Typen verknallt, doch an diesem Abend hat er mich angebaggert. Sie ist sauer, weil ich ihm zugehört habe. Aber sie weiß doch, dass ich ihn absolut nicht gut finde. Lachend schüttle ich meinen Kopf.
Ich:
Ist das wegen deinem komischen
Futzi, weil ich ihm zugehört habe?
Du weißt doch, dass ich ihn nicht
wirklich mag. Ich habe mir lediglich
sein Gesülze angehört. Du müsstest
sauer auf ihn und nicht auf mich
sein. Ich war betrunken und in Party-
stimmung, da höre ich mir doch
immer das Gelaber anderer an. Ich
will wirklich nichts von ihm. Hab
doch mit Basti selbst genug Drama.
Mein Handy lege ich in der Küche auf die Arbeitsfläche, während ich mir schnell ein paar Nudeln koche. Im Vergleich zu meinem winzigen Badezimmer ist meine Küche riesig. Sie hat knapp fünfzehn Quadratmeter. Es ist so viel Platz, dass ich sie in L-Form aufgebaut habe und noch ein großer Esstisch hinein Passt. Die Fronten sind rot und hochglänzend, die Arbeitsplatte habe ich in anthrazit ausgewählt.
Was haben meine Freunde und ich hier nicht schon für Kochabende verbracht. Ich muss schmunzeln, als mir in den Sinn kommt, wie Martin und Kai versucht haben Gourmetköche zu spielen, wobei sie davon absolut keine Ahnung haben und es nur selbstgemachte Pizza gab.
»Möchte Madame noch etwas von unserem appetitlichen Stück Brot mit Belag?«, kommen mir Martins Worte wieder ins Gedächtnis.
Plötzlich piept mein Handy.Lass es Kim sein. In meinem Bauch kribbelt es. Und tatsächlich, eine Nachricht von ihr.
Kim:
Ok.
Ok?! Nur ein OK? Nun gut, besser als nichts. Sie wird sich bestimmt beruhigen und bald wieder vernünftig antworten, schließlich habe ich nichts verbrochen. Ich erzähle ihr einfach wie gewohnt alles, dann steigt sie schon mit ein, wenn sie nicht mehr mit ihrer Meinung an sich halten kann.
So ist es sonst auch. Wenn einer sauer auf den anderen ist, textet der andere den Muffel so lange zu, bis etwas erwidert wird. Rasch schlüpfe ich in bequeme Sachen, bevor ich es mir auf dem Sofa mit meinem Essen und dem Hady bequem mache. Noch während ich in den sozialen Netzwerken unterwegs bin, trudelt eine Nachricht ein.
Basti:
Na Süße, alles klar? Gleich ein
Stündchen Zeit?
Nach dem Wochenende kann der das voll vergessen. Wir sind zwar nicht wirklich zusammen, doch es war nicht sonderlich prickelnd ihn mit so einer Dahergelaufenen vor meinen Augen rummachen zu sehen.
Ich:
Ne, das kannst du dir klemmen! Bin
doch kein Notnagel.
Der regt mich einfach nur noch auf. Ich denke nun sollte ich ihn gänzlich in die Wüste schicken. So tollen Sex kann es nicht geben, dass ich mir das immer wieder antun muss. Frustriert schicke ich Kim eine Sprachnachricht.
»Basti hat sie echt nicht mehr alle. Erst mit der Ollen eine halbe Peepshow vor mir in der Disco abziehen und dann für ein Schäferstündchen vorbei kommen wollen. Ich ziehe echt nur Volldeppen an. Immer wieder der gleiche Mist!«
Diesmal bekomme ich doch tatsächlich eine Antwort. Kurz und knapp, aber was soll’s.
Kim:
Der ändert sich nie, du verdienst etwas
Besseres.
Die restliche Woche zieht sich wie Kaugummi. Ich bin heilfroh, dass heute bereits Freitag ist. Nach meiner Schicht werde ich mich sofort hinlegen, um mich für den Abend ein wenig auszuruhen. Gleich geht es ab auf die Piste. Heute soll es nach langer Zeit mal wieder der Nobelschuppen bei uns werden, dasCool Nights. Alle zwei Monate machen wir einen Abstecher dorthin. Die Getränke sind zwar etwas teurer, aber die Location ist einfach der Hammer. Ich hoffe nur, es endet nicht wieder in Kopfschmerzen.
Ich:
Hey Kim, wir sind heute Abend im
Cool Nights. Kommst du auch?
Kim:
Mal sehen.
Das ist nicht die Antwort, welche ich mir erhofft habe. Aber ich hake nicht nach und lasse mich einfach überraschen. Nach meinem kleinen Nickerchen brezle ich mich gegen neunzehn Uhr auf. Ich lasse mir mehr Zeit als gewöhnlich. Die halbe Funkstille macht mir sehr zu schaffen, dennoch spüre ich in mir die Vorfreude auf den Abend aufsteigen. Keine zwei Stunden später schellt es an meiner Tür. Das müssen die anderen sein. Ich öffne ihnen und als Begrüßung werden mir eine Flasche Schnaps und eine Blubberbrause entgegen gestreckt.
»Party!«, kreischt Martin und ich muss lachen.
Es ist so lustig wie er sein Gesicht dabei verzieht und schon ohne jeglicher Musik in seinem Takt tanzt. Rhythmus hat er, das muss man ihm lassen. Auch Kai und Susa drängen sich in meine Wohnung. Die drei sind mächtig aufgetakelt heute.
Beide Männer in schicken, schwarzen Stoffhosen und grauen Hemden. Susa trägt ein silberfarbenes Cocktailkleid. Das ist gemein. Sie weiß wie ungern ich Kleider anziehe. Irgendwie kann ich meine Beine absolut nicht leiden und verdecke sie am liebsten mit Hosen in allen Formen und Farben. Für Kleider habe ich einfach ein paar Kilos zu viel auf den Rippen. Ich bin halt nicht die geborene Gazelle.
Meine Freunde rufen mich zu sich, um die erste Runde an diesem Abend einzuläuten und drücken mir ein gut gefülltes Pinnchen in die Hand. Gut gefüllt bedeutet in dem Fall, dass es bereits übergelaufen ist. Als ich daran rieche, rümpfe ich automatisch meine Nase. Tequila.
»Und wo sind die Zitronen, Limetten und Salz?«, murre ich.
»Ausverkauft!«, antwortet Susa frech und streckt die Zunge heraus.
Als mir der Alkohol die Kehle hinter rinnt, muss ich mich unweigerlich schütteln. Es brennt so dermaßen, ich brauche sofort einen Schluck Wasser zum Nachtrinken. Als meine Freunde mich das erste Mal an diesem Abend wirklich betrachten und sehen, dass ich noch meine Schlabbersachen an habe, stimmen sie im Chor ihren Kleidungswunsch an.
»Kleid, Kleid, Kleid!«
Genervt werfe ich den Kopf in den Nacken, denn all mein Widerstand hilft nicht. Susa kramt bereits in meinem Kleiderschrank, als ich mein Schlafzimmer betrete. Sie zieht ein schwarzes und ein rotes Kleid hervor und lässt mir wenigstens die Wahl, mich zwischen diesen beiden zu entscheiden.
Ich wähle das kleine Schwarze. Das kaschiert zumindest mein Bäuchlein, weil der Stoff recht fest an dieser Stelle ist und einfach alles zusammen presst. Es reicht fast bis zu meinen Knien und fällt luftig in Falten herab. Der Ausschnitt ist vorne normal, doch hinten hat es fast den gesamten Rücken frei. Meine Haare fallen in leichten Wellen bis zu meiner Taille herab.
Ich liebe es sie offen zu lassen, auch wenn sie schon arg lang sind. Mein Makeup ist eher sommertauglich. Nur etwas Mascara und Lippenstift trage ich auf. Nachdem wir noch ein wenig vorgeglüht haben und unser Taxi endlich eintrudelt, verlassen wir froh gestimmt meine Wohnung.
Ich:
Sind jetzt da, komm doch bitte. Wie
soll ich den Abend ohne meine Kim
überleben?
Schreibe ich noch schnell. Die anderen meinen zwar, sie würde heute definitiv nicht kommen, aber vielleicht ändert sie dennoch ihre Meinung. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zu Letzt.
Die Stimmung ist an diesem Abend wieder wundervoll und ausgelassen. Die Atmosphäre in diesem Club ist der absolute Wahnsinn. Als unsere erste Bestellung, Wodka Lemon, unsere Körper auf Touren bringt, schleift Martin mich auf die Tanzfläche. Er kann einfach nicht still halten und ist einer der tanzwütigsten Menschen, die ich kenne. Mich eingeschlossen.
Ich beobachte wie die ganzen Frauen um uns herum ihn geifernd ansehen. Ich muss lachen. Da fehlt wirklich nicht mehr viel und der Sabber fließt in Strömen. Aber er sieht auch unverschämt gut aus. Martin hat einen kurzen Haarschnitt und ein spitzbübisches, dennoch markantes Gesicht.
Doch was will man von einem Mann auch erwarten, der nebenbei Model ist. Er zieht einfach die Frauenherzen an, wie das Licht die Motten. Fest umschließt er meine Hand mit seiner und legt seine andere auf meiner Taille ab. Als der Beat schneller wird verspüre ich nur einen leichten Druck an meiner Seite und schon wirbelt er mich im Kreis herum.
Es fühlt sich so toll an. Ich muss laut auflachen. Zwar kann ich nicht wirklich tanzen, doch er kann perfekt führen und ich weiß genau was er will, wenn er mir nur leicht mit seiner Hand die Richtung weist. Ein jahrelang eingespieltes Team halt.
Die anderen Leute machen uns automatisch Platz, was mich immer wieder verwundert. Früher hatte ich Schiss, dass ich in die anderen hinein knalle, aber es ist noch nie passiert. Nach einigen Liedern kehre ich völlig fertig an unseren Tisch zurück.
Mein tollkühner Tanzpartner tobt sich weiterhin auf der Tanzfläche aus. Direkt als ich gegangen bin, hat er sich eine seiner Groupies geschnappt. Es sieht zu lustig aus. Schnell mache ich ein Selfie mit Schmollmund und meinem neu gefüllten Glas. Ich schicke es Kim.
Ich:
Bin traurig… Wo bleibst du nur?
Doch mehr, als dass sie es liest, tut sich nicht. Ach dann halt nicht. Mein Glas scheint ein Loch zu haben, denn als ich hin schaue ist es bereits leer. Gut angeheitert, gehe ich tanzend an die Bar, um mir etwas Neues zu bestellen. Mit Mühe zwänge ich mich zwischen die Leute und warte ungeduldig darauf, dass eine der Bardamen mich beachtet. Jedoch scheine ich in dem Gedränge unter zu gehen.
Nach etwa zehn Minuten werde ich so langsam ungeduldig. Immer wieder werde ich von links angerempelt, was hier eigentlich sonst nicht der Fall ist. Doch heute ist es mehr als nur voll. Anscheinend hatten alle die grandiose Idee heute hier aufzuschlagen. Bei dem nächsten schwungvollen Schubser, werde ich nach hinten rechts gedrückt und knalle voll gegen jemanden.
Ich drehe meinen Kopf um und werfe ihm ein zerknirschtes: »Entschuldigung«, zu.
Doch mein Gesicht friert ein. Wow, ist der heiß. Er ist fast einen Kopf größer als ich. Seine Gesichtszüge wirken sehr dominant und weich zugleich. Die Haare sind dunkel und sehr voll. Sie sind zurückgekämmt. Weder sind sie festgeklatscht, noch haben sie eine Rockabilly Tolle. Es ist einfach - perfekt.
Seine grünen Augen scheinen in der Dunkelheit regelrecht zu leuchten. Auch er trägt, wie fast alle Männer hier, eine Stoffhose und ein Hemd. Doch dieser Mann ist gänzlich in schwarz gekleidet. An seinem Handgelenk prangt eine Uhr, welche mit Sicherheit nicht ganz billig war. Er wirft mir ein seichtes Lächeln zu, als Antwort auf meine Entschuldigung.
Oh nein, schalte dein Gehirn wieder ein und guck weg.
Doch mein Körper bleibt in seiner Starre.
Mensch Ella, du bist gerade nicht anders, als die geifernden Weibchen, welche Martin so angestiert haben!
Ich gewinne wieder die Kontrolle über meinen Körper und wende mich der Bar zu. Doch ich werde einfach übergangen. Der Typ hinter mir kommt tatsächlich vor mir dran?! So langsam werde ich sauer. Ich werfe ihm einen verwunderten Blick zu, als die Bedienung mit einem komplett gefüllten Tablett auf ihn zukommt.
Er schickt sie zu unserem Tisch, doch bevor ich etwas sagen kann, ist er bereits in der Menge verschwunden. Langsam kehre ich zu unserem Tisch zurück. Noch grübelnd nehme ich eines der Gläser. Ich muss ihn gleich unbedingt suchen und mich zumindest bei ihm bedanken. Das ist eine Menge Kohle die hier steht. Und das ohne einen Grund, ohne ein Wort. Ich frage mich, was einen Fremden dazu veranlasst, einer gesamten Gruppe etwas zu spendieren.
Es vergeht fast ein Stunde, bis Martin mich wieder hinter sich her schleift und mich zum Tanzen nötigt. Allmählich kommt meine ausgelassene Stimmung zurück und wir lassen uns von der Musik treiben. Martin wirbelt mich so lange hin und her, bis ich nicht mehr weiß wo ich bin und leicht zu schwanken beginne. Der Alkohol entfaltet seine Wirkung, aber es ist ein herrliches Gefühl. Er nimmt mich in seine Arme und lacht aus voller Kehle.
Schön, dass ich ihn erheitern kann. Ich stoße ihm leicht mit meiner Faust gegen die Schulter, doch das amüsiert ihn nur noch mehr. Noch während der halben Umarmung, sehe ich den Mann von vorhin. Er steht ein Stück neben der Tanzfläche. Beobachtet der mich?
Plötzlich treffen sich unsere Augen und er hebt sein Glas und nickt mir zu. Am liebsten würde ich hinüber gehen, bevor er wieder verschwindet, doch Martin hat andere Pläne. Ein neues Lied erklingt und zu den wummernden Bässen tanzt er einfach weiter.
Mein Gesicht nach vorn gerichtet und Martin hinter mir stehend, lassen wir uns treiben, bis es plötzlich kurz kalt hinter mir wird. Da es aber nur den Bruchteil einer Sekunde dauert, denke ich mir im ersten Moment nichts dabei. Wahrscheinlich hat er kurz mit ’nem Mädel gequatscht und sie auf später vertröstet. Erst als Martin an mir vorbei läuft und mir frech grinsend zuwinkt schlucke ich.
Scheiße, mit wem tanze ich?
Ruckartig drehe ich mich um und finde mich fast Nase an Nase mit dem mysteriösen Typen wieder. Vor Schreck vergesse ich das Atmen und sehe ihn nur entgeistert an. Regungslos stehe ich ihm gegenüber, bis er nach meiner Hand greift und seinen Arm um mich schlingt. Wie automatisch folge ich seinen Bewegungen. Meine Augen kann ich von seinen nicht eine Sekunde abwenden. So seltsam es mir auch erscheint, dass ich auch mit ihm tanzen kann, ohne ihm auf die Füße zu treten, unterbreche ich das nicht. Es fühlt sich gut und aufregend an.
Er sagt nicht ein einziges Wort, sondern sieht mich nur an. Ich glaube aus den Augenwinkeln zu sehen, dass sich sein Mundwinkel leicht nach oben zieht. Sein Körper, was ich beim Tanzen erfühlen kann, fühlt sich durchtrainiert an und irgendetwas an seiner Art ist anders. Nicht weil er nichts sagt, sondern generell seine gesamte Ausstrahlung.
Dieser Typ verunsichert mich, was so gut wie unmöglich ist und dennoch zieht er mich in seinen Bann. Nach dem Lied lässt er mich los. Gerade als er sich zum Gehen umdreht, greife ich nach seinem Arm. Er blickt mich verwundert und verwirrt an.
»Danke«, rufe ich ihm zu und nicke mit dem Kopf zu unserem Tisch hinüber.
Er verzieht seine Lippen zu einem unverschämt sexy Lächeln und verschwindet erneut.
»Wer war das denn?«, will Susa sofort von mir wissen.
Doch das kann ich ihr beim besten Willen nicht beantworten, ich kenne ja nicht mal seinen Namen. Susa rät mir, ihn gleich noch mal zu suchen, doch das mache ich nicht. Ich renne keinem Kerl hinterher, so toll er auch sein mag. Ich habe mich für die Getränke bedankt und das war‘s.
Gegen halb Vier bin ich total erschöpft und will nur noch nach Hause. Anscheinend war das letzte Getränk schlecht. In mir dreht sich alles und die laute Musik beginnt mich zu stören. Schnell verabschiede ich mich von meinen Freunden, denn sie wollen noch weiter feiern.
Als ich draußen ankomme, ist es noch sehr warm, daher werfe ich mir meine Jacke nur über den Arm. Keine zehn Meter weiter stehen schon einige Taxen bereit. Noch in der Bewegung werde ich am Arm zurück gehalten. Ist das etwa der mysteriöse Kerl von vorhin? In freudiger Erwartung drehe ich mich um. Prompt werde ich enttäuscht und unweigerlich entgleisen meine Gesichtszüge. Es ist Basti. An seinem Arm hängt eine kleine Blondine. Die ist doch wenn überhaupt gerade achtzehn geworden.
»Hi Süße. Bleib doch noch ein wenig. Wir können uns noch eine heiße Nacht machen«, säuselt er mich zu.
»Nicht dein Ernst, oder?!«, feixe ich und reiße mich los.
»Basti, verschwinde einfach und tue mir einen Gefallen, lösch meine Nummer!«
Als ich mich zum Gehen umdrehen will, greift er schroff nach meinem Handgelenk und befiehlt seiner verwirrten Begleitung, schon hinein zu gehen. Danach wendet er sich mir zu.
»Du denkst, du kannst das einfach so beenden? Mäuschen, was glaubst du wer du bist?!«
Ich sehe ihn fassungslos und erbost an. Sobald er nicht das bekommt was er will, dreht der ab. Wie ein kleines Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Es fehlt nur noch, dass er sich trotzig und heulend auf den Boden schmeißt. Ich muss es mir bildlich vorstellen. Der Alkohol tut den Rest dazu und ich fange an ihn schallend an der Straße, vor allen Leuten, auszulachen. Der Druck seiner Hand verstärkt sich und es beginnt ein wenig zu schmerzen. Sofort vergeht meine Laune und ich stiere ihn bedrohlich an.
»Wenn du mich nicht sofort los lässt, haue ich dir eine runter, dass du nicht mehr weißt wo vorne und hinten ist!«, brülle ich ihn an.
Nun gluckst er.
»Ach, verausgabe dich doch nicht umsonst, Schätzchen. Du bist einfach nur frustriert und bräuchtest mal wieder einen geilen Ritt.«
Plötzlich unterbricht eine raue Stimme unseren Zwist.
»Die Dame hat Ihnen gesagt, dass Sie sie los lassen sollen. Ich denke es wäre besser, wenn Sie der Bitte Folge leisten würden, bevor Sie einen weiteren Fehler begehen.«
Da ist wieder dieser unwiderstehliche Typ von vorhin. Seine Mimik ist erbarmungslos, wie aus Stein und seine Stimme wirkt bedrohlich ruhig. Basti lässt sich eigentlich nicht einschüchtern, doch auch er merkt, dass seine Art mächtig ist. Mächtiger, als er dagegen ankommen würde.
Blitzartig lässt er von mir ab und verschwindet im Club. Mein Blick verharrt auf diesem sexy Typen. Als hätte jemand auf den Startknopf gedrückt, beginnt ein Kopfkino in mir abzulaufen. Meine Augen wandern von seinem schönen Gesicht über seinen Oberkörper hinab und bis zu seinen Händen. Für einen Mann sind sie wahrlich sehr gepflegt.
Geht der zur Maniküre?,frage ich mich, bevor ich darüber nachdenke, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er mit ihnen über meinen Körper wandert.
Mein Blick huscht zurück nach oben und meine Gedanken verstricken sich immer weiter miteinander. Seine Lippen sind schön voll, aber nicht zu sehr. Sie laden einen schon förmlich dazu ein, sie berühren zu wollen.
Als Bilder in mir aufblitzen, was dieser süße Mund alles mit mir anstellen kann, spüre ich Hitze in mir aufsteigen und weiß, dass ich gerade Puterrot anlaufe. Erschrocken zucke ich zusammen. Es muss ziemlich dümmlich aussehen, wie ich wortlos vor ihm stehe, ihn mustere und dann erröte wie ein Teenie.
Hämisch ziehen sich seine Mundwinkel nach oben, als er meinen erschrockenen Blick bemerkt. Anscheinend war es nur zu deutlich, woran ich gerade gedacht habe. Ich sollte hier so schnell es geht verschwinden. An diesem Abend habe ich mich vor diesem Kerl schon genug zum Deppen gemacht. Erst dumm gucken, um dann kein Wort heraus zu bekommen und dann wieder dämlich zu wirken. Mein Gehirn scheint seine normalen Tätigkeiten wieder aufzunehmen.
»Ähm… Dankeschön. Tschüss.«
Als ich mich zum Gehen bereit machen will, ist er mit wenigen Schritten schon vor mir.
»Gern geschehen. Wie kommen Sie nach Hause?«
Ich deute mit meinem Kopf zu den Taxen hinüber. Reden scheint immer noch nicht wirklich zu funktionieren.
»Wenn Sie möchten, kann mein Fahrer Sie bei sich absetzen.«
Fragend schaue ich ihn an. Was für ein Fahrer? Hat der einen Chauffeur? Er sieht das blinkende Fragezeichen in meinem Gesicht und deutet mit einer Handbewegung an das Ende der Fahrzeugschlange. Da steht ein schwarzer SUV. Sein Verhalten schmeichelt mir, aber überfordert mich gänzlich. Er kennt mich nicht und ich ihn auch nicht. Wieso macht der das alles?
Zwar schreit ein kleines Stimmchen in mirJa, mach das,doch eine andere, viel lautere Stimme ermahnt mich unentwegt.Du kannst da doch nicht einsteigen. Bist du wahnsinnig?! Morgen liegst du dann zerstückelt in irgendeinem Graben.
»Das ist sehr nett, aber ich fahre lieber mit dem Taxi nach Hause«, lehne ich höflich ab.
Die frische Luft setzt mir zu und ich merke, dass allmählich das Karussell beginnt sich schneller zu drehen. Ich hoffe, ich komme unbeschadet an dem Wagen an. Und prompt stolpere ich über meine eigenen Füße.
»Hoppla, das war aber nicht nur Wodka, oder?«, sagt er, als er mich halb auffängt.
Ich schüttle verlegen meinen Kopf.
»Neiin, da war noch ein bischen was anderes im Spiel.«
Oh Gott, habe ich nun etwa angefangen zu lallen? Das Zeug steigt mir zu sehr in den Kopf. Der Fremde muss lachen. Ich brauche eine kleine Pause.
»Mooment bitte«, sage ich und unterstreiche meine beiden Wörter mit dem Schwingen meines Fingers. Er stoppt sofort und mustert mich.
»Ich lasse Sie nicht mit einem fremden Taxifahrer fahren. Sagen Sie meinem Fahrer die Adresse. Da weiß ich, dass Sie gut Heim kommen.«
Er ist lustig. Er lässt mich nicht mit einem Fremden fahren, aber was ist er dann? My best Buddy? Doch ich nicke ihm zu und hake mich an seinem Arm unter. Die Wärme, welche er ausstrahlt und sein Duft, der schon fast animalisch wirkt, bringen mein Blut in Wallungen. Das muss am Alkohol liegen. Anders kann ich mir das nicht erklären.
Der mysteriöse Mann hilft mir noch beim Einsteigen, was sich als nicht allzu einfach heraus stellt. Doch auf einmal zieht er den Gurt lang, beugt sich quer über mich und steckt die Schnalle in den Adapter. Als er das schwarze Band straff zieht, sieht er mir tief in die Augen und ich habe das Gefühl gerade einen Marathon zu laufen. Mein Puls rast und mein Herz pocht hart gegen die Rippen. Mein Atem wird hastiger.
»Wir wollen doch, dass Sie sicher Zuhause ankommen«, raunt er, bevor er die Tür schließt.
Verwirrt nenne ich dem Fahrer meine Adresse. Als der Wagen sich in Bewegung setzt, schaue ich zur Heckscheibe hinaus. Da steht er und hält sein Handy an das Ohr, bevor er wieder hinein geht. Ich wende mich nach vorne und versuche alles in mir sacken zu lassen.
Mit leicht verschwommenen Blick sehe ich mich in dem Fahrzeug um. Das nenne ich mal bequem. Die Sitze sind mit einem hellen Leder bezogen und wirken wie neu. Um mich herum gibt es einige Knöpfe, die schon förmlich danach schreien ausprobiert zu werden. Doch ich reiße mich zusammen. Wer weiß, nachher mache ich noch etwas kaputt in meinem Zustand.
»Fräulein, wir sind da«, ertönt eine sanfte Stimme von vorne.
Eilig krame ich in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie.
»Was macht das?«, frage ich beschwipst und versuche etwas in meinem Geldbeutel sehen zu können.
»Nichts. Kommen Sie bitte«, klingt seine Stimme nun rechts neben mir wieder.
Er bringt mich tatsächlich noch bis zu meiner Wohnungstür, die Treppen hinauf. Hat er Angst, dass ich mich hier zu Tode stürze? Aber gut, es hat ja auch mal etwas, so umsorgt zu werden.
»Das soll ich Ihnen noch überreichen«, sagt der Fahrer freundlich zu mir und reicht mir eine kleine Flasche mit einem Zettel daran.
Ich nehme sie erstaunt an und bevor ich mich verabschieden kann, ist der Mann auch schon verschwunden. Torkelnd schleppe ich mich in meine Küche. Ich muss unbedingt Wasser trinken. Mein Mund ist wie ausgetrocknet und es kratzt in meinem Hals. Die kleine Flasche stelle ich, ohne sie weiter zu beachten, einfach auf die Arbeitsfläche.
Als ich meine Augen aufschlage, dreht sich noch immer alles. Wie spät haben wir? Mit einem Blick auf die Uhr, lasse ich mich zurück in mein Kissen fallen. Erst neun Uhr und schon wach. Ein paar Minuten bleibe ich noch liegen, bis mein Magen sich weitestgehend beruhigt hat.
Angestrengt überlege ich, wie ich gestern in mein Bett gekommen bin, doch es will mir einfach nicht mehr einfallen. Mit wackeligen Beinen schleiche ich in mein kleines Bad. Ich brauche erst mal eine heiße Dusche, danach werde ich mich um die Kopfschmerzen kümmern. Ein Blick in den Spiegel lässt mich erschrecken.
Mein Gott. Das sind schon keine Waschbäraugen mehr. Und meine Haare, ein einziges Chaos.
So schnell wie es mein Zustand zulässt, schlüpfe ich aus meinen Klamotten. Das heiße Wasser prasselt auf mich nieder, doch es scheint nicht allzu viel auszurichten. Ich brauche dringend eine Tablette. In meinem Kopf pocht und sticht es, als würde jemand ihn mit einem Presslufthammer bearbeiten.
Schmerzerfüllt krame ich in der Schublade, in der Küche nach den Medikamenten, da erspähe ich die kleine Flasche. Sie ist nicht groß. Eher wie so ein kleiner Joghurtdrink. Die Flüssigkeit darin ist bräunlich und gleicht Honig. Ich schaue auf den kleinen weißen Zettel, der am Flaschenhals befestigt ist.
Hilft 100% gegen den Kater
Zögerlich öffne ich sie und rieche daran. Bäh. Da kommt einem ja alles hoch. Doch ich ringe mich dazu durch, dieses Teufelsgebräu zu schlucken. Es ist bitter und in meiner Kehle brennt es. War da Alkohol mit drin? Mein Körper durchfährt ein Schütteln. Mein Gott ist das widerlich. Auf meine Tablette verzichte ich lieber. Wer weiß, was da alles drin war.
Doch schon nach einer halben Stunde geht es mir merklich besser. Die Bilder von gestern kommen mir wieder in den Sinn. Davon muss ich Kim einfach berichten. Auch wenn sie noch ein wenig verstimmt ist. Ich denke, ich schicke ihr Sprachnachrichten, zum Schreiben bin ich noch nicht in der Verfassung.
»Hey Süße. Schade, dass du gestern nicht mehr da warst. Aber du glaubst nicht, was passiert ist. Da war so ein hammergeiler Typ. Hab ihn ausversehen angerempelt und dann hat er unserem Tisch tatsächlich ein Tablett Getränke geschickt. Wer macht so etwas? Der kennt mich nicht einmal und dann gibt er so dermaßen viel Geld aus. Und ich hab es natürlich total verpeilt, mich zu bedanken«, schicke ich ihr.
Während ich mir mein Frühstück zubereite, berichte ich Kim weiter.
»Und dann waren Martin und ich tanzen. Kennst das ja. Nachdem er einen komplett orientierungslos gedreht hat, stellt er sich hinter einen. Doch diesmal ging Martin grinsend an mir vorbei, obwohl er eigentlich hinter mir stand. Als ich mich umgedreht habe, war es dieser Kerl. Ich sag dir… Wir haben zusammen getanzt und ich hätte ihn am liebsten aufgefressen. Sein Fahrer hat mich später nach Hause gebracht. Sein Fahrer! Als der Typ mich in seinem Auto angeschnallt hat, war ich kurz davor ihn in den Wagen zu ziehen, aber ich war wie erstarrt. Glaubst du das? Ich und schüchtern? Es war so schlimm, das ich noch nicht einmal seinen Namen kenne. Irgendwie macht mich das kirre.«
Ungeduldig warte ich auf eine Reaktion und erstaunlicher Weise bekomme ich sogar eine, in Form von Smileys. Erst ein lachender, dann ein Daumen hoch und dann einer mit Herzaugen. Es nervt mich, dass sie nicht in ganzen Sätzen antworten kann. Ich verstehe nicht, was mir das sagen soll.
»Ich verstehe nicht, was du damit meinst. Aber egal, du wirst es mir mit Sicherheit erklären, wenn du dich wieder beruhigt hast. Bor, übermorgen muss ich wieder in die blöde Wäscherei. Das kotzt mich alles so an. Ich hoffe, ich bekomme bald etwas im Büro.«
Kim:
Moment
Kim ist glaube ich auf dem besten Weg das Kriegsbeil zu begraben. Ich freue mich, wie ein Schneekönig darüber. Sie antwortet nun schon wieder. Wenige Minuten Später erhalte ich eine neue Nachricht. Hastig schnappe ich mir mein Hady.
Kim:
Bewirb dich mal bei der Telgten
GmbH. Habe heute gelesen, dass
die gerade suchen.
Die Firma sagt mir absolut gar nichts. Schnell stöbere ich im Internet. Oh. Es ist eine große Firma, welche Games, Programme und Apps entwickelt. Ob das etwas für mich ist? Aber sicherlich müssen die dort auch Verwaltungsarbeiten machen. Ich versuche mich auf der Seite zurechtzufinden und entdecke tatsächlich eine Stellenausschreibung. Sie suchen eine Sekretärin. Mein Herz macht einen kleinen Hüpfer.
Volltreffer. Sofort haue ich in die Tasten und sende ihnen meine Bewerbungsunterlagen online zu.
»Hoffentlich ist die blöde Wäscherei bald Geschichte«, sage ich zu mir selbst.
Es trudeln noch zwei weitere Nachrichten mit Stellenangeboten herein.
Ich:
Vielen Dank, Kim. Ich hoffe so
sehr, dass ich bei einer der Stellen
genommen werde. An die erste habe
ich bereits eine Bewerbung
versendet. Mal schauen. Hoffentlich
dauert es nicht sooo lange, bis ich
da eine Rückmeldung bekomme.
Meist wartet man ja Wochenlang.
Können wir uns nicht die Tage mal
treffen, ich mag es nicht, wenn du böse
auf mich bist.
Kim:
Das wird schon.
Auch die beiden anderen Bewerbungen schreibe ich zügig und versende sie umgehend. Da sich vor Montag eh nichts tun wird, widme ich mich der leidigen Hausarbeit. Ich liebe es zwar, wenn es ordentlich und sauber ist, aber Wäsche machen und staubsaugen sind nicht gerade meine Lieblingsbeschäftigungen. Gerade als ich den Sauger starten will, schellt mein Handy. Ich frage mich, wer mich auf einen Samstag zu dieser Uhrzeit anruft. Als ich auf das Display schaue, wird mir eine unbekannte Nummer angezeigt. Zögerlich schiebe ich das grüne Hörersymbol zur Seite.
»Ja bitte?«, melde ich mich.
An der anderen Seite erklingt eine freundliche, weibliche Stimme.
»Guten Tag. Telgten GmbH, Carsen mein Name. Spreche ich mit Frau Ella Mendel?«
Ich muss schlucken. Sicher, ich habe mich bei ihnen beworben, aber ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass ich umgehend eine Benachrichtigung und gar einen Anruf erhalte. Normalerweise zieht sich die Warterei wie Kaugummi und mit viel Glück erhält man schriftlich eine Absage oder Einladung.
»Ja, ja das bin ich«, entgegne ich leicht überrumpelt.
»Sehr schön. Wir möchten Sie gerne zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Wie wäre es bei Ihnen zeitlich möglich? Sie könnten auch heute um vierzehn Uhr vorbei kommen, wenn es bei Ihnen passen sollte. Herr Telgten hat heute noch eine Besprechung und befindet sich daher im Hause.«
Oh Gott. Klar, ich habe heute Zeit und will auch so schnell wie möglich meine jetzige Arbeit hinter mir lassen, aber ich hatte keinerlei Zeit, mich auf so ein Gespräch vorzubereiten. So wie es sich anhört, führt dies sogar der Chef persönlich. Das kannte ich bisher nicht wirklich. Es war immer jemand anderes dafür zuständig. Sekretärin, Abteilungsleiter oder sonst wer. Aber ich kann mir die Gelegenheit auch nicht entgehen lassen. Sie sollen sehen, dass ich spontan und zuverlässig bin.
»Ja, vierzehn Uhr passt mir sehr gut. Soll ich noch etwas mitbringen oder sind die Unterlagen, welche ich geschickt habe ausreichend?«
Ich kann hören, dass die Frau auf der anderen Seite wohl schmunzeln muss. Höre ich mich so verunsichert an? Das darf mir gleich aber nicht passieren. Sonst bin ich ja auch nie nervös. Gut, da habe ich auch ein paar Tage Zeit mir meine Fragen zu überlegen.
»Nein Frau Mendel. Nur ein wenig Zeit für einen Einstellungstest müssten Sie mitbringen.«
Als wir uns verabschiedet haben werde ich nervös. Ich rase wie ein aufgescheuchtes Huhn durch meine Wohnung. Ich muss mich fertig machen. Meine langen Haare flechte ich mir zu einem Bauernzopf zusammen und ziehe ein paar dünne Strähnen hinaus, welche ich mir an der Seite meines Gesichtes hinab fallen lasse. Makeup. Ich glaube ich werde es natürlich belassen. Aber es ist eine große Firma. Was, wenn da nur so aufgetakelte Schnecken rum rennen?
Eilig stürme ich zu meinem Handy. Ich werde Kim befragen, aber zum Schreiben habe ich keine Zeit, also muss es wieder eine Sprachnachricht tun, so kann ich wenigstens gleichzeitig meinen Kleiderschrank durchwühlen. Hoffentlich finde ich etwas Passendes. Irgendwie habe ich nie das richtige zum Anziehen, wenn ich es brauche.
»Du glaubst es nicht! Die von dieser Telgten Firma haben mich vorhin angerufen. Ich soll heute noch vorbei kommen. Die haben mich echt überrumpelt. Ich habe noch die Nachwirkungen von gestern in den Knochen und konnte mir keine Gedanken zu dem Gespräch machen. Was soll ich nur anziehen und wie soll ich mich schminken? Ich will nicht overdressed da auftauchen, doch was ist, wenn da nur so aufgetakelte Tussis und so Möchtegern Typen arbeiten? Ich brauche einen rettenden Rat von dir, Mausi.«
Nach und nach breite ich meine Klamotten auf dem Bett aus. Während ich grüble, tippe ich unentschlossen und ungeduldig mit dem Zeigefinger auf meine Lippen.
Nehme ich lieber eine Jeans und ein elegantes Shirt oder soll es doch eher der Rock und die Bluse sein? Ich habe auch noch einen Hosenanzug, vielleicht passt der doch besser,denke ich.
Und da piept auch schon mein Telefon. Ich hoffe, dass es der rettende Ratschlag meiner Freundin sein wird.
Kim:
Ich würde ein normales oder
dezentes Makeup nehmen. An
Kleidung kombinier doch einfach
aus schick und bequem.
Überfordert lese ich ihre Nachricht immer wieder. Ist ja toll, dass sie versucht mir zu helfen, aber wie soll ich das verstehen? Sie hat sich auch schon einmal besser ausgedrückt. Ich entschließe mich letzten Endes dafür, eine eng geschnittene, dunkelblaue Jeans und eine hellblaue Bluse anzuziehen. Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Blau Vertrauen wecken soll. Daher tragen viele Personen in gehobenen Positionen blaue Krawatten oder Hemden.
Bei meinem Gesicht setze ich auf Mascara und einem leichten Lipgloss. Da es draußen recht warm ist, ist es so eh praktischer und es kann nichts verlaufen. Ein Blick in das Navigationssystem verrät mir, dass ich noch etwa eine halbe Stunde Zeit habe, bevor ich los fahre. Da sollte ich mir die wichtigsten Fragen notieren. Arbeitszeit, Tätigkeitsbereich und Gehalt sind die wichtigsten Stichpunkte für mich. Ein Jahresgehalt von 14.500 € Brutto muss es mindestens sein, damit ich einigermaßen über die Runden komme und all meine Unkosten gedeckt sind.
Ich steige in mein Auto und fahre so schnell es geht zu dem Sitz der Firma. Als ich an einem Parkplatz ankomme, welches anscheinend zu dem Telgtengebäude gehört, stelle ich dort meinen Wagen ab. Nervös und mit wackeligen Beinen mache ich mich auf den Weg zum Eingang.