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Unruhiges Treiben am Gehege der Tiger. Als das Raubtier aus dem Wasser steigt, findet die Idylle im Cottbuser Tierpark ein abruptes Ende: Aus dem Maul des Tiers ragt ein menschlicher Arm. Kommissar Peter Nachtigall und sein Team nehmen die Ermittlungen auf. Passt der Arm zu der aktuellen Vermisstenmeldung? Und wo sind die anderen Leichenteile? Nachtigall gerät in ein Geflecht aus gefährlichen Geheimnissen und rätselhaften Familienbanden.
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Seitenzahl: 346
Veröffentlichungsjahr: 2018
Franziska Steinhauer
Spreewald-Tiger
Peter Nachtigalls 11. Fall
Alte Wunden Reges Gedränge am Gehege der Tiger im Cottbusser Tierpark, als ein Raubtier dem Wasser entsteigt – einen menschlichen Arm im Maul. Laut Rechtsmediziner ist dieser laienhaft vom Körper getrennt worden. Gehört die Gliedmaße der kürzlich vermisst gemeldeten Journalistin Corinna Waller? Ein Brand hindert Nachtigall an der Suche nach Hinweisen in der Wohnung der Vermissten. Ein Zufall? Oder werden die Ermittlungen Nachtigalls sabotiert? Corinnas Freund Florian berichtet dem Kommissar von einem Unbekannten, der sie seit einiger Zeit beim Joggen verfolge. Mit ihm hatte Corinna sich auf ein Katz-und-Maus-Spiel eingelassen, suchte den Kick darin, ihm überlegen zu sein – mit tödlichen Konsequenzen? Nachdem Florian kurze Zeit später brutal überfallen wird, nehmen die Ermittlungen eine ganz neue Wendung. Kommissar Nachtigall gerät in einen Wettlauf um Leben und Tod …
Franziska Steinhauer lebt seit 1993 in Cottbus. Sie studierte Pädagogik mit den Schwerpunkten Psychologie und Philosophie sowie Forensik. Ihre psychologisch fundierten und ausgefeilten Kriminalromane vermitteln dem Leser tiefe Einblicke in das pathologische Denken und Agieren der Täter. Mit besonderem Geschick verknüpft sie dabei mörderisches Handeln, Lokalkolorit und Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ihre forensische Ausbildung ermöglicht der Autorin authentische Schilderungen der kriminaltechnischen Untersuchungen ihrer Ermittlerteams.
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Alle Rechte vorbehalten
2. Auflage 2020
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © dioxin/photocase.de
ISBN 978-3-8392-5686-2
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Schrei gellte durch die Wohnung.
Die Jungs zogen synchron die Köpfe zwischen die Schultern, hielten sich die Ohren zu.
In der winzigen Wohnung konnte man keinem Schicksal ausweichen – ob es nun das eigene oder das der anderen war. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Ein gewaltbereiter Vater. Vier Jungs. Und eine schwangere Mutter.
»Benni! Benni! Benni!«
Der Gerufene entwirrte seine Beine aus dem Lotussitz, den er nun, nach Wochen des Übens perfekt beherrschte, stand mühsam auf, trat in den Flur, öffnete widerwillig die Tür zum angrenzenden Zimmer.
»Benni!«, keuchte die Mutter, vornüber gebeugt, mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Hol Oma!«
Er drehte sich wortlos um.
»Und Benni! Nimm deine Geschwister mit. Bleibt alle in Omas Wohnung. Du bist der Vernünftigste, ich verlasse mich drauf, dass ihr euch benehmt. Kommt erst zurück, wenn Oma euch schickt. Hast du das verstanden?«
Der Hinterkopf deutete ein Nicken an.
»Benni! Oma soll sich beeilen.«
Wenig später hörte sie die Tür zufallen. Atmete auf. Wenn das Schicksal ihr gnädig wäre, wurden die Kinder tot geboren. Sie könnte trauern – und gut.
Doch das Schicksal hatte anderes vor.
Als ihre Mutter endlich kam, war die Geburt schon im Gange.
Schreiend und stöhnend wand sich die Tochter auf der Schlafcouch.
Warmes Wasser, ein paar trockene Tücher. Schnell war alles vorbereitet. Schließlich waren sie ein eingespieltes Team. Dies: schon die dritte Entbindung. Und sie dauerte nicht lang.
Nach wenigen Minuten war das erste Köpfchen durchgeschlüpft, der Körper keine Hürde, dann Nummer zwei. Die Mutter glitt in einen Zustand der Wahrnehmungslosigkeit hinüber. »Sind da noch mehr?«, fragte die Gebärende hysterisch, als ihr Denken wieder aufklarte. »Warum immer bei mir?«
»Das sind alle. Sehen gesund und hungrig aus.« Die Helferin war zufrieden. Badete die Kinder und zog sie an. Wollte sie der Mutter reichen, doch die nahm nur eins.
»Lauf in die Postgasse. Dort wohnt die Frau, die mich neulich angesprochen hat. Bring ihr das Gör. Sie kann es haben – aber ich will weder sie noch das Kind je wiedersehen. Sag ihr das. Sie soll wegziehen und über die Umstände ihrer Mutterschaft auf ewig schweigen!«, verlangte sie atemlos. Legte sich zurück und schloss erschöpft die Augen.
»Ist das dein Ernst?«
»Ja. Es ist genug. Sieh mich doch an! Sechs Kinder! Und der Mann nie da. Was natürlich auch sein Gutes hat. Ist er da, prügelt er sich eh nur durch! Es reicht.«
Die Großmutter tupfte der Tochter den Schweiß von der Stirn. Gab ihr etwas zu trinken. Schob die Nachgeburt in einen Sack. Nahm die blutigen Tücher von der Couch, knüllte sie in eine Reisetasche. »Die nehme ich zum Waschen mit. Das andere werfe ich in den Müll. Mach dir keine Gedanken um die Jungs, die sind bei mir gut versorgt.«
Der flehende Blick ihrer Tochter. Ihre heiße Hand auf dem Unterarm. Die eindringlichen Worte. »Tu es! Tu es für mich und die Jungs! Es ist gut, die Frau wünscht sich so sehnlich ein Kind. Sie wird tun, was ich verlange, und das Kind in Liebe großziehen! Es ist nichts Unrechtes dabei, wir nehmen von ihr kein Geld. Dem Kind wird es bei ihr besser gehen als bei uns!«
»Aber du wirst es nicht zurückbekommen, wenn du es dir anders überlegst«, mahnte die lebenserfahrene Frau ihre Tochter. »Es ist für immer. Und es ist nicht nach dem Gesetz.«
»Das Gesetz sieht auch nicht vor, dass man ständig Kinder gebären muss. Ich kann nicht mehr! Wenn du es nicht tust, sterbe ich. Es ist nicht zu schaffen.«
Und so tat die Großmutter, wie man sie geheißen hatte. Drückte der wildfremden Frau ein Bündel Handtücher in die Hand. Richtete aus, was zu bestellen war, und machte sich auf den Weg, in ihre eigene Wohnung zurückzukehren, um den wartenden Enkeln etwas zu essen zu kochen.
Danach würde sie noch mal nach ihrer Tochter sehen. Und, wenn alles wohl geordnet war, die Jungs nach Hause schicken. Schließlich musste sie am nächsten Morgen früh zur Arbeit, die Jungs in die Schule und in die Tagesstätte.
Wenigstens wären sie dann nicht zu Hause, und ihre Tochter konnte sich ein wenig erholen.
Ich backe noch einen Kuchen, überlegte sie, damit die Jungs Frühstück haben. Und so dachte sie auf dem Heimweg darüber nach, wie sie aus dem, was sie noch in ihrem Vorratsschrank hatte, ein leckeres Essen und später einen gehaltvollen Kuchen backen konnte.
Denn alle in der Familie sahen aus, als hätten sie mal wieder eine richtige Mahlzeit nötig.
Den verschenkten Säugling hatte sie schon fast vergessen.
Er war wieder da. Nicht zu überhören. Anschleichen beherrschte er nicht. Lautloses Verfolgen schon gleich überhaupt nicht. Ein Dilettant! Sie grinste abschätzig. Na, der würde sich wundern! Dem würde das hier für alle Zeiten vergehen. Dafür würde sie schon sorgen.
Unbeeindruckt joggte sie weiter, blieb in ihrem gleichmäßigen Rhythmus. Zufrieden bemerkte sie, dass sich nicht einmal Atmung oder Puls beschleunigt hatten. Alles bestens.
Ratschend wurden die Fasern eines Klettverschlusses voneinander getrennt.
Sie überlegte amüsiert, ob es jetzt schon Hosen für Dumme gab, die den Reißverschluss nicht öffnen oder schließen konnten. Dann kreisten ihre Vorstellungen um die Frage, ob er wohl seine »Jagdhose« speziell hatte umarbeiten lassen. Damit es im entscheidenden Moment weder eine Verzögerung noch eine schmerzhafte Einklemmung geben konnte. Baumelte jetzt das wichtigste Körperteil für die Feierabendgestaltung frei in der Luft? Sie unterdrückte ein lautes Auflachen. Wie peinlich für ihn, wenn ihnen nun unerwartet jemand entgegenkam? Und so was von behindernd beim Joggen. Sie zog das Tempo ein wenig an.
Er schnaufte hinter ihr her.
Seit mehr als zwei Wochen dieses blöde Spiel! Sie hatte erwartet, sein Trainingszustand würde sich durch die Extraportion Sport deutlich verbessern, aber dem war wohl nicht so. Vielleicht, spann sie den Gedanken weiter, lag das schwere Atmen an der Verkrampfung der Muskulatur, wenn er sich das für ihn erwünschte Ende des Laufs vorstellte. Der Typ musste lernen, lockerer zu werden! Oder onanierte der etwa beim Laufen? Ging das überhaupt? Wahrscheinlich nicht. Wegen der vorangehenden Körperanspannung. Dann konnte man nicht gleichzeitig joggen – unmöglich.
In der Dunkelheit des Waldes könnte er ihr näherkommen. Sie hätte ihn erst erkennen können, wenn er praktisch gleichauf mit ihr war. Doch in der Regel gab er plötzlich auf. Kam ihr nie nah genug.
Ihre Kondition war für ihn nicht zu knacken, bei ihr gab es immer noch eine Gangreserve, wenn sein Akku schon vollkommen ausgetrocknet war.
Das war der Reiz an diesem Spiel, dem sie sich, aus Gründen, die sie nicht erklären konnte, jedes Mal wieder hingab. Natürlich wusste sie sehr gut, dass die Verschärfung des Tempos seinen Jagdtrieb verstärkte, er auch versuchte, den Takt zu erhöhen. Es aber eben nicht konnte. Im Gegensatz zu ihr. Das stellte sie an jedem dieser Abende voller Triumph fest. Sobald sie in den Wirtschaftsweg am Tierpark vorbei einbog, war er weg.
Als nichts mehr von ihm zu hören war, nahm sie das Tempo zurück. Blieb sogar für einen Moment am Zaun stehen und spähte zum Tigergehege hinüber. Die wunderschöne Raubkatze faszinierte sie. Auch wenn sie nichts erkennen konnte, so spürte sie doch der Kraft des Tieres nach, ihrer Aura von Gefahr und ihrem Gefühl der Überlegenheit. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie beobachtet, wie die Gestreifte jeden der Besucher durch die Scheibe ihres neuen Geheges intensiv musterte, als taxiere sie, ob sich ein Angriff lohne, die Futterausbeute bei dieser fußlahmen Beute ausreichend sei. Vom Blick dieser unglaublichen Augen gestreift zu werden, löste ein elektrisierendes Gefühl aus. Fast hatte sie das Knistern der Spannung in ihrem Körper hören können.
Schade, dass man nicht näher an das Tier herankonnte. Gern hätte sie versucht herauszufinden, ob es zwischen ihr und der eleganten Kara eine stille Seelenverwandtschaft gab.
Sie lief ein Stück weiter am Zaun entlang, bis sie in Karas früheres Gehege sehen konnte. Dort wohnten nun zwei Kater. Sumatratiger. Sie sahen völlig anders aus als die edle Katze, an der ihr Herz hing. Aber schön waren auch sie, keine Frage. Junge Männchen, die sich hier im Tierpark zu stattlichen Großkatzen entwickeln würden.
Sie drehte sich um. Wollte ihren Schritt wieder aufnehmen. Da stand der Typ direkt neben ihr! Hatte sich lautlos wie ein Raubtier angeschlichen. Wollte den Augenblick der Überraschung für seine Zwecke nutzen! Er war so unmittelbar, dass sie ihn erkannte.
»Ach du bist das! Sag mal, wieso schleichst du mir hinterher?« Sie lachte. Hörte, dass es erschrocken, ja hysterisch klang. »Du hättest doch bei mir klingeln können, wenn du was zu besprechen hast.« Ärgerlich lauschte sie ihren Worten nach. Was rede ich nur für einen Schwachsinn, schimpfte sie in Gedanken. Registrierte alle Dinge auf einmal: den entschlossenen Blick ohne jedes Gefühl (keine Spur von ungezügelter Lust!), die geschlossene Hose (er war also gar nicht auf Sex aus?), die geöffnete kleine Gürteltasche (daher war also das Ratschen gekommen!), das Messer in seiner Hand (Scheiße!) …
Die kurze, kraftvolle Bewegung, der heiße Schmerz …
Als sie zu Boden ging, er ein weiteres Mal auf sie einstach, brüllte er: »Nicht mit mir, du geldgierige Schlampe! Nicht mit mir!«
Doch das hörte sie schon nicht mehr.
Es raschelte.
Besorgniserregend. Oder eher nicht?
Eine Maus vielleicht, überlegte der Mann, der sich nun schon seit Stunden im Gebüsch verborgen hielt. Unbehaglich wurde ihm dennoch. Gab es nicht Wölfe in dieser Gegend? Dieser Problemwolf, von dem mal in der Zeitung stand, hatte man den eigentlich im Griff? Er erinnerte sich nicht genau, aber dunkel war ihm, als hätte man den Wolf in Sachsen getötet. Schade, Bedauern machte sich in ihm breit. Er seufzte. Umbringen musste man diese wunderschönen Tiere nun auch wieder nicht. Schließlich lebte der Mensch im Urgebiet des Wolfes, er war der Eindringling – man musste sich arrangieren. Bestimmt kein Wolf, beruhigte er sich.
Konnte es wahr sein – Adrenalin puschte Körper und Geist erneut, er wagte es kaum zu hoffen –, würden sie diesmal endlich Erfolg haben? Er spannte die Muskulatur an, damit sie sich darauf vorbereiten konnte, spürte, wie sich Rücken und Beine bereitwillig zur Verfügung hielten. Einen so stattlichen Körper wie den seinen explosiv zu beschleunigen, war schließlich keine leichte Aufgabe, und die Position, die er als Lauerstellung eingenommen hatte, keineswegs zum bequemen Start geeignet.
Aber wahrscheinlich kam das Rascheln doch von einer Maus.
Er lauschte angestrengt. Hielt den Atem an. Nichts. Nächtliche Stille. Wie bei all den anderen Wachen in den vergangenen Wochen. Enttäuscht lockerte er sich wieder. Die Alarmbereitschaft wich allerdings nur zögernd aus seinem Körper.
Die anderen saßen jetzt bei Bier und Chips, guckten Fußball. Und er unterm Busch! Da war es nur ein mäßiger Trost zu wissen, dass die vier, die ebenfalls für heute eingeteilt waren, ganz in der Nähe so wie er warteten, hofften, vielleicht ein bisschen befürchteten. In Rufweite. Damit man sich gegenseitig zu Hilfe kommen konnte. Im Ernstfall. Der nur partout nicht eintreten wollte.
Kathi war so was von sauer gewesen, als er loszog.
»Du bist vollkommen übergeschnappt! Es ist Wochenende! Glaubst du ernsthaft, ich hatte vor, den Abend allein mit dem Kater auf der Couch zu verbringen? Bist du komplett verrückt geworden?«, schrillte sie durch die neue Einbauküche, und er zog die Ohren zwischen die Schultern.
»Ach ja? Denkst du, ich könnte mir auch nichts Schöneres vorstellen, als draußen im Unterholz auf Einbrecher zu warten? Echt! Ich habe diese ganze ›Bürgeraktion‹ nur noch tierisch satt!«
»Pass bloß auf, Bernhard, dass ich dich nicht satt bekomme! Glaub ja nicht, es gäbe keine anderen Interessenten. Und wer weiß, möglich, dass ich auch an einem mehr interessiert bin, der seine Zeit mit mir verbringt, als an dir! Du Wächter!«, spuckte sie.
Ein richtiger Streit entwickelte sich. Nun gut, hätte sich entwickeln können, wenn er nicht hätte aufbrechen müssen.
Kathi schimpfte böse Vokabeln hinter ihm her – tatsächlich kannte er einige der Schimpfwörter überhaupt nicht, hätte nie geahnt, dass sie so was in ihrem Repertoire hatte – und seine Laune sackte in bisher unausgelotete Tiefen.
Als ob man sich in dieser Situation einer Gemeinschaftsaktion verschließen könnte! Ausgeschlossen, unmöglich, undenkbar, inakzeptabel. Er würde ihr das noch einmal zu erklären versuchen. Später.
Ein Knacken! Näher diesmal.
Wie elektrisiert nahm er wieder die Raubtiersprunghaltung an. So riesige Mäuse gab es hier nicht! War da also doch ein widerlicher Herumschleicher unterwegs? Oder nur einer der anderen Posten, der ein menschliches Bedürfnis »abarbeiten« musste?
Plötzlich! Eine Bewegung direkt neben ihm!
Es kam ihm vor, als könne er die Körperwärme des Bösen auf seiner Haut spüren.
Er schnellte mit einem Panthersatz vor.
Geschmeidig.
Kraftvoll.
Energiegeladen.
Die Arme vorgestreckt.
Die Hände gierig geöffnet.
Bekam Stoff zu fassen. Griff fester nach. Spürte Substanz zwischen den Fingern. Sein schieres Körpergewicht und der Schwung des Zusammenpralls rissen den anderen von den Füßen.
»Ich hab’ ihn!«, brüllte der Wächter. »Ich hab’ ihn!«
Nur undeutlich nahm er wahr, wie andere hinzukamen. Konzentrierte sich darauf, das Schwein nicht entkommen zu lassen.
»Wer isses denn?«, wollte eine Stimme wissen.
»Kann ich nicht sehen, der trägt eine Sturmhaube. Nix zu erkennen!«, antwortete eine andere.
»Ist ja egal. Wir ziehen sie ihm ohnehin ab, sobald er gut vertäut ist«, wusste ein Dritter.
»Hauptsache, wir haben ihn!«, erklärte der Fänger, der stolze Bernhard, entschlossen.
»Und was machen wir jetzt mit ihm?«, bohrte der erste Sprecher weiter.
Es gibt eben Typen, die wollen dem Erfolgreichen jeden Sieg vermiesen, dachte der kraftvolle Sieger und zog den Kabelbinder um die Handgelenke des Überwältigten fest.
Kannst du dich noch daran erinnern, wie es mit uns beiden angefangen hat?
Nein?
Ich auch nicht mehr. Zumindest nicht genau. Wir hatten einen heftigen Streit.
Muss Ewigkeiten her sein.
Ja, wahrscheinlich hast du recht. Es muss zu einer Zeit gewesen sein, als wir noch Kinder waren.
Sandkastenzeit. Lange her, allemal.
Ich glaube, du hattest etwas gestohlen. Ich weiß noch, dass mir dein Verhalten nicht angenehm war, ich wollte nicht, dass du das tust. Versuchte zunächst, dir den Plan auszureden. Erfolglos. Du hast es dennoch getan. Oh! Ich war so unglaublich wütend auf dich. Es gab Momente, da wusste ich tatsächlich nicht wohin mit meinem Zorn, hätte gern das gesamte Geschirr aus dem Küchenschrank gerissen und auf dem Boden zerschellen lassen! Der Anblick der Scherben, die über den Boden sprangen, das laute Geräusch, wenn Teller und Tassen in unzählige Stücke zersprangen.
Eine Erleichterung. Aber eine, die ich mir nicht gönnen konnte.
Du hast natürlich geschwiegen, als alles rauskam. Wie immer. Und als ich die Tat bestritt, wurde mir nicht eine Sekunde lang Glauben geschenkt.
So war es jedes Mal. Auslöffeln musste ich, was du eingebrockt hattest. Musste Verantwortung übernehmen für dein Scheißverhalten!
Für die Taten eines durch und durch verdorbenen Charakters. Bloß gut für dich, dass zwar deine Taten aufkamen, ich mich aber schuldig fühlte, auch wenn der wahre Böse eben nie enttarnt wurde! Immer dachte ich, wenn ich nur … naja, dann wäre dein Verhalten anders. Aber wie sollte es? Ungeliebt. Unbeliebt. Unsichtbar. Das musste sich für dich schrecklich anfühlen.
Diesmal aber bist du zu weit gegangen!
Eindeutig viel zu weit!
Hör damit auf! Oder steh selbst dafür ein!
»Ach nein! Ich mag aber nicht!«, quengelte das Mädchen und schlug der Mutter die pinkfarbenen Jeans aus der Hand, die es eigentlich anziehen sollte.
»Nun stell dich nicht so an.«
»Wohin gehen wir denn?«, maulte die Kleine, strich ungeduldig die blonden Haare hinter die Ohren zurück. »Bestimmt wieder in den Wald. Du willst wieder so was Langweiliges wie spazieren gehen.« Sie sah die Mutter giftig an. Verschränkte die Arme vor der Brust und zog einen Flunsch: »Ich will aber nicht!«, setzte sie hinzu und stampfte mit dem Fuß auf. In den Augen schwammen Zorntränen.
»Gut. Wenn du dich jetzt nicht anziehst, dann bleibst du eben hier. Ist mir egal. Du kannst bei dem schönen Wetter auch im Zimmer hocken. Ich werde Melanie eben von dir grüßen.«
Mit eckigen Bewegungen legte Christel die Jeans auf das Bett der Tochter, stand auf, wandte sich zum Gehen.
»Melanie?«, fiepte die Tochter.
Wortlos verließ die Mutter das Zimmer. Lauschte auf die Geräusche aus dem Kinderzimmer. Grinste. Ganz eindeutig kämpfte Emma mit der Hose, stöhnte beim Anziehen des leichten Pullis.
Wenige Minuten später stand das Mädchen in der Küchentür.
»Wohin gehen wir denn?«, erkundigte sie sich fröhlich und voll Neugier, als hätte es den wütenden Disput zu keiner Zeit gegeben.
»In den Tierpark. Aber du musst nicht mit, wenn du nicht willst.« Ein bisschen Stichelei konnte sich die Mutter nicht verkneifen.
»Doch. Doch. Ich will ja. Gehen wir auch zu den Tigern?« Die Augen der Kleinen leuchteten erwartungsvoll.
»Ich denke schon. Wir sehen uns alle Tiere an.«
»Und Melanie kommt wirklich mit?« Skepsis lag in der Miene des Kindes.
»Ja. Ich bin mit ihr und ihrer Mutter verabredet.«
Nun zog eine dunkle Wolke über Emmas Gesicht, die Unterlippe schob sich ganz automatisch vor, und sie begann zu blinzeln, so, als wolle sie zu weinen beginnen.
»Och, ich dachte, nur mit Melanie«, beschwerte sie sich schon wieder.
»Emma, es reicht! Warum sollte denn die Mutter von Melanie nicht mitkommen? Du gehst doch auch mit mir.«
»Ja, schon«, quengelte das Mädchen weiter. »Aber wenn ihre Mutti dabei ist, dann unterhaltet ihr euch die ganze Zeit nur, und wir sollen nicht stören. Das ist sosososo öde!«
Die Mutter stöhnte, wandte sich schnell um, damit Emma nicht sehen konnte, wie sie die Augen gen Decke verdrehte.
»Boah! Ist der groß!« Vor Begeisterung hüpfte Melanie von einem Fuß auf den anderen. »Und so eine tolle Farbe. Das Fell sieht ganz weich aus. Wie Plüsch.«
»Oh!«, quietschte die Freundin. »Sieh mal, gleich geht er ins Wasser!«
»Quatsch! Katzen mögen kein Wasser! Mama hat gesagt, es stand sogar in der Zeitung, dass die beiden Tiger nicht ins Wasser gehen möchten.«
»Na, dann guck doch hin!«, maulte Emma und zupfte Melanie an der Jacke, weil sie sich umgedreht hatte, um nach ihrer Mutter Ausschau zu halten. »Da!«
Und tatsächlich. Die geschmeidige Großkatze glitt langsam vom Ufer in den Seitenarm der Spree. Verschwand für einen Augenblick aus dem Blickfeld der Freundinnen.
»Die taucht ja!«, stellte Emma verblüfft fest. »Beide Ohren richtig unter Wasser!«
Dann erschien der eindrucksvolle Kopf wieder. Wasser stürzte sich aus dem Fell in den Fluss zurück. Das Tier schüttelte sich.
»Was hat er denn da?«, fragte Emma. Der zweite Tiger näherte sich lauernd dem Bruder, duckte sich ins Gras. Sprungbereit. Das Kind drehte sich zu seiner Mutter um und erhöhte die Lautstärke. »Mama! Was hat er da?« Dann leiser: »Ist das ein Arm?«
Mittagspause auf dem Altmarkt. Die Sonne wärmte.
Das Gespräch zwischen den Freunden war leicht und angenehm. Wohlig.
»So, die Akten sind bei der Staatsanwaltschaft. Nun ist man dort am Zug. Wir sind so weit fertig.« Michael Wiener, Kommissar bei der Mordkommission Cottbus, streckte behaglich die Beine aus.
Peter Nachtigall schmunzelte. »Ist ja nicht so, dass wir jetzt frei hätten. Aber immerhin reicht es für eine sonnige Pause«, pflichtete der stattliche Hauptkommissar bei und rührte vorsichtig durch den Milchschaum seines Cappuccinos.
»Eine lange Phase mit wunderbarem Wetter wäre nicht schlecht. In den letzten Tagen konnten die Kinder nur drinnen spielen. Toben ist da ein bisschen beschränkt. Aber bei dem Wetter können sie im Garten so lange rumtollen, bis sie müde sind und dann nachts tief schlafen. Durchschlafen!«
»Ja. Ich verstehe, was du meinst. Aber ich gebe gern zu, dass drei Tober ein ganz anderes Problem sind als ein Einzelkind. Bei uns war es sicher auch in stressigen Zeiten viel ruhiger. Wir haben nur nicht gewusst, wie es sich mit dreien anfühlt.« Er seufzte. »Sonst hätten wir wohl so manche Situation anders bewertet.« An den Trubel, den seine Einzeltochter mitunter verursacht hatte, wollte er sich lieber nicht so genau erinnern. Aber das war später gewesen, viel später. Von der Pubertät waren Michaels drei Racker noch weit entfernt.
Das Telefon. Nachtigall warf dem Störenfried einen verärgerten Blick zu. Schielte aufs Display.
»Och, Mist!« Meldete sich. Hörte zu. Ungläubiges Staunen dominierte seine Mimik.
Wiener winkte den Kellner heran. Ganz offensichtlich fand die Pause gerade ein jähes Ende.
»Was? Das glaube ich nicht!« Nachtigalls Gestik ließ keinen Zweifel offen, sie hatten es eilig. »Nein! Das kann ich mir nicht vorstellen. Und ganz ehrlich: Das will ich auch gar nicht! Ja, wir sind praktisch schon da!« Nachtigall nickte zum Abschied einen Gruß in Richtung Kellner, raunte dann dem Freund zu: »Ein abgetrennter Arm im Tierpark.«
Wiener grinste schief. »Ist ja mal was Neues. Abgetrennt oder abgefallen? Bei Baumfällarbeiten – oder wie soll man sich das vorstellen?«
»Nein, eher kein Unfall, fürchte ich. Einer der Sumatratiger hat ihn wohl gerade im Außengehege gefunden. Das ist das eine Problem, das andere ist, dass die Brüder ihn nicht hergeben möchten. Im Augenblick streiten sie sich um das Beutestück. Sie versuchen offensichtlich ihnen die Freude an der unverhofften Beute zu verderben. Wasserschlauchtherapie. Die beiden können Wasser angeblich nicht leiden.«
»Aus Sicht der Tiger völlig verständlich, dass sie so eine Chance auf Abenteuer nicht ungenutzt lassen. Und wenn es mit dem kalten Wasser nicht funktioniert, was dann? Betäubung?«
»Das entscheidet Dr. Kämmerling, der Tierparkdirektor.«
Vor dem Gehege hatten sich einige neugierige Zaungäste versammelt, die allerdings von den Kollegen bereits aus dem unmittelbaren Bereich gedrängt worden waren. Die Zugänge waren inzwischen abgesperrt, die Zeugen ins Raubtierhaus gebracht worden.
Nun bemühten sich Pfleger darum, die restlichen Schaulustigen zum Weitergehen zu bewegen. Doch so recht wollte keiner ihren Worten glauben, dass es nichts mehr zu sehen geben würde. So gestaltete sich die umfassende Räumung des weiteren Umfelds etwas zäh.
Nachtigall gab den Kollegen vom ersten Angriff ein Zeichen, und die uniformierten Beamten klärten die Situation energisch.
»Wie soll ich mir vorstellen, konnte der Arm ins Gehege gelangen?«, wollte Nachtigall vom Reviertierpfleger wissen und wies dabei vage auf die Höhe des Zauns.
»Ja. Das ist ein bisschen unverständlich. Der Zaun ist ja nicht nur hoch, sondern auch am Kranz verbreitert. Wenn er geworfen wurde, dann mit viel Kraft. Sonst hätte er sich im Zaun verfangen.« Der Pfleger sah ratlos am Gitter entlang, als trage es die Schuld an der unerfreulichen Lage, schüttelte den Kopf. »Ich kann mir auch überhaupt nicht vorstellen, dass jemand etwa hineingeklettert sein könnte. Man müsste schon mit besonderer Dämlichkeit ausgestattet sein, um in ein Raubtiergehege einzudringen, mit zwei jugendlichen männlichen Tigern als Gesellschaft. Oder vollgepumpt bis unter den Scheitel mit irgendeinem Mut machenden Zeug. Eher Übermut.« Er runzelte die Stirn. »Aber nee! Dann hätte er die Absperrung sicher nicht geschafft.«
»Es wäre doch aufgefallen, wenn jemand zu Besuch bei den beiden Tigern einsteigt. Die Besucher hätten es gesehen und Sie informiert. Direkt hinter uns führt eine Zufahrt lang. Spaziergänger hätten es bemerkt.«
»Nachts vielleicht. Der Sicherheitsdienst geht den Park ab. Der steht nicht vor dem Tigergehege rum und wartet auf Bekloppte, die da reinklettern wollen!«
»Glauben Sie, der Arm sollte gefunden werden? Ein spektakuläres Ereignis?«
Der Pfleger dachte darüber nach. Räusperte sich dann. »Ja, das könnte schon sein. Als Methode zur Beseitigung einer Leiche ist die Sache hier völlig ungeeignet. Die Tiger fressen das Fleisch, nicht die Knochen, das kriegen nur Hyänen und Bartgeier hin. Und für eine ganze Leiche bräuchten unsere Tiger schon etwas Zeit. Zumal sie ja regelmäßig gefüttert werden. Ausgehungert sind sie nie, selbst wenn das für die Besucher manchmal so aussehen mag. Entweder der Kerl kannte sich nicht aus – oder war zugedröhnt.«
Es herrschte fast schon Gedrängel auf der Autobahn.
Florian ließ seinen Gedanken freien Lauf, schmunzelte, als er sich an das letzte Telefonat mit Corinna erinnerte.
»Na, bist du noch glücklich mit der Entscheidung?«, wollte er von ihr wissen.
»Aber ja! Die Wohnung ist toll. Die Wände habe ich gestrichen. In warmen Tönen, das wird dir gefallen.«
»Mit den Nachbarn läuft alles rund? Kein Stress wegen des Hundes? Oder bleibst du lieber mit Hans-Jürgen in den eigenen vier Wänden?«
»Du glaubst es nicht, aber über mir lebt eine WG! Lauter ältere Damen. Verwitwet. Oder sonst wie allein, zum Beispiel, weil die Kinder weit weg leben, wenig Zeit haben, immer beschäftigt sind. Die haben sich gegen die Einsamkeit des Alters zusammengetan. Richtig nette Mädchen und immer gut drauf.« Corinna kicherte. »In der Wohnung riecht es irgendwie nach Marihuana. Vielleicht ein Parfum. Erinnert jedenfalls an vergangene Zeiten.«
»Aus der Zeit gefallene Hippiegirls?« Er konnte förmlich hören, wie sie das Gesicht verzog.
»Aus der Zeit gefallen – pffff. Du weißt, ich mag diese Formulierung nicht. Alle Journalisten benutzen sie. Die ist so grässlich abgelutscht!«
»Gut. Also jung gebliebene Damen. Du wirst demnach keine Langeweile haben. Nimm bloß nicht den Hund mit zu der WG – der bleibt womöglich dort.«
»Ich habe ein Foto gefunden. Unter dem Linoleum der Türschwelle zum Arbeitszimmer. Ein Pärchen. Sehen glücklich aus. Vielleicht finde ich heraus, wer die beiden waren«, wechselte die Journalistin aufgeregt das Thema. »Möglich, dass sie zu meiner Story passen, wer weiß.«
»Pass bloß auf! Nicht, dass du am Ende auf ein fieses kleines Geheimnis stößt!« Er hatte zwar gelacht, war sich dennoch sicher, sie hatte sein mulmiges Gefühl bemerkt. »Zeig es nicht einfach wild rum«, mahnte er abschließend, kam sich plötzlich wie eine Spaßbremse vor.
»Du Unke!«, hatte sie sich prompt beschwert. »Du siehst immer Probleme! Es ist ein harmloses Bildchen. Ich habe bei der WG nachgefragt. Dort kannte man die beiden jedenfalls nicht. Da konnten auch die psychedelischen Düfte nicht weiterhelfen. Schade! Und außerdem frage ich ja nur im ›Nebenberuf‹ nach den beiden. Meine Story ist wichtiger, die ist terminlich schon getaktet.«
»Alles klar. Bis Samstag also. Wahrscheinlich kann ich aber schon am Freitag kommen. Überstunden!«
»Das wäre wunderbar! Ruf einfach vorher an«, hatte sie gejubelt. »Ich habe einen Schlüssel für dich machen lassen. Wenn du kommst, ist das der Start in eine neue Zeit!«
Nach dem üblichen Abschiedsritual hatten beide widerstrebend aufgelegt.
Florian starrte noch minutenlang das stumme Telefon an. Freute sich auf die »Zeitenwende«. Corinnas gute Laune war sogar durchs Smartphone ansteckend, und ab sofort würde er sie immer live erleben!
Und heute war es nun so weit.
In ein paar Stunden könnte er sie in die Arme nehmen, und das Leben mit ihr und an ihrer Seite würde losgehen. Sicher, Ausgang ungewiss – aber er war sehr zuversichtlich, dass die Beziehung bis weit über die Pensionsgrenze hinaus halten würde! An ihm sollte es jedenfalls nie scheitern, nahm er sich fest vor.
»Der Arm muss in die Rechtsmedizin«, stellte Nachtigall klar. »Michael, nimm bitte mit Dr. Pankratz Kontakt auf und kündige den Fund aus Cottbus an. Oh, und Dr. März sollte auch ins Bild gesetzt werden.«
Wiener nickte, trat ein paar Schritte zur Seite, tippte aufs Display.
»Tja. Die Tiger haben eine Kurznarkose bekommen. Ich gehe jetzt rein und hole das Fleisch raus.« Der Tierpfleger wirkte nicht so recht begeistert. »Damit die jungen Herren nicht zornig werden, wenn sie aufwachen, biete ich ihnen einen Ersatzleckerbissen an.« Er deutete auf zwei Stücke Hüfte, die in einer Kunststoffwanne bereitlagen. »Ziege. Sieht jedenfalls danach aus. Ein bisschen Oberschenkel ist auch noch dran. Sie werden es mögen. Normalerweise trennen wir sie zur Fütterung, damit keine Aggressionen aufkommen. Mal abwarten, wie sie klarkommen, wenn jeder glaubt, er habe ›sein‹ Stück ergattert. Die beiden gehen nett miteinander um – aber Fressen ist eben etwas anderes, als die Tage entspannt in der Sonne zu verbringen.« Er lachte leise. »Ich gehe bei der Gelegenheit einmal übers gesamte Gelände und kontrolliere, ob noch irgendwo etwas Fremdes liegt. Wenn tatsächlich einer rüber ist und rein zu ihnen, haben sie ihn zumindest nicht aufgefressen, und wir könnten noch mehr Teile finden.«
Der Cottbuser Hauptkommissar klopfte dem Mann aufmunternd auf die Schulter. »Wie tief schlafen die Brüder denn? Sie werden Ihnen nicht gefährlich werden, oder?«, erkundigte er sich besorgt.
»Nein. Das ist sicher alles richtig dosiert. Ich werde genug Zeit haben. Und wenn ich ehrlich bin: Es ist mal was ganz anderes. Nicht nur abseits der Routine, sondern vollkommen anders. Für mich durchaus spannend.«
»Werden sie denn das …«
»… Stück weitgehend zernagt haben? Nee, das glaube ich nicht. Die beiden waren eben neugierig. Ist für sie ungewohnt, wir füttern sie nicht draußen, natürlich gar nicht mit dieser Art Fleisch und Kleidung verfüttern wir normalerweise nicht mit«, keckerte der Mann. »Bestenfalls haben sie irgendwo geknabbert. Und beim Streit um die Beute könnten sie etwas unsanft mit dem Stück umgegangen sein. Aber das wird der Rechtsmediziner gut erkennen können. Diese Zähne hinterlassen charakteristische Spuren in Gewebe und auf Knochen, das können Sie mir glauben. Da gibt es für den Beurteiler kein Vertun.«
Damit verschwand der Pfleger im Reich der Tigerbrüder.
Peter Nachtigalls Blick heftete sich an den Rücken des Mannes, folgte jeder seiner Bewegungen. Er war so konzentriert, dass er überhaupt nicht bemerkte, dass Michael Wiener wieder neben ihm auftauchte. Erschrocken fuhr er zusammen, als der Freund ihn ansprach.
»So! Dr. Pankratz meint, wir sollen erst mal gründlich suchen und vielleicht einen Sammeltransport veranlassen. Aus Erfahrung wisse er, wo ein Leichenteil zu finden ist, lassen sich auch weitere entdecken. Und es wäre besser, er bekäme gleich mehrere Fundstücke. Dr. März ist auf dem Weg. Er war richtig sauer, nannte es ›die Tat eines Spinners‹.«
»Da mag er ja am Ende vielleicht recht behalten. Wir müssen die Analyse von Dr. Pankratz abwarten. Noch haben wir nichts.«
»Na, so ganz stimmt das nicht.« Der Pfleger war in die Schleuse getreten, schloss die Tür hinter sich, öffnete die andere, trat zu den beiden Ermittlern und hielt Nachtigall ein in blaue Folie gewickeltes Paket entgegen. »So, da isser. Immerhin haben Sie jetzt den Arm. Weitgehend unbeschädigt. Die beiden hatten ihn beim Raufen wohl abgelegt. Mehr war nicht, also das heißt: Weitere Teile habe ich nicht gefunden. Ich habe auch den Uferbereich gründlich abgesucht. Nichts. Vom Ärmel ist nichts übrig, wahrscheinlich haben die Zeugen sich geirrt. Sonst hätte ich ja zumindest ein paar Stückchen oder Fasern finden müssen. Wenn also hier niemand im Gehege umkam, wurde nur der Arm über den Zaun geworfen, und Sie müssen die anderen Stücke anderswo suchen. Fehlt ja der gesamte Rest des Körpers.« Der Pfleger hatte die ganze Zeit über den Blick fest auf die Tiger geheftet. Wartete. Eine gewisse Nervosität war spürbar, der Körper war gestrafft, war darauf vorbereitet, im Notfall eingreifen zu müssen. »Da! Sehen Sie, sie bewegen sich. Gleich stehen sie wieder!« Der Mann lachte liebevoll.
Tatsächlich schüttelten die großen Raubtiere inzwischen leicht verwirrt die mächtigen Köpfe, als versuchten sie, die Benommenheit zu vertreiben.
»Dauert nur noch ein paar Minuten, und sie machen sich über die Sonderration her. Wahrscheinlich wünschen sie sich nun für jeden Tag so ein Fundstück, damit sie etwas zum Tauschen haben!«
»So abwegig ist das vielleicht nicht«, meinte Michael Wiener trocken. »Fehlen ja noch so viele Teile. Mag sein, der Werfer kommt wieder.« Nach einer kurzen Pause setzte er hinzu: »Dr. März kommt gleich«, und beschloss, den zornigen Blick des Freundes zu ignorieren.
»Der Arm könnte über den Zaun ins Gehege gelangt sein. Das wäre eine Möglichkeit. Welche Alternativen gibt es?«, stellte Nachtigall die auf der Hand liegende Frage.
»Ich könnte den Arm mit dem Futter hineingebracht haben. Das ist denkbar. Oder der Kerl ist richtig eingestiegen. Aber das wäre nun wirklich nicht nur leichtsinnig, sondern dumm. Wir Pfleger kennen die Tiere seit einigen Monaten, aber auch von uns würde niemandem einfallen, eine direkte Begegnung ›in freier Wildbahn‹ zu riskieren.«
»Vielleicht hat der Eindringling die Tiere nicht gesehen und gedacht, das Gehege sei leer.«
»Nun, in diesem Fall wären wohl deutlich mehr Leichenteile zu finden gewesen. Es sind Tiger! Brüder, die sich richtig gut verstehen, jugendlich und immer zu irgendeinem Abenteuer aufgelegt. Die schleichen sich an und fackeln nicht lange. Es macht ihnen Spaß zu jagen! Neulich ist eine Ente bei ihnen gelandet, da hatten die beiden auch schon Jagdglück!«
»Angriffslustige Tiere.«
»Das kann man so auch nicht sagen. Es ist ihr Instinkt, es bringt Abwechslung, gehört zu ihrem Wesen. Kommt vor, Sie sind jahrelang Pfleger im Revier, kennen die Tiere gut, wissen um ihre Besonderheiten. Die großen Katzen schmusen mit Ihnen, Sie können Ihre Hand zwischen die riesigen Zähne legen, nichts passiert. Sie verlieren Ihre Angst. Eines Tages vergessen Sie, den Schieber zu schließen, und nichts trennt Sie und das Tier. Erst kommt der Räuber freundlich näher, doch dann schaltet er ganz unvermittelt auf Jagdmodus um. Greift an. Sie sterben. Erinnern Sie sich an Siegfried und Roy? Die hatten auch vergessen, wie gefährlich die Schoßriesen in Wahrheit sind. Mit unseren Hauskatzen haben sie nichts gemein. Ein Moment reicht aus, und schon wird der gute Bekannte zur Beute.«
»Wir müssen also klären, ab wann die Tiere heute im Gehege waren, wer wann vorbeikam, nachdem der Tierparkt gestern geschlossen hatte.«
Diskret trat ein dunkel gekleideter Herr an die Gruppe heran. Übernahm von Nachtigall das blaue Folienpäckchen und legte es in eine Metallkiste.
»Ins Klinikum?«, erkundigte er sich dann.
»Ja. Erst mal. Das Päckchen wird zum Weitertransport abgeholt.«
So still, wie er gekommen war, verschwand der Bestatter wieder.
»Waren es nicht eigentlich zwei Tigerinnen?«, nahm Wiener den Gesprächsfaden wieder auf.
»Jaja. Schwestern. Ursprünglich. Und was soll ich sagen: Die waren sich spinnefeind! Wir dachten ja, man könne nach einer Phase der Eingewöhnung beide gemeinsam in einem Gehege präsentieren. Aber das ging nie. Kann man ihnen nicht übel nehmen, schließlich spielt ein verwandtschaftliches Verhältnis nicht in jeder Lebenslage eine Rolle. Sicher, Tiger sind Einzelgänger, aber wir hatten eben gehofft, weil sie Schwestern …« Er seufzte. »Nun bin ich ja gespannt, wann ein Kater für Kara hier einzieht. Sie wohnt im Gehege nebenan, Sita, ihre Schwester, haben wir abgegeben. Für einen Kater ist es sicher auch besser, wenn er es nur mit einer der beiden zu tun bekommt. Sita wird nun in einem anderen Zoo für Nachwuchs sorgen. Ich glaube, sie arbeitet schon daran.« Er schmunzelte.
»Weil die beiden Damen ihm sonst den Garaus gemacht hätten, eine der anderen den potenten Herrn nicht gegönnt hätte? Er wäre zwischen die Fronten geraten«, mutmaßte Wiener, grinste amüsiert.
Unerwartet stieß ein schlanker Herr zu ihnen.
»Sie sind von der Kriminalpolizei?«
»Ja. Peter Nachtigall und Michael Wiener. Sie sind sicher Herr Dr. Kämmerling.«
Der Tierparkdirektor warf einen prüfenden Blick auf die Tiger. »Geht es ihnen gut?«
Der Pfleger nickte. »Schmeckt beiden schon wieder. Jeder hat sich sein Stück in eine Ecke mitgenommen. Alles friedlich.«
»Nun, dann scheint hier alles in Ordnung zu sein. Bitte begleiten Sie mich in mein Büro.« Er wies eine grobe Richtung mit dem Arm. »Dort entlang.«
»Warum ausgerechnet hier?«, fragte er in scharfem Ton, als sie alle Platz genommen hatten. »Ein absurder Protest gegen die Haltung von Tigern in Zoos? Bei uns? Da erscheint dieses Vorgehen doch gewaltig überzogen!«
»Entsorgung?«
»Viel zu aufwendig. Und das Risiko, entdeckt zu werden, viel zu hoch. Das Fleisch hätte sich im Zaun verfangen können, für jedermann sichtbar. Nein, das ist nicht überzeugend. Genauso wenig wie die Annahme, jemand sei bei den Tigern eingestiegen. Suizid? Eine ausgesprochen qualvolle Art, den eigenen Tod herbeizuführen, und außer dem Arm wurden keine weiteren Körperteile gefunden. Tiger können aber einen Körper nicht komplett verschwinden lassen – schon überhaupt nicht in so kurzer Zeit! Die Tiere werden ins Haus geholt.«
»Wir brauchen die Kontaktdaten des Wachdienstes, den Sie beschäftigen. Möglicherweise ist doch etwas Auffälliges bemerkt worden, man konnte es nur nicht zuordnen und hielt es nicht für erwähnenswert.«
Der Tierparkdirektor nickte, schob Nachtigall eine Visitenkarte über den Tisch zu.
»Die kommen schon lange. Eigentlich sollten sie normale Tiger- und Tierparkgeräusche von sonderbaren unterscheiden können.«
Der junge Mann stand etwas verloren vor der Wohnungstür. Drinnen hörte er das Telefon klingeln, wenn er Corinnas Nummer wählte. Sicher. Das Festnetz. Ihr Handy war offensichtlich nicht zu Hause, seit Tagen schon. Mailbox. Erst glaubte er, der Akku ihres Handys sei leer. Bei Smartphones kam das schließlich sehr häufig vor. Plötzliche Leere des Energiespeichers sorgte für eine Kommunikationssackgasse. Doch Corinna hatte immer einen externen Energiespender dabei, denn schließlich war es Teil ihres Jobs, erreichbar zu sein. Zweifel stiegen in ihm auf. Wenn sie gewollt hätte, wäre ja ein Anruf über das Festnetz jederzeit möglich gewesen. Aber auch dort: Kein Kontakt.
Als sich auch nach zwei Tagen nichts änderte, begann er zu vermuten, sie könne seine Nummer blockiert haben. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Doch warum? Auch darauf fielen ihm ein paar Antworten ein. Eine schmerzlicher als die andere. Unterm Strich war allen gemein: Corinna wollte mit ihm nichts mehr zu tun haben. Er war abgeliebt, überflüssig und – schlimmer noch – im Weg. Ein Teil seines Denkens war nicht bereit, diese Überlegung zu akzeptieren – schon gar nicht als wahr. Also gab er sich Mühe, sich selbst davon zu überzeugen, das Handy sei kaputt, verloren, geklaut.
Es fiel ihm leichter sich vorzustellen, dass sie auf jeden Fall rangehen würde, wenn sie das Läuten des Kontaktversuchs hören könnte.
Natürlich war ihm nur allzu bewusst, dass es sich bei dieser Überlegung um eine Scharade eines Hirnareals handelte, das den Schmerz nicht zulassen wollte.
Und nun stand er hier, und es erwischte ihn mit voller Wucht. Es war vorbei. Aus.
Von wegen gemeinsame Wohnung, zweisames Leben, Zukunft im Doppelpack! Jedenfalls nicht mit ihm!
Warum hatte sie bei ihrem letzten Telefonat nicht wenigstens angedeutet, es könne eine Beziehungskrise geben? Weil sie nicht wirklich vorhatte, mit ihm an einer Lösung zu arbeiten!
Doch statt ehrlich zu sein, hatte sie ihm vorgeschwärmt, wie wunderbar es sein würde, wenn sie ihre Haushalte zusammenlegten! Er hätte eigentlich gedacht, sie sei geradeheraus, nicht so eine, die ein Problem auszusitzen versuchte. Gut, da hatte er sich wohl gründlich getäuscht.
Vielleicht lag der neue Stecher ja die ganze Zeit über neben ihr. Grinste selbstzufrieden. Streichelte gierig über ihre weiche Haut.
Während sie mit ihm, Florian, über Zukunft sprach und dabei seine nicht wirklich meinte.
Seine Eifersucht malte die Szene bereitwillig aus, steuerte einige Details bei, wie zum Beispiel die muskulöse Statur des anderen, sein gutes, markantes Aussehen, den gepflegten Dreitagebart, der ihn unglaublich sportlich wirken ließ.
Leise Schritte hinter ihm.
Ein penetranter Duft.
War das der Neue? Was benutzte der denn für ein Weiberzeug? Stand Corinna plötzlich auf Softies und Weicheier? Florian fuhr herum – bereit, dem widerlichen Lover die Zähne einzuschlagen –, da begegnete sein Blick den sanften Augen einer freundlich lächelnden älteren Dame.
Er leitete die Faust flink und, wie er hoffte, unauffällig in die Jackentasche um. Räusperte sich.
»Sie wollen zu Corinna?«, erkundigte sich das Lächeln.
Er nickte. Etwas verkrampft.
»Sie macht nicht auf.« Florian kam sich extrem dämlich vor.
»Ja.« Die ältere Dame nickte bekümmert. »Das ist schon seit ein paar Tagen so. Wir machen uns ernsthaft Sorgen. Die Polizei hat uns allerdings schlichtweg ausgelacht, als wir sie vermisst melden wollten. Eine erwachsene junge Frau, Journalistin obendrein. Kein Anlass für Ermittlungen! Weggescheucht wurden wir wie lästige Fliegen von der Erdbeertorte!« Ihre Wangen röteten sich vor Empörung. »Wenn sie erst vor wenigen Wochen eingezogen sei, wüssten wir doch in Wirklichkeit nichts über ihr normales Verhalten. Es sei anmaßend zu glauben, sie zeige in den ersten Tagen der Nachbarschaft alle Facetten ihres Verhaltens, die typisch für sie sein könnten! Es sei eher anzunehmen, dass sie versuche, den bestmöglichen Eindruck zu machen. So ein frecher Kerl! Aber am Ende hat er gemeint, er werde sich kümmern. Wir waren uns da allerdings nicht so sicher.« Sie trat einen Schritt zurück, musterte den jungen Mann gründlich. »Und Sie müssen Florian sein. Sie hat sich ja so sehr auf Ihr Kommen gefreut! Sie wollen zusammenziehen, nicht wahr?«
»Und der Hund?«, würgte Florian mühsam hervor, dem die Sorge um Corinna plötzlich den Hals zuschnürte.
»Der ist bei uns. Wir haben einen Schlüssel für die Wohnung, wissen Sie.«
»Sie hat Ihnen einen Schlüssel für Notfälle überlassen?«, staunte der junge Mann, der wusste, dass Corinna fremde Hände an ihren privatesten Dingen nie toleriert hätte.
»Nun«, druckste die Nachbarin, »nicht direkt. Aber der Hund hat ja so jämmerlich gejault. Da sahen wir uns gezwungen, ihn zu befreien.« Sie straffte ihren Körper und wuchs um mehrere Zentimeter.
»Wie?«
»Es ist ein Geheimnis.« Trotzig schob sie die Unterlippe ein wenig vor, der Blick gewann an Schärfe.
»Und?«
Sie holte tief Luft. »Es heißt Geheimnis, weil wir es niemandem erzählen!«
»Und?«, wiederholte Florian drohend und streckte ebenfalls die Wirbelsäule.
»Ach herrjeh. Wenn Sie es nun unbedingt wissen müssen! Unser Schlüssel passt zu allen anderen Wohnungstüren«, gab sie mit größtem Unwillen preis.