Mockba und die Moskauer - Hartmut Moreike - E-Book

Mockba und die Moskauer E-Book

Hartmut Moreike

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Beschreibung

Weil aller guten Dinge drei sind, wieder einmal ein Buch über die Moskowiter, Dichter und Maler, Militärs und Mimen, die sich nicht nur um die Stadt verdient gemacht haben oder durch historische Ereignisse mit Moskau verbunden sind. Da fahren herrenlose Hunde Metro, steigt ein armes jüdisches Mädchen aus dem Moskauer Getto zur bewunderten adligen Kokotte Frankreichs auf, wird klares Wasser über die gewöhnungsbedürftige russische Badekultur eingeschenkt oder das innerste Geheimnis der Matrjoschka gelüftet. Wer ist der Autor des fabelhaften Gedichts "Der Hase im Rausch" und wie nah war die Welt am atomaren Inferno? Wo gibt es die besten Steaks und wer war Doktors Schiwagos Geliebte oder des Zaren Peters Nachtigal? Einige Themen von siebzehn Kurzgeschichten dieses Bändchens, herausgerissene Seiten aus meinen Tagebüchern, eines Herumtreibers vierzig Jahre kreuz und quer durch Russland. Ehrliche Prosa, eine Sprache, die alle Welt versteht. осква не сразу строилась – ja, auch Moskau wurde nicht mit einem Mal gebaut und ist noch immer nicht fertig. Doch sein Wachsen und Werden über beinahe acht Jahrhunderte ist mit unzähligen wichtigen und skurrilen Ereignissen und Geschichten verbunden, ist das Werk vieler kluger und schöpferischer Menschen, von denen einige Helden diesen Kurzerzählungen sind.

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"Sie sollten einmal eine Reise durch Russland machen. Sie kennen das Land, wie es vor zehn Jahren war, aber das genügt jetzt nicht mehr. In zehn Jahren ereignet sich in Russland mehr, als in einem anderen Staate während eines halben Jahrhunderts. ...“

Nikolai Gogol

Inhalt

Schwarzfahrer mit vier Pfoten

Kavalier des Ordens des Lächelns

Sandunowa - die legendärste Moskauer Banja

Der Mann, der nichts tat und so die Welt rettete

Die Potjomkinschen Dörfer, ein Missverständnis

Tanzender Weltstar mit Moskauer Adresse

Matrjoschka - Russlands beliebtestes Souvenir

Die Moskauerin, die zur Kurtisane La Païva wurde

Das nimmermüde russische Dinner for One

Die Muse von Pasternak - des Allerlebendigsten

Keine Fische bei Russlands größtem Koch

Zar Peters Geliebte aus der deutsche Vorstadt

La comtesse Vera in der Résistance in Paris

Schock für die Moskauer, die Manege brennt

Die Nachtigall des Zaren Peter I.

Der Arbat, Moskaus viel besungene, alte Straße

Jewtuschenkos Erkenntnis: „Alles ändert sich, wenn wir lieben“

Schwarzfahrer mit vier Pfoten

Natürlich ist es ein Gerücht, dass die Moskauer Straßenhunde die Metro zum Platz der Revolution benutzen, nur um den berühmten bronzenen deutschen Schäferhund eines Grenzsoldaten, den die Kinder Muchtar nach einem TV-Serienhund nennen, zu besuchen, dessen Schnauze schon ganz golden abgewetzt ist, nur weil die Moskauer glauben, er bringe Glück. Ebenso wenig ist es bewiesen, dass junge Frauen immer wieder den Hahn der Kolchosbäuerin streicheln als Symbol der Fruchtbarkeit und dann postwendend ein Kind unter dem Herzen tragen.

Aber die Moskauer haben ein Herz für Hunde, besonders für die Streuner, die sich frei und schlau in der 15-Millionenmetropole durchschlagen. Das bestätigte sich auch wieder, als eine Straßenhündin, sie nennen die Russen Dwornjaschka, die wie immer ohne Besitzer die Metro nutzte, eines Mittags, es war im Oktober 2016, in einem Wagon neun quietschende Welpen zur Welt brachte. Die Metromitarbeiter wurden informiert und die veranlassten, dass der Wagen von Passagiere sofort geräumt wurde und der Kreißwagon wurde ins Depot gebracht, wo sich ein Veterinär um die junge Familie kümmerte und ins Tierheim brachte, wo das kleine berühmte Metrorudel seiner Vermittlung in gute Hände entgegen sehen sollte.

Die meisten Moskauer wünschten sich jedoch, für uns völlig unverständlich, dass die Hündin kein liebevolles zu Hause finden würde, denn sie ist die Freiheit gewohnt und ganz Moskau ist ihr Revier und die Metro nutzt sie wie die Berufspendler, die in den Hochhaussiedlungen rings um die russische Metropole wohnen und die täglich in die Innenstadt zur Arbeit kommen. Clevere Rüden, die werden scherzhaft Intelligenzler genannt, steigen sogar um, so dass sie den schnellsten und Pfoten schonenden Weg zu Plätzen finden, an dem sie genug Futter erwartet und wo sie oft durch tierfreundliche Babuschkas gefüttert werden.

Die Streuner sind Einzelgänger und nicht zu vergleichen mit den Rudeln der Hunde in den Datschenvororten, deren Vierbeiner im Herbst einfach von ihren Besitzern draußen ausgesetzt werden und ihrem Schicksal überlassen bleiben, wo sie sich im wahrsten Sinne des Wortes durchbeißen müssen oder vor die Hunde gehen. Die Moskauer Dwornjaschki, was so viel wie Hofköter heißt, sind intelligent und beherrschen das Straßenbild schon seit zwei Jahrhunderten. Und die Stadtverwaltung toleriert diese herrenlosen Promenadenmischlinge, deren Zahl auf 40.000 geschätzt wird. Ja, die Moskauer, die ja bekanntlich nicht jeder Träne glauben schenken, lieben sie, weil sie sich in der Millionenmetropole bei dem verrückten Verkehr, bei Sommerhitze und arktischen Minusgraden, in denen man keinen Hund vor die Tür jagt, durchschlagen, eben wahre Überlebenskünstler sind. Ein wenig sehen sie sich als Schicksalsgefährten.

Inzwischen gibt es Verhaltensforscher, wie den Biologen Andrej Pojarkow, der sich seit drei Jahrzehnten der Erforschung dieser besonderen Spezies der Wolfabkömmlinge verschrieben hat, wissenschaftlich also auf den Hund gekommen ist. Seine Beobachtungen verblüffen die Fachwelt. Denn wenn Haus- und Hofhunde Menschenansammlungen tunlichst vermeiden, so fühlen sich die Streuner im Gedränge wohl, haben sich die Kerle mit Fell und nasser Schnauze angepasst, ja sie imitieren sogar menschliches Verhalten. So haben sie gelernt, dass in den Morgenstunden das meiste Futter zu holen ist und man dann den Tag ruhig in irgend einer warmen Ecke verschlafen kann. Auch dass sie die Metro bewusst nutzen, hat der Hundeforscher nachgewiesen, ja einige haben sogar ihre festen Routen zu den einstigen Kolchosmärkten, wo immer etwas abfällt.

Doch für Pojarkow ist es immer noch ein Rätsel, woran sich die vierbeinigen Pendler in dem verwirrenden System der zweihundert Metrostationen auf den zwölf Linien mit ihren zahlreichen Übergängen und endlosen Rolltreppen orientieren, in denen sich die Besucher der Stadt oft hoffnungslos verirren. Fakt ist, dass viele Hunde, die in den Außenbezirken hausen, tagsüber in die Innenstadt mit der Metro fahren und abends in die Vororte zurückkehren. Und die Moskauer Straßenköter sind so schlau, dass sie eine eigene Taktik entwickelt haben, um an Futter zu kommen. Sie machen rührende Gesten, kleine Kunststücke, betören die Moskauer mit liebevollen Blicken oder stellen sich krank und hilflos. Und für einen Bissen Brot, das hierzulande immer noch recht billig ist, wedeln sie dankbar mit dem Schwanz. Vor allem große Rüden haben eine andere Methode. Sie schleichen sich an Menschen, am liebsten an Frauen heran, die gerade etwas essen und bellen sie unverhofft laut an, so dass die vor Schreck ihren Imbiss fallen lassen, mit dem der schlaue Hund dann das Weite sucht.

In der Regel aber zeigen sie sich von einer anderen Seite, flegeln sich ganz entspannt nicht etwa auf dem schmutzigen Boden der Metrowagen, sondern rekeln sich aggressionslos auf den Sitzen, lassen sich streicheln und bekommen so den einen oder anderen Happen. Geraten die Moskauer schon einmal wegen eines Sitzplatzes in Streit, den privilegierten Streunern wird der Platz großzügig überlassen und wenn nicht, zeigen die nur zum Spaß einmal knurrend ihre wohlgeformten Fangzähne.

Kavalier des Ordens des Lächelns

Als Sergej Michalkow - Сергей Владимирович Михалков - im Vorfrühling 1913 in Moskau in einer Adelsfamilie geboren wurde, hing schon das Gewitter des Ersten Weltkrieges über Europa. Der Vater Wladimir, ein angesehener Rechtsanwalt eines alten Bojarengeschlechts, hatte den Beruf an den Nagel gehängt und sich in der Zeit der Entbehrungen auf Geflügelzucht spezialisiert und das mit großen, auch finanziellem Erfolg, was ihm später als ersten Geflügelzüchter der jungen Sowjetunion Ruhm, Ehre und sogar Orden einbrachte.

Die Zarenfamilie der Romanows feierten ungeachtet der drohenden Kriegsgefahr das 300. Jubiläum der Herrschaft ihrer Dynastie mit rauschenden Festen und die Zarin Alexandra Fjodorowna erhielt von ihrem Gatten ein kostbares Fabergé-Ei geschenkt. Auf dem goldenen Ei sind alle Zaren der Romanows in achtzehn Miniaturbildnissen, eingerahmt von Diamanten, verewigt und es ist heute eine Zierde in der Rüstkammer des Moskauer Kreml. Dem jungen Serjosha wurde ein goldener Jubiläumsrubel mit dem Bildnis von Zar Nikolaus II. in die Wiege gelegt.

Und zur Freude der Eltern zeigte klein Serjosha früh ein mehr als kindliches Interesse an Literatur und Poesie. Mit gerade einmal neun Jahren schrieb er neben Gedichten „Ein Märchen von einem Bären“ und bot es kühn dem namhaften Mirimanov-Verlag an, der sich auf Literatur für Kinder spezialisiert hatte. Er erhielt zwar ein Anerkennungsschreiben und ein kleines symbolisches Honorar, aber veröffentlicht wurde sein Frühwerk nicht. Das entmutigte den kleinen Poeten in keiner Weise und als er fünfzehn war, wurden seine Gedichte erstmals in einem Provinzblättchen in der Region von Stawropol, wohin es ihn und die Eltern verschlagen hatte, gedruckt. Was er selbst nicht zu hoffen wagte, war das der Beginn einer äußerst erfolgreichen literarischen Karriere.

Nach der Schule in Pjatigorsk kehrte er in seine Geburtsstadt Moskau zurück, wo er Gedichte schrieb, die er an den Moskauer Rundfunk einsandte, die auch dort zitiert wurden. Aber davon konnte der aufstrebende Dichter nicht leben, und so arbeitete er drei Jahre als Hilfsarbeiter im Moskvoretskaya Textilveredlungsbetrieb, nahm an einer geologischen Expedition in den Osten Kasachstans und an die Wolga teil. Eine gute Schule für Sergej, dessen Verse nun schon als Mitglied der Vereinigung proletarischer Schriftsteller in der nationalen Presse veröffentlicht wurden, so in der illustrierten Zeitschrift „Ogonjok - Flämmchen oder Lichtschimmer“ - mit ihrer Großauflage. Ogonjok war 1899 bereits die illustrierte Wochenbeilage der Zeitung „Birschewyje wedomosti“, also Börsennachrichten, bevor sie 1902 den Start als eigenständige Zeitschrift hinlegte. Das beliebte Magazin existiert noch heute und zählt zu ihren Abonnenten auch den Präsidenten Russlands, Wladimir Wladimirowitsch Putin.

Mit nun schon 22 Jahren veröffentlichte Michalkow sein Gedicht „Onkel Stepa“, das seither zum Klassiker der Kinderliteratur geworden ist. Und viel später einmal gefragt, warum er bei seinem Talent Gedichte und Märchen vor allem für Kinder schreibt, antwortete er weise: „Fantasie zu entwickeln, ist nicht nur eine Erziehungsaufgabe der Lehrer, alles beginnt mit der Kindheit“ und schmunzelnd ergänzte er: „Kinder sind das kritischste und zugleich das dankbarste Publikum.“ 1933 berief man den aufstrebenden Michalkow in das Kollegium junger Autoren in der Zeitschrift „Ogonjok“ und er konnte nun von seinen Veröffentlichungen in den verschiedensten Zeitungen wie „News“, „Komsomolskaja Prawda“, „Iswestia“ und „Wetschernaja Moskwa“ gut leben. Denn im Lande Puschkins ist die Dichterei keine brotlose Kunst. Russland lebt mit dem Gedicht. Es gibt wohl kaum ein anderes Land, in dem der Dichter so populär ist wie ein Filmstar oder Volkstribun, wo sich Tausende versammeln, um Verse zu hören, wo einfache Menschen in gehobener Stimmung nicht nur Lieder singen, sondern Gedichte deklamieren, wo ein durchschnittlich Gebildeter hunderte und mehr Verse auswendig weiß. Dennoch hielt man es höheren Ortes für geraten, den hoffnungsvollen Autodidakten auszubilden und schlug ihm 1935 das Studium am Gorki-Literaturinstitut vor, das er 1937 mit großem Erfolg abschloss. Denn schon 1936 wurde sein erster Gedichtband gedruckt und während der Studienzeit hatte er zahlreiche Kindergedichte und Fabeln geschrieben, die noch heute in aller Munde sind.

Am Literaturinstitut verliebte sich Sergej Michalkow in das Mädchen Svetlana, das dort ebenfalls studierte. Im Überschwang der ersten Liebe versprach er ihr zu Ehren ein Gedicht zu schreiben, das am nächsten Tag in einer Zeitung stehen würde. Sie glaubte ihm nicht und hielt ihn für einen Spinner und Angeber. Doch wie groß war ihr Erstaunen, als am nächsten Tag das ganze Seminar tuschelnd die Zeitung mit dem Gedicht „Svetlana“ las. Doch dieser Liebesbeweis hatte ein unerwartetes Echo. Denn auch Väterchen Stalins Tochter hieß Svetlana. Als der Herr im Kreml das Gedicht gelesen und für gut befunden hatte, dachte er, dass es für seine Erstgeborenen geschrieben worden war und bat, den Autor zu kontaktieren, um zu sehen, ob er vielleicht irgendeine Hilfe braucht. Doch wie das so ist, die erste Liebe wird selten die Ehefrau. Denn die wurde es, wie so oft, durch Zufall. 1936 wurde Michalkow in das Haus des bekannten Malers, Grafikers und Bühnenbildners Pjotr Petrowitsch Konchalowski eingeladen. Der führte mit Olga, der ältesten Tochter des berühmten Malers Wassili Surikow, eine lange und glückliche Ehe, in die ihre Tochter Natalya geboren wurde. Surikow war natürlich für den jungen Literaten Michalkow kein Unbekannter, gehörte der doch mit seinen Gemälden „Menschikow in Berjosowo, „Die Bojarin Morosowa“, „Jermaks Eroberung Sibiriens“, „Die Alpenüberquerung Suworows“, „Stepan Rasin“, „Der eherne Reiter“ und „Am Morgen der Hinrichtung der Strelizen“ zu den wohl bedeutendsten Malern Russlands und Europas im so genannten Silbernen Zeitalter der russischen Kunst, eine Legende also. Sergej Michalkow, der die Einladung als große Ehre ansah, verliebte sich auf der Stelle in die Tochter des Hauses Natalya, eine schöne und kluge junge Frau, die zehn Jahre älter und schon eine anerkannte Schriftstellerin war. Auch sie fand Gefallen an den jungen Lyriker, der ihr bereits beim dritten Treffen kühn den Vorschlag machte, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Natalya stimmte zu und das Paar begann zusammen zu leben und zu arbeiten.

Ein Jahr später wurde Michalkow Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR und zwei Jahre danach, vielleicht hatte Stalin den Weg des Poeten verfolgt, bekam er seinen ersten Staatspreis. Doch wenige Tage nach der Feier mit Freunden und Kollegen, als der funkelnagelneue Leninorden in Krimsekt getauft wurde, kam die Einberufung in die Armee als Kriegsberichterstatter für Reportagen über die Ereignisse in der westlichen Ukraine und Finnland. Hatte er als kleiner Bub den Ersten Weltkrieg noch nicht in seiner Unmenschlichkeit verstanden, so durchlebte er von 1941 bis 1945 in der Roten Armee und oft an vorderster Front den Überfall auf seine Heimat und den heldenhaften, opferreichen Kampf um ihre Befreiung. Und weil er fest daran glaubte, dass die Kinder Europas nach diesem fürchterlichen Krieg in Frieden aufwachsen würden, schrieb er neben seinen Kriegsberichten für die großen Zeitungen wie „Prawda“ und „Roter Stern“ in Unterständen und auf Militärlastwagen, in Lazarettzügen und auf Geschützlafetten auch Geschichten für Kinder. Es entstanden „Wahre Geschichte für Kinder“, „Pionier Paket“, „Die Karte“, „Die Mutter“ und andere.

1944 beschloss die Regierung der Sowjetunion, eine neue Nationalhymne in Auftrag zu geben, die die bis dahin zu feierlichen Anlässen intonierte „Internationale“ ablösen und den patriotischen Geist des eigenen Volkes stärken sollte. Es wurde ein landesweiter Wettbewerb für Komponisten und Texter ausgeschrieben. Als das Michalkow am Radio in der Sylvesternacht zum Jahr 1945 hörte, war sein Entschluss klar. Er würde sich am Wettbewerb beteiligen. Zunächst suchte er erst einmal das Wörterbuch heraus und las, was überhaupt eine Hymne sei und nahm den Text des Liedes der kommunistischen Partei zur Hand, um sich ein wenig zu orientieren. Dann machte er sich gemeinsam mit seinem Co-Autor Gabriel Ureklyan daran, den Text zu entwerfen.

Es heißt verschiedentlich, die neue Hymne sei unter direkter Leitung von Stalin entstanden, was glatter Unsinn ist. Wahr aber ist, dass Michalkow zwei Tage später den Text an das Komitee schickte und Generalissimus Stalin persönlich unter allen Einsendungen Michalkows Text auswählte. Er beauftrage Alexander Alexandrow, der zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges schon mit einer Komposition das Volk zu den Waffen rief mit „Вставай, страна огромная, Вставай на смертный бой – Steh auf, du großes Land, zum Heiligen Krieg“ zur neuen Hymne die Musik zu komponieren. Im Juli 1941, wenige Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion erklang dieses patriotische Lied zum ersten Mal aus dreihundert Soldatenkehlen auf dem Platz vor dem Bjelorussischen Bahnhof in Moskau, wo Freiwillige an die Front verabschiedet wurden.

Teilnehmer der Kesselschlacht bei Smolensk, wo es der Roten Armee im Juli 1941 erstmals gelang, den Vormarsch der faschistischen Wehrmacht aufzuhalten und so etwas wie eine neue Verteidigungslinie aufzubauen, schwörten mir nüchtern, dass das Lied ihnen mehr gegeben hätte als die hundert Gramm Wodka, die vor jedem Gefecht den Soldaten ausgeschenkt wurden. Die neue Staatshymne sollte also jener Komponist Alexandrow in Noten setzen, der 1928 aus zwölf Soldaten eines Chores das legendäre Gesangs- und Tanzensemble der Roten Armee, scherzhaft auch die singende Waffe der Sowjetunion genannt, gegründet hatte. Unvergessen ist der Auftritt des Alexandrow-Ensembles, das 1937 auf der Pariser Weltausstellung mit dem „Grand Prix“ ausgezeichnet wurde, auf den Stufen des zerstörten Konzerthauses auf dem Berliner Gendarmenmarkt am 18. August 1948. Inmitten der Ruinen der Innenstadt waren die Berliner zusammen geströmt, oft nicht ganz freiwillig, und hörten anfangs skeptisch die Lieder des einstigen Feindes in einer so fremd klingenden Sprache. Doch als der Tenor Viktor Nikitin „Im schönsten Wiesengrunde“ auf deutsch sang, riss er sogar die „Besiegten“ zu Beifallsstürmen hin.

Die Hymne Russlands von Michalkow und Alexandrow wird seit 2000 wieder mit einigen textlichen Korrekturen als Staatshymne gespielt und gesungen: „Von südlichen Meeren bis zum Polargebiet erstrecken sich unsere Wälder und Felder. Einmalig in der ganzen Welt! So einzig bist Du, von Gott beschütztes Heimatland!“

Nach dem Zweiten Weltkrieg widmete sich Sergej Michalkow wieder seiner literarischen Tätigkeit, schrieb Theaterstücke für das Moskauer Kindertheater, gab die satirische Wochenschau „Docht“ heraus und machte sich als Drehbuchautor dutzender Filme einen Namen. Filme, in denen sein Sohn Nikita erst Hauptrollen spielte und später als international mit Preisen verwöhnte Cineast Regie führte. Daneben engagierte sich der nun vielfach ausgezeichnete Autor Sergej Michalkow, dessen Kinderreime jedes Mädchen und jeder Junge im Lande noch als Erwachsener nicht vergessen hat, in sozialen Fragen, saß im Parlament des Obersten Sowjets des Landes und war Vorsitzender eines beratenden Komitees beim Ministerium für Kultur der Sowjetunion.

2005 übernahm der 92jährige Schriftsteller den Vorsitz des Exekutivkomitees des Internationalen Schriftstellerverbandes. Sergej Michalkow war Mitglied der Akademie der pädagogischen Wissenschaften und Verdienter Künstler der RSFSR. Der Schriftsteller wurde mit zahlreichen staatlichen nationalen und internationalen Literaturpreisen geehrt. Doch viel höher als den Titel des Held der Sozialistischen Arbeit schätzte er die internationale Auszeichnung als Kavalier des „Ordens des Lächelns“, die ihm auf Antrag vieler Kinder in Russland, Weißrussland und Polen verliehen worden war.

Ein Werk, das auch in der DDR in der Reihe „Jazz und Lyrik“ im Kinotheater Babylon bei seiner legendären Premiere für Beifall und Lachsalven sorgte, war sein im doppelten Sinne fabelhaftes Gedicht: „Der Hase im Rausch“:

Der Igel hatte einst zu seinem Wiegenfeste

den Hasen auch im Kreise seiner Gäste,

und er bewirtete sie alle auf das Beste.

Vielleicht ist's auch sein Namenstag gewesen,

denn die Bewirtung war besonders auserlesen,

und geradezu in Strömen floss der Wein,

die Nachbarn gossen ihn sich gegenseitig ein.

So kam es denn, dass Meister Lampe

bald zu schielen anfing, er verlor den Halt.

Er konnte nur mit Mühe sich erheben

und sprach die Absicht aus,

sich heimwärts zu begeben.

Der Igel war ein sehr besorgter Wirt

und fürchtete, dass sich sein Gast verirrt.

Wo willst du hin mit einem solchen Affen?

Du wirst den Weg nach Hause nicht mehr schaffen

und ganz allein im Wald dem Tod entgegen gehn,

denn einen Löwen, wild, hat jüngst man dort gesehn.

Dem Hasen schwoll der Kamm, er brüllt in seinem

Tran:

Was kann der Löwe mir, bin ich sein Untertan?

Es könnte schließlich sein, dass ich ihn selbst

verschlinge,

den Löwen her! Ich fordere ihn vor die Klinge!

Ihr werdet sehen, wie ich den Schelm vertreibe,

die sieben Häute, Stück für Stück,

zieh ich ihm ab von seinem Leibe

und schicke ihn dann nackt nach Afrika zurück.

Und so verließ der Hase also bald

das fröhlich laute Fest und er begann im Wald

von einem Stamm zum anderen zu wanken

und brüllt dabei die kühnlichsten Gedanken

laut in die dunkle Nacht hinaus:

Den Löwen werde ich zerzausen,

wir sahen in dem Wald noch ganz andre Tiere

hausen

Infolge des geräuschvollen Gezeters

und des Gebrülls des trunknen Schwerenöters,

der sich mit Mühe durch das Dickicht schlug,

fuhr unser Löwe auf mit einem derben Fluch

und packt den Hasen grob am Kragen:

Du Strohkopf willst es also wagen,

mich zu belästigen mit dem Gebrüll

... doch warte mal, halt still!

Du scheinst mir ja nach Alkohol zu stinken.

Mit welchem Zeug gelang es dir,

dich derart sinnlos zu betrinken?

Sofort verflog der Rausch dem kleinen Tier,

es suchte rasch, sich irgendwie zu retten.

Sie... wir - nein ich - oh, wenn Sie Einsicht hätten,

ich war auf einem Fest und trank viel Alkohol,

doch immer nur auf euer Gnaden Wohl

und eurer guten Frau und eurer lieben Kleinen.

Das wäre doch, so wollte es mir scheinen,

ein trift'ger Grund, sich maßlos zu besaufen.

Der Löwe ging in's Garn und ließ den Hasen laufen.

Der Löwe war dem Schnaps abhold

und hasste jeden Trunkenbold,

jedoch betörte ihn, wie dem auch sei,

des Hasen Speichelleckerei.

Am 27. August 2009, im 97 Jahr seines schaffensreichen Lebens, nahm ihm der Tod die Feder aus der Hand, starb Sergej Michalkow. Es wurden mehr als 300 Millionen seiner Bücher verkauft, Kinderliteratur vor allem, Fabeln auch und Gedichte. „Ich schrieb, was ich wollte“, sagte Sergej Michalkow, der Patriarch einer Sippe, die mit ihrem Wurzelwerk den Kulturboden Russlands durchwuchert hat wie ein alter Baum das Erdreich. Zu seinen Weggefährten zählten Gorki, Babel, Ehrenburg, auch Scholochow und Pasternak, die beiden Nobelpreisträger. Männer, die den sowjetischen und russischen Schriftstellerverband prägten oder unter ihm litten.

Übrigens, als am 3. Dezember 1966 an der Kremlmauer im Moskauer Alexandergarten die Gebeine von unbekannten Soldaten beigesetzt wurden, die in der 25 Jahre früher ausgefochtenen Schlacht um Moskau gefallen waren, fanden Worte Michalkows, eingemeißelt in rotem Granit ihren Platz: „Dein Name ist unbekannt, deine Heldentat ist unsterblich - Имя твое неизвестно, подвиг твой бессмертен“.

Sandunowa - die legendärste Moskauer Banja

Wer etwas auf sich hält, was Reputation und Sauberkeit betrifft, wer auf seine Gesundheit auch im widrigen russischen Klima achtet und dann noch das nötige Kleingeld hat, der geht allwöchentlich in die Sandunowskaja Banja. Schon vor der denkmalgeschützten Fassade des Eckhauses Neglinnaja Straße und Sandunowskij Gasse gibt es erste Hinweise auf das luxuriöse Badehaus. Da stehen Pensionärinnen und bieten Ruten von getrockneten Birken-, Linden- und Eichenzweigen an. Mit diesen Weniki - веник - bedeutet Besen oder Birkenrute - schlagen der Banschtschik oder die Banschtschiza, in Russland sind die Saunen für Frauen und Männer seit 1743 getrennt, einem die Haut tüchtig durch. Damals wurde in St. Petersburg ein Senatorengesetz erlassen, das verbot, dass sich Frauen und Männer in öffentlichen Banjas gemeinsam wuschen und reinigten. Es hieß und das wohl aus gutem Grund, um unmoralische Handlungen zu unterdrücken, denn verbotene Früchte locken und sind süß.

Schon zu Zeiten Peter I. waren ausländische Gesandte über die russischen Badesitten schockiert, die ihnen ein Rätsel blieben. Ein deutscher Diplomat berichtete im 17. Jahrhundert: „Die Russen können schlimmste Hitze aushalten, von der sie ganz rot am Körper werden, so lange, bis sie kaum noch auf den Beinen stehen können. Dann laufen sie nackt auf die Strasse, Männer wie Frauen, und übergießen sich mit eiskaltem Wasser. Im Winter wiederum, aus der Banja auf den Hof hinauslaufend, reiben sie ihren Körper mit Schnee wie mit Seife an und gehen dann zurück in die Hitzestube“.

Die Bademeister, ob nun männlich oder weiblich, sind gern gegen ein nicht geringes Entgelt, vorzugsweise in Devisen, bereit, das Einseifen, die Massage oder auch die Prozedur des Schlagens mit den Birkenbesen vorzunehmen. Das erhöht die Durchblutung und vertreibt Verspannungen, führt zu einem regelrechten Hochgefühl. Lindenruten sollen bei Kopfschmerzen abhelfen, die sich nicht etwa beim Kwasgenuss zwischen den Saunagängen, wohl aber nach reichlich Bier und eisgekühltem Wodka einstellen können. Und Eichenblätter in Seifenlauge eingeweicht machen eine schöne Haut.

Ein weiteres unverzichtbares Utensil für einen russischen Banjagang ist eine Filzmütze und für Empfindliche sind auch Handschuhe angeraten. Denn das russische Badevergnügen, auch Volksarzt genannt, ist eine Feuchtsauna, in der auf glühend heiße Steine Aufgüsse von mit Kräutern aromatisierten Wasser, von Kwas oder Bier das Wasser in winzige, aufsteigende Tröpfchen verwandeln und die Hitze dadurch oft über 100 Grad Celsius ansteigt, was selbst hartnäckige Saunagänger von den oberen Pritschen in tiefere Gefilde zwingt.

Nirgendwo auf der Welt kann man so edel schwitzen, wie in der Sandunowskaja Banja, die die Moskauer kurz Sanduny nennen. Hier in der öffentlichen Banja werden mehr Geschäfte mit Milliarden-Umsätzen getätigt, als an der Moskauer Börse und nach Meinung von Eingeweihten, mehr Minister ernannt und Gesetze geplant, als in der Duma, dem Staatsparlament.

Kürzlich war das edle Dampfbad Filmset für den Gangster-Kultstreifens „Brat“ und es ist ein offenes Geheimnis, dass Raketbosse, so nennt sich die russische Mafia, und Oligarchen, deren märchenhafter Reichtum aus unerklärter und oft dunkler Herkunft stammt, hier ein und aus gehen. Aber auch ganz gewöhnliche Moskauer leisten sich hin und wieder den Luxus, an Feiertagen für drei bis vier Stunden mit Freunden in die Sanduny-Banja zu gehen. Das ist nicht ungewöhnlich, denn es ist ein ungeschriebenes uraltes Gesetz, dass in der Banja wirkliche Demokratie herrscht. Holzgeschnitzte Schilder bekräftigen das: „W banji generalow net!“ In der Banja gibt es keine Generäle, will heißen, keine Obrigkeit, alle sind gleich. Zu den wohl prominentesten Badbesuchern gehörten einst sicher der Nationaldichter Alexander Puschkin und der Dramatiker Anton Tschechow und wem diese Namen ein Buch mit sieben Siegeln sind, der kennt sicher den amerikani - schen Filmstar John Travolta und das ewig junge Supermodel Naomi Campbell.

Der Moskauer Schriftsteller und Journalist Giljarowski, einst ein Hans Dampf in allen Gassen, schrieb: „In die Sandunowskije schwappte ganz Moskau, besonders in die männliche und weibliche Adelsabteilung. Die war mit ungewöhnlichem Luxus ausgestattet: mit einem Spiegelumkleidesaal, sauberen Tüchern auf weichen Diwanen, wunderbaren Dienerinnen, erfahrenen Banschikis (Männer oder Frauen, die für den leichten Dampf verantwortlich waren, also dass das Wasser im richtigen Maß auf die heißen Steine gegossen wurde). Die Umkleide wurde hier zum Klub, wo sich die unterschiedlichste Gesellschaft traf. Jeder hatte hier seinen Bekanntenkreis – und erst das Buffet mit den wunderbarsten Getränken – vom Kwas bis zum Champagner. Einige Damen brachten gar ihr Schoßhündchen mit, die dann von der Dienerin gemeinsam mit der Herrin gewaschen wurden ...“

Der Freund des wohl bekanntesten Journalisten, der Bassist Fjodor Schaljapin, der an allen europäischen