Spuren, die bleiben - Janice Steinberg - E-Book

Spuren, die bleiben E-Book

Janice Steinberg

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Beschreibung

Elaine hatte ein schönes Leben, eine große Familie und einen guten Job. Doch es gibt eine große Leerstelle: ihre vor Jahrzehnten verschollene Zwillingsschwester Barbara.

Jetzt, beim Ausräumen ihres Hauses, fallen Elaine Dokumente in die Hände, die beweisen, dass ihre Eltern Barbara wiedergefunden hatten. Warum aber schwiegen sie? Was ist aus Barbara geworden, und weshalb hat sie sich nie bei ihr gemeldet? Die Achtzigjährige macht sich auf die Suche nach ihrer stets vermissten Schwester ...

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Seitenzahl: 608

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Inhalt

CoverÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitateKapitel 1 – ElaineKapitel 2 – Unser Zeyde, der PilotKapitel 3 – Boyle HeightsKapitel 4 – Was hat sie angerichtet?Kapitel 5 – Unser erster SchultagKapitel 6 – Danny, der PrinzKapitel 7 – Road TripKapitel 8 – Onkel Harrys Geist und das ErdbebenKapitel 9 – Cousine Mollie verändert die WeltKapitel 10 – Mama und die Fussgeher: die wahre GeschichteKapitel 11 – Danny, der SpionKapitel 12 – Liebe und TodKapitel 13 – Eine unabhängige FrauKapitel 14 – Ranch ohne morgenKapitel 15 – Offene TürenKapitel 16 – BashertKapitel 17 – Die Seele des RodeosKapitel 18 – VerschwundenKapitel 19 – Eine kluge JüdinKapitel 20 – GlatteisKapitel 21 – Das BlechpferdchenDanksagung

ÜBER DIE

AUTORIN

JANICE STEINBERG lebt in San Diego, sie ist Kunstkritikerin u.a. für die »Los Angeles Times« und lehrt an verschiedenen Universitäten. Sie hat mehrere Kriminalromane geschrieben. »Blechmenagerie« ist ihr literarisches Debüt und ihr erster Roman, der auf Deutsch erscheint. Er wird außerdem in Frankreich, Japan, Italien, Brasilien, Holland und Spanien publiziert werden.

JANICE STEINBERG

BLECHMENAGERIE

Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Edith Beleites

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Tin Horse« bei Random House, New York

Für die Originalausgabe: Copyright © 2013 by Janice Steinberg

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2014 by Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln Lektorat: Doris Engelke Umschlaggestaltung: Christina Hucke, www.christinahucke.de Umschlagmotiv: © Marc Burckhardt E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-5290-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Jack, meinen Bashert*

* (Bashert ist ein jiddisches Wort für »Schicksal«, »Seelenverwandter«, Anmerkung der Übersetzerin)

Ich ging in den Laden zurück, wo eine kleine, dunkelhaarige Frau hinterm Tresen saß und in einem Gesetzbuch las … Sie hatte das klare, geradlinige Gesicht einer klugen Jüdin.

RAYMOND CHANDLER, Der große Schlaf

Wir erzählen uns Geschichten, um zu überleben.

JOAN DIDION, Das weiße Album

1. KAPITEL

ELAINE

WAS IST DAS, ELAINE? LYRIK?« ER SIEHT ZU MIR AUF – das Gesicht so jung, so wissbegierig. Dann blickt er wieder die Mappe an, die aufgeschlagen auf dem Esstisch liegt.

»Lassen Sie mich mal sehen«, sage ich, aber da fängt er schon an vorzulesen.

»›Die Feige trägt ihre Blüte tief im Herzen verborgen …‹«

»Josh!« Warnend strecke ich die Hand aus und werfe ihm einen Blick zu, den meine Kinder als ätzend bezeichnen, gleichzeitig erinnere ich mich, wie ich mit achtzehn in unserem Garten in Boyle Heights am Feigenbaum lehnte und diese Worte schrieb.

»Ist ja schon gut. Wenn Sie selbst lesen wollen …« Er gibt mir die Mappe, fügt aber gleich hinzu: »Das gehört ins Archiv.« Er trägt seinen Namen zu Recht. War es nicht Joshua, der die Mauern von Jericho zum Einstürzen brachte?

Als die Bibliothek der Universität von Südkalifornien anfragte, ob ich ihnen meine Unterlagen überlassen würde, kam es mir wie ein Gottesgeschenk vor. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gerade beschlossen, in das Seniorenheim »Rancho Mañana« zu ziehen – oder, wie ich es nannte: die Ranch Ohne Morgen. Bis dahin hatte ich mich erfolgreich davor gedrückt, die Unmengen von Papier zu sichten, die sich in einem guten halben Jahrhundert in meinem Haus in Santa Monica angesammelt hatten. Die Universität bot sogar an, einen Studenten zu schicken, der mir beim Sortieren helfen sollte – genauer gesagt, einen Bibliothekswissenschaftler und Informatiker mit Schwerpunkt »Archivierung«. So schnell habe ich selten zu etwas Ja gesagt.

Gleichzeitig hatte ich meine Zweifel. Ich habe nichts dagegen, einem Fremden zu zeigen, was ich über die Jahre als Anwältin zu Papier gebracht habe, aber die Universität war nicht nur daran interessiert, sondern auch an Privatem und Familiärem. Ich hoffte, dass man mir eine nette Studentin schicken würde, die meine Entscheidungen widerspruchslos akzeptierte. Ihr Fachwissen würde das Sichten von Papierbergen zu einer chirurgisch sauberen Operation machen, es würde keine Peinlichkeiten geben, und nichts allzu Persönliches würde ans Tageslicht kommen. Ausgerechnet ich, die ich mein Leben lang gegen Geschlechterklischees gekämpft habe, malte mir eine willenlose junge Frau aus, die sich mir bereitwillig unterordnen würde. Jetzt muss ich dafür bezahlen. Die Studentin entpuppte sich als Student, der alles andere als willenlos ist. Josh betrachtet jeden Zettel, jede Notiz als potenziellen Schatz, und wenn er mit seiner Neugier alte Wunden aufreißt, ist er entzückt. Meine Abwehr schüchtert ihn nicht ein, ganz im Gegenteil.

Dabei kann er nichts dafür, dass mich Nostalgie überfiel, als wir einen Karton mit Zeichnungen meiner Kinder öffneten, oder Trauer, als wir den Briefwechsel mit Paul fanden, aus der Zeit, als er im Zweiten Weltkrieg kämpfte (letzten Monat war sein vierter Todestag). Und nun auch noch meine Teenager-Lyrik! Wenigstens versucht Josh mich nicht zu trösten, wenn mir ein Stück Vergangenheit plötzlich nahegeht. Eine deftige Auseinandersetzung ist mir lieber als Mitleid!

»Sind wir dann mit meinem Arbeitszimmer fertig?«, frage ich betont sachlich. So bin ich nämlich. Elaine Greenstein Resnick, eine unsentimentale Frau, keine schwärmerische Lyrikerin, die sich von Erinnerungen aus der Bahn werfen lässt.

»Da muss ich erst nachsehen«, sagt er und springt auf. Er ist schnell und effizient. Zum Glück. Schließlich will ich bald umziehen. Mein Haus steht bereits zum Verkauf, und schon Mitte Dezember ziehe ich um. Nur noch sechs Wochen.

Sowie ich allein im Zimmer bin, werfe ich einen Blick auf das erste Gedicht. »Die Feige trägt ihre Blüte tief im Herzen verborgen. Ganz anders als ich. Die Blüte meiner Liebe …« Herrgott, war ich wirklich einmal so jung, so verletzlich? Wo ist das junge Mädchen geblieben? Wenn ich dagegen an den idealistischen Leserbrief denke, den ich mit elf an eine Zeitung geschickt habe, erkenne ich darin bereits die kämpferische Anwältin. Damals war alles schon angelegt, und ich staune, was alles in dem stillen, nachdenklichen Mädchen steckte. Wie hat die Los Angeles Times es ausgedrückt? »Die gefragteste, progressivste Anwältin über Jahrzehnte hinweg – von der Hexenjagd der McCarthy-Ära über die Bürgerrechtsbewegung bis zum Kampf gegen den Vietnamkrieg und für die Gleichstellung der Frau.«

Doch die zartfühlende Lyrikerin, die ich auch war – was ist aus ihr geworden? Ich weiß noch genau, wann ich aufgehört habe, Gedichte zu schreiben: am 12. September 1939. Damals war ich achtzehn. Danach habe ich zwar weiter geschrieben, aber nichts mehr in dieser Art. Was ist aus meiner Sanftmut geworden? Habe ich sie abgelegt wie andere Verrücktheiten der Pubertät? Habe ich sie von mir abgespalten? Die längst vergessenen Gedichte von damals scheinen etwas in mir wachzurufen. Unsinn! Die Sentimentalität einer alten Frau! Ich schließe die Mappe und lege sie in den Korb mit Dokumenten, die ich noch einmal durchsehen will, bevor ich Josh das Okay zum Archivieren gebe. Die Gedichte werde ich ihm allerdings nicht überlassen. Vielmehr werde ich sie »verlegen«.

Irritiert von dem Fund blicke ich beunruhigt auf zwei Kaufhauskartons, mit denen Josh ins Esszimmer zurückkommt, obwohl die Kartons als solche keine Erinnerungen wecken.

»Wo haben Sie die denn gefunden?«, frage ich.

»Im Wandschrank, ganz hinten. Da sind noch mehr.«

»Vielleicht sind das Sachen von Ronnie.« Früher war mein Arbeitszimmer das Kinderzimmer meines Sohns. Ich rechne mit mottenzerfressener Kinderkleidung oder einer Comic-Sammlung.

»Nein. Alles Papiere.«

Josh stellt den oberen Karton – von Buffum’s – zwischen uns und hebt den Deckel ab. Im nächsten Moment erinnere ich mich daran, wie meine jüngeren Schwestern und ich nach dem Tod unserer Mutter ihre Wohnung ausräumten. Das war vor über dreißig Jahren – was für ein Albtraum. Sie hatte es geschafft, ihre kleine Wohnung in West Los Angeles genauso vollzustopfen wie unser Haus in Boyle Heights. Mamas Tod, zehn Jahre nach Papas Schlaganfall, war ein Schock. Für ihre sechsundsiebzig Jahre war sie noch erstaunlich fit, als sie auf ihrem täglichen Spaziergang von einem Betrunkenen überfahren wurde. Audrey, Harriet und ich steckten noch in der ersten Trauerphase, als wir bei der Wohnungsauflösung … vier? ein Dutzend? Kartons von Kaufhäusern fanden, die schon gar nicht mehr existierten. Alle waren voll mit Papieren und Gott weiß was. Keine von uns fühlte sich damals in der Lage, die Sachen genauer anzusehen.

Obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, müssen wir diese Kartons dann wohl in meinen Wagen geladen haben, und irgendwie sind sie im Schrank meines Sohns gelandet.

»Hey, ist das Hebräisch?« Josh hält mir einen Brief vor die Nase, den er auseinandergefaltet hat. Mit der anderen Hand will er mir ein Paar weißer Handschuhe reichen. Wie oft habe ich ihm schon gesagt, dass ich das Recht habe, meine eigenen Sachen mit bloßen Fingern anzufassen? Aber das lässt er nicht gelten und bringt jedes Mal ein zweites Paar Handschuhe mit.

Ich überfliege die Briefe. »Das ist Jiddisch. Sie stammen wohl von der Familie meiner Mutter, aus Rumänien.«

»Sie können Jiddisch?«

Ich bin selbst überrascht, dass ich es noch kann.

»Was steht drin?«

»Familienangelegenheiten … Jemand hat geheiratet, jemand anders ein Kind bekommen.« Das waren die Nachrichten, die wir in den 1920er Jahren von unseren rumänischen Verwandten bekamen. In den Dreißigerjahren waren ihre Briefe dann verzweifelte Appelle, wenigstens die jüngeren Familienmitglieder raus zu holen. So kam mein Cousin Ivan zu uns nach Los Angeles, drei andere gingen zu Verwandten in Chicago, und zwei wanderten nach dem Krieg nach Palästina aus. Alle anderen sind umgekommen.

»Also, die bewahren wir auf jeden Fall auf.« Aus Joshs Augen blitzt unverhohlene Sammlerleidenschaft, als er noch mehr Briefe aus dem Karton holt, alle in Originalumschlägen. Er greift nach einer der Plastiktüten, in denen die Fundstücke in sein Archiv wandern.

»Moment, die will ich erst lesen!« Angesichts der knappen Zeit werde ich sie nur überfliegen können, aber es geht um meine Familie, meine Geschichte. Meine und Harriets. Wir sind die Einzigen der vier Greenstein-Mädels, die überlebt haben. Ich weiß nicht mehr, ob Harriet überhaupt Jiddisch gelernt hat, aber ich möchte diese Briefe zusammen mit ihr durchgehen. Sie soll die Dinge, die Mama so wichtig waren, wenigstens einmal selbst in der Hand halten, bevor daraus Quellenangaben irgendwelcher Dissertationen werden.

»Ja, natürlich.« Josh steckt die Briefe in die Plastiktüte, etikettiert sie und reicht sie mir. »Bitte stecken Sie sie wieder in die Tüte, wenn Sie sie gelesen haben.«

Außer Briefen enthält der Karton Notizen, Rezepte und Zeitungsausschnitte, die aus irgendeinem Grund aufgehoben worden sind. »Da scheint jemand die Sammelwut gehabt zu haben.« Josh kann sein Glück kaum fassen, aber selbst er wirft viel von dem, was wir finden, in die Kiste für Altpapier.

Wir machen uns über den zweiten Karton her; er stammt von der May Company und entpuppt sich als Schatztruhe, die Mama für ihre Töchter angelegt hat. Ich entdecke Schulzeugnisse, Klassenarbeiten, Buntstiftzeichnungen. Meine Zulassung zum Studium an der Universität, zusammen mit der Zusage für ein Vollstipendium. Und da! Meine Artikel für die Unizeitung, alle fein säuberlich in großen braunen Umschlägen gesammelt, dazu die Leserbriefe, die ich zusammen mit Danny geschrieben habe – glühende Plädoyers für die Rettung europäischer Juden. Ja, klar, sage ich zu Josh, natürlich werde ich ihm die Artikel und Briefe geben, sobald ich sie gelesen und Harriet gezeigt habe.

Ich krame weiter in dem Karton und finde einen Stapel A5-Papier, das von einem Gummiband zusammengehalten wird. Als ich ihn herausnehme, zerbröselt das Gummiband, und herausfallen … o Gott! … Programmhefte von Barbaras Auftritten als Tänzerin. Ein Dutzend oder mehr, mit kunstvoll gestalteten Titelblättern auf dickem, hochwertigem Papier.

Ich schlage eins auf, sitze plötzlich in einem abgedunkelten Saal und sehe meine Schwester tanzen. Ich bewundere sie nicht nur, sondern spüre jede ihrer Bewegungen am eigenen Leib, obwohl ich nie so ausdrucksstark und hingebungsvoll tanzen konnte wie sie. Wenn Scheinwerfer auf sie gerichtet waren, wurde sie lebendig, während mir Privatheit lieber war.

»Elaine«, sagt Josh, und ich merke, dass ich mich plötzlich in einem anderen Jahrhundert befinde. »Waren Sie Tänzerin?«

»Nein, meine Schwester Barbara«, sage ich mit tränenerstickter Stimme.

»Ballett?«

»Moderner Tanz«, krächze ich.

»Hat sie es zu was gebracht, Karriere gemacht?«

»Sie hat das Gleiche getan wie die meisten Frauen meiner Generation: heiraten, Kinder kriegen.« Lügen gehen mir leichter über die Lippen. Trotzdem sehe ich mich plötzlich am Ufer des Los Angeles River stehen. Es stürmt, das aufgewühlte Wasser steigt unaufhörlich, jeden Moment kann der Fluss über die Ufer treten. Unsinn, beruhige ich mich.

Josh fragt, ob er die Programmhefte dem Tanzarchiv der Universität übergeben darf. Nur zu, sage ich. Was soll ich damit anfangen?

Gleich darauf lanciert der Karton den nächsten Angriff auf meinen inneren Frieden: Philips Visitenkarte.

Josh stößt einen leisen Pfiff aus. »Wow! Was hatte Ihre Mutter mit einem Privatdetektiv zu tun?«

Ich murmle, dass ich während des Studiums bei Philip gearbeitet habe. Das fordert Josh zu weiteren Fragen heraus, und er erwähnt einen Namen, den ich noch nie gehört habe. Er steht auf der Rückseite der Visitenkarte. Ich behaupte, plötzlich furchtbare Kopfschmerzen zu haben, bitte Josh zu gehen und schiebe ihn förmlich zur Haustür hinaus. Dann gebe ich den Kampf auf und lasse meinen Tränen freien Lauf.

Am liebsten würde ich alles kurz und klein schlagen oder wenigstens die nächstbeste Vase zerschmettern. Stattdessen ergebe ich mich und lasse die Gefühle zu, die die Erinnerung an Barbara in mir weckt: Trauer, Wut, Reue und Liebe.

2.KAPITEL

UNSER ZEYDE, DER PILOT

AM 28.MÄRZ 1921 UM 23:52UHR BAHNTE SICH BARBARA den Weg aus Mamas Leib ins grelle Kreißsaallicht des White Memorial Hospitals in der Boyle Avenue, Los Angeles. Nur siebzehn Minuten später– aber am nächsten Tag– folgte ich ihr. Hat sie sich vorgedrängt? Habe ich mich aus Angst vor der Welt zurückgehalten? Doch Barbara war immer schneller als ich. Eine halbe Stunde vor mir konnte sie Fahrrad fahren, und alle waren so damit beschäftigt, sie zu beglückwünschen, dass keiner mitbekam, wie ich aufs Rad kletterte und zur Straßenecke eierte. Alle Welt nannte uns Barbara und Elaine, kein Mensch sagte Elaine und Barbara. Und obwohl ich Danny zuerst kennenlernte, war Barbara seine erste große Liebe.

Wir waren keine eineiigen Zwillinge, aber dass wir Schwestern waren, sah man auf den ersten Blick. Wir hatten dichtes, lockiges Haar (ihre Locken waren weicher, dafür hatten meine einen rötlichen Schimmer, auf den ich sehr stolz war), braune Augen mit goldenen Pünktchen und große Nasen, die aber wenigstens gerade waren. Als Teenager war ich nach einem Wachstumsschub plötzlich einseinundsechzig, was für meine Familie ungewöhnlich groß war; Barbara war drei Zentimeter kleiner. Am meisten unterschieden sich unsere Gesichter. Barbara hatte die Apfelbäckchen von Mama geerbt, während ich ein schmales Gesicht und Papas tiefliegende Augen hatte. Mit elf bekam ich eine Brille, und spätestens seitdem galt ich– nicht zu Unrecht– als die Ernste von uns beiden. Werden wir mit der Zeit wie unsere Gesichter, oder spiegeln unsere Gesichter von Anfang an unseren Charakter wider? Beide hatten wir eine angenehme, mittlere Stimmlage und sprachen »so klar und deutlich, ihr solltet zum Radio gehen!«. Papa schämte sich für den Akzent seiner Eltern und seiner Frau und feilte ständig an unserer Aussprache, indem er uns Gedichte aufsagen ließ. Ich musste mir Eselsbrücken bauen, um mir die Texte merken zu können, aber Barbara konnte sie binnen kürzester Zeit auswendig herunterschnurren. Sie sang auch sehr schön, und als sie älter wurde, bekam ihre Stimme einen wunderbar kehlig-rauchigen Klang, während ich kaum die richtigen Töne traf.

Aber wir hatten das gleiche Lächeln, und auf Fotos sieht man die Lücke zwischen unseren Vorderzähnen, die wir von Papa geerbt haben. Hätte es damals schon Videos gegeben, würde man auch sehen, dass Barbara schneller lächelte als ich. Ihre hervorstechende Eigenschaft war nun einmal Schnelligkeit, in jeder Hinsicht. Sie war spontan, lebhaft und warmherzig und hatte immer eine Idee, was wir als Nächstes spielen oder welchen Unsinn wir anstellen könnten. Deswegen war sie die geborene Anführerin für die Kinder aus der Nachbarschaft. Aber sie war auch ungeduldig, impulsiv und rücksichtslos und urteilte schnell über andere. Sie war launisch, manchmal grausam, und wie eine Schauspielerin konnte sie blitzschnell die Rollen wechseln. Wen sie heute bewunderte, konnte sie schon morgen… nein, nicht hassen, sondern komplett vergessen haben.

Wenn sie in Hochform war, hinterließ sie eine Schneise der Verwüstung. Das wurde mir zum ersten Mal klar, als sie 1929 den großen Börsencrash verursachte. Ich war schon alt genug– immerhin achteinhalb–, um zu wissen, dass unsere internen Familienstreitigkeiten nicht gleich globale Katastrophen auslösten, aber der Schwarze Dienstag war für mich immer der Tag, an dem weltweit die Hölle losbrach, weil Barbara unseren Zeyde bloßgestellt hatte.

Dov Greenstein, Papas Vater, wohnte bei uns, in dem Haus, das er mit seiner Familie bezogen hatte, als Papa siebzehn war. Er stammte aber nicht aus Los Angeles, sondern von der anderen Seite des Atlantiks. Bevor er das Meer überquerte, musste er einen Fluss überqueren– eine lächerliche Entfernung verglichen mit den zwei Wochen, die er auf dem stürmischen Atlantik verbrachte. Die Überfahrt muss schrecklich gewesen sein; seit seiner Ankunft in Amerika weigerte er sich, je wieder ein Schiff zu betreten, nicht mal ein Ruderboot im Hollenbeck Park. Trotzdem war die Flussquerung der schwierigere Teil seiner Reise, denn in diesem Moment ließ er alles hinter sich, was er kannte, und jeden, den er kannte. Damals war er siebzehn. Der Kigel, den ihm seine Mutter zum Abschied gebacken hatte, wärmte ihm den Bauch, und der Schal, den sie ihm um den Hals gelegt hatte, war von ihren Tränen durchnässt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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