Spieltage - Benjamin Markovits - E-Book

Spieltage E-Book

Benjamin Markovits

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Beschreibung

Spieltage ist so gegenwärtig geschrieben, dass man sich in der Schilderung dieses ersten langen Sommers nach Studienabschluss ohne Weiteres wiedererkennt. Mit melancholisch-nostalgischem Blick auf die ersten Schritte ins Erwachsenenleben ist dies die Geschichte eines jungen Mannes, der seine erste ›erwachsene‹ Liebeserfahrung macht und dabei die eigenen Grenzen erkennt.

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BENJAMIN MARKOVITS

SPIELTAGE

ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch von Dieter Fuchs

OKTAVEN

Für meinen Vater

Nur hasse ich alles, was komplett erfunden ist – noch das versponnenste Gebilde sollte Fakten als Grundlage haben –, und reine Fiktion können sowieso nur Lügner.

Lord Byron

1

Mein erstes erkennbar sexuelles Erlebnis fand im Kraftraum meiner Junior-Highschool statt, und zwar beim nachmittäglichen Basketballtraining. Ich sage «erkennbar», auch wenn ich nicht weiß, ob ich es schon damals als solches erkannt habe. Wir arbeiteten uns durch diverse Stationen, von denen eine erforderte, dass man sich von zwei Haltegriffen aus nach oben drückt, mit angewinkelten Beinen; und ich weiß noch, wie ich vor Anstrengung die Augen schloss und zwischen meinen Oberschenkeln merkwürdige Empfindungen aufkamen und sich langsam ausbreiteten. Das war nur eine chemische Reaktion, nichts weiter, obwohl ich danach etwas weiche Knie hatte; und vielleicht war es am gleichen Nachmittag oder auch an einem anderen, dass sich ein paar Teamkollegen über meine Beinbehaarung lustig machten.

«Das sind ja richtige Männerbeine», sagte einer, und ich sah an mir hinunter und versuchte zu entscheiden, ob sie zu behaart oder im Gegenteil nicht behaart genug waren. Jedenfalls machten die anderen Jungs gleich mit. Vermutlich war es die Flaumigkeit meiner Härchen, die sie lustig fanden, und es ist wohl typisch für dieses Alter, dass ich nicht recht wusste, ob ich jetzt in ihren Augen eher wie ein Mädchen aussah oder überentwickelt war, und mich für beides schämte.

Gerede über Sex war natürlich etwas, an das man sich in der Umkleidekabine gewöhnen musste. Und auf dem Spielfeld. In der Schule ist das Training die einzige Zeit, in der ein Coach reine Jungsklassen vor sich hat, also ohne Mädchen, auf die man Rücksicht nehmen müsste.

«Hast wohl gestern’n bisschen mit dir selbst gespielt», sagte ein Trainer immer, wenn jemand den Ball durch die Finger gleiten ließ.

Allgemeines Gelächter. Coach Britten nannten wir ihn, obwohl er gleichzeitig stellvertretender Rektor war und vermutlich der erste schwarze Mann, den ich je in einer Machtposition erlebt hatte. Ich fürchtete mich ein wenig vor ihm, vor den peinlichen Dingen, die er mir vorwerfen könnte. Groß gewachsen und mit durchgestrecktem Rücken patrouillierte er in dunklem Anzug und blankpolierten Schuhen die Grund- und Seitenlinien entlang. Manchmal, wenn wir ihn enttäuscht hatten, mussten wir uns an der Wand der Turnhalle aufstellen, während er mit dem Basketball in der Hand im Mittelkreis blieb.

«Stillgestanden», rief er. «Ruhe jetzt.»

Dann zielte er auf einen unserer Köpfe, und derjenige musste ausweichen. Ich kann mich nicht erinnern, dass jemals einer getroffen oder gar verletzt wurde, obwohl der Ball mit immenser Wucht gegen die Wand knallte. Aber seine Botschaft kam an. Zwei Botschaften eigentlich: Manchmal müsst ihr auf mich hören, und manchmal müsst ihr eurem Gefühl folgen. Für ihn bestand ein wichtiger Teil seiner Aufgabe darin, uns neben anderen Dingen auch beizubringen, Männer zu sein – auf eine Art und Weise, wie das Lehrer und Eltern nicht konnten oder wollten. Meine Probleme beim Highschool-Sport hatten wohl auch damit zu tun, dass ich das nie gelernt habe.

2

Mein Vater behauptet gern, es sei sein Onkel Joe gewesen – und nicht etwa Kenny Sailors, Bud Palmer oder Belus van Smawley –, der im Jahr 1931 den Jumpshot erfunden hat. Mein Urgroßvater, Ari Markovits, maß zwei Meter acht und wog über hundertzwanzig Kilo, als er mit neunundneunzig Jahren starb, zwei Wochen vor der Bar-Mizwa meines Vaters. «Früher war ich mal groß», war einer der Witze, die er im Alter gern machte. In jungen Jahren muss er also ein Riese gewesen sein, und Onkel Joe verbrachte seine Kindheit damit, über ihn drüber werfen zu wollen.

Meine Familie kam kurz vor dem Ersten Weltkrieg aus Bayern in die Staaten. Basketball ist von jeher ein Ghetto-Spiel, aber in den Anfangstagen waren die Ghettos jüdisch und die Stars eben weitgehend Juden.

Die Markovitse haben sich in der üblichen Manier hochgearbeitet. Mein Großvater wurde in München gezeugt und in der Lower East Side New Yorks geboren. Als junger Mann stieg er in den Lebensmittelhandel seiner Cousins ein und half, ihn zu einem Franchise- Unternehmen auszuweiten. Er zog mit seiner Familie nach Middletown, um dort die neue Zentrale auszubauen, und fuhr drei Abende die Woche ins zwei Stunden entfernte Manhattan, um an der Columbia University Jura zu studieren. Das Haus, in dem mein Vater aufwuchs, war wohlhabend, gehobene Mittelschicht, dennoch brüstete er sich damit, bis zum College außerhalb des Unterrichts nie ein Buch gelesen zu haben: Seine Nachmittage verbrachte er lieber auf dem Sportplatz.

«Markovits», sagte sein Highschool-Trainer einmal zu ihm. «Du bist vielleicht langsam, auf jeden Fall aber schwach.»

Allerdings hatte er ein scharfes Auge und flinke Hände. Dies waren für mich als Kind nur zwei Werkzeuge seiner allumfassenden Autorität. Ich war der Sohn, der seine Leidenschaft für den Sport geerbt hatte, dazu noch etwas von der Größe meines Urgroßvaters und Onkel Joes Körperlichkeit. Wir spielten alles Mögliche zusammen, Basketball, Tennis, Billard – und verbrachten den Großteil meines eher freundelosen ersten Highschool-Jahrs über einen Miniatur-Tischtennistisch gebeugt, der nicht größer als dreißig auf sechzig Zentimeter war. Mein Vater besitzt unendlich viel Geduld, aber er spielt keineswegs, um sich zu entspannen. Als ich zwölf oder dreizehn war, konnten wir uns ohne jede Rücksicht miteinander messen.

Die Familiengeschicke folgten der üblichen Flugbahn. Als Enkel eines Einwanderers und Sohn eines praktizierenden Anwalts war mein Vater Juraprofessor geworden. Sein eigener Sohn wollte Schriftsteller werden. Das Haus, in dem ich aufwuchs, war voller Bücher. Die Sommer verbrachten wir in Deutschland, wo meine Mutter geboren und aufgewachsen war, und jedes Mal schleppte mein Vater Antiquitäten und Teppiche mit zurück, die nach und nach unser sonniges Haus in Texas füllten. Es hatte einen großen Garten, und im hinteren Teil richtete er einen Basketballcourt ein, damit seine Kinder dort spielen konnten.

Vermutlich war ich nirgendwo glücklicher als auf diesem Spielfeld. Aber zwischen meiner und seiner Kindheit war irgendetwas geschehen, und der Unterschied lag nicht nur in dem Geld, mit dem wir jeweils aufwuchsen. Für ihn war Basketball die Entschuldigung gewesen, von zu Hause weg zu können; für mich war es der Grund, daheimzubleiben. Auch das Spiel selbst hatte sich verändert. Es gab keine jüdischen Stars mehr, Schwarze waren auf sie gefolgt, und auch in den Vierteln und auf den Sportplätzen sah man sie. Die Hälfte der Kinder, mit denen ich zur Schule ging, war schwarz, eher weniger in den Vertiefungskursen, deutlich mehr im Basketballteam. Der Sportplatz war einer der wenigen Orte, an denen wir gemeinsam abhingen, doch selbst dort machte sich die vornehme Zurückhaltung meines, nennen wir es: Klassenbewusstseins bemerkbar. Zum Beispiel wäre mir nie in den Sinn gekommen, einen Ball zu dunken.

Basketball tut weh, das ist das Erste, was man lernt, bis die Finger von einer Hornhaut überzogen sind, die in sich nur den ein oder anderen Tropfen Blut trägt. Meine Mutter, eine Sozialistin alter Schule, meinte bei ihrem Anblick: «Mit solchen Händen wirst du die Revolution überleben.»

Nicht dass einem das auf dem Platz viel half. Während meiner Highschool-Jahre folgte mein Vater freitagabends dem Teambus durch ganz Texas, um mich spielen zu sehen. An Orte, die Del Valle oder Copperas Cove hießen und vor deren Sporthallen die Konföderiertenflagge wehte. Er war bei den anderen Vätern auf der Tribüne, während ich auf der Bank auf meinen Händen saß (um sie aufzuwärmen). Ich hatte Angst davor, dass der Trainer mich aufs Feld schickt. Vermutlich haben viele Eltern ein Gespür dafür, wozu ihre Kinder fähig sind, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. In der Welt und in ihrer Liebe müssen wir ganz unterschiedlichen Ansprüchen genügen, und diese Differenz zu beobachten, muss schmerzhaft für sie sein.

«Soll ich mal mit dem Coach reden?», fragte er mich einmal auf dem Heimweg. Manchmal fuhr ich lieber mit ihm als im Mannschaftsbus.

«Bitte nicht», sagte ich.

Aber er ließ nicht locker. «Die hätten dich da draußen gebrauchen können. Ich weiß doch, was du draufhast.»

«Bitte nicht.»

Meine Scheu war Beleg dafür, wie selbstsicher er seit seiner Kindheit in den Straßen von Middletown geworden war.

Aber kurz vor dem College-Abschluss hatte auch ich so meine Erfahrungen gemacht. Und irgendwann in den vier Wanderjahren des Studiums kam ich auf die Idee, professionell Basketball zu spielen – niemand in meinem Bekanntenkreis hatte je vom Schreiben leben können.

Ein Freund filmte mich in der Uni-Sporthalle, wie ich ganz für mich allein Bälle warf und dunkte. Das war die Bewerbung, die ich verschickte, begleitet von der kleinen, aber entscheidenden Information, dass meine Mutter Deutsche war, was mir erlaubte, die europäische Quote für ausländische Spieler zu umgehen. Während meine Kommilitonen sich eifrig für Aufbaustudiengänge bewarben, Jura oder Medizin, und auf ihre Zulassungsbescheide warteten, verließ ich an einem windigen Märztag das Büro des Dekans und hatte die vier dünnen Seiten eines Vertrags in der Hand, den ein Agent gerade durchgefaxt hatte. Und ich zeigte ihn jedem, der in meine Nähe kam. Das hatte so etwas wunderbar Unplausibles. Ich hatte mit siebzehn das letzte Mal ein Trikot getragen, aber trotzdem gab es da jemanden in Ober-Ramstadt, der sich entschieden hatte, mich zu vertreten.

Ich wollte zu irgendetwas zurückkehren, zur Kindheit meines Vaters ebenso sehr wie zu meiner eigenen. Ein zielsicherer Jumpshot und eine gute linke Hand waren ihm viel wichtiger gewesen als Berufsausbildung, Gehalt, Festanstellung oder Hypothek. Ein normales Leben als Erwachsener kam mir vor wie einer dieser gesellschaftlichen Anlässe, zu denen man als Kind mitgeschleppt wird – wo man Anzug und Krawatte trägt, die einem nicht passen, und Sachen sagt, von denen man nicht überzeugt ist. Basketball war meine Entschuldigung, nicht hinzugehen. Außerdem wollte ich endlich die Dinge tun, die ich in der Highschool versäumt hatte.

Zwei Tage nach dem Studienabschluss flog ich nach Hamburg und verbrachte den Sommer damit, von einem Zug zum nächsten und vom Hotel in die Sporthalle zu gehen. Damals hatte ich nicht viel Gepäck, nur meine Sporttasche mit einer Ersatzgarnitur für alles, inklusive Sneakers, sowie dem dicken Ball in der Mitte. Die Klamotten wusch ich in dem Waschbecken, das gerade zur Verfügung stand. Die meisten der großen Städte waren vom Fußball dominiert, nur auf dem Land, in den Dörfern und Marktgemeinden, hatte der Basketball Luft zum Atmen. Ab Ende Juli war ich dann in Landshut, nordöstlich von München, bei einer Zweitligamannschaft unter Vertrag, die in der Gegend als «Yoghurts» bekannt war. Ich hatte einen Monat Zeit und flog nach Hause, um den Sommer wie üblich damit zuzubringen, zwischen der Kälte der Klimaanlage und der grellen, reflektierenden Hitze des väterlichen Basketballcourts zu pendeln. Ende August stieg ich dann in den Flieger nach München, um mein neues Leben zu beginnen.

Mein Vater brachte mich zum Flughafen und blieb bei laufendem Motor eine Minute lang im Auto sitzen. Er legte mir die Hand auf die Schulter; ich wusste, dass er einen Ratschlag vorbereitet hatte. «Tu mir einen Gefallen, ja?», sagte er schließlich. «Mach keinen Quatsch mit diesen Jungs, diesen Spielern.»

«Was meinst du mit Quatsch machen?»

«Du weißt, was ich meine», sagte er. «Zocken oder so. Das sind nicht die Kids, mit denen du aufgewachsen bist. Und wo wir gerade dabei sind: Hüte dich auch vor den Frauen, die um sie herumschwirren.»

Als ich dann die Sicherheitskontrolle, das Einchecken und den langen, fensterlosen Korridor zum Gate hinter mich brachte, spürte ich etwas Seltsames. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst vorm Fliegen.

3

Der Club schickte jemanden, der mich am Flughafen in Empfang nahm, einen Amerikaner namens Bo Hadnot, vom Akzent her Südstaatler. Er war so eins sechsundachtzig, eins achtundachtzig groß; vermutlich ein ehemaliger Spieler, dachte ich. Mit großen Zähnen, die seine Lippen ein wenig aufdrückten und ihn durstig aussehen ließen. Und mit kräftigen Händen – er nahm mir die Reisetasche ab. Das schien mir eine eher traurige Aufgabe für einen Expat.

Ich wurde in diesem Sommer öfters «in Empfang genommen», an Flughäfen, Bahnhöfen, Busterminals, von diversen Teamchefs und Clublakaien. Dicke, schlecht gekleidete Männer, deren letzter Rest von Jugend darin bestand, dass sie noch bei ihren Eltern wohnten. Ein Freund aus der Clubleitung hatte ihnen irgendeinen Job verschafft: Übernachtungen und Ablaufpläne organisieren, Spieler vom Hotel zur Halle befördern, danach die Umkleide putzen, Trikots waschen etc. Trotzdem spielten sie sich vor den nervösen Neuankömmlingen auf, vor Typen wie mir. Die meisten wussten gar nicht, wie ich heiße, und Hadnot war da keine Ausnahme. Ihnen genügte, dass ich Basketballspieler war, sie rechneten damit, meinen Kopf schon irgendwie über den anderen erkennen zu können.

Ich war nach dem Flug verschwitzt und verschüchtert und schlief auf der Fahrt schon nach wenigen Minuten ein. Hadnot verfuhr sich auf dem Weg vom Flughafen. Er weckte mich an einer Tankstelle, damit ich nach dem Weg frage, und sagte dabei erst leise, dann immer lauter: «Junge! Junge!» Er hatte mitbekommen, wie ich mit einem der Zollbeamten Deutsch gesprochen hatte. Wieder im Auto fragte ich ihn, wie lange er schon hier sei, und ohne Ironie oder Scham meinte er, fünf Jahre. Was er die ganze Zeit gemacht habe, fragte ich.

«Basketball gespielt.»

Irgendwann überwanden wir das Gitternetz an Autobahnen rund um den Flughafen und fuhren durch eine ländliche Gegend, die einladend und ordentlich bewirtschaftet aussah. Landstraßen, links und rechts von hohem Getreide gerahmt. Und Dörfer, die von Oberüber Mittel- zu Unter- eine ganze Skala von Namen aufwiesen, keines davon größer als eine Kurve und ein paar Bauernhäuser. Die Stadt selbst war recht hübsch und alt. Wir rumpelten ein paar Minuten lang über die Hauptstraße, vorbei an einer Kirche mit Backsteinturm, so nüchtern wie ein Fabrikschlot, bevor wir direkt am Fluss vor einem kleinen italienischen Restaurant namens Sahadi anhielten. Unter einer rotgestreiften Markise hingen Korbflaschen im Fenster. Die meisten Autos, die hier parkten, waren blaue, zweitürige Fiats mit brandneuen Nummernschildern: ein Anzeichen dafür, dass sich das Basketballteam hier versammelt hatte. Hadnot meinte, er müsse noch seine Tochter von ihrer Großmutter abholen, und fuhr los, kaum dass ich die Tür zugeschlagen hatte.

Das Sahadi trug den Namen seines Besitzers, eines Türken, der aus Turin über die Alpen gekommen war, als die Deutschen Ende der Achtzigerjahre die Einwanderungsbestimmungen lockerten. Er war die Sorte Mann, die mein Vater liebt, ein wurzelloser, polyglotter Verkäufertyp – mit Leuten wie ihm hatte ich meinen Dad meine ganze Kindheit über «parlieren» gesehen. Er hielt mich wegen meiner Größe für einen weiteren Spieler und führte mich unter mehreren niedrigen Backsteinbögen durch, allesamt von Weinreben umrankt. Die Bayern, sagte er mir (genau wie mein Vater das getan hätte, überhäufte ich ihn mit Fragen), würden die türkische Küche nicht sonderlich schätzen, weshalb er italienisch kochte, gelegentlich aber versuchte, auch ein paar östliche Elemente einfließen zu lassen. Herr Sahadi schien überglücklich, einen neuen Basketballspieler kennenzulernen. Unter einem der Bögen legte er mir die Hand auf den Arm, damit ich stehen blieb und er seinen Sermon loswerden konnte – die erste Andeutung von Berühmtheit.

Der letzte Raum war kaum mehr als eine Höhle; er enthielt einen niedrigen Tisch sowie ein halbes Dutzend Männer, die um ihn herum saßen und versuchten, irgendwie ihre Knie unterzubringen.

«Wo ist Hadnot?», rief jemand, als ich unter einer eingetopften Weinrebe den Kopf einziehen musste und einen freien Stuhl suchte. Er müsse seine Tochter abholen, sagte ich. «Bist du der Amerikaner?», fragte die gleiche Stimme. «Setz dich her, brother, setz dich her, denn mir beliebt mit dir zu sprechen.»

Die Stimme gehörte einem der beiden schwarzen Männer im Raum. Er machte mir neben sich am Tischende Platz und griff nach einem sauberen Teller, auf den er aus einer von Sprudelflaschen umringten Schüssel Spaghetti häufte. Die meisten anderen hatten schon gegessen. Es war nicht mehr viel übrig, aber er suchte zusammen, was er konnte, und präsentierte es mir: Grissini und Hummus, kalte Calamari, Parmesan, Zitrone, ein bisschen Frascati. Sein Name sei Charlie, sagte er, Charlie Gold, dann stellte er mir den Rest der Mannschaft vor: Olaf Schmidt, Axel Plotzke, Willi Darmstadt, Milo Moritz und Karl.

Charlie bestritt den Großteil des Gesprächs. Er hatte ein eher unmarkantes Gesicht, tiefhängende Augenbrauen und einen zurückweichenden Haaransatz – verschmitzt, aber keineswegs jugendlich. Zum Beispiel hatte er sich nicht die Mühe gemacht, wie bei Leistungssportlern üblich den Wildwuchs an Löckchen um die Ohren, am Hals und im Nacken wegzurasieren. Die Haut seiner Wangen war von Akne zerfurcht. Man hätte daran ein Streichholz entzünden können – ein Bild, das sich aufdrängte, weil so viele am Tisch rauchten.

Die Zigaretten wurden in den Essensresten, den Olivenschälchen und den leeren Kaffeetassen ausgedrückt. Charlie hatte sich nicht daran beteiligt, das roch ich sofort. Ich konnte es auch am Klang seiner Stimme hören, in der, wenn er jemandem zum Anzünden eine Kerze reichte, sowohl Belustigung als auch Missfallen mitschwang. Er war glücklich über dieses Missfallen; es verschaffte ihm die richtige Position. Er sagte zu mir: «Du rauchst aber nicht, oder?», und als ich den Kopf schüttelte, fügte er so laut, dass ihn jeder hörte, hinzu: «Diese Europäer, sie denken, sie sind Künstler. Sie denken, sie sind Rockstars. Direkt vor dem Spiel erzählen sie sich, wie viele Drinks sie am Abend davor gekippt haben. Sie wollen, dass du anständig spielst. Ich geb dir einen Rat, young man. Spiel niemals anständig.»

Daraufhin meinte einer der anderen lachend: «Ja, aber wir sind glücklich.»

«Nein, du bist nicht glücklich, Milo, du bist sicher nicht glücklich, wenn ich mit dir fertig bin.»

Milo hatte das Gesicht eines Boxers, fleischig, mit gebrochenem Nasenbein. Sein Lächeln wirkte wie aufgeklebt. Während ich aß, bahnte sich ein Mann mittleren Alters mit üppigem Schnurrbart einen Weg zwischen den Stühlen hindurch an unser Tischende. Ich muss auf seinem Stuhl gesessen haben, denn er sah mich scharf an, bis Charlie sagte: «Alles in Ordnung, Coach. Der Junge hier war hungrig, also hab ich gesagt, er soll sich zu mir setzen.»

Ich erkannte Herrn Henkel vom Probetraining und stand auf, um ihm die Hand zu geben.

«Wo ist Hadnot?», fragte er mich.

«Er muss seine Tochter abholen.»

«Er holt nie seine Tochter ab», erwiderte Henkel und ließ einen flüchtigen Blick über den Rest der Mannschaft streifen.

Dieser kurze Blick hatte etwas Väterliches, und das Kind und das Heimweh in mir fühlten sich angesprochen. «Wollen Sie sich wieder hierhersetzen, Coach?», fragte ich ihn auf Deutsch, aber er erwiderte in seinem holprigen Englisch: «Man soll nie seine Stellung aufgeben, oder was sagst du, Charlie?» Dann sagte er zu einem der anderen Jungs: «Rutsch mal, Darmstadt.»

Darmstadt war ein Schüler mit herausgewachsener Pilzfrisur. Er schob seinen Stuhl zurück, erhob sich und stand den restlichen Nachmittag an die Wand gelehnt. Niemand sagte etwas. Charlie nutzte die Gelegenheit, um sich ein paar Leute vorzuknöpfen – seine eigene Formulierung. Er hatte etwas Ruheloses an sich, das auf mich schon bei dieser ersten Begegnung wirkte, als sei er nicht wirklich glücklich. Man spürte, dass er sich zu Größerem berufen fühlte und mit der aktuellen Situation nur arrangierte. Zum Ausgleich machte er sich über andere lustig. Der Mann, den er mir als Plotzke vorgestellt hatte, war ein dicker, langarmiger Deutscher mit leichten Merkmalen einer Drüsenfunktionsstörung: ein hängendes, ovales Gesicht; große Kuhaugen. «Wie viel wolltest du im Sommer abnehmen, Axel? Oder hast du am Zunehmen gearbeitet?» Die Sorte von Witz.

«Ja, ja», sagte Axel. Eine wohlerzogene, mürrische Stimme. Aber Charlie schenkte fast jedem am Tisch seine Aufmerksamkeit, nur Darmstadt ließ er in Ruhe, außer er wurde provoziert. Aber es gab noch einen anderen Schüler im Team, und von dem sagte Charlie, er wolle ihn gern «als besten Freund bezeichnen».

Nennen wir ihn einfach Karl. Es gibt zum einen das rechtliche Problem, aber ganz unabhängig davon würde seine heutige Berühmtheit den Charme überlagern, den er damals hatte, in seiner ersten Profisaison, als er noch mehr oder weniger unbekannt war. «Wir zwei haben allerhand zu besprechen», sagte Charlie. Karl ließ dieses Gerede lächelnd über sich ergehen, ohne groß zuzuhören oder sich weiter darum zu kümmern. Er hatte eines dieser riesigen, flachen Gesichter, die Gefühle nur bedingt erkennen lassen. Und er wirkte ungemein deutsch, speziell was seinen Kleidungsstil anging, der fast schon penetrant leger war: braune Jeanshose, Ledersandalen und ein knallgelbes T-Shirt, auf das in verwaschenen Buchstaben die Worte High Anxiety gedruckt waren.

Später, als er sich unter der Toilettentür hindurchduckte, fiel mir erst auf, was an Karl das Faszinierendste war: Er war zwei Meter dreizehn groß und sah völlig normal aus. Es waren wir anderen, die wie geschrumpft oder unproportioniert wirkten.

Da Charlies Sprüche Karl nichts anhaben konnten, richtete er seine Aufmerksamkeit auf Olaf, den anderen dunkelhäutigen Spieler am Tisch. «Immer noch am Essen?», fragte er. «Brauchst wohl ’n bisschen mehr Zeit, wie?» Dann, mit einem gewissen Unterton: «Der Typ ist sogar zu faul zum Fressen.»

Sportmannschaften sind voller Mitläufer – alle fingen an zu lachen. Auch ich musste mir die Faust an die Lippen pressen. Olaf stocherte ungerührt in seinem Teller herum. Er hatte die athletische, seelenruhige Ausstrahlung einer griechischen Skulptur, einer zwei Meter großen, hundertzwanzig Kilo schweren griechischen Skulptur. Seelenruhig war jedoch nicht das Wort, das Charlie für ihn bestimmt hatte. Faul, faul, faul; er sang es geradezu wie einen Choral. Heilig, heilig, heilig. Olaf hob die Hand und senkte den Kopf, eine seiner typischen Gesten.

«Ich verstehe, was du meinst», kommentierte Charlie. «Lass mich in Ruhe. Nur werde ich das nicht.»

Wenn die Deutschen Englisch sprechen, klingen ihre Stimmen oft so süßlich wie schwacher Tee. «Nein, ich sag dir, was ich meine», erwiderte Olaf. «Du kannst mich am Arsch lecken, Kleiner.»

Das verursachte eine kleine Sensation, und zwar der Ruhe, weshalb Charlie umherblickte und fragte: «Was heißt das? Was heißt das?»

Darmstadt, der nach wie vor an der Wand lehnte, fing an zu kichern. «Der Junge lacht wohl über alles», sagte Charlie. «Der lacht auch noch, wenn man ihn von der Brücke wirft.»

Olaf redete weiter auf Deutsch: «Es ist ganz schön daneben, hier anzukommen und auf die Jüngeren loszugehen.»

Charlie drehte sich lächelnd zu mir. «Was hat dieser faule Hurensohn gesagt? Was hat er gesagt?»

Für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Milo klatschte in die Hände und rief: «Wir haben einen Dolmetscher! Einen Dolmetscher.» (Ein hässliches deutsches Wort für translator.) Auch Olaf sah jetzt zu uns, und ich erkannte an seinem leicht belämmerten Blick, dass er ein bisschen Angst vor dem hatte, was ihm da über die Lippen gekommen war, ein bisschen Angst vor Charlie.

Ich sah zu Charlie, ich sah zu Olaf, und ich sah zu Herrn Henkel, der mit einem bemühten Lachen sagte: «Immer locker bleiben, Charlie.» Er hatte ein freundliches, einfaches, bayrisches Gesicht: braun gebrannt, würdevoll und kantig. Das Gesicht eines wohlhabenden Bauern. Nur wenn er Witze riss oder lachte, wurde etwas Derberes erkennbar, ein Humor, den er sich im Umkleideraum zugelegt hatte.

«Ich dachte, ich werde genau dafür bezahlt. Für meinen Pre-Season Peptalk.»

Aber Henkel legte dem schwarzen Mann die Hand auf den Kopf. «Nein, nicht dafür bezahlen wir dich. Das gibst du uns als Zugabe.»

«Ich bin eben großzügig», sagte Charlie.

Ein paar Minuten später bat Henkel um Ruhe und begann seinen eigenen «Pre-Season Peptalk». Er erklärte, was er von uns erwartete, was er in diesem Jahr erreichen wollte, und gab einen groben Überblick, wie die kommenden Wochen aussehen würden. Es rührte mich, wie emotional die meisten Männer reagierten, trotz der Streiterei und der peinlichen Stimmung beim Essen. Zum Teil lag das wohl auch daran, dass sie ein wenig betrunken waren. Olaf legte die Wange in seine große Handfläche. Milo drückte, als Henkel aufstand, um einen Toast zu sprechen, schnell die Zigarette aus und schenkte sein Glas voll. Eine krudere Zusammenstellung von Menschen kann man sich gar nicht vorstellen – wie komplett unterschiedliche Stühle in einem Trödelladen. Fast jeder von uns war in irgendeiner Form zu groß, zu dick oder zu dünn. «Aufs Gewinnen», sagte Henkel, «denn Gewinnen ist besser als Verlieren.» Wir jubelten ihm hoffnungsvoll zu.

Es war Charlie, der mich nach dem Essen heimbrachte – also zu meiner neuen Wohnung. Sein Auto war etwas größer als die anderen, ein VW Golf, an dessen Rückspiegel ein Paar Nike-Hightops in Miniaturversion baumelte. Ich fragte mich, ob er damit irgendwelche Ansprüche auf mich geltend machen wollte. Wir fuhren zurück durchs Zentrum und die Hügel hinauf, Hügel, hinter denen das offene Ackerland begann, und kamen unter dem roten Backsteinbogen einer alten Bahnbrücke durch. Die Gleise wurden inzwischen nur noch von Bäumen genutzt.

Zur Rechten thronte ein Pferdehof, dahinter fiel das Gelände in ein bewaldetes Tal ab. Charlie bog nach links, fuhr ein kurzes Stück über eine asphaltierte Zubringerstraße und parkte vor einer Reihe geschlossener Garagen, die sich entlang einer großen violetten Wohnanlage aus den Sechzigerjahren erstreckten. Er stieg nicht aus, um mir mit dem Gepäck zu helfen, aber die Art, wie er dasaß, ließ vermuten, dass er etwas sagen wollte. Also wartete ich einen Moment, bevor ich die Tür aufmachte. Genau wie bei meinem Vater, zwölf Stunden vorher.

«Ich habe große Hoffnungen, young man», sagte er, «dass wir dieses Jahr den Sprung aus der zweiten Liga schaffen. Karl wird nicht lange bleiben, deshalb müssen wir die Zeit nutzen. Aber jeder hat seine Rolle zu spielen. Auch du.» Nach einer Pause sagte er erneut: «Große Hoffnungen» – und mit diesen ließ ich ihn zurück, nahm meine Tasche vom Rücksitz und stieg aus.

Meine Wohnung war eine von denen, die zur Straße zeigten. Die meisten meiner Teamkollegen hatten irgendwann in diesem Komplex gewohnt, aber es gab hier auch Zivilisten, wenn man so sagen will. Und Hinweise auf Familien: kleine Fahrräder, die auf den Fußwegen herumlagen, Gießkannen, Gummistiefel. Die strahlende Vielfalt des Lebens zeigte sich an Wäscheleinen zwischen Badezimmerfenster und Balkongeländer. Herr Henkel hatte mir die Schlüssel gegeben, und mit einem davon mühte ich mich ab, um das fensterlose Treppenhaus betreten zu können. Der Jetlag machte sich langsam bemerkbar. Am Vortag war ich noch in einer anderen Welt gewesen. Endlich allein, dachte ich und war fast schon dankbar für die Dunkelheit, als ich die paar Stufen zu der Tür hinaufstieg, deren Nummer an der Schlüsselkette hing.

Das Zimmer, in das ich eintrat, hatte in der Mitte ein großes Bett; es sah verlockend gemütlich aus in dem schwachen Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge des dahinterliegenden Fensters hereinkam. Sie waren schwer und hässlich, und das Erste, was ich machte, war, sie derart gewaltsam herunterzureißen, dass zum einzigen Mal an diesem Tag die Sorglosigkeit sichtbar wurde, die mit der Freude eines jungen Mannes einhergeht. Es war fünf Uhr an einem Sommernachmittag, und der Himmel hatte sich etwas aufgeklärt – die Sonne schien heller, je mehr sie sich senkte. Das Fenster zeigte auf einen schmutzigen, eingemauerten Balkon, von dem das Wasser schlecht abfloss; stehende Pfützen hatten die Fliesen ausgebleicht. Dahinter lag die Straße, und hinter der Straße kamen der Pferdehof, das Tal und der Wald. Das transparente Licht im Westen verdickte sich zu einem Bronzeton, bevor es schließlich ganz verschwand. In diesem Licht schlief ich ein.

Es war dunkel, als ich aufwachte – auch weil mir kalt war. Außerdem hatte ich Hunger, nur nicht genug Hunger, um mir so spät noch etwas zu essen zu besorgen (es war schon nach zehn), deshalb beschloss ich zu duschen, mir frische Sachen anzuziehen und dann wieder ins Bett zu gehen. Wir wollten am nächsten Tag früh anfangen. Das Training begann um neun, und um elf sollten die Türen für die Presse geöffnet werden. Meine Tasche lag da, wo ich sie fallen gelassen hatte, also auf dem Kissen neben mir. Ich nahm den Basketball heraus und fing an, meine Sachen auszupacken.

Im College hatte ich mich nie für Mode interessiert, wobei ich bezüglich meiner Garderobe doch einen merkwürdigen Ehrgeiz entwickelte, nämlich den, sie auf ein praktisches Minimum zu reduzieren. Wenn ich mir eine Hose kaufte, nahm ich eine, die für eine Interrail-Tour durch Europa ebenso geeignet gewesen wäre wie für ein Begräbnis oder ein Bewerbungsgespräch – eine, die ich bei Hitze oder Kälte anziehen konnte; bei langen Reisen; bei einem Picknick auf einer matschigen Wiese. Sogar meine Sneakers, schwarze Air Jordans, hatte ich einmal zu einer dunklen Hose bei einem College-Ball getragen. Mein Anspruch war nicht, gut auszusehen oder modisch zu sein, sondern ungebunden, leichtfüßig, stets in der Lage einfach abzuhauen. Als ich meine wenigen Sachen in dem großen, alten Schrank verstaute, der neben dem Bett aufragte, hatte ich das Gefühl, dass zumindest eine meiner Eitelkeiten mir doch noch nützlich gewesen war und ihre Existenz rechtfertigte. Dass ich genau so lebte, wie ich es mir erträumt hatte.

Die Wohnung hatte drei Räume: das Schlafzimmer, eine Küche und ein Badezimmer. Nur das Bad ging zum Innenhof. Unter der Decke hatte es ein Fenster, das vermutlich allein dazu da war, bei Bedarf etwas Luft hereinzulassen, aber ich war groß genug, um auch hinaussehen zu können. Die Lichter der Wohnanlage strahlten in unregelmäßigen Quadraten. Am nächsten Morgen konnte ich dann die äußere Form dieser Muster erkennen. Die Gebäude waren alle identisch und in kräftigen, leicht unterschiedlichen Farben gestrichen; außerdem standen sie in einem seltsamen Winkel zueinander. An diesem Abend sah ich allerdings nur ein paar erleuchtete Fenster, und ich betrachtete sie mit dem guten Gefühl, an einem Ort angekommen zu sein, an dem andere Leute bereits (unerklärlicherweise) zu Hause waren.

Nach einer Weile verwandelte sich das Leuchten im nächstgelegenen Fenster zu verschwommenen Umrissen, und aus diesen Umrissen wurde ein Kopf, ein Arm, ein Kleid. Ich merkte, dass ich eine Frau mit langen Haaren betrachtete. Sie bürstete ihr Haar auf eine Art und Weise, die mich vermuten ließ – ich habe drei Schwestern –, hier eines der letzten stillen Rituale mitzuverfolgen, die ein Mädchen vor dem Zubettgehen praktiziert. Ich hatte geradezu Heimweh nach ihr, konnte mich nicht von ihr losreißen. Aber jemand oder etwas rief sie in ein anderes Zimmer, und ich starrte mit klopfendem Herzen weiter auf die leere Stelle, die sie zurückließ (nur eine von Vorhängen eingerahmte Wand), bis ich mit dem Gefühl einer erneuten Einsamkeit das Badezimmerlicht ausmachte und wieder ins Bett kroch.

4

Der Typ, der mich am Flughafen in Empfang genommen hatte, wollte im Auto wissen, warum ich «zum Basketballspielen so weit gereist» sei. Als ob er sich darüber auch schon den Kopf zerbrochen hätte. «War nur so ’ne Schnapsidee», sagte ich, und so kam es mir an diesem windigen, sonnigen Morgen beim Aufwachen auch tatsächlich vor. Es war schon so warm, dass ich auf dem Weg zur Halle ins Schwitzen geriet. Ich ging unter der stillgelegten Brücke durch und sah auf der anderen Seite ein paar Geschäfte, einen Zeitungskiosk, eine Bäckerei und eine kleine Kneipe namens Einhorn. Ein Mann im Overall stand an der Kellerluke und rollte Bierfässer nach unten. Die Dunkelheit der Kneipe war mit grünen Staubflecken durchsetzt; eine Frau mit Schürze nahm die umgedrehten Stühle von den Tischen. Anständige Arbeit, dachte ich, und ging weiter Richtung Fluss.

Er führte, wenn man ihm weit genug folgte, in südwestlicher Richtung nach München, die Stadt, die meine Vorfahren vor fast hundert Jahren verlassen hatten. Das Sportzentrum befand sich auf der anderen Seite, ein flacher, überdimensionierter Funktionsbau, wie ihn Stadtverwaltungen errichten. Zwei große Säulen flankierten den Haupteingang. Sonst deutete nichts auf die Erhabenheit der Wettkämpfe hin, die im Inneren stattgefunden hatten. Aufgeregt war ich nicht zuletzt (und darauf will ich hier hinaus), weil ich gleich herausfinden würde, ob ich auch wirklich gut genug war. Basketball ist natürlich ein Mannschaftssport, aber letztendlich beruht er auf dem einsamen Kampf, durch den man ihn erlernt hat: allein, auf dem Court meines Vaters, in heftigem Regen oder der noch heftigeren Hitze von eintausend texanischen Nachmittagen. Es kam mir vor, als müsste ich jetzt das Vorgestellte am wirklichen Leben messen.

Ein übergewichtiger junger Mann mit breiten Nasenlöchern wies mir den Weg zur Umkleide. Jeder, der schon mal in einer Mannschaft gespielt hat, kennt die Szenerie: dieser besondere Geruch, das kalte, intensive, schattenlose Licht, die Anti-Rutsch-Matten auf den Bodenfliesen und die abgenutzten Holzbänke. Es müffelt nach feuchtem Nylon und Fußpilz, man spürt so etwas wie Frontkameradschaft.

Der junge Darmstadt war schon umgezogen, als ich ankam, und suchte fieberhaft nach Basketbällen; er wollte, dass jemand mit ihm spielte. Aus einer Tasche am Boden quollen Trainingstrikots. Ich nahm eine kurze Hose und ein Oberteil und zog sie schweigend an: zum ersten Mal schlüpfte ich in die Rolle des Profisportlers. Olaf war auch schon da und sagte Darmstadt, er solle seinem eigenen Schweif nachjagen oder etwas in der Art – und ihn in Ruhe lassen. Manche von uns sind noch gar nicht richtig wach, sagte er und sah mich teilnahmsvoll an.

Ich ging los, um das Spielfeld zu suchen, und musste in den unbeleuchteten Gängen mehrmals kehrtmachen. Die Halle selbst war groß und schummrig und sah aus wie ein Flugzeug-Hangar. Der Boden war grün, Licht spiegelte sich ganz schwach darauf, was dem Platz eine beinahe unterirdische Düsterkeit verlieh. Jemand hatte die Basketbälle entdeckt, und das Echo des Aufpralls hallte von den hohen Aluminiumstreben zurück. Milo übte Jumpshots: werfen, einem Fehltreffer nachjagen, abrupt stehen bleiben, erneut werfen. Sein Atem war bereits deutlich zu hören.

«Young man», rief mir jemand zu, «young man.» Charlie wollte ein Eins-gegen-Eins; er warf mir den Ball außerhalb der Dreierlinie zu und nahm eine Verteidigungshaltung ein. «Dann lass mal sehen, was du draufhast», sagte er.

Ich fing entspannt an zu dribbeln, die ballabgewandte Seite zu ihm gedreht. Ich war nicht sicher, wie ernst ich das nehmen sollte, aber er bückte sich und grabschte nach dem Ball, doch seine Handflächen schlugen auf den Boden.

Charlie nahm mich als Rechtshänder, was mir im Grunde auch lieber ist. Die meisten rechtshändigen Spieler sind Linksfüßler – so halten sie beim Springen die Balance. Ich bin da eine Ausnahme. Nach der Schule hatte ich immer stundenlang geübt, an imaginären Gegenspielern vorbeizudribbeln und zu werfen. Ein innerer Kritiker beurteilte mich dabei: war ich schnell genug etc. Aber der eigentliche Punkt war, dass ich mir dabei die Ticks und Marotten eines Autodidakten zulegte. Außerdem noch die eine oder andere falsche Schreibweise, also das sportliche Äquivalent dazu. Jedenfalls ziehe ich gern mit links, deshalb wechselte ich vor ihm die Seite, hielt beim Hochspringen des Balls inne und ging an ihm vorbei.

«Mach das noch mal», sagte er, nachdem der Ball im Korb gelandet war. «Und noch mal», meinte er, als ich den Move wiederholt hatte. Diesmal drehte ich mich aber aus dem Dribbellauf und versenkte einen Fünfmeterwurf, während er noch versuchte, mich einzuholen. Schon ganz außer Atem, die Augen gegen den Schweiß zusammengekniffen, hörte ich mein Herz in den Ohren trommeln. Das war der Rhythmus zu einem stillen Refrain der Selbstbeglückwünschung: du kannst das, du kannst das. «Young man», sagte Charlie und rieb sich die Hände, «jetzt kommen wir langsam zur Sache» – aber Herr Henkel blies in seine Trillerpfeife und rief uns in die Mitte des Spielfelds.

Was folgte, waren eineinhalb Stunden Routine-Übungen. Henkel war ein technikorientierter Trainer. Die Session war bis auf die Minute genau auf einem Klemmbrett notiert, das er mit dem Handgelenk an die Hüfte presste. Nicht dass er etwas gegen eine Abwechslung gehabt hätte. Nach der Hälfte des Trainings ließ er uns bei einer Runde Freiwürfe verschnaufen, nur wurde er nach ein paar müden Airballs sauer und drohte dem gesamten Team für jeden weiteren Fehltreffer Suicides an. Ein Suicide ist wie ein Hundert-Meter-Sprint auf dem Gefängnishof, immer hin und her, deshalb war die Halle erfüllt vom Quietschen überdehnter Sneaker und dem Klatschen von Händen, die auf den Boden schlugen.

Ich warf meine beiden daneben. Das Blut in meinem Kopf hatte begonnen, meinen Blick einzufärben wie eine Quetschung. Charlie warf ebenfalls einen daneben. Er hatte eine merkwürdige Wurftechnik, eine Korkenzieherdrehung, die irgendwo hinter seinem Kopf begann. Zwischen den Grundlinien war er auch nicht gerade der Schnellste (diese Ehre gebührte Milo, der das sehr ernst nahm), und ich fragte mich, ob Charlie wirklich der Mannschaftskapitän war. Um Viertel vor elf öffnete Henkel die Türen, und ein paar beleibte Männer in Krawatten und Freizeithosen strömten lächelnd herein, in der Hand Fotoapparate oder Notizbücher. Mittlerweile konnte ich fast nicht mehr aufrecht stehen.

Der Trainer teilte uns in Fünfergruppen ein. Olaf und ich spielten zusammen mit Plotzke und Darmstadt. Plotzke war ein richtiges Vieh, mit dickem Bauch und den hochgezogenen Schultern eines Buckligen: seine Stimme hingegen war sanft, fast schon weinerlich. Er studiere BWL, pausiere derzeit aber für ein Jahr, erklärte er mir in einer kleinen Unterbrechung. Das hier sei nur eine Art Urlaub, sagte er und lächelte mit hochrotem Kopf. Charlie hatte Karl an der Seite, außerdem Milo und eine lange Bohnenstange mit Bürstenschnitt namens Michel Krahm, der sich wie ein Insekt bewegte und den ganzen Tag noch nichts gesagt hatte. Dabei hatten die meisten von uns etwas gefunden, über das sie sich beschweren konnten.

Gern würde ich sagen, dass wir ihnen halbwegs gewachsen waren. Nur verstand ich jetzt, was Charlie beim gestrigen Mittagessen demonstriert hatte: warum ihn jeder seine Sprüche klopfen ließ. Er dribbelte hoch und wütend (obwohl er der kleinste Spieler auf dem Feld war) und schlug den Ball wie einen Gerichtshammer zu Boden, während er sich über das Feld bewegte. Dabei hatte er die ganze Zeit den Mund auf, schrie herum und sagte den anderen, was sie tun sollten. «Backdoor, backdoor», rief er irgendwann. Milo sah ihn verständnislos an, und Charlie warf einen Pass, der ihn voll im Gesicht erwischte, zog Richtung Korb, griff sich den wegspringenden Ball und versenkte ihn. «Gutes Zuspiel», sagte er dann und rannte zurück in seine Hälfte.

Später, nach einem langen Rebound, schickte Olaf mich auf einen Fast Break. Nur Charlie war zurückgelaufen. Ich hatte ihn ganz für mich allein, direkt an der Freiwurflinie, und spulte den Seitenwechsel ab, mit dem ich ihn vorher ausgetrickst hatte. Nur schnappte er sich diesmal den Ball so schnell, dass ich mich noch in die Bewegung beugte, als er schon längst wieder weg war. «Schön wär’s», rief er mir über die Schulter zu. «Aber nicht mit mir …»

Die eigentliche Offenbarung dieses Trainings war jedoch Karl. Ich weiß nicht, ob er schneller oder stärker war als wir, oder woran es sonst lag. Er schien sich in einer komplett anderen Dimension zu bewegen. Einmal wollte ich ihm den Weg versperren und sah ihn schon einen Moment später, als ich mich noch fragte, wohin er verschwunden war, hinter mir am Rand des Korbs hängen. «Look at the Kid!», rief Charlie. «Look at the Kid!»

Charlies Art, seine Teamkollegen zu loben, hatte etwas Großkotziges, aber der Spitzname blieb haften. Sogar die Lokalzeitungen übernahmen ihn. (Die Deutschen haben eine merkwürdige Vorliebe für englische Bezeichnungen.) Irgendwie überdeckte der Spitzname jedoch die Tatsache, dass Karl tatsächlich noch ein Kid war, ein siebzehnjähriger Junge, der nervös in die Rolle schlüpfte, die ihm sein Talent auferlegt hatte. Er hatte die Angewohnheit, sich bei den Jumpshots nach hinten zu lehnen, geradezu lachhaft bei einem Zwei-Meter-noch-was-Mann; versuchte zu viele Dreier und traf oft nur den vorderen Korbrand; schlief in der Abwehr und fuchtelte dann wild mit den Armen, um den Boden wiedergutzumachen, den seine Füße nicht gewonnen hatten.

Genau deshalb konnten wir sie auch fast besiegen. Karl ließ mich bis an die Dreierlinie vor, und ich konnte die Augen scharf stellen und einen Zweier versenken, bevor er überhaupt reagierte. Beim nächsten Mal zog Charlie ihn von mir ab (gewaltsam, mit beiden Händen) und bedrängte mich, kaum dass ich die Mittellinie überquert hatte. Ich kämpfte mich bis zu den Blocks vor und ging dann wieder leicht zurück. Olaf deckte mich an der Freiwurflinie, und ich drehte mich raus, fing den Pass und ging hoch, um zu werfen. Ich bin fünfzehn Zentimeter größer als Charlie, und er wusste, dass er meine Wurfhand nicht erreichen konnte. Stattdessen boxte er mir den Handballen in den Bauch. Der Ball senkte sich weit vor dem Korb, während ich ein Foul reklamierte. Der Trainer saugte an seiner Pfeife, pfiff aber nicht, und Charlie rief mir augenzwinkernd zu: «Ich dachte, das hier ist ein Sport für Männer.» Karl jagte da bereits über den Flügel nach vorne, und Charlie bekam von hinten den Outlet. Er faltete den Ball aufs Handgelenk wie eine Teppichrolle und schickte einen weiten Bogenpass über das Spielfeld, der Karl mitten im Lauf erreichte. Er dunkte ihn, ohne auch nur abzubremsen, und ließ sich von der Wucht seines Sprints wieder zurücktragen.

Das Spiel war aus. Fotoapparate blitzten, und am nächsten Tag konnte ich in der Zeitung seinen Gesichtsausdruck sehen. Ein barbarischer Aufschrei, würde ich sagen – außer dass seine Augen, die weit aufgerissen waren, eher besorgt als glücklich wirkten. Ich betrachtete das Foto (es gab noch eines, auf das ich gleich zu sprechen komme) am nächsten Morgen mehrere Minuten lang, während ich mein müdes und so gut wie appetitloses Frühstück einnahm. «Riesenschritte» lautete die Bildunterschrift, mir kam jedoch eine ganz andere in den Sinn, die seine Miene viel besser beschrieb: Stilles Gebrüll. Er imitierte die Stars, die er aus dem Fernsehen kannte, die meisten davon schwarz, hatte allerdings noch nicht gelernt, die Wut oder Freude zu empfinden, die sie angesichts ihrer Fähigkeiten verspürten und im Spiel zum Ausdruck brachten. Karl jubelte, weil man das irgendwie von ihm erwartete.

Die Zeitung hieß Bayrisches Bauernblatt. Auflage: zwanzigtausend. Ich war früh aufgestanden, um mir einen Liter Milch zu kaufen, und hatte sie in dem Laden am Fuß des Hügels mit eingepackt. Die meisten Meldungen drehten sich ums Wetter, die Preise für Viehfutter, das Landwirtschaftsministerium etc. Sie wurde hier in der Stadt gedruckt, mit einer altmodischen Presse, direkt in der Redaktion. Diese befand sich im zweiten Stock eines Bürgerhauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, das gegenüber dem Theater am anderen Flussufer stand. Im Stockwerk darunter war der hiesige Lokalsender angesiedelt, der sich eine Reihe von Mitarbeitern mit der Zeitung teilte. Die beiden Fotos zierten die Titelseite. Nach dem Frühstück schnitt ich das zweite aus, um es nach Hause zu meinen Eltern zu schicken. Sie bewahrten es auf, steckten es in einen Rahmen und gaben es mir wieder, als ich ein paar Jahre später danach fragte. Ich betrachte das Foto gerade.

Mein jüngeres Ich sieht mich an – auf dem billigen, dünnen Papier zu nichts als einem Umriss verblasst. Ein Tropfen Milch, auf irgendjemandes Schuhe gekleckert, hat sich über die Jahre in ein zartes Violett verwandelt. Es ist ein Mannschaftsbild, zweireihig arrangiert. Die vorderen knien: Charlie Gold, Willi Darmstadt (grinsend wie der Schulbub, der er war), Milo Moritz und Herr Henkel. Die größeren Spieler in der hinteren Reihe stehen Arm in Arm; Karl hat seine Hand auf meiner Schulter. In einem Anflug von Vermessenheit liegt meine Handfläche auf Charlies Kopf, auf dem, was von seiner Lockenpracht noch übrig ist. «Spieltage» lautet die Bildunterschrift.

Die Fotoapparate sorgten für Ausgelassenheit, daran erinnere ich mich. Ich meine damit nicht nur das Bild an sich, sondern die Gegenwart der Fotografen. (Die Presse tauchte nie wieder bei einem Training auf.) Sie verwandelten die düstere Halle am Rand einer bayrischen Kleinstadt in einen Ort mit Bedeutung; sie machten uns zu Basketballspielern. Nur ein paar Zeilen Text haben die Rahmung des Fotos überlebt. Herr Henkel, steht da, hat eine Reihe junger Talente ins Team geholt, um den Sprung in die Bundesliga zu schaffen. Er sagt, Charlie Gold, der Star der letzten Saison, sei genau der Richtige, um sie zu Höchstleistungen anzutreiben. Das einzige Fragezeichen ist Hadnots Knie; ob er sich vor Saisonbeginn von seiner Operation erholt. Für den Fall der Fälle wurde ein junger Amerikaner verpflichtet, der ihn ersetzen kann …

5

Die Yoghurts waren eine Abteilung des örtlichen Sportvereins, und bei Weitem nicht die wichtigste. Ein paar der Eishockeyspieler, hieß es, verdienten im sechsstelligen Bereich. Wir dagegen teilten uns die Halle mit einem Dutzend anderer Sportarten und Kurse. Am Mittwochabend etwa fand vor unserem Training Aerobic für Über-Fünfzigjährige statt. Wenn die Glocke bimmelte, ging eine Gruppe grauhaariger Frauen in Gymnastikanzügen vom Feld, um es uns zu überlassen. Oft mussten wir erst noch die Turnmatten aufräumen, bevor wir loslegen konnten.

Herr Henkel hatte große Pläne und war der Überzeugung, sie durch harte Arbeit realisieren zu können. Er wollte zwei Trainingseinheiten pro Tag und bekam sie auch: von zehn bis zwölf am Vormittag und dann abends noch mal von acht bis zehn. Es gab viele Klagen über diese Abendsessions. Man wusste nicht, wann man essen sollte, und wenn wir dann nach Hause kamen, total kaputt und verschwitzt, waren wir meist auch zu aufgedreht zum Schlafen. Außerdem musste ich bis elf warten, bis ich duschen konnte, sonst hätte ich gleich wieder zu schwitzen begonnen. In der Regel schob ich mir danach nur noch einen kleinen Happen rein, meist irgendwas Kaltes, das vom Nachmittag übrig war.

Morgens war es nicht viel anders. So um sieben stopfte ich mir etwas Toast und eine Schüssel Flockenzeug in den Mund und versuchte danach, noch einmal die Augen zuzumachen, bevor ich zur Halle ging. Am merkwürdigsten waren die langen, nutzlosen Nachmittage, die sich von zwölf bis acht erstreckten und nichts anderes zuließen, als dass man Hunger bekam. Ich nahm im ersten Monat fünf Kilo ab. Alles, was ich machen konnte, alles, was ich machen wollte, morgens, mittags oder wenn ich mit ausgedörrter Kehle mitten in der Nacht aufwachte, war trinken.

Andere Clubs trainierten oft nur drei Mal pro Woche. Sie hatten ein paar Vollzeitprofis; der Rest der Spieler organisierte andere Tätigkeiten um die Trainingseinheiten herum. Olaf war es, der mir eines Nachts in meiner Wohnung bei kaltem Brathuhn erzählte, dass Henkel für seine Mannschaft nicht viel hinlegen musste. Für sich selbst dagegen hatte er ein hohes Gehalt heraushandeln können, indem er dem Vereinspräsidenten klarmachte, er werde auch mit mittelmäßigen Spielern Erfolg haben. Olaf sah mich an, als wollte er sagen: Nimm mir das nicht krumm. Erst da verstand ich, was er meinte – ich war einer der Spieler, die billig eingekauft worden waren.

Wir saßen in meiner Küche, die keine Vorhänge hatte. Die dunkle Landschaft draußen ließ die einsame Lampe in den Fensterscheiben erstrahlen. Dicke Pferdebremsen aus den Ställen auf der anderen Straßenseite landeten auf dem Backblech; ab und an verscheuchten wir sie mit der Hand. Olaf war ein Nörgler – das fand ich charmant. Trotz seiner immensen Gemütsruhe; trotz seiner offenbar reichhaltigen körperlichen Vorzüge. Was mir gefiel, war seine Art, ohne viel Nachdruck mit der Welt unzufrieden zu sein. Er fand immer etwas, an dem er herummeckern konnte, ließ sich aber nie davon stressen.

«Ist mir egal, wenn sie knapp bei Kasse sind», sagte er, «aber Henkel sollte nicht damit angeben.» Henkel habe die Besitzerin, eine ältere Dame namens Frau Kolwitz, gefragt, was sie lieber wolle: einen teuren Trainer oder teure Spieler. «Sie antwortet nicht. Er erklärt ihr: ‹Es gibt nur einen Trainer, aber zwölf Spieler. Ich an Ihrer Stelle würde den teuren Trainer einkaufen.›»

«Woher weißt du das?», fragte ich. Es war schon fast Mitternacht, und Olaf hatte sich noch einen Stuhl geholt, um die Füße draufzulegen.

«Weil er es mir erzählt hat! Genau das meine ich ja: Er ist ein Angeber. Er kann einfach nicht anders. Zweimal hat er mir die Story schon erzählt. Mir ist das egal, ist nicht meine Sache, aber wer muss dafür bezahlen? Also unterm Strich? Wir – zweimal täglich, und das im August. In der zweiten Liga des Deutschen Basketballbunds. So was hab ich echt noch nie gehört. Ich sag’s dir, die anderen in der Liga lachen sich kaputt. Die sind jetzt irgendwo am Strand mit ihren Freundinnen: so bereiten sich andere Mannschaften vor. Da muss man Hadnot bewundern. Der macht das clever, verletzt sich immer rechtzeitig zum Saisonende und kann dann den Sommer über pausieren. Henkel ist natürlich sauer deswegen, aber machen kann er letztendlich nichts. Er denkt, dass er dieses Jahr auf ihn verzichten kann, wegen Karl, aber das ist ein Fehler. Karl ist zu jung; ein großes Talent, ja, aber einfach zu jung. Und egal, wie viel wir im August auch rennen, egal wie fit wir werden – wir sind trotzdem nur durchschnittliche, preisgünstige Basketballspieler. Und er ist auch nicht gerade ein Supercoach.»

Olaf hatte allerbeste Laune. So zu reden, baut einen trotz allem irgendwie auf. Was er sagte, war: Auch wenn du nicht besonders gut bist, und sie dich wie einen Köter dressieren, weißt du wenigstens, was Sache ist.

Wobei mir persönlich die Lauferei gar nichts ausmachte. Sie ermüdete die Einsamkeit, die ansonsten meine Tage ausgefüllt hätte. Ich tat nichts außer rumliegen, essen, trinken, duschen und Basketball spielen. Für anderes hatte ich keine Zeit, und obwohl jeder Nachmittag zur freien Verfügung stand, war es nicht nur mein Puls, der langsamer wurde. Ich erwartete von den Tagen etwas weniger als früher. Und am Ende des Monats konnte ich dem Bus nachrennen und für mein Ticket bezahlen, als hätte ich an der Haltestelle gestanden. Ich fing sogar an, anders zu gehen. Ich bin so fit wie noch nie, sagte ich eines Morgens vor dem Training zu Herrn Henkel, aber ich komm fast nicht aus dem Bett, ich kann fast nicht zur Halle gehen. Ja, erwiderte er (er hatte mich verstanden), aber du könntest in einer Minute zur Halle laufen – ist es das, was du meinst? Es ist wunderbar zu wissen, was der eigene Körper vermag. Speziell wenn man jung ist, bevor sich dann alles in Fett verwandelt.

Trotz der Dinge, die Olaf erzählt hatte, gefiel mir Henkel immer besser. Er war etwa so groß wie mein Vater, also rund einen Kopf kleiner als ich, und sein buschiger Schnurrbart erinnerte mich an meine Kindheit – an die Freunde meines Vaters, die am Beginn ihres Familienlebens standen. Ich sah sie immer beim Mitarbeiterpicknick, wo sie Frisbee spielten, oder auf dem Fußballplatz beim Sonntagskick der Jura-Fakultät. Sie rochen nach Aftershave und Schweiß.

Sie gehörten einer anderen Generation an. Ein Kollege meines Vaters, der zufällig auch in der gleichen Fraternity war, hatte ein Basketball-Stipendium an der Cornell University erhalten; in seinem dritten Jahr dort, 1958, erreichte er mit seinem Team das Halbfinale des National Invitation Tournament. Früher habe ich öfters mal gegen ihn gespielt: ein jüdischer Mittelschichts-Typ mit flinken Händen und scharfem Verstand. Jemand wie er würde es heute nicht einmal in ein Highschool-Team schaffen, und trotzdem waren es seine Erfolge, an denen ich mein eigenes Versagen maß, während mein Vater dem Mannschaftsbus durch Texas folgte, um mich auf der Bank sitzen zu sehen. Ich wollte, dass er mir jetzt zusah. Das konnte er natürlich nicht, aber Herr Henkel konnte es und tat es auch, noch dazu auf