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Die Welt ist nicht immer das, was sie zu sein scheint... Ohne einen Blick hinter den großen Vorhang werfen zu können, leben die meisten in ihrem ständigen Alltagstrott. Nur wenige werden Zeugen von mysteriösen Fällen und können diese erkennen. Die Grenze zwischen Realität und Fantasie verschwimmt, bis sie nicht mehr existiert. Sue und Alex sind solche Ausnahmen. Was sie erleben stellt ihre ganze Welt, ihr gesamtes Denken auf den Kopf. Welche Kreaturen, außer uns Menschen gibt es eigentlich? Und was noch viel wichtiger ist - sind sie gefährlich? Wenn ja, wie sehr und wie kann man sie aufhalten? Sue und Alex begeben sich immer weiter auf einen gefährlichen Pfad. Schaffen sie es, aus der Geschichte lebend heraus zu kommen?
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Seitenzahl: 198
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Sue
Heute ist ein eiskalter Freitag im Oktober. Draußen stürmt es und der Wind pfeift laut durch das kahle Geäst der Bäume am Straßenrand. Der Himmel ist in einem tristen Grau gefärbt und lässt keinen Lichtblick zu. Trotz Heizungswärme und geschlossener Fenster, jagt es einem eine Gänsehaut über den Körper. Ich sitze gerade in Gelsenkirchen, in dem Büro einer Anwaltskanzlei, an meinem nussbraunen Schreibtisch. Sehnsüchtig warte ich darauf, dass es endlich auf den Feierabend zugeht und spiele dabei an meinen schulterlangen, schwarzen Haaren. Ungeduldig lasse ich einen Stift zwischen meinen Fingern auf und ab wippen. Heute habe ich so wenig zu tun, dass ich schon gar nicht mehr weiß, wie ich mich beschäftigen soll. Sogar alte Akten habe ich durchgeblättert, nur um zu schauen, ob auch alles korrekt archiviert wurde. All meine Hauptaufgaben waren bereits am Vormittag abgearbeitet und mein Schreibtisch wirkt wie leergefegt. Ununterbrochen denke ich darüber nach, wie mein weiterer Tagesablauf aussehen wird. Das verschafft mir zumindest ein wenig Ablenkung.
Endlich habe ich es geschafft. Die Zeiger der Uhr, welche an der gegenüberliegenden Wand hängt, springen mit einem leisen Tick auf siebzehn Uhr. Voller Freude schalte ich den Computer aus und stelle den Anrufbeantworter an. An diesem Wochenende werde ich seit langer Zeit wieder mit meiner besten Freundin ausgehen. In den letzten Wochen hatte ich so viel zu tun, dass da leider kein Platz für private Treffen war.
Rasch schwinge ich mich in meinen warmen Mantel. Ich liebe ihn einfach, denn er kaschiert wunderbar die kleinen Fettpölsterchen, welche sich nach meinem 30. Geburtstag, still und heimlich in mein Leben geschlichen haben und nun seit drei Jahren an Ort und Stelle verweilen. Da kann ich versuchen, was ich will. Aber was beschwere ich mich. Es ist alles gut verteilt und ich bin gesund, das sollte das Wichtigste sein. Froh gestimmt schnappe ich mir meine Handtasche und wünsche meinem Chef, Herrn Klattner ein schönes Wochenende. Mein Vorgesetzter ist in den Vierzigern, hat graumeliertes Haar und eine etwas stabilere Figur, was ihn sehr sympathisch und vertrauenswürdig wirken lässt.
Es beginnt leicht zu nieseln, als ich gerade auf dem Weg zu meinem Wagen bin. Nicht das auch noch, geht es mir durch den Kopf und ich muss tief durchatmen. Die kleinen, feinen Wasserperlen legen sich auf den Stoff meines Mantels, welcher das Wasser sofort wie ein Schwamm aufsaugt. Zum Glück regnet es nicht stärker, sonst wäre ich direkt bis auf die Knochen nass. Rasch steige ich in meinen alten, kleinen, schwarzen Wagen. Noch leicht bibbernd, starte ich den Motor und stelle mit zittrigen Fingern die Heizung direkt auf Warm ein. Hoffentlich wird die Karre schnell heiß, denke ich, während ich mir meinen warmen Atem in die Hände puste. Ich erkenne schon kleine bläuliche Flecken auf den Handrücken. Mein Gott, wie soll das bloß im Winter werden.
Da ich heute noch einiges vorhabe, muss ich mich beeilen und fahre umgehend los. Wie immer setze ich mich selbst ganz schön unter Zeitdruck und nehme es mal wieder mit der zulässigen Geschwindigkeit nicht ganz so genau. Zehn km/h sind nicht allzu schlimm, sage ich mir immer wieder. Doch als ich in den Rückspiegel schaue, kann ich auch schon Blaulicht sehen und eine Meldung, dass ich anhalten soll. Mist. Das darf nicht wahr sein, denke ich und werde hibbelig. Wieso muss es mich ausgerechnet heute treffen?
Brav halte ich an der Seite an und krame in meiner Tasche nach den Fahrzeugpapieren und meinem Führerschein. Auch wenn es mittlerweile zur traurigen Routine geworden ist, schaue ich aufgeregt durch die, von Wassertropfen verschleierte Scheibe und merke sofort, dass dieser Polizist nicht wirklich gut gelaunt zu sein scheint. Optisch ist er ein Knaller, denn er ist groß, wirkt recht sportlich und hat nicht zu kurzes, dunkelblondes Haar. Doch er zieht ein Gesicht, als wenn er mich gleich ordentlich zusammenstauchen wird. Auf das Schlimmste gefasst, kurble ich die Scheibe hinunter und werde auch gleich in einem mehr als nur schroffen Ton, angesprochen.
»Führerschein und Fahrzeugpapiere! Sie wissen schon, warum wir Sie angehalten haben?!«
Mir bleibt die Spucke bei dieser Unfreundlichkeit weg, daher nicke ich nur. Wenn er nicht in einer Uniform stecken würde, könnte ich ihm nun das Passende sagen, aber noch mehr Ärger kann ich jetzt nicht gebrauchen, sonst komme ich hier nie weg. Der Beamte bringt die Papiere zu seinem Kollegen und wartet auf die Überprüfung der Personalien. Nach einigen Minuten kommt er zurück zu meinem Wagen und brummt mehr, als dass er redet.
»Hier, Ihre Papiere. Sie werden die Tage einen Bescheid über die Höhe Ihrer Strafe bekommen. Halten Sie sich ab jetzt an die Geschwindigkeitsbegrenzungen.«
»Wie viel bin ich denn zu schnell gewesen?«, frage ich verunsichert.
»Das sollten Sie doch wohl am besten wissen! Übung haben Sie darin ja bereits.«
Er dreht sich um und trottet durch den Nieselregen wieder zurück, zu dem Dienstwagen. Ich atme tief durch und warte darauf, dass sie losfahren. Doch es scheint, als würden sie warten bis ich mich als erstes in Bewegung setze. Frustriert ordne ich mich wieder in den Verkehr ein und tatsächlich, nun fahren auch die Polizisten los. Immer wieder blicke ich in den Rückspiegel und frage mich, wann die endlich abbiegen oder wenigstens nicht mehr in die gleiche Richtung fahren, wie ich. Doch sie folgen mir so lange, bis ich bei mir zu Hause ankomme und parke.
»Endlich sind die Idioten weg.«, murmle ich.
Hastig schnappe ich meine Tasche vom Beifahrersitz und spurte zur Haustür. Meine Wohnung befindet sich direkt im Erdgeschoss, auf der rechten Seite. Genervt stecke ich den Schlüssel in die Tür und bin froh, endlich in meinen vier Wänden zu sein. Ich liebe meine Wohnung. Sie hat eine tolle Aufteilung. Direkt links befindet sich auf der linken Seite das Bad. Es ist kein großer Raum, aber dennoch habe ich eine Badewanne, welche ich nicht missen mag. Nach einem harten Arbeitstag ist das Beste, was man bekommen kann, die wohltuende Wärme des Wassers, die einen umschmeichelt.
Vom Eingang direkt nach rechts, auf der rechten Seite, befindet sich mein Schlafzimmer. Es ist sehr geräumig und ich habe mir direkt ein Doppelbett gekauft. So kann ich mich ausbreiten, wie es mir beliebt. Diese kleinen Betten, kann ich nicht ausstehen. Irgendwie denke ich immer, dass ich da raus purzeln könnte. Gegenüber des Schlafzimmers ist mein Wohnzimmer. Klein aber fein, so würde ich es beschreiben. Meine Couch steht rechts in der Ecke und füllt diese L-förmig aus. So habe ich den perfekten Blickwinkel auf meinen TV, welcher auf der anderen Seite steht. Geradeaus ist eine große Glastür, die geradewegs auf die Terrasse führt. Meine Küche allerdings ist gewöhnungsbedürftig, denn sie hat zwei Eingänge. Einer liegt im Wohnzimmer, neben meinem Schrank und der andere im Flur. Eine Tür hätte mir vollkommen gereicht, aber wer weiß, was die sich damals bei dem Bau so gedacht haben.
Während ich mich umziehe, mache ich mir das Essen vom Vortag in der Mikrowelle warm. Mein Magen hängt schon halb auf dem Boden, denn ich habe am Morgen vergessen mir Brote für die Arbeit zu schmieren, was leider häufiger vorkommt. Irgendwie schaffe ich es immer, mich zu spät aus meinem Bett zu schwingen. Da bleibt dann für so etwas wie Frühstückvorbereiten keine Zeit. Nachdem ich endlich gesättigt bin und mein Magen aufgehört hat zu rebellieren, rufe ich meine beste Freundin Nina an. Wir sind schon gemeinsam in den Kindergarten gegangen und als Nachbarn aufgewachsen. Ich berichte ihr natürlich sofort von meinem Pech mit dem Knöllchen und dann quatschen wir über alles andere, was an diesem Tag bisher geschehen ist. Weil wir für den Abend verabredet sind und ich mich noch ein wenig herausputzen muss, beende ich das Gespräch.
»Du, ich mache mich eben schnell fertig, sonst schaffe ich das nicht mehr pünktlich. Wir haben gleich schon neunzehn Uhr.«
»Ja, kein Problem. Ich stehe vor dem gleichen Problem.«, lacht Nina auf der anderen Seite der Leitung.
Eilig watschle ich durch mein Wohnzimmer und gehe auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Eigentlich möchte ich es selbst nicht mehr, doch aufhören scheint für mich eine unüberwindbare Hürde zu sein. Da ich es aber nicht mag, wenn meine Wohnung danach riecht und sich der Gestank in meinen Klamotten festsetzt, habe ich mich kurzerhand vor einiger Zeit nach draußen verbannt. Leicht bibbernd vor Kälte, stehe ich nun im Dunkeln und starre in den Garten hinaus. Huch. Ich zucke zusammen. Da war doch etwas. Ich bin mir sicher, da war ein Schatten zu sehen. Irgendetwas ist eindeutig in das Gebüsch, zu dem Nachbargrundstück gehuscht und das war nicht gerade klein. Irritiert versuche ich in der Finsternis etwas zu erkennen, aber es ist einfach zu duster.
Vielleicht war es auch einfach nur eine Katze. Nein, dafür war es eindeutig zu groß. Gibt es hier Raubkatzen? Ich meine mich daran erinnern zu können, dass aus dem nahegelegenen Zoo mal ein Tier ausgebrochen sein soll. Dann höre ich kurz darauf ein leises Knurren aus der Richtung des Gebüsches. Hastig ziehe ich noch einmal kräftig an meiner Zigarette, bis sie leuchtend rot aufglimmt und mache sie dann aus. Unentwegt denke ich darüber nach, von was dieser Schatten gewesen sein könnte, aber ich finde keine wirkliche Erklärung. Wahrscheinlich war es doch nur eine Katze. Die Dunkelheit spielt einem ja auch bei der Größe oft einen Streich.
Ich style mich für die Party und rufe mir für einundzwanzig Uhr ein Taxi. Mein Auto soll an diesem Abend stehen bleiben, denn ich möchte mal wieder etwas trinken. Kurz vor dem Eintreffen des Fahrers, gehe ich vor die Tür, um meiner Sucht abermals nach zu geben. Es ist draußen so kalt, dass ich mir Handschuhe überziehen muss. Wartend laufe ich langsam ein Stück bis zur Straße. Hinter mir vernehme ich erneut dieses leise Knurren. Mit steigendem Puls drehe ich mich um. Alles ist ruhig und ich kann nichts entdecken. Es wird mir flau in der Magengegend. Alles in mir schreit, dass ich flüchten soll. Nur wovor? Genau in diesem Moment erscheint das Taxi. Es hält direkt vor mir an und ich steige so schnell es geht ein.
In der Disco angekommen begrüße ich Nina überschwänglich. Man könnte meinen, wir hätten uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Die Luft ist erfüllt von diversen Gerüchen. Alkohol, Parfüm und Schweiß reihen sich aneinander, bis sie zu diesem typischen Duftcocktail der Diskotheken vermengt sind. Gut gelaunt und mit einem Glas Bier in der Hand, berichte ich meiner Freundin von dem Schatten und dem Knurren. Doch auch sie ist der Meinung, dass es sich um eine Katze handeln muss.
»Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Katzen auch sehr gut knurren können. Wahrscheinlich ging es da um Revierkämpfe.«
Erleichtert über die Zustimmung feiern wir ausgelassen, bis in die frühen Morgenstunden. So viel Spaß hatte ich schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr. Sehr müde und leicht angetrunken komme ich um fünf Uhr in der Früh wieder nach Hause. Ich schaffe es noch, meine Sachen auszuziehen, mir meine Schminke halbwegs abzuwaschen und mich dann völlig erschöpft, in mein kuscheliges Bett fallen zu lassen. Endlich schlafen, ist der letzte Gedanke, bevor ich in die Traumwelt entfliehe.
Ich erwache relativ früh. Eigentlich viel zu schnell, nach dieser durchzechten Nacht. Noch im Schlaftaumel ziehe ich mir etwas über, um auf die Terrasse gehen zu können. Plötzlich tauchen Bilder von gestern vor meinen Augen auf und ich erinnere mich an den Schatten und das Knurren vom Vorabend. Neugierig mustere ich den gesamten Garten und inspiziere aus sicherer Entfernung das Gebüsch. Alles scheint normal und friedlich. Wahrscheinlich war es wirklich nur ein kleines Tierchen. Erleichtert gehe ich zurück in die Wohnung und ziehe bei allen Fenstern die Rollläden hoch. Nach einer Tasse heißen Kaffee, mache ich mich gemächlich fertig, um für die nächste Woche einkaufen zu gehen. In meinem Kühlschrank herrscht schon seit zwei Tagen eine gähnende Leere.
Auch heute habe ich ein gutes Tempo drauf und werde natürlich prompt wieder von der Polizei angehalten. Nicht schon wieder, schießt es mir durch den Sinn und ich streiche beschämt durch mein Haar. Ein Blick in den Rückspiegel reicht aus und es ist perfekt. Es kommt tatsächlich derselbe Polizist, welcher mich schon am Tag zuvor anhielt, auf den Wagen zu gelaufen. So viel Pech kann einer alleine doch nicht haben.
»Oh nein! Nicht das auch noch!«, fluche ich, während ich meinen Kopf gegen die Kopfstütze knallen lasse.
Um Fassung ringend kurble ich die Scheibe meines Wagens hinunter und werde auch direkt schroff angesprochen.
»Sie schon wieder! Hat bei Ihnen wohl gestern noch nicht gefruchtet. Aber vielleicht wird die nächste Strafe ja helfen. Ihre Papiere bitte!«
Sein Grinsen ist süffisant und er wirkt sehr überheblich. Ich meine, ja, er hat Recht. Ich habe einen oder eher gesagt zwei Fehler begangen, aber dennoch kann man freundlich bleiben. Wenn er zwischenmenschliche Probleme hat, dann sollte er nicht in so einem Beruf arbeiten. Aber wie sagt man so schön, Höflichkeit ist eine Zier… Die ganze Situation ist mir so peinlich. Am liebsten würde ich gerade im Erdboden versinken und mich da aufregen, doch da muss ich jetzt wohl durch. Nachdem alles aufgenommen wurde, bekomme ich meine Sachen wieder und kann weiter zum Einkaufen fahren.
Ich bin so sauer auf mich. Das wird wieder ein teurer Monat werden. Egal wie sehr ich es auch versuche, aber ich schaffe es selten, mich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu halten. Immer bin ich etwas zu schnell. Mittlerweile habe ich schon etliche Knöllchen gesammelt, seitdem ich meinen Führerschein habe. Damit kann ich einen eigenen Ordner füllen oder eine Wand tapezieren. Der restliche Tag verläuft ruhig. Es gibt nur noch den wöchentlichen Hausputz zu erledigen, ansonsten kann ich ausspannen. Am Abend, gegen zweiundzwanzig Uhr, verschließe ich nach der letzten Zigarette alle Rollläden.
Heute kommt im Fernsehen ein guter Horrorfilm, welchen ich unbedingt schauen möchte. Mit meinem Oberbett und einer kleinen Schale Chips, mache ich es mir auf meinem Sofa bequem. Der Film ist schon ganz schön gruselig, so alleine. Immer weiter rutsche ich runter, bis ich fast komplett unter der Bettdecke verschwinde. Angespannt verfolge ich jede einzelne Szene, bis plötzlich das Rollo im Wohnzimmer anfängt zu klappern. Erschrocken schnelle ich hoch und sehe mich panisch um. Mein Herz rast und meine Atmung scheint für einen kurzen Moment auszusetzen. Damit ich die Geräusche besser orten kann und mich auch niemand hört, schalte ich den Fernseher stumm. Erneut blicke ich mich in meinem Wohnzimmer um. Als alles ruhig bleibt, wage ich es wieder normal zu atmen.
»Ganz ruhig Sue. Das war nur der Wind. So etwas kommt öfters vor. Hätte ich doch nur auf den blöden Film verzichtet.«
Plötzlich scheppert das Rollo in der Küche.
»Okay, das ist auf keinen Fall der Wind. Dann würden alle Rollläden klappern.«
Kurz verharre ich und überlege, was ich machen soll. Aber hier liegen bleiben und auf ein Unheil warten, kann ich nicht. Vorsichtig tapse ich in die Küche und stehe vor dem besagten Fenster. Meine Angst steigert sich immer weiter, bis sie zu einer Panik ausartet. Der Radau will einfach nicht verstummen und mein Körper produziert unaufhörlich Adrenalin. Was, wenn jemand versucht hier einzubrechen? In der letzten Zeit gab es sehr viele solcher Vorfälle in der Nachbarschaft. Jeder Muskel in meinem Körper spannt sich an. Es dauert, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann. Die Polizei. Ich muss die Polizei rufen.
»Hallo, hier Martin Bach. Sie haben den Notruf der Polizei gewählt.«, ertönt eine ruhige Stimme am anderen Ende.
»Hallo? Ich, hier ist jemand. Jemand versucht anscheinend in meine Wohnung einzubrechen. Oh mein Gott. Was soll ich machen?«, stammle ich beinahe hysterisch in den Hörer, so dass man mich kaum verstehen kann.
»Bleiben Sie ganz ruhig. Sind Sie sicher, wo Sie sich gerade befinden?«
»Ja. Ich denke schon. Die Rollos sind noch geschlossen.«
Ich stehe in meinem kleinen Flur und beobachte abwechselnd alle Eingänge zu den einzelnen Räumen.
»Gut, nennen Sie mir bitte Ihre Adresse. Ich schicke Ihnen sofort eine Streife vorbei.«, sagt der Mann gleichbleibend ruhig.
Nachdem ich die Daten durchgegeben habe, lege ich auf. Mit dem Telefon in der Hand gehe ich wartend auf und ab. Ich habe so große Angst, dass ich bei jedem noch so kleinen Geräusch zusammen zucke. Nach einer gefühlten Ewigkeit schellt es endlich an der Haustür. Zögerlich gehe ich zu der Gegensprechanlage und spreche zaghaft hinein.
»Wer, wer ist da?«
Auf der anderen Seite erklingt die Stimme eines Mannes.
»Hallo, hier ist die Polizei. Sie haben den Notruf gewählt.«
Erleichterung macht sich in mir breit. Mit zitternden Fingern drücke ich auf den Türöffner, lasse jedoch die Wohnungstür noch verschlossen. Ich will erst durch den Spion schauen und ganz sicher sein, dass es auch wirklich kein Einbrecher ist. Schnell luge ich hindurch und als ich die Uniformen erkennen kann, öffne ich den Beamten. Wie es der Zufall will, ist es derselbe Polizist, welcher mich schon zweimal wegen dem zu schnellen Fahren angehalten hat. Prompt friert meine Mine ein. Das hat mir gerade noch gefehlt. Hoffentlich ist der nicht wieder so ein Ekel. Überraschender Weise, kann er auch anders. Obwohl er mich sichtlich wieder erkennt, bleibt er nett.
»Guten Abend, Stenn mein Name. Sie haben gemeldet, dass jemand versuchen würde bei Ihnen einzubrechen. Können Sie uns sagen, was genau geschehen ist?«, fragt er höflich nach.
Ich überschlage mich beim Sprechen fast, so dass die beiden Beamten versuchen mich zu beruhigen.
»Atmen Sie erstmal tief durch. Wir sehen uns das an.«, sagt Herr Stenn.
Er und sein Kollege schauen sich in der Wohnung und im Garten um, doch weit und breit gibt es keine Spur von einem Einbrecher.
»Hier scheint alles ruhig zu sein. Wahrscheinlich ist derjenige schon über alle Berge oder es hat sich jemand mit Ihnen einen üblen Scherz erlaubt. Wir haben gleich Schichtwechsel, ich werde dann den Kollegen Bescheid geben, dass sie hier in der Straße noch einmal lang fahren und nach dem Rechten schauen sollen.«
»Danke, das ist sehr nett.«
Nun, da ich weiß, dass sich gerade niemand im Garten aufhält, schließe ich etwas entspannter meine Tür ab und mache es mir wieder unter meinem Oberbett auf der Couch gemütlich. Kaum dass ich sitze, klappert das Rollo der Terrasse wieder. Mein Puls schießt schlagartig in die Höhe und sofort greife ich nach dem Telefon. Abermals wähle ich den Notruf und es dauert nicht lange, bis es an meiner Tür schellt. Es sind wieder Herr Stenn und sein Kollege. Da sie noch in der Nähe waren, brauchten sie nur umkehren und waren keine drei Minuten später vor Ort. Ein weiteres Mal schauen sich die Polizisten in der Wohnung und im Garten um. Weil aber nicht das Geringste zu finden ist, glaubt Herr Stenn, dass ich mir das alles nur einbilde.
»Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben. Es ist niemand hier. Vielleicht war das ja auch nur eine kleine Windböe. Bitte kontaktieren Sie den Notruf nur in wirklichen Notlagen und nicht bei den kleinsten Geräuschen.«
Wortlos starre ich ihn mit weit aufgerissenen Augen an, als er mit seinem Finger zu meinem Fernseher deutet.
»Und auf Horrorfilme würde ich an Ihrer Stelle verzichten, wenn Sie so zart besaitet sind. Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Nacht.«
Sein Kollege steht neben ihm und scheint sich regelrecht zu amüsieren. Er ist nur ein wenig größer als ich und hat schwarzes, kurzes Haar. Was ein Arsch. Da war die Freundlichkeit anscheinend nur ein Ausrutscher. Als die Beamten weg sind, schließe ich die Tür erneut ab und kontrolliere selbst nochmals alle Rollläden. Nachdem ich mir sicher bin, dass alles verriegelt ist, krame ich einen Holzbesenstiel aus dem Kämmerchen und hole ein Messer aus der Küche. Die nehme ich mit. Dann verteidige ich mich halt im schlimmsten Fall selbst, wenn ich die Polizei ja nicht mehr rufen soll!, denke ich und bin sauer.
Mit Panik lege ich mich wieder unter mein Oberbett, auf das Sofa. Jetzt bin ich hellwach und liege wartend da. Nach einer Weile zappe ich gelangweilt durch die Kanäle, bis mir irgendwann vor Erschöpfung die Augen zu fallen. Es geht so schnell, dass ich noch nicht einmal die Fernbedienung weglegen kann. Immer wieder wälze ich mich von links nach rechts. Alpträume plagen mich die gesamte Nacht, bis ich in den frühen Morgenstunden von einem panischen, lauten Schrei, aus meinen Träumen gerissen werde.
Orientierungslos und erschrocken schaue ich mich um. Was war das?Das kam aus der Nachbarswohnung. Da ich meine Nachbarn recht gut kenne, renne ich schnell in den Hausflur und klopfe so kräftig wie ich nur kann, an ihre Wohnungstür.
»Ramona! Ramona, ist alles in Ordnung?«, rufe ich mit bebender Stimme.
Ein leises Klacken ist zu hören und dann öffnet sich langsam die Tür. Ich blicke in ein verzerrtes und verängstigtes Gesicht. Ramona stammelt nur noch Satzfetzen.
»M-mein Freund. So viel, so viel, so viel Blut. Überall.«
»Scht. Beruhige dich. Es wird alles wieder gut werden.«, versuche ich auf sie einzureden.
»So viel Blut. Da ist so viel davon.«
Weil ich aus Ramona gerade nicht mehr heraus bekommen werde, dränge ich mich an der, unter Schock stehenden Nachbarin vorbei und gehe alle Räume nacheinander ab. Als ich jedoch in das Wohnzimmer komme, muss ich mich zusammen reißen, nicht los zu schreien. Übelkeit kriecht mir in einem rasanten Tempo vom Magen die Kehle hinauf. Da liegt der Freund der Nachbarin vor der offenen Terrassentür und ist übersäht mit Kratzern und tiefen Fleischwunden, aus denen das Blut wie ein Bach heraus gelaufen ist. Er ist tot. Seine Augen sind weit aufgerissen und das Gesicht wirkt Schmerzverzerrt. Warum habe ich ihn nicht gehört? Er muss doch geschrien haben. Sofort gehe ich zu Ramona zurück und schiebe sie in meine Wohnung. In der Küche angekommen, setze ich sie auf einen der Stühle ab.
»Setz dich hin, ich rufe die Polizei.«, sage ich ihr, doch sie scheint mich nicht wahrzunehmen.
Während wir warten, brühe ich schnell einen Tee auf. Ich weiß einfach nicht, wie ich mich verhalten soll. Wie ich ihr helfen kann. Vor meinem inneren Auge sehe ich immer wieder, wie mein Nachbar da liegt. Seine Augen. Sein toter Blick. Sie lassen mich einfach nicht mehr los. Ramona sitzt apathisch auf dem Küchenstuhl und beginnt zu weinen. Die Worte welche sie stammelt, werden immer unverständlicher. Nervös und hilflos streiche ich mir durch mein Haar. Ich nehme sie in die Arme und drücke sie ganz fest an mich. Leicht wiege ich sie hin und her. Wie ein Kind, das man versucht zu beruhigen.
Es dauert nur wenige Minuten, bis die Polizei endlich eintrifft. Jeder Versuch Ramona Meising zu befragen scheitert. Über Funk ordern sie einen Notarzt und Krankenwagen. Nun wenden die Beamten sich an mich.
»Können Sie uns etwas zu dem Sachverhalt erzählen?«
»Nicht sehr viel. Ich wurde von einem lauten Schrei geweckt und bin direkt zu Ramona rüber. Als ich sie in diesem Zustand sah, habe ich in der Wohnung nach dem Rechten geschaut. Ihr Freund liegt tot im Wohnzimmer.«, versuche ich zu erklären.
Doch nun wird meine Stimme zunehmend brüchig und ich ringe nach Worten. Während ich noch von dem gestrigen Abend versuche zu berichten, machen die beiden sich mit gezogenen Waffen auf den Weg in die benachbarte Wohnung.
»Sicher!«, ertönen immer wieder ihre Stimmen.
Mittlerweile haben auch die restlichen Bewohner im Haus mitbekommen, dass etwas nicht stimmt. Sie drängen sich wie Schaulustige im Flur. Nachdem alle Anwesenden befragt wurden und diese jedoch nichts zur Klärung beitragen können, wenden die Polizeibeamten sich an den Notarzt, der mittlerweile eingetroffen ist.
»Ab wann wird sie vernehmungsfähig sein?«
»Das Medikament scheint schon langsam zu wirken. Ins Krankenhaus möchte Frau Meising nicht. Es kann sein, dass sie heute Nachmittag bereits dazu in der Lage sein wird, ansonsten würde ich sagen, morgen früh. Es ist nur ein leichtes Beruhigungsmittel, nichts was sie ausknockt.«
Die Beamten bitten Ramona am Nachmittag auf das Revier zu kommen, wenn sie sich dazu in der Lage sieht, damit sie ihre Aussage machen kann. Ich biete ihr an, sie zu begleiten, was sie auch dankend annimmt.
Es dauert noch einige Stunden, bis die Spurensicherung alles gesichert und fotografiert hat. Danach darf Ramona in ihre Wohnung, um sich schnell umzuziehen. Auch wenn sie noch sehr durch den Wind zu sein scheint, zumindest ist sie aus ihrer Paralyse erwacht. Zusammen fahren wir mit meinem Wagen zu dem Revier in der Nähe. Gemeinsam betreten wir das kleine, stickige Büro, wo bereits drei Polizisten auf uns warten. Zum einen sind es die beiden Beamten, die am Morgen bei uns zu Hause waren und dann sitzt da noch Herr Stenn. Böse schaue ich zu ihm rüber. Da hast du deine Einbildung, du Kotzbrocken, schießt es mir durch den Kopf.
Ramona meistert die Befragung ganz tapfer, doch sie kann auch nicht wirklich etwas Neues dazu beitragen. Sie hat ihren Freund so aufgefunden, wie auch ich ihn gesehen habe. Ich bin verwundert, dass sie selbst nichts mitbekommen hat, denn sie schlief schließlich in der Wohnung, in welcher sich alles abgespielt hat. Als unsere Aussagen protokolliert sind, dürfen wir das Revier verlassen. Doch bevor ich aus der Tür heraus bin, greift eine Hand nach meinem Arm und zieht mich zurück. Als ich mich umdrehe, erblicke ich Herrn Stenn. Den miesepetrigen Polizisten. Kleinlaut entschuldigt er sich bei mir.