St. Petersburg, so kühl wie schön! - Hartmut Moreike - E-Book

St. Petersburg, so kühl wie schön! E-Book

Hartmut Moreike

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Beschreibung

St. Petersburg am Newafluss ist voller Magie. In der einstigen und heute heimlichen Hauptstadt Russlands, dem Tor zum Westen, verschmilzt europäische Architektur und Kunst mit russischem Schöpfertum. Die Stadt ist eine Weltmetropole der Kunst und Kultur, etwas mehr als dreihundert Jahre alt und dennoch unsagbar reich an wechselvoller, aufregender Geschichte, in der Deutsche oft eine interessante Rolle spielten. Puschkin und Dostojewski schrieben hier Weltliteratur. Tschaikowski und Schostakowitsch komponierten hier Unvergängliches und Primaballerina Anna Pawlowna tanzte sich als sterbender Schwan unsterblich. Was haben die Sphinxe am Newakai schon gesehen? Dort wo Marc Chagall das Malen seiner Träume erlernte und Anna Achmatowa im roten Leningrad hungerte, fror und dichtete. Wie fest steht die mächtige Alexandersäule auf dem Schlossplatz an der Eremitage, wo die Dekabristen, die Adelsrevolutionäre 1825 zusammenkartätscht wurden. Warum Juwelier Fabergé Ostern die Romanows mit Miniaturkunstwerken beglückte, jene Zaren, deren Herrschaft mit der Salve aus dem Buggeschütz der „Aurora" endete? Nach den Bändchen „St. Petersburg, mon amour!", „Moskau, meine Trauer!" und „Moskau, fremde Schöne!" ist nun das Kleeblatt vollendet mit weiteren dreizehn Geschichten aus meinem Tagebuch eines Herumtreibers, vierzig Jahre quer durch Russland.

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St. Petersburg so kühl wie schön!

Aus dem Tagebuch eines Herumtreibers von Hartmut Moreike

Es liegt etwas unbeschreiblich Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn sie bei Frühlingsbeginn ihre ganze Macht und alle ihre vom Himmel verliehenen Kräfte offenbart, sich putzt und mit Laub und Blüten schmückt...

Fjodor Dostojewski in Weiße Nächte

Inhalt

der dreizehn Kurzgeschichten

Die Frau des Dekabristen

Der Engel mit dem Gesicht von Zar Alexander I.

Repinschüler und Hofmaler des roten Kreml

Ein Schiff, das Geschichte schrieb - der Panzerkreuzer „Aurora“

Der Juwelier der Zaren Peter Carl Fabergé

Die rätselhaften Sphinxe am Kai der Newa

Unsterblich durch den Sterbenden Schwan

Die Leuchtfeuer auf der Strelka

Pariser Romanze der Anna von ganz Russland

Spaziergang in Puschkins Küchengarten

Großvater Krylow - Poet und Junggeselle

Schlüsselburg - idyllischer Ort des Grauens

Marc Chagall - der rote Kommissar von Witebsk

Die Frau des Dekabristen

Es ist eine stürmische Dezembernacht 1826. Eine junge russische Frau verlässt ihr luxuriöses Heim in Sankt Petersburg, verlässt den kleinen Sohn, den sie ein Jahr zuvor unter qualvollen Schmerzen einer Erstgebärenden zur Welt gebracht hatte und ihre Eltern. Mascha oder Maschenka, wie sie von Freundinnen und Verwandten liebevoll genannt wurde. Bei ihrer Audienz beim Zaren Nikolai I. wurde sie, wie es das Zeremoniell vorschrieb, mit vollem Namen vorgestellt: Fürstin Marija Nikolajewna Wolkonskaja. Sie erbat die Gnade, mit ihrem Mann, dem Adelsrevolutionär Fürst Wolkonskij, seine Verbannung im fernen Sibirien teilen zu dürfen.

Der Zar hatte sie vor die Wahl gestellt, entweder ihr Mann oder die Familie. Die junge Fürstin war zu diesem Zeitpunkt ganze einundzwanzig Jahre. Sie, die blutjunge Ehefrau des zwanzig Jahre älteren Offiziers und Edelmannes, eines der gescheitesten Köpfe Petersburgs und Führers des Dekabristenaufstandes adliger Offiziere gegen die despotische Selbstherrschaft des Zaren und gegen die Leibeigenschaft, war vor die schwierigste Entscheidung ihres Lebens gestellt. Eine unmenschliche, eine widernatürliche Wahl.

Ihr Vater und auch ihr Bruder bedrängten sie, ihr wohlbehütetes Dasein, ihr gewohntes Leben in Glanz und Reichtum in Ehren weiterzuführen mit ihrem kleinen Sohn Nikolai. Sie erwähnten die Aussicht einer erneuten Heirat, denn der Zar hatte den Ehefrauen der Dekabristen, die sich von ihren zu langjähriger Verbannung und Kerkerstrafen verurteilten Männern lossagten, die baldige Scheidung angeboten. Sollte sie all dem für immer den Rücken kehren, ihr Kind verlassen, ihren süßen Nikolaschka, die Eltern? Die Welt der schönen Künste und Hofbälle, die fürstlichen Privilegien eintauschen für ein Schicksal als Frau eines Zuchthäuslers, um ihm zu folgen ins Grauen der sibirischen Verbannung, in ein Leben in Armut und Rechtlosigkeit, der Demütigungen und unbekannten Gefahren?“

Sie entschied mit dem Herzen. Fürstin Wolkonskaja verkaufte ihre Brillanten, um die Schulden ihres Mannes zu bezahlen. Dem Zaren schrieb sie am 15. Dezember 1826 das Gesuch, ihrem Mann, der zu lebenslanger Verbannung verurteilt war, folgen zu dürfen. „Majestät, krönen Sie die Anteilnahme, die Sie den Ehefrauen der Verbannten erwiesen haben und gestatten Sie mir, meinem christlichen Gelöbnis treu und bei meinem Manne zu sein, bis dass uns der Tod scheidet.“

Der Zar, einst der hübscheste Prinz Europas, hatte sich zu einem Herrscher entwickelt, der wegen seiner Härte, Strenge, seinem Geiz und der Grausamkeit gehasst wurde, er antwortete schon eine Woche später: „Ich habe, Fürstin, Ihren Brief erhalten. Ich entnahm ihm mit Vergnügen, dass Sie mir wegen des Mitgefühls, das ich für Sie empfinde, dankbar sind. Dennoch halte ich mich eben wegen dieses Mitgefühls für verpflichtet, Sie an dieser Stelle noch einmal vor dem zu warnen, was Sie erwarten wird, wenn Sie über Irkutsk hinaus reisen. Übrigens überlasse ich es vollständig Ihrem Ermessen, die Handlungsweise zu wählen, die Sie in Ihrer augenblicklichen Situation für die geignetstete halten. Ihr Ihnen wohlgeneigter Nikolai. “

Dieser wohlgeneigte Nikolai hatte die Adelsrevolutionäre auf den Schlossplatz zusammenschießen, die Rädelsführer hängen lassen und hunderte von ihnen nach Sibirien verbannt, eine zweifelhafte Gnade, die nur den vornehmsten Fürsten und Offizieren gewährt wurde. Andere verrotteten in der Festung Schlüsselburg vor den Toren der Zarenresidenz. Die Dekabristen, diese Offiziere hatten zuvor Napoleon aus dem Land gejagt und verfolgten ihn siegend bis nach Frankreich, wo sie mit Ideen der französischen Revolution in Verbindung kamen. Mit dem Sieg über Napoleon hatten sie zugleich aber auch den Code Napoleon der Freiheit und Gleichheit kennen gelernt. Sie forderten Reformen, Einschränkung der Macht des Zaren, eine Verfassung und die Aufhebung der Leibeigenschaft. In Geheimbünden bereiteten sie den Sturz des Zaren vor, sollte er nicht gewillt sein, ihre Forderungen zu erfüllen. Am 14. Dezember 1825 (Dezember russ.: Dekabr) verweigerten die adeligen Offiziere mit ihren Regimentern, insgesamt 3000 Teilnehmer, den Eid auf den neuen Zaren und erhoben sich. Doch der Dekabristenaufstand, die erste revolutionäre Erhebung in Russland, wurde durch Verrat und zarentreue Truppen, die mit Kanonen in die Reihen der angetretenen Aufständischen feuerten, blutig niedergeschlagen.

1.271 Menschen wurden getötet, darunter 903 Soldaten. Die fünf Anführer wurden am 13. Juli 1826 hingerichtet und 120 Dekabristen verurteilte der Zar zur Verbannung nach Sibirien und zur Zwangsarbeit in den Erzgruben.

Nikolaus I. selbst nahm an den Untersuchungen teil und der Dekabristenaufstand bestärkte den reaktionären Zaren in seiner Überzeugung, Russland müsse mit eiserner Hand regiert werden. Das war also der Absender des Briefes an Fürstin Marija Wolkonskaja. Die ging mit diesem Schreiben zu ihrem Vater, dem General Rajewski. Der Held der Schlachten von 1812 gegen Napoleon geriet völlig außer Fassung. Er schüttelte seine Fäuste über ihren Kopf und schrie: „Ich werde dich verfluchen, wenn du nicht in einem Jahr zurückkehrst.“ Er liebte seine Tochter so sehr, dass er es nicht ertragen konnte, sie dem leidvollen Leben eines Verbannten ausgesetzt zu sehen.

Schon in der nächsten Nacht reiste sie ab. Sie trennte sich schweigend von ihrem Vater, der sie stumm und mit Tränen in den Augen segnete. Auch ihr verschloss der Abschiedsschmerz die Lippen.

Der Poet Nekrassow schildert diesen Abschied dichterisch eindrucksvoll:

„Ja, Väterchen, ich reise nun,

Bereitet’s Euch auch Schmerz.

Ihr wisst, nichts andres kann ich tun,

Sonst bricht mir selbst das Herz.

Nur einer lindert meine Qual. . .

Lebt wohl, auf Wiedersehn!

Kommt, segnet mich zum letzten Mal,

Lasst mich in Frieden gehn!

Dass Eure Tochter wiederkehrt,

Ist ohne Aussicht zwar,

Doch alles, was Ihr mich gelehrt,

Bleibt heilig mir, fürwahr!

Mein Stolz soll brechen nimmermehr

In jener fremden Welt,

Drum wein ich jetzt auch nicht,

so schwer Mir dieser Abschied fällt.“

Als sie den Schlitten bestieg, sah sie ihn noch einmal an und ihr wurde gewiss: Das ist das Ende. Nie sehe ich ihn wieder. Für meine Familie bin ich gestorben. Und heiße Tränen schossen ihr ins Gesicht, vermischten sich mit den großen, nassen Schneekristallen, die vom Himmel fielen. Der wackere Kavalleriegeneral war ein Mann von Ehre und empfand später großen Respekt für die hochherzige Haltung seiner Tochter. So lange er lebte, versuchte er ihr, in Sibirien zu helfen und noch auf dem Totenbett sagte er stolz über seine Tochter: „Das ist die erstaunlichste Frau, die ich jemals kennen gelernt habe.“

Als Marija Wolkonskaja aufbrach, hatte sie nur so viel Geld bei sich, wie der Reiseschlitten, die Kibitka, bis Irkutsk kostete. In dem Bündel, das sie als einziges Gepäck mit sich trug, waren nur etwas Leibwäsche, drei Kleider und ein wattierter Kapuzenmantel. Als sie dann in Moskau bei ihrer Schwägerin Sinaida Wolkonskaja Station machte, befand sich auch Alexander Puschkin unter den Gästen des Abends, der der mutigen Frau zu Ehren gegeben wurde. Der junge Dichter, der wegen seiner Nähe zu den Adelsrevolutionären vom Zaren verfolgt worden war und den General Rajewski deshalb kurz entschlossen mit auf eine Reise zu den kaukasischen Quellen genommen hatte. Nur schnell fort aus den Augen des Herrschers aller Reußen. Puschkin war schon früher der anziehenden Tochter des Generals begegnet und hatte sich in ihre schwarzen Augen verliebt. In der „Fontäne von Bachtschissarai“ schrieb er:

„Und wo, wo wär ein Augenpaar,

das schwärzer als die Nacht fürwahr,

doch klarer als der Tag zu finden?“

War das noch Schwärmerei des jungen Poeten, der es einfach für seine Pflicht hielt, sich in alle weiblichen Wesen zu verlieben, ob nun französische Gouvernante, Prinzessin oder russische Magd, so versetzte ihn der Entschluss von Marija Wolkonskaja, freiwillig das schwere Schicksal ihres Gatten zu teilen, in echte Begeisterung. Er wollte ihren zarten Händen ein „Sendschreiben nach Sibirien“ für die verbannten Freunde anvertrauen, vor denen er sich seiner Tatenlosigkeit schämte. Da die Fürstin aber schon in der gleichen Nacht weiterreiste, schickte er es ihr nach.

„Tief in Sibiriens Schächten sollt

Ihr stolz das schwere Schicksal tragen

Denn nicht vergeht, was Ihr gewollt,

Nicht Eures Geistes hohes Wagen.

Des Unglücks milde Schwester trägt

Die Hoffnung in die nächt'gen Räume

Des Kerkers lichte Zukunftsträume,

Bis die ersehnte Stunde schlägt.

Durch alle festen Schlösser dringt

Die Lieb' und Freundschaft treuer Seelen,

So wie in Eure Marterhöhlen

Jetzt meine freie Stimme klingt.

Die Fesseln fallen Stück für Stück,

Die Mauern brechen. Freies Leben

Begrüßt Euch freudig, und es geben

Die Brüder Euch das Schwert zurück.“

Diese Tat der Marija Wolkonskaja erregte großes Aufsehen. Elf andere Frauen folgten ihrem Beispiel, teilten Kerker und Verbannung mit ihren Männern. Sie leisteten ihren gefangenen Schicksalsgefährten nicht nur unschätzbare Hilfe, indem sie sie mit Kleidung und Essen versorgten und für sie den Kontakt zur Außenwelt aufrecht hielten. Ihre Tat, als Protest gegen die unmenschliche Herrschaft des Zaren und ebenso ihre liebende Hingabe für ihre Männer machten sie zu Märtyrerinnen, zu Heldinnen, denen die Dichter Denkmäler setzten und über die das Volk in seinen schwermütigen Liedern sang.

Genau das hatte der Zar verhindern wollen. Seine Majestät missbilligte es in scharfen Worten, dass die jungen adligen Frauen ihren Männern in die Hölle sibirischer Arbeitslager folgten.

Nach zwanzig Tagen ungeheuer mühseliger Reise mit schlechten Postpferden und betrunkenen Kutschern, belästigt von umherstreunenden Kosaken, kam die junge Frau in Irkutsk an. An den Zivilgouverneur von Irkutsk, dem Deutschen Zeidler, eigentlich ein herzensguter Mensch, war strenge Order ergangen, die Wolkonskaja zur Rückkehr nach Russlands Metropole zu überreden. Als Marija Wolkonskaja dennoch entschlossen war, ihrem Mann zum Blagodatsker Bergwerk im Bezirk Nertschinsk zu folgen, wurde ihr spärliches Gepäck durch ein Rudel von Beamten durchwühlt, die sich ein Spaß daraus machten, die Leibwäsche der jungen und nun rechtlosen Fürstin triumphierend in die Höhe zu halten. Danach musste die gedemütigte Frau ein Schriftstück unterschreiben. Ohne ein Blick auf das Dokument geworfen zu haben, unterzeichnete sie. Ihr alter Diener, der sie bis Irkutsk begleitet hatte, brach in Tränen und in Wehklagen aus: „Meine Fürstin, was haben Sie bloß getan, lesen Sie doch, was von Ihnen verlangt wird!“

Das Schriftstück hatte folgenden Wortlaut:

„Eine Frau, die ihrem Manne folgt und die eheliche Verbindung mit ihm aufrecht erhält, wird dadurch natürlicherweise seines Schicksals teilhaftig und verliert ihren bisherigen Stand, das heißt, sie wird von nun an als Ehefrau eines verbannten Zuchthäuslers behandelt. Damit nimmt sie alles auf sich, was eine solche Stellung an Belastungen mit sich bringt, denn auch die Obrigkeit ist dann außerstande, sie vor den eventuell stündlich eintretenden Beleidigungen von Leuten aus der verkommensten, verächtlichsten Klasse zu schützen, die sich dann sozusagen für berechtigt halten, die Frau eines Staatsverbrechers, die ihr Los teilt, als ihresgleichen zu behandeln.

Derlei Beleidigungen können unter Umständen sogar gewalttätiger Natur sein. Verstockte Verbrecher haben keinerlei Furcht vor Bestrafung. Kinder, die in Sibirien zur Welt kommen, werden als leibeigene, der Krone gehörige Bauern angesehen. Es ist nicht gestattet, Geldbeträge und Wertgegenstände mitzuführen. Das ist wider die Vorschrift und ist zur eigenen Sicherheit erforderlich, da die Örtlichkeit von Menschen bewohnt wird, die zu jeglichen Verbrechen fähig sind. Durch die Abreise ins Nertschinsker Gebiet erlischt das Recht auf Mitführung von Leibeigenen.“

Nachdem ihr Gepäck peinlich durchsucht worden war, reiste die junge Frau nur in Begleitung eines freien Kosaken, die wegen ständiger Unruhen nach Transbaikalien versetzt war, über den zugefrorenen Baikal. Der Kosak war ein älterer Mann und hatte Mitleid mit der zarten, bildschönen Frau. Er sprach kein Wort mit ihr. Nur zu Anfang hatte er gesagt: „Fräulein, nach Blagodatsk wollen Sie, dann beten Sie zu Gott. Das ist für Sie das Grab.“

Der grimmige Bargusin, vor dem sich die Zobel mit dem herrlichsten aller Felle zu schützen wissen, wehte ihnen schneidend ins Gesicht. Es war so kalt, dass der Wolkonskaja die Tränen auf den Wangen gefroren und der Atem mit einem leichten Knistern zu Eiskristallen erstarrte.

Sternengeflüster nennen es die naturverbundenen Jakuten, die hier am Südufer des Baikalsees wohnen. „Was soll es“, sagte der Kosak, „w simnij cholod - wsakij molod“. In Winterskälte bleibt man jung. Ein sibirisches Volkslied besingt die Flucht eines Verbannten über das sibirische Meer mitfühlend:

Herrlicher Baikal, du heiliges Meer,

Auf einer Lachstonne will ich dich zwingen!

Scharfer Nordost treibt die Wellen daher.

Rettung, sie muss mir gelingen.

Jahrelang schleppt ich die Kette am Bein,

fern in Sibiriens eiskalten Bergen.

Bis eines Tags es gelang zu befrein,

mich von den Ketten und Schergen.

Schilka und Nertschinsk, ihr nicht schreckt mich mehr.

Tigern und Bären bin heil ich entgangen;

Nimmer noch traf mich des Jägers Gewehr.

Kosakenwacht, sie konnt mich nicht fangen.

Heimlich entwich ich in stockdunkler Nacht,

wochenlang musst ich die Taiga durchtraben,

Städte umging ich, das Bauernvolk bracht

Brot mir und andere Gaben.

Herrlicher Baikal, du heiliges Meer.

Auf einer Lachstonne will ich dich zwingen,

Spann meinen Kittel als Segel verquer,

Rettung, sie muss mir gelingen.

Nach Wochen der Entbehrung, abgemagert und krank kam Marija Wolkonskaja „hinter dem Meer“ im Gefängnis des Blagodatsker Bergwerkes an, eines von zehn granitenen Gefängnissen, einer trübseligen, schmutzigen ehemaligen Kaserne. Rings um den Ort hatten die Gefangenen alle Wälder im Umkreis von fünfzig Werst roden müssen aus der Besorgnis, flüchtige Zuchthäusler könnten sich darin verstecken. Ein trostloser Anblick, dazu der Schnee wie ein Leichentuch und die schwarzen Kegel des tauben, aus der Tiefe geförderten Gesteins. Der Dichter Nekrassow schildert es in seinem Poem „Russische Frauen“ eindrucksvoll:

Kein Baum, kein Strauch, nur Schnee, sonst nichts,

Soweit das Auge späht.

„Das ist die Tundra!“ Schläfrig spricht's

Der Kutscher, der Burät.

Die Fürstin denkt: Unfassbar schier

Ist’s, dass ein Mensch hier lebt.

Und doch ist’s hier, wo blind vor Gier

Sibiriens Gold, man gräbt.

Im schwarzen Moor, tief im Morast

Der Ströme liegt’s versteckt.

Sumpffieber hat Unzählige fast

Zu Boden hier gestreckt.

Tausende sind namenlos, hierher verbannt,

Im Bergwerksschacht verreckt!

Hat dich dazu, verfluchtes Land,

Der Kosak Jermak einst entdeckt?

Von einem Wachoffizier wurde Marija Wolkonskaja in den Verschlag geführt, wo ihr Mann mit zwei weiteren Dekabristen, Trubezkoi und Obolenski, zusammengepfercht war. Es war so dunkel, dass sich ihre Augen erst an das schwache Licht gewöhnen mussten. Sie hätte ihren Mann wohl kaum erkannt, wie er sich so eingefallen, blass, bärtig, kahl rasiert und zerlumpt aus dem schmutzigen Stroh erhob. Aber Sergej stürzte auf sie zu und das Gerassel seiner zehnpfündigen Fußfesseln ließen sie zurückschrecken. Sie sah in sein leidgeprüftes Gesicht, das von der Härte der Gefangenschaft und den unerträglichen Qualen gezeichnet war. Marija sank vor ihrem Mann in die Knie, in das stinkende Stroh und küsste erst seine Ketten und dann ihn.

Obwohl die Zellen seit Anfang Oktober geheizt wurden, war es kalt und feucht in dem Loch, weil die Aufseher das Brennholz stahlen. Weder Betten noch Decken standen den Gefangenen zu, die sich mit ihren von der Arbeit im Schacht zerschlissenen Pelzjoppen zudecken mussten. Der ganze Bau roch widerlich nach der berühmt berüchtigten Sträflingssuppe, der Ballanda. Sie war das reinste Spüllicht. Ein wenig Kohl, Grütze, mit schmutzigen Kartoffeln, versetzt mit Schaben und kaum Brühe, denn das Fleisch wurde noch halbgar aus dem Kessel gefischt, damit es beim Zerteilen in Portionen nicht zerfiel.

Das einfache Volk, vor dem die Frauen der Dekabristen so eindringlich gewarnt worden waren, das angeblich weder Ehre noch Gewissen hatte, es behandelte die „feinen Fräuleins“ mit Respekt und Liebe. Den fürstlichen Arbeitssklaven versuchten sie, das ungewohnte Leben zu erleichtern und erboten sich, ihre Tagesnormen von drei Pud (1 Pud - 16,38 kg) Silbererz zu übernehmen. „Es macht uns nichts aus, Euer Hochwohlgeboren, wir sind als Arbeitsvieh Plackerei gewöhnt“, sagten diese ‚Verbrecher’ hochherzig. Die zur Zwangsarbeit verurteilten Kriminellen wurden ansonsten verächtlich Kobylka, sibirisch für Heuschrecke, genannt. Heuschrecken mit mehr menschlichen Regungen als die so genannten bessere Gesellschaft. Die Verworfenen und Ausgestoßenen begegneten in Sibirien den Streitern gegen die Zarenwillkür mit Respekt und einer geradezu kindlichen Verehrung.

Und so war es selbstverständlich, dass die zarte aber tatkräftige Marija Wolkonskaja sich nicht nur für die gefangenen Adelsrevolutionäre, sondern auch für die ortsansässige Bevölkerung einsetzte. Sie unterrichtete die Bauernkinder im Lesen, Schreiben, Sticken und Singen. Außerdem heilte sie die oft grässlichen Wunden der verunglückten Sträflinge, denn der dem Gefängnis zugeteilte Arzt war nur ein Medizinstudent, der sich mit Methylalkohol um den Verstand gesoffen hatte. Die Fürstin ließ sich bei einem approbierten Arzt, einem waschechten Sibirier, in einem nahen Dorf ausbilden. Dafür half sie ihm in den Sprechstunden, beim Sammeln der Kräuter und bei der Herstellung der Medikamente.

Die Fürstin Marija Wolkonskaja wurde so eine Heilige. Der Ruf ihrer Heilkunst drang durch die triste, unwirtliche Gegend, in welcher Typhus und Schwindsucht, Syphilis und andere Seuchen grassierten. Schlicht gekleidet ging sie in die Siedlungen, heilte Säuglinge mit blau angelaufenen Bäuchen, Waldarbeiter mit grindigen Geschwülsten und half Kindern in dieses entbehrungsreiche Leben.

Der Dichter Nekrassow hörte von dieser hochherzigen Frau und widmete ihr und ihren Gefährtinnen sein Poem „Russische Frauen“, das weltberühmt wurde. Die Dekabristen und ihre Frauen brachten damals in diesem, fernen, kaum entwickelten Teil der Welt als Sträflinge Kultur, Bildung und medizinische Versorgung und stehen dafür noch heute in Sibirien in hohem Ansehen.

Neunundzwanzig Jahre lebte Marija Wolkonskaja in der Nähe ihres Mannes in Nertschinsk, Tschita, in Urik und ab 1837 in Irkutsk, wo sie ein Waisenhaus gründete.

1855 starb Nikolaus I. Sein Sohn, Zar Alexander II. folgte ihm auf den Thron. Die folgende Amnestie ermöglichte der Familie Wolkonskij die Rückkehr in die Heimat. Von den 121 verbannten Dekabristen waren nur noch fünfzig am Leben. Die einen starben in der Gefangenschaft, in Einzelhaft und andere wurden bei Fluchtversuchen erschossen. 1863 starb Marija Wolkonskaja an einem Herzleiden, das sie sich in Sibirien zugezogen hatte.

Im Dekabristenmuseum in Irkutsk habe ich lange vor dem Porträt der Marija Wolkoskaja gestanden und wusste nicht, was mich mehr beeindruckte: ihre Schönheit oder das schlichte Heldentum einer liebenden Frau. Und mir kamen Dostojewskis Worte aus dem Roman „Der Idiot“ in den Sinn: „kpacoma cnacëm mup.“ Die Schönheit wird die Welt retten! Eine schöne Utopie!

Übrigens haben die Witwe und die Töchter von Nikolaus I., der auch wegen seiner despotischen Herrschaft als Prügelzar in die Geschichte einging, 1859 auf dem Isaakplatz in St. Petersburg ein Denkmal errichten lassen. Es ist statisch hoch interessant, weil das schwere Reitermonument nur auf zwei Punkten ruht, den Hinterläufen des Pferdes.

Was das künstlerische anbelangt, so hat der renommierte Bildhauer Baron Peter Clodt - Пётр Клодт, der übrigens von Nikolaus I. geschätzt und protegiert wurde, ein satirisches Meisterwerk geschaffen. Die Zarenwitwe Alexandra Fjodorowna, die einstige Prinzessin Frederike Luise