Die Farbe der russischen Seele - Hartmut Moreike - E-Book

Die Farbe der russischen Seele E-Book

Hartmut Moreike

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Beschreibung

Das ist der letzte Band meiner Trilogie über den russischen Maler Ilja Repin, ein Zeitzeuge eines Jahrhunderts ungeheurer weltverändernder Umwälzungen im größten Land der Erde, von seiner Geburt im südrussischen Tschugujew 1844 bis zu seinem Tod im finnländischen Koukkala 1930, das heute wieder als Repino zu Russland gehört. Als großartiger und in ganz Europa anerkannter Maler porträtierte er mit geschultem Blick Menschen, die in Russland und auf dem europäischen Kontinent politisch, wirtschaftlich und vor allem künstlerisch ihren Schatten hinterließen, wie Ilja Jefimowitsch Repin selbst. Auf dem Gebiet der Malerei war der Künstler revolutionär und zugleich befangen in den Fesseln der akademischen und eher klassischen realistischen Kunst, ohne jedoch seine Schüler von ihren Höhenflügen in die Moderne abzuhalten, im Gegenteil. Eine zehnjährige Arbeit liegt nun hinter mir, neue schöpferische Herausforderungen als bekennender Europäer und humanistischer Schriftsteller warten. Und ich bleibe mir treu, schreibe weiter keine Literatur, sondern beschreibe das russische Leben, gestern und heute und vielleicht auch morgen.

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„Ich liebe die Kunst mehr als alle Tugenden, mehr als die Menschen, die Freunde und alles Glück. Ich liebe sie insgeheim, eifersüchtig wie ein alter Säufer, unheilbar.“

Ilja Repin

ILJA JEFIMOWITSCH REPIN

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Abbildungen

I.

Wer bist du, Ilja Jefimowitsch Repin? Das fragt sich der Maler, der auf die Fünfzig zugeht, schon grau geworden ist und von den Gendarmen seines Viertels in St. Petersburg ehrfurchtsvoll mit „Eure Hochwohlgeboren“ gegrüßt wird. Die einst so scharfen Augen kneift er zusammen, um besser sehen zu können und die rechte Hand ist morgens oft taub. Und beinahe jeden Tag hinterfragt er sein Können, obwohl er zu den bekanntesten und vor allem best bezahlten Künstlern seines Landes gehört. Für ein Porträt von ihm sitzt die russische Intelligenz gern Modell und das, obwohl der Meister, der seine ärmliche Kindheit in der Militärsiedlung Tschugujew bei Chakow nie vergessen hat, ein horrendes Honorar verlangt, für das man auf dem flachen Lande zwischen Moskau und St. Petersburg ein schmuckes Häuschen mit Banja und einem ansehnlichen Garten erwerben könnte.

Dabei gehen die Porträtierten immer ein gewisses Risiko ein, denn der inzwischen weltweit bekannte Porträtist versteht es nicht nur frappierende äußerliche Ähnlichkeit auf die Leinwand zu bringen, sondern auch die Seele und den Charakter seiner Modelle. Aber sein Bild „Die Saporosher Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan“, an dem er bereits in vielen Varianten und nach hunderten Skizzen schon zehn Jahre arbeitet, will sich nicht vollenden lassen.

Das liegt sicher auch an seiner Arbeitsweise, die der mit ihm bekannte Jurist Alexander Shirkewitsch, der unter dem Pseudonym Alexander Niwin als Schriftsteller recht erfolgreich war und der Repin einmal im Atelier an diesem Bild arbeitend antraf, in seinem Tagebuch so beschreibt: „Repin bringt in seiner Zeichenkunst eine bemerkenswerte Durchdachtheit zum Ausdruck: er radiert und zieht eine Umrisslinie an die zwanzig Male. Dann schaut er in den Spiegel und das Spiegelbild seines Werkes macht jeden Fehler deutlich sichtbar…und es gibt keinen einzigen Gegenstand auf dem Bild, der nicht historisch belegt und wohldurchdacht wäre.“

Später hat Ilja Repin diesen Shirkewitsch porträtiert. Ilja Repin, ohnehin kein Muster an Geduld, ist unruhig. Zar Alexander III., der dem Maler wohl gewogen und an russischer Geschichte interessiert ist, hat schon Interesse an diesem Bild signalisiert und auch Leo Tolstoi ermuntert Repin, dieses so wichtige Gemälde bald der Öffentlichkeit vorzustellen. Der mit ihm befreundete Autor von „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ hat gut reden, von wegen „Bcë npocmo“, gerade das Geniale ist nicht so leicht zu bewerkstelligen, auch wenn das Bild später so aussehen soll, als sei es mit leichter Hand und in einem Rausch gemalt.

Der Maler schreibt an Jelisaweta Swanzewa, die in St. Petersburg eine Kunstschule betreibt, wie ihn die Arbeit an diesem Werk beschäftigt, ja quält: „Ich habe an der Harmonie des Bildes gearbeitet. Was für einen Arbeit das war! Jeder Farbfleck, jede Linie sollten ja nicht nur die allgemeine Stimmung des Sujets ausdrücken, sie sollten miteinander harmonieren und zudem die dargestellten Persönlichkeiten charakterisieren…Ich arbeite manchmal bis zum Umfallen. Aber ich kann nicht lange arbeiten, nur vier bis fünf Stunden am Tag.“

Ilja Repin steht vor der riesigen aufgespannten Leinwand und steigt ab und an mit seinen langen Pinseln, von denen Freunden sagen, dass er sie wie Degen einsetzt, auf einen Tritt, um Details seiner mannshohen Figuren, die ihn alle um Haupteslänge überragen, wieder und wieder zu verändern. Im November 1890 sind die „Saporosher Kosaken“ immer noch nicht fertig und Repin bekennt: „Was für eine schwierige Sache, ein Bild zu beenden, so dass ich ganz und gar zufrieden bin und es einen künstlerischen Eindruck erzeugt, der den Betrachter bezaubert oder abstößt.“

Aus den „Petersburger Nachrichten“ erfährt Repin, dass Pjotr Tschaikowski aus Italien zurückgekehrt ist, wo er in nur 44 Tagen eine Oper nach Alexander Puschkins Erzählung „Pique Dame“ komponiert hat. Der Komponist lässt es sich nicht nehmen, bei den letzten Proben anwesend zu sein. Für eine Oper, zu der der jüngere Bruder Tschaikowskis, Modest, das Libretto geschrieben hat. Am 19. Dezember, so verkündet das Blatt, soll die Premiere im Mariinski-Theater der Stadt sein und Repin beschließt, dieses Ereignis unbedingt wahrzunehmen. Denn schon die Premiere des Balletts „Dornröschen - Spaschtschaja krasawitza“ im Juni, das Tschaikowski für seine beste Ballettkomposition hält, hatte durch seine ungeheuren Produktionskosten von 80.000 Rubeln die Neugier des besseren Petersburger Gesellschaft geweckt, die nach der Premiere den Komponisten und den Ballettmeister Marius Petipa mit stürmischen Ovationen feierten.

Aus Moskau schreibt der Schlachtenmaler Wassili Werestschagin, der begonnen hat, an einem Zyklus von Gemälden „Napoleon in Russland“ zu arbeiten, an Repin, dass ihr gemeinsamer Freund Wassilij Pukirew für immer Palette und Pinsel aus der Hand gelegt hat. Der Porträtist und Genremaler wurde nur 58 Jahre und das Feuilleton schreibt: „Er hinterlässt eine glänzende und leider kurze Spur seines Schaffens.“

Ilja Jefimowitsch ist von der Nachricht tief betroffen und er erinnert sich, welch ein gewaltiges Echo Pukirews Gemälde „Die ungleiche Hochzeit“ hervorgerufen hatte und über das der mit ihm befreundete weise Kunstkritiker Wladimir Stassows1 schrieb: „Die ganze russische Gesellschaft war ergriffen von diesem Bild und verliebte sich sofort in das Gemälde. Die Akademie war wegen des landesweiten Echos gezwungen, Pukirew schnellstens das Diplom eines Professor zu verleihen.“

Und als Ilja Repin das Bild dann zum ersten Mal gesehen hatte, war auch er erschüttert über die anklagende Kraft dieses Kunstwerkes, das Pukirew wie auch mit dem Gemälde „Die Mitgift“ einen Platz in der ersten Reihe der russischen realistischen Genremaler seiner Zeit sicherte. Als Repin dann Pukirew in Moskau bei Pawel Tretjakow in der Galerie traf, stellten beide Künstler fest, dass sie den gleichen Start in ihr Künstlerleben hatten, denn auch Pukirew hat seine Laufbahn in einer Ikonenwerkstatt in Mogiljew begonnen.

Und noch nicht genug der traurigen Nachrichten. Das beliebte Journal „Nowoje Wremja“2 bringt eine kurze Meldung, dass der holländische Maler Vincent van Gogh in Auvers-sur-Oise am 29. Juli im Alter von 37 Jahren seinen tödlichen Verletzungen erlegen war, die er sich zwei Tage zuvor mit einem Schuss in die Brust selbst beigebracht hatte.

Über das Motiv wird in den Gazetten viel spekuliert. Denn gerade durchlebte der Künstler einen Schaffensrausch, in dem der Maler in nicht einmal zweieinhalb Monaten über 80 Gemälde und 60 Zeichnungen, darunter die berühmten Kornfelder von Auvers, geschaffen hatte. Da werden Zerwürfnisse mit dem geliebten Bruder Theo angeführt, die fortschreitenden Nervenkrankheit, die Doktor Gachet falsch diagnostiziert haben sollte und die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen der 21jährigen Tochter des Arztes und Vincent van Gogh, gegen die der Mediziner vehement und nicht ganz seinem Eid entsprechend einschritt.

Es ist Herbst und es wird kalt und ungemütlich in St. Petersburg, Regenschauer jagen aus tiefdunklen Wolken durch die Stadt, der Wind reißt das Laub von den Bäumen. Kein Feiertagswetter gerade in dem Moment, als St. Petersburg den Aufstieg zur Millionenstadt feiert. Und Ilja Jefimowitsch fröstelt, auch vor Einsamkeit. Selbst sein einstiger Meisterschüler Walentin Serow, Sohn seiner unerfüllten leidenschaftlichen Liebe, der aufregenden, klugen und musisch so begabten Valentina Serowa, ein Trost nach der Trennung von seiner Frau Vera, lässt sich nicht blicken. Serow hat sich verstärkt der Porträtmalerei zugewandt und es heißt, dass er schonungslos gegenüber seinen Modellen sei. Repin musste schmunzeln, als er das hörte. Es freute ihn, wie viel Serow nicht nur an Fachlichem bei ihm gelernt hat. Mit beinahe väterlicher Sorge stellt Repin fest, dass dieser Teufelskerl Serow, den er trotz seiner Jugend als letzten ernsthaften realistischen Maler seines Landes schätzt, neue Wege in seiner Malweise geht, die vielleicht in die Irre führen können.

Zu der schlechten Stimmung trägt auch bei, dass Ilja Repin immer seltener die Zusammenkünfte der Peredwischniki3 besucht, da ihm dort Ton und Klima nicht gefallen und er sich seit dem Tode seiner Freunde Perow und später Kramskoi zu niemanden in dem Kreis so recht hingezogen fühlt.

1Wladimir Stassow (1824 - 1906) - Freund Repins, Erzieher der Zarensöhne, Bibliothekar der Kaiserlichen Bibliothek von Alexander II., Kunstkritiker, Mitglied der Akademie der Künste, Publizist, Ehrenmitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften

2„Nowoje Wremja“ - „Neue Zeit“ - bekannte politisch-literarische Tageszeitung, die seit 1868 in St. Petersburg erschien

3Peredwischniki - deutsch: Wanderer - Gruppe von russischen realistischen Künstlern, die 1870 die Genossenschaft der künstlerischen Wanderausstellungen gründeten und ihre Bilder in Sankt Petersburg, Moskau, Kiew, Charkow, Kasan, Orjol, Riga, Odessa und anderen Städten des russischen Reiches ausstellten.

II.

Zar Alexander III. verehrt nicht nur seinen nun 73jährigen einstigen Erzieher Konstantin Pobedonoszew, sondern sieht in ihm seinen ersten Ratgeber und treuen Verfechter der Autokratie und Beschützer des Zarenthrones. Die rechte Hand des Zaren ist ein kalter, nüchterner Charakter, ein Feind jeglicher Reformen in Russland, ein Fanatiker des orthodoxen Glaubens und ein eingefleischter Antisemit. Unter dem Einfluss der grauen Eminenz am Zarenhof hatte sich das Riesenreich in einen Polizeistaat verwandelt, mit dessen Hilfe der Kaiser Liberale und Reformer, insbesondere die Anhänger der Narodniki4 jahrelang unbarmherzig verfolgte und hinrichten oder nach Sibirien verschicken ließ. So zog sich Alexander III. allmählich die Feindschaft nicht nur der Bauern und Arbeiter, sondern auch von großen Teilen des Bürgertums zu. Besonders unter den Arbeitern in St. Petersburg gärt es. Am 1. Mai demonstrieren sie erstmals in Russland unter einer roten Fahne. Auch im zu Russisch-Polen gehörenden Lodz kommt es zu einem Aufstand. 60.000 Arbeiter streiken gegen Ausbeutung und nationale Unterdrückung.

Fast eine Woche bis zum 6. Mai benötigt das russischem Militär, um diesen Massenprotest blutig niederzuschlagen. Hunderte der Aufrührer werden verhaftet und nach Sibirien deportiert. Überall im Land flackerte Widerstand auf, auch bewaffneter Terror, der durch anhaltende Hungersnöte in vielen Gouvernements noch beflügelt wurde.

Alexander III. war keineswegs liebenswert und wie groß seine Fehler und wie absurd auch sein Regime seiner unglücklichen Herrschaft auch waren, so besaß er dennoch Eigenschaften, die ihn gegenüber seinen Vorgängern auf dem Zarenthron auszeichneten. Er blieb sich stets treu, brach nie ein Versprechen, trug nie eine Maske und wich keinen Fußbreit von seinen Prinzipien ab. Zu denen gehörte es, Konflikte mit anderen Großmächten zu vermeiden. Alexander war ein Mann des Friedens zwar nicht um jeden Preis, aber er folgte der Überzeugung, das beste Mittel, einen Krieg zu vermeiden, sei eine gute militärische Vorbereitung. Noch als Zarewitsch hatte er als Offizier am Russisch-Osmanischen Krieg 1877/78 in Bulgarien teilgenommen und die grauenhafte Sinnlosigkeit von Kriegen und ihre verheerende Wirkung erlebt. Und weil er den Wert des Friedens hoch schätzt und alles dafür unternimmt, bekam er schon zu Lebzeiten den Beinamen „Zar Mirotworjez“, der Friedensstiftende.

So missbilligte er nach anfänglichem Zögern auch die Aktion des Kosaken Nikolai Aschinow. Der landete im Januar 1889 mit etwa zweihundert Russen, darunter Priester, Frauen und Kinder, in Sagallo und besetzte dort ein verlassenes Fort mit dem Ziel, am Golf von Tadjoura, nahe des Sueskanals, einen Ausgangspunkt für eine russische Präsenz in Afrika als „Neu-Moskau“ zu schaffen.

Privat ist Alexander III. ein guter Ehemann, der im Gegensatz zu allen vor ihm herrschenden Romanows weder Mätressen noch außereheliche Abenteuer hat. Er liebt es, wenn es ihm die Zeit gestattet, mit den Söhnen und Töchtern im Palast herumzutollen, weil für ihn sittsam ruhige Kinder, wie sie die Zarin gern hätte, etwas Widernatürliches seien. Dennoch ist er zu den Kindern, die in bescheidenen und keineswegs fürstlichen Verhältnissen aufwachsen, streng. So schlafen Zarewitsch Nikolaus und sein jüngerer Bruder Georg auf des Zaren Anordnung im Palast in Gatschina in Zimmern, die ursprünglich für die Dienerschaft vorgesehen waren auf Feldbetten und ohne Kissen und müssen morgens ein kaltes Bad nehmen. Ihr Vater, Alexander III., ist eine imposante Gestalt, ein oft zu Jähzorn neigender Hüne mit der Statur eines russischen Bären und berüchtigt für seine Kraft, die er ja bei dem Eisenbahnunglück in Borki unter Beweis gestellt hatte, als er ein Dach des entgleisten Waggons des Zarenzuges so lange in die Höhe stemmte, bis seine Frau und einige Familienmitglieder darunter geborgen waren. Dass das nicht ohne Folgen auf seine Gesundheit blieb, sollte sich bald erweisen.

Sein Sohn Nikolaus hat 1890 seine Studien abgeschlossen, in denen er in Naturwissenschaften, Geografie, und Mathematik unterrichtet worden war und Vorlesungen über Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre am Institut für Rechtswissenschaften der Universität Sankt Petersburg besucht hatte. Seine Lehrer bezeichneten den Zarewitsch vorsichtig als „fleißig, aber nicht sonderlich begabt“, worüber sein Vater recht enttäuscht war. Versagt hatten die Lehrer allerdings darin völlig, den Wortschatz des Zarewitsch zu erweitern. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr führte Nikolaus Tagebuch. Dieses Tagebuch und seine Briefe spiegeln jetzt, da er zweiundzwanzig ist, eine fast unglaubliche Armut seiner Muttersprache wider. Besonderes Augenmerk wurde auf die religiöse Unterweisung gerichtet und auf Fremdsprachen. Politik war im Unterricht nicht vorgesehen und interessierte den Zarewitsch auch nicht. Der künftige Zar, der am glücklichsten ist, wenn er reiten und schießen kann, zeigt kaum Interesse an intellektuellen Dingen, lernte aber in seiner Jugend leicht fünf Fremdsprachen, von denen er drei fließend beherrscht, so dass er auch als Engländer oder Franzose gelten konnte.

Im Gegensatz zum strengen Vater, dem es nicht einfällt, nach Dienern zu läuten, um sich die Stiefel ausziehen zu lassen, der einfache russische Speisen liebt und für den Festlichkeiten am Hof ein Gräuel sind, der die Kunst zu fördern nur als seine Pflicht ansieht, ist die Zarin Maria Fjodorowna das genaue Gegenteil. Sie liebt schöne Kleider, wertvollen Schmuck, den sie sich bei den Brüdern Fabergé bestellt und den sie bei prunkvollen Festen gern zeigt. Maria Fjodorowna, die einstige Prinzessin Dagmar aus Dänemark, die ungern den Palast zu Spaziergängen verlässt, beschäftigt ihre Hofdamen und Kammerfrauen ohne Unterlass, während die Kammerdiener des Zaren meistens nicht in ihrem Dahindösen gestört wurden. Alexander, der seine Gattin aufrichtig liebt, weiß um ihre Schwäche für schönen Schmuck und obwohl er Prunk verabscheut, beschenkt seine dänische Gattin, um deren Heimweh zu lindern, zu Ostern mit kostbaren Eiern der Juwelierkunst aus dem Hause Fabergé.

Dazu gehört das Dänische Palast-Ei des Meisters Perchin mit grünrosa-goldener Schale von 1890 im Stil Louis der XVI. Mit Diamantrosen und Lorbeerbändern reichlich verziert, liegen im Inneren auf rosa Samtfutter gerahmte Miniaturgemälde auf Perlmutt. Die faltbaren Miniaturen zeigen unter anderem die kaiserlichen Yachten „Polarstern” und „Zarevna”, das Schloss Amalienburg in Kopenhagen, den Sommersitz Fredensborg, den Gatschina-Palast und das Landhaus Alexandria aus Peterhof.

Das Ei hat im Russischen Reich, wo der Glaube tief im Volk verwurzelt ist, weshalb viele Maler und auch Repin in ihren Arbeiten auf biblische Motive zurückgreifen, eine beinahe mystische Bedeutung. Nach einer russischen Legende sollen sich bei der Auferstehung des Gekreuzigten die Steine auf der Schädelstätte in rot gefärbte Brocken verwandelt haben. Und es heißt, Maria Magdalena habe Kaiser Tiberius ein Ei mit den Worten überreicht: „Christ ist auferstanden! - !” Der Herrscher lachte sie aus und sagte, niemand könne aus dem Reich des Todes zurückkehren, genau so unmöglich sei es, dass sich ein weißes Ei ohne äußeres Zutun rot verfärbe. Kaum aber hatte er seinen Zweifel ausgesprochen, da vollzog sich das Wunder und das Ei in den Händen des Tiberius färbte sich blutrot. Seither färbt und bemalt man zu Ostern Eier und schmückt sie mit den kyrillischen Buchstaben X für Christus und B für auferstanden.

Der finnische Goldschmied Eric Kollin kam in der Fabergé-Werkstatt auf die Idee, den Osterbrauch für die Goldschmiedekunst auszunutzen und so entstanden die berühmten Fabergé-Eier. Peter Carl Fabergé war zwar ein gebürtiger St. Petersburger, aber seine Vorfahren waren Hugenotten, die aus Frankreich, genauer der Picardie stammten und nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes 1685 nach Schwedt an der Oder emigrierten, von wo die Familie 1800 in die russische Provinz nach Pernau im Baltikum übersiedelte. 1842 eröffnete Gustav Fabergé in der Bolschya Morskaya ulitza der russischen Hauptstadt im Haus Nr. 12 eine eigene Goldschmiedewerkstatt. Hier lernte er auch die Tochter des recht bekannten dänischen Malers Jungstedt kennen, der vor der Cholera aus Kopenhagen geflüchtet war. Zwei Jahre später heiratete Gustav Fabergé Charlotte Jungstedt, die ihm im Mai darauf den lang ersehnten Knaben Peter Carl schenkte, der später dem Wunsch des Vaters folgte und Juwelier, ein Meister seines Faches wurde.

Alexander III. hatte 1882 auf der Allrussischen Kunst- und Industrie-Ausstellung im Moskau die Kunstwerke der Goldschmiedekunst bewundert und die Brüder Carl Peter und Agathon Fabergé zu „Seiner Kaiserlichen Majestät Juwelier und Goldschmied sowie der kaiserlichen Eremitage” ernannt. Er gab ihnen den Auftrag, die auserlesene Schmucksammlung der Eremitage zu schätzen, zu katalogisieren und zu reparieren. Dabei kamen die Brüder auf die Idee, Schmuck im altrussischen Stil in eigener Werkstatt anzufertigen und einige Kostbarkeiten des Zarenschatzes einfach zu kopieren. Die Damen des Petersburger Adels waren von dem außergewöhnlichen wie zauberhaften Schmuckstücken begeistert, was man angesichts der horrenden Rechnungen von den Ehemännern oder Kavalieren nicht sagen konnte. So wuchsen Ansehen und die Werkstatt der Fabergés, und noch schneller der Brüder Vermögen.

4Narodniki -, abgeleitet von russ. Wort „narod“ – Volk, Volkstümler, Sozialrevolutionäre Bewegung, getragen durch Intellektuelle, die das Volk über soziale Missstände aufklärten, die Erneuerung Russlands durch freie Dorfgemeinschaften propagierten.

III.

Im Februar folgt Wassili Polenow, der in Moskau an der Hochschule für Malerei, Bildhauerei und Architektur lehrt, Repins Einladung nach St. Petersburg. Der Pädagoge und Landschaftsmaler ist nicht nur genau so alt wie Ilja Jefimowitsch, sondern er gehört auch zur Genossenschaft der Wanderaussteller und was noch wichtiger ist, zum Mamontowkreis. In Abramzewo bei Moskau treffen sich in den Sommermonaten auf Einladung des kunstsinnigen Mäzens Sawwa Mamontow, dessen Vorfahren mit dem Bau von Eisenbahnstrecken in Russland ein unvorstellbares Vermögen gemacht hatten, herausragende Maler und Schauspieler. Sie nutzen die schöpferische Atmosphäre zum Arbeiten an frischer Luft und zum Gedankenaustausch oder sie angeln, sammeln Steinpilze und ganz nebenbei entwerfen sie noch eine märchenhafte Kirche. So avanciert Abramzewo jährlich für einige Monate zu einer bedeutenden Heimstatt des russischen Künstlerlebens.

Mit Polenow verbindet Repin noch ein ganz besonderes Band. Beide haben, jeder auf seine Weise, ein Bild mit dem Thema „Jesus erweckt die Tochter des Jairus” gemalt, für das Repin 1870 eine große Goldmedaille erhalten hatte. Polenow, der mit Repin an der Kaiserlichen Kunstakademie in St. Petersburg studierte hatte, bekam schon ein Jahr zuvor diese Auszeichnung für „Hiob und seine Freunde”.

Ihre Gemälde greifen auf eine biblische Legende zurück: Jairus war ein Rabbi in Galiläa. Als seine Tochter schwer erkrankte, schien eine Heilung aussichtslos. Da ging der verzweifelte Vater zu Jesus und bat, seine Tochter zu heilen. Jesus wollte die Tochter sehen, doch schon auf dem Weg begegnete er Diener, die den Tod der Tochter des Jairus berichteten. Am Bett der Toten jammerten die Klageweiber zu denen Jesus sprach: „Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft!“

Da verlachten die Anwesenden Jesus. Der aber nahm die Hand des toten Mädchens und sagte die Worte: „Mädchen, ich sage dir, stehe auf!“

Und die Verstorbene erwachte und die Umstehenden fielen auf die Knie angesichts des Wunders. So steht es jedenfalls in der Bibel.

Viele der Wanderaussteller beschäftigen sich mit biblischen Motiven. Sie wollen so die einfachen Menschen auf dem Lande erreichen, die gottesfürchtig und vertraut mit christlichen Themen sind, jedoch weder lesen noch schreiben können. So beinhalten die Bilder der Künstler Sujets von Selbstlosigkeit und Nächstenliebe sowie immer wieder das leiden Christi für sein Volk. Darin sehen die Maler eine Möglichkeit, mit ihren Mitteln auf die Verbesserung der Lebensumstände für die Massen in Russland hinzuwirken.

Polenow berichtet Repin von der Ikonenausstellung im Staatlichen Historischen Museum in Moskau, auf der Pawel Tretjakow einige kostbare Heiligenbilder für seine Galerie kaufte, deren Sammlung nun alte, wertvolle 62 sakrale Tafelbilder umfasst. Übrigens baut der Kunstsammler schon wieder an, einen Wasnezow-Saal. Und dann erzählt er noch, dass in der Tretjakow-Galerie zahlreiche Maler Bilder kopieren, so dass die Galerie an manchen Tagen einer Malschule gleicht. Nicht nur, dass überall Kopien auftauchen und als Originale angepriesen werden, so in der Stadt Charkow Surikows Werk „Menschikow in Berjosowo“ und Repins Porträt von Rubinstein in Moskau. Zu den dreistesten Kopierern gehört ein gewisser Gwostikow. Tretjakow, den dieses Umstände betrüben, verbietet diesem „Maler“ das Arbeiten in der Galerie.

Einmal, als Pawel Tretjakow vor der Eröffnung durch die Säle seiner Galerie ging, bemerkte er auf den Bildern gelbe und dunkle Flecke. Aufmerksam betrachtete er weitere Bilder und fand auf den besten Kunstwerken ebenfalls Farbflecke, so dass die Gemälde von Meistern verdorben waren. Verärgert rief er die Aufseher herbei. Sie kamen zu dem Schluss, dass das die Kopierer waren. Und tatsächlich beobachteten sie am nächsten Tag, dass die Kopierer, um den richtigen Farbtor zu treffen, ihre Farben zwar auf der Palette mischten und dann zum vergleich eine Probe auf das Bild setzten. Wenn sie den Farbton getroffen hatten, übertrugen sie ihn auf ihre Leinwand und wischten die noch feuchte Probe auf dem Originalgemälde mit einem Tuch weg, als wäre nichts geschehen. Aber wie gut solch ein Banause auch seine Farbe vom fremden Bild abzureiben versuchte, es blieb ein Fleck, der den Lack und die Farbe zerfraß. Ab diesem Moment verbot Tretjakow das Kopieren ohne Ansehen der Person. Vergebens versuchten Polenow und die anderen Professoren der Malschulen um die Erlaubnis, aber Tretjakow blieb hart.

Über die Gastfreundschaft Repins ist sein Moskauer Malerfreund begeistert und schreibt an seine Frau: „Meine Freude hat keine Grenzen. Es ist so wunderbar, in einem großen Atelier mit guten Lichtverhältnissen zu arbeiten und dabei interessante Gespräche und Diskussionen zu führen. Hin und wieder kommt jemand herein…Repin bringt es irgendwie fertig, dass ihn das beim Arbeiten nicht einmal stört…“

In dem geräumigen Atelier arbeitet Repin an seinen Kosaken, die nun endlich der Vollendung entgegen gehen und Polenow malt ein fast lyrisches und so typisches Bild der russische Landschaft, das er „Erster Schnee“ nennt. Die Abende, zu denen oft Freunde kommen, verlaufen recht lustig, obwohl das Essen nicht nach Geschmack von vielen ist, denn Repin ist beeinflusst von Tolstoi inzwischen Vegetarier geworden. Polenow begeistert alle als außerordentlicher Klavierspieler, gibt dabei oft eigene Kompositionen zum Besten und begleitet sich mit einer wohlklingenden Stimme.

Doch viele alte Freunde und Weggefährten sind enttäuscht, weil Ilja Repin aus Protest gegen die neuen Statuten, die besonders junge Künstler bei ihrem Eintritt in ihren Rechten einschränken, die Genossenschaft der Wanderaussteller verlassen hat. Alle Versuche, Repin von seinem Vorhaben abzuhalten, scheitern, denn der Maler bleibt stur. Zudem hat er gerade erfahren, dass die Akademie der Künste zum Jahresende eine Personalausstellung für ihn und Iwan Schischkin plant und da sollen die Saporosher Kosaken als ein Glanzpunkt seines Schaffens erstmals ausgestellt werden. Polenow kommt eines Nachmittags aufgeregt ins Atelier und schwenkt die „Petersburger Nachrichten“. „Ilja Jefimowitsch, denken Sie nur, die Duse, die italienische Schauspielerin, diese Bühnengöttin ist auf Einladung der Zarin in St. Petersburg und wird an unserem Theater gastieren“. Repin, der auf dem Newski-Prospekt regelmäßig im Café „Dominique“ einkehrt, weil dort immer die neuesten französischen Zeitungen ausliegen, hat von den Triumphen der Duse in Italien und Paris gelesen, die in den Feuilletons als eine der großen Theaterschauspielerinnen ihrer Zeit gewürdigt wird. Und weil ganz St. Petersburg neugierig auf die Mimin ist, strömen sie in die stets ausverkauften Vorstellungen. Vor der Premiere zu Shakespeares „Romeo und Julia“, wo sie natürlich die Julia gibt, bestreuen die Petersburger den Weg von ihrem Hotel bis zum Theater mit Rosenblättern. Das hat die Stadt des großen Peters noch nie erlebt.

Selbst Anton Tschechow, der gerade von einer mehrwöchigen Reise durch Italien und Frankreich nach Russland zurückgekommen war, ist von der Diva begeistert. Der Dramatiker schreibt an seine Schwester Maria in Moskau: „Welch’ eine wunderbare Schauspielerin! Ich habe noch nie zuvor etwas Gleichartiges gesehen.“ Ihr Spiel sei feinfühlig, ja subtil und wenig theatralisch und dabei verkörpert sie zumeist die schweren Rollen leidender aber starker Frauen. Doch Tschechow ist nicht der einzige mit dem Theater eng Verbundene, der die Duse bewundert. Selbst die großen deutschen Schauspieler Joseph Kainz und Friedrich Mitterwurzer, die zu einem Gastspiel in die Zarenresidenz weilen, sind hingerissen von ihrem Spiel in dem Stück „La femme de Claude“ von Alexandre Dumas Sohn. Die Duse erschüttert auch Hermann Bahr, einen bedeutenden, klugen Kritiker und geistvollen Bühnenschriftsteller. Sie sitzen zusammen in einer Loge. Kainz klammert sich an Bahrs Arm, Mitterwurzer schluchzt, Bahr schreibt später ein Essay über die Schauspielerin, „…die dem Publikum ihr Herz entblößte“. Ihr Ruhm hat nun auch Russland erreicht.

Und Ilja Repin ist erstaunt, als eines Tages ein Bote eine Einladung der Diva in ihr Hotel überbringt. Natürlich ist der Maler gespannt auf die Begegnung mit der Zweiunddreißigjährigen, die ganz Petersburg in solch einen ekstatischen Rausch versetzt hat. Doch zuvor will er, der zwar kein Banause der Bühnenkunst ist, aber durch sein Schaffen wenig Zeit für das Theater hat, ein wenig mehr über die Duse erfahren. Die französische Zeitung „LE FIGARO“, für die auch seine ferner Freund Victor Hugo schreibt, mit dem Repin seit der Weltausstellung in Paris freundschaftlich verbunden ist, veröffentlicht anlässlich des russischen Gastspiels der Duse einen kurzen Lebensweg der gefeierten Diva.

Eleonora Giulia Amalia Duse, wie sie mit vollem Namen heißt, wurde die Schauspielerei in die Wiege gelegt. Schon ihr Großvater Luigo Duse war Schauspieler und trat in Padua in einer selbstgebauten Theaterkulisse auf. Sein Sohn, Vincenzo, genannt Alessandro Duse war Impressario einer fahrende Komödiantentruppe, die von Ort zu Ort zog und in der Angelica Cappelletto, seine Frau, die weiblichen Hauptrollen spielte. Sie waren arme, vagabundierende Komödianten, die auf Marktplätzen und in Gasthäusern auftraten und dafür Essen und Quartier bekamen.

Bei einer dieser Tourneen wird Duses Ehefrau Angelica am 3. Oktober 1858 in einem Hotelzimmer in Vigevano bei Mailand von einer Tochter entbunden, die in der Dorfkirche auf den Namen Eleonora getauft wird. Die kleine Eleonora steht, weil das so ist bei den Fahrensleuten, schon als Vierjährige neben ihren Eltern auf den Bühnenbrettern und spielt Kinderrollen wie die Cosette in einer Dramatisierung von Victor Hugos Roman „Les Misérables“. Als sie dann zwölf ist, springt sie für ihre Mutter ein, die an Tuberkulose erkrankt war und als Fünfzehnjährige begeistert die kleine Duse in der legendären Arena von Verona in der weibliche Hauptrolle von „Romeo und Julia“. Die Aufführung in der Stadt Julias und die gefühlvolle Romanze zwischen den jungen Verliebten der verfeindeten Familien Montague und Capulet rührt die Zuschauer zu Tränen und endlosen Bravorufen.

Mit nur einundzwanzig Jahren wird sie für das Teatro de Fiorentini in Neapel entdeckt, wo sie in den selbst für reife Schauspieler anspruchsvollen Rollen in den Shakespeares Tragödien als Desdemona in „Othello“ und als Ophelia im „Hamlet“ ihre ersten großen Erfolge feiert. Drei Jahre später, sie hatte bereits ihre Mutter und ihren Erstgeborenen begraben, ist sie mit dem vierzehn Jahre älteren Kollegen Tebaldo Checchi verheiratet und hat ihm ihre Tochter Enrichetta entbunden. Ein Blutsturz zwingt sie zu pausieren und sogar ihre Tochter zeitweise in Pflege zu geben. Ein wenig erholt, erlebt Eleonora Duse einen Auftritt der weltberühmten Schauspielerin Sarah Bernhardt in Turin. Die vierzehn Jahre ältere Französin wird als Star in Europa und Amerika verehrt, ja beinahe vergöttert. Auf der Bühne beeindruckt sie ihr Publikum durch ein eher gekünsteltes Gehabe, das damals zwar Mode ist, jedoch von der aufstrebenden Duse abgelehnt wird.

Die junge Eleonora aus einer bettelarmen Komödianten-Dynastie findet die Allüren der Bernhardt aufgesetzt und abstoßend. Sarah Bernhardt ist eine überspannte, launische Frau, deren exaltierte Temperamentsausbrüche ebenso Platz in den Gazetten finden wie der ständige Wechsel ihrer Liebhaber. Ihre Eskapaden machen Schlagzeilen. So steigt sie in einer Montgolfière in den Himmel über Frankreich oder lässt Fotos verkaufen, auf denen zu sehen ist, wie sie in einem Sarg liegt und ihre Rollen studiert oder schläft. In London führt sie ihren Panther spazieren, der zu einer Menagerie exotischer Tiere gehört, die sie zu Hause in Paris hält. Der junge deutscher Schriftsteller, Theaterkritiker und Journalist Alfred Kerr schreibt über sie: „Die Frau ist gefallsüchtig bis in die Fingerspitzen.“

Die Bernhardt ist für Eleonora Duse kein künstlerisches Vorbild, viel eher eine Herausforderung. Sie besteht darauf, die Glanzrolle der Bernhardt als „Kameliendame“ im gleichnamigen Drama von Alexandre Dumas dem Jüngeren zu übernehmen. Das lehnt ihr Schauspielleiter Rossi zunächst ab, weil er den Vergleich mit der großen französischen Tragödin fürchtet. Dennoch setzt sich Eleonora bewusst über alle Vorbehalte hinweg und schafft es, ihrer Interpretation der Kameliendame, einer Pariser Kurtisane, die an Schwindsucht stirbt, eine bemerkenswert moderne Gestalt zu verleihen. Indem sie die Rolle reduzierter anlegt als ihre berühmte Widersacherin und auf die überzogen und ordinär wirkenden Gestik der Bernhardt verzichtet, feiert sie am 10. Januar 1883 in Turin mit dem ersten Auftritt in der Paraderolle der Bernardt einen berauschenden wie unerwarteten Erfolg.

Repin trifft diese zierlich wirkende, dunkelhaarige italienische Schauspielerin in ihrem Salon. Obwohl er über eine bemerkenswerte, ja übersinnliche Vorstellungskraft verfügt, ist er von der Diva mit ihrem ausdrucksstarken Gesicht und ihrer ungekünstelten Natürlichkeit überrascht. Er geht auf ihr Angebot ein, sie an den spielfreien Tag zu porträtieren. Sie bestimmt selbstbewusst das Motiv. Repin skizziert sie in einem weichen Sessel zurückgelehnt, eine lebendige, etwas erschöpft wirkende Frau. Doch die dunklen Augen sind keineswegs müde, sondern mit kritisch, fragendem Blick auf den Betrachter gerichtet. Ohne Schminke und ohne Pose in einem recht einfachen schwarzen Kleid sitzt sie geduldig Modell. Den Maler fasziniert diese Ungeziertheit der gefeierten Diva ohne Allüren, mit der es sich gut über Kunst streiten lässt, beinahe wie mit Tolstoi, den Repin im Sommer besuchen wird. Sie bezweifelt, dass man über Kunst überhaupt sprechen kann, über ihre Kunst. „Über Kunst zu sprechen, mein lieber Repin, wäre dasselbe, wie wenn man die Liebe erklären wollte.“ Dann schweigt sie, blickt in abschätzend an und denkt nach, vielleicht über ihre oft so unglücklich verlaufenden Beziehungen. Nach einigen Minuten fährt die Schauspielerin fort: „Es gibt so viele Arten zu lieben und es gibt ebenso viele Offenbarungen in der Kunst. Es gibt die Liebe, die erhebt und zum Guten führt; und es gibt die Liebe, die jeden Willen, jede Kraft, jede Bewegung des Verstandes lähmt. Mir scheint, diese ist die Wahrste, aber sicherlich auch die Verhängnisvollste. Wer vorgibt, Kunst zu lehren zu wollen, und ich meine die Kunst auf der Bühne zu stehen und Rollen ein unvergleichbares Gesicht zu geben und sich selbst in diesem Moment ganz in einer Rollenfigur aufzugehen, mit ihr eins zu sein, der versteht rein gar nichts von ihr…Wissen Sie, Sie russisches Genie, dass tausend Frauen in mir sind und dass jede von ihnen mich auf ihre Art leiden macht? Ich musste immer wähle zwischen Herz und Vernunft und immer gehorche ich dem Herzen.“

Und im Gespräch mit dieser geistreichen und weltgewandten Frau bemerkt Repin, dass die Duse nicht Geld und Ruhm sucht, vielleicht ein wenig, sondern dass es für sie eine Zuflucht ist, in die verschiedensten Rollen zu schlüpfen und auf der Bühne zu stehen. Das scheint ein Geheimnis ihres Erfolges zu sein und die Zuschauer selbst in Russland fühlen das. Sie spüren, dass da nicht nur eine hochbegabte Komödiantin eine Rolle anbietet, sondern dass da im Rampenlicht ein Mensch, ja eine Frau mit dem ganzen Reichtum ihrer Empfindungen ein dramatisches Schicksal enthüllt.

* LE FIGARO - als Satiremagazin in Paris 1826 gegründet, seit 1866 Tageszeitung

IV.

Alexander III., seit jeher skeptisch gegenüber dem Deutschen Reich, sieht sich bestätigt, als Kaiser Wilhelm II. den geheimen Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht verlängert, der beide Mächte zur Neutralität im Kriegsfall verpflichtete. So vollzieht Berlin einen offenen Bruch in den traditionell eher guten Beziehungen beider Staaten. Auch der Ausbau der Flotte, Cousin Wilhelm will sie auf 180 Kriegsschiffe ausweiten, macht den Russen misstrauisch. Die Berater des Zaren empfehlen, sich nun stärker Frankreich zuzuwenden, das Kanzler Bismarck jahrelang versucht, auf der europäischen Bühne zu isolieren. Der Zar, sonst ein strenger Nationalist, sein Credo: Russland gehört den Russen, ist Frankreich gegenüber auch privat aufgeschlossen. Er braucht Investoren für die Industrialisierung seines Landes und den Bau der transsibirischen Eisenbahnmagistrale. Alexander, dessen Gesundheit mit seiner stattlichen Erscheinung harmonierte, der niemals die Dienste seines Hofarztes Doktor Botkin5 in Anspruch nahm, fühlt sich immer öfter müde.

Deshalb will er den Vorsitz im Komitee der Sibirischen Eisenbahn, das er 1890 einberufen hatte, abgeben. Sergei Witte, der erfolgreiche Unternehmer und Leiter der Abteilung Eisenbahnwesen am Zarenhof, schlägt den Thronfolger Nikolaus vor. Alexander III. sieht seinen Minister ungläubig an:

„Mein lieber Witte, haben Sie jemals ein erstes Gespräch mit ihm geführt? Er ist doch ein Kind und was er sagt, ist kindisch. Er wäre nie imstande, Präsident des Komitees zu sein.“

Aber schließlich stimmt der Zar Wittes Vorschlag zu und staunt, weil sein Erstgeborener diese Aufgabe nicht nur begeistert übernimmt, sondern den Bau beschleunigen will. Selbst Sergei Witte, der eher skeptisch wegen der bisherigen Leistungen des Zarewitsch war, zollt dem jungen Romanow Anerkennung und Lob über dessen „schwere Arbeit“. Mit Feuereifer betreibt Nikolaus seine Aufgabe, prüft gewissenhaft die Berichte, holt Gutachten ein, beratschlagt sich mit Experten und reist kontrollierend durchs Land. Während er in der Arbeit des Komitees voll und ganz aufgeht, schreibt er in sein Tagebuch, wie langweilig und ermüdend die Sitzungen im Staatsrat sind.

Im Berliner Schloss registriert man argwöhnisch das sich anbahnende Bündnis zwischen Russland und den erst 1871 geschlagenen und gedemütigten Erzfeind Frankreich, wonach sich deren Regierungen verpflichteten, sich im Falle einer Bedrohung für den Frieden zu konsultieren. Die Bismarcksche Außenpolitik ist stets geleitet von der Vorsicht, Deutschland könne von seinen Gegnern eingekreist werden.

Und Alexander hat noch einen anderen Grund, sich mit Frankreich zu verbünden. Er braucht Frieden für sein Land, das gerade ein industrielles Erwachen durchmacht und gleichzeitig von einer todbringenden Hungersnot, die wie der himmlische Schnitter durchs Russland zieht, heimgesucht wird. Der Zar sieht die Anzeichen eines großen Konflikts, der schon in der Regierungszeit seines 1881 ermordeten Vaters seitens Deutschland vorbereitet wurde. Bismarck, der alles andere als ein Friedenskanzler ist, hatte gegen den Widerstand seines Kaisers 1879 den Zweibund mit Österreich-Ungarn durchgesetzt, eine Union, die sich ausdrücklich gegen Russland richtet. Österreich wollte das Osmanische Reich beerben und darunter sich auch jene Länder in seine Doppelmonarchie einverleiben, die Russland mit dem Blutzoll seiner Soldaten befreit hatte.

Die furchtbare Hungersnot, die die Gouvernements Tula, Rjasan und Samara heimsucht, veranlasst den Romancier Lew Tolstoi zu Hilfsaktionen. Obwohl den inzwischen weltbekannten Autor Geldsorgen plagen, richtet er in den Dörfern im Winter Garküchen ein, die aber bald von den örtlichen Behörden ohne Begründung verboten werden.

Die russischen Hungertoten bewegen auch die Amerikaner über dem Pazifik. Die amerikanische Regierung entsendet eine Hilfskommission nach Russland unter Leitung eines Doktor Thomas Talmage. Der Prediger, Reformer und Weltreisende hatte in Amerika die Aktion „Brot für Russland“ organisiert. Er war nun über Paris und London, wo er die fast erblindete 70jährige Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege und einflussreiche Reformerin des Sanitätswesens und der Gesundheitsfürsorge Florence Nightingale besuchte, in St. Petersburg angekommen und wurde vom Zarewitsch empfangen, den die amerikanische Hilfe tief berührt. Der sozial engagierte Kirchenmann, dessen Predigten in New York und Philadelphia Massen anziehen, ist von Nikolaus beeindruckt und er notiert, der Zarewitsch sei „…ein außerordentlich liebenswerter junger Mann, kultiviert. …Weder die Russen noch die Europäer brauchen von ihm irgendwelche Feindseligkeiten oder Unannehmlichkeiten befürchten.“

Diese Aussage ist darauf zurückzuführen, dass er auf seiner Reise in Berlin mit Kaiser Wilhelm II. zusammentraf, der den Amerikaner eindringlich vor Russlands Monarchen und ihrem Expansionsstreben warnte. Dabei bezog sich der deutsche Kaiser auf das so genannte Befriedungsreskript für das russische Großfürstentum Finnland. In Finnland besteht eine starke Unabhängigkeitsbewegung, der Alexander III. mit harter Hand und einer entschiedenen Russifizierungspolitik begegnet. Sie äußert sich in der Zurückdrängung der finnischen Sprache aus dem öffentlichen Leben und der sukzessiven Einschränkung der Autonomie.

Zar Alexander III., der sich jedes Aufsehen um seine Person verbietet und ärztliche Betreuung ablehnt, ist nicht mehr der russische Bär. Auch die Zarin spürt die Veränderung, doch ihr Gemahl versichert ihr, um sie zu beruhigen, dass er sich nie besser gefühlt habe. Doch eines Tages, als er mit seiner jüngsten Tochter, der neunjährigen Großfürstin Olga im Park von Gatschina spazieren geht, wird er blass und setzt sich von Schmerzen gequält ins Gras. Er befiehlt seiner Tochter, diesen Zwischenfall niemanden, auch ihrer Mutter nicht, zu erzählen. Doch die Anfälle häufen sich und so besteht die Zarin darauf, einen Arzt zu rufen, der der Meinung ist, dass die übermenschliche Anstrengung, als der Zar bei Borki das Wagendach des entgleisten Zuges hochstemmte, bleibende Schäden an den inneren Organen verursacht haben kann. Dennoch beschließt der Mediziner, einen Spezialisten hinzuzuziehen und der stellt schließlich eine akute Nierenentzündung fest.

Dadurch wird die geplante Reise des Zarewitsch Nikolaus nach Coburg, wo er der zwanzigjährigen Alix einen Heiratsantrag machen wollte, verschoben. Da ihm der Zar immer wieder versichert, dass es ihm gut ginge, plant Nikolaus erneut nach Deutschland zu reisen. Doch der plötzliche Tod des künftigen Schwiegervaters, des Großherzogs Ludwig IV. von Hessen und bei Rhein lässt den Thronfolger Russlands von seinem Vorhaben Abstand nehmen, um die Trauerzeit der geliebten Alix von Hessen abzuwarten.

Seine Auserwählte muss nun das Regime im Schloss führen, da ihre Mutter, Prinzessin Alice von Großbritannien und Irland, schon lange vor dem Großherzog an Diphtherie gestorben war. Aus dem umschwärmten Backfisch Alix ist inzwischen eine erblühte Prinzessin geworden. Doch Queen Victoria, die hoffte, ihre Enkelinnen dort zu verheiraten, wo es ihrer Pläne entsprach, sagt zu Victoria, der Schwester von Alix: „Russland würde ich keiner von euch wünschen, hat es doch die Gesundheit fast aller deutschen Prinzessinen, die dort lebten, ruiniert.“

5Sergei Botkin (1832-1889) - Leibarzt der Zaren Alexander II. und Alexander III. Sein Sohn Jewgeni, Leibarzt von Nikolaus II. wird mit der Zarenfamilie 1918 erschossen.

V.

Im Juni reist Ilja Repin mit recht gemischten Gefühlen nach Jasnaja Poljana zu Tolstoi. Wie würde der berühmte Freund es auffassen, dass Anton Tschechow Repins Platz in der Malerei mit dem des großen Tolstoi in der Literatur verglichen hatte? Schließlich kannte der Maler Tolstois Einstellung zur Kunst. Bei seinem letzten Besuch hatte der begnadete Romancier gesagt: „Etwas, das ich schon früher einmal gedacht und notiert habe: Kunst ist eine Fiktion. Es gibt die Verlockung, sich mit Puppen, Bildchen und Liedern, mit dem Spiel und mit Märchen die Zeit zu vertreiben, das ist alles.“ Und er warf den Malern und damit indirekt auch Repin vor, dass sie Künstler für eine Elite seien. Er meinte, sobald die Kunst aufhört, Kunst des ganzen Volkes zu sein, und zur Kunst einer kleinen Klasse von Begüterten wird, ist sie nicht länger notwendig und wichtig, sondern wird leere Unterhaltung.

Natürlich sitzt er Repin dennoch Modell wie viele Mitglieder der Familie, aber er bestimmt nun das Sujet, legt sich ins Moos des gutsnahen Waldes um zu lesen oder nimmt den Bauern beim Pflügen die Zügel aus der Hand und stapft in seinen selbst gefertigten, groben Stiefeln in der Furche dem Pflug hinterher, wobei der die Pferde mit Zurufen ermuntert. Repin rennt von einem Ende des Ackers zum anderen und skizziert, weil er weiß, dass Tolstoi gerade auf dieses Bild Wert legen wird, der große Graf im einfachen Bauernkittel beim Pflügen. Hier verschmilzt Tolstoi mit Russland, dem Land der Mushiks. Als Repin dann Tolstoi in seinem Schreibzimmer malt, erwähnt der so ganz nebenbei, dass er vorhat, einmal ernsthaft der Frage nachzugehen „Was ist Kunst?“

Und er kritisiert das Bemühen der Wanderaussteller, mit ihren Ausstellungen das Volk aufzuklären. „Mein verehrter Ilja Jefimowitsch, die Kunst kann der großen Masse nicht deswegen unverständlich sein, weil sie gut ist, wie dies die Künstler unserer Zeit gern behaupten. Eher muss man annehmen, die Kunst ist der großen Masse nur deswegen unverständlich, weil diese Kunst eine sehr schlechte oder vielleicht überhaupt keine Kunst ist. Es wird gesagt, die Kunstwerke gefielen dem Volk nicht, weil es nicht fähig sei, Kunst zu begreifen. Wenn aber der Zweck eines Kunstwerks darin besteht, auf andere das Gefühl zu übertragen, das der Künstler empfand, wie kann dann von Nichtbegreifen die Rede sein?“

Natürlich ist Repin anderer Meinung, doch in Anwesenheit Tolstois ist der sonst so selbstbewusste Künstler irgendwie gehemmt. Gegenüber Malerfreunden, die ihn um die Freundschaft mit Tolstoi beneiden, bekennt er, dass er in dessen hypnotisierender Gegenwart nicht zu widersprechen wagt und nur in Gedanken mit ihm Dispute führt. „Mal denke ich, dass ich Recht habe, mal scheint es mir, dass seine Thesen unvergleichlich tiefer sind. Vor allem kann ich mich nicht mit seiner Verneinung der Kultur anfreunden.“

Tolstoi fühlt sich krank, sein Magen quält ihn und er denkt immer öfter an den Tod. Ins Tagebuch schreibt er lapidar: „Repin war hier, ist heute weggefahren.“ Indessen planen Regierungskreise, den sich aktiv und mit Hingabe um die Hungernden kümmernden Tolstoi zu verbannen oder als geisteskrank und gefährlich in das Klostergefängnis von Susdal einzuweisen. Aber auf Veranlassung von Alexander III. werden vorerst keine Schritte gegen ihn unternommen. Tolstois Aufsatz „Über den Hunger“ erregt auch international die Öffentlichkeit.

Es ist ein kalter Novembermorgen, vom Meer her peitscht der Wind feinen Niesei in die Stadt und dennoch drängt es die Petersburger zur Akademie der Künste, in der Repins Gemälde „Die Saporosher Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan“ das Prunkstück seiner fast dreihundert Werke umfassenden Personalausstellung ist. Der junge Kunstkritiker und Maler Igor Grabar spart nicht mit Lob: „Die Saporosher Kosaken sind ein wahres Meisterwerk, ein besseres historisches Bild habe ich nie zuvor gesehen…Repin ist ein perfekter Gogol in Farben… Wenn das Ziel jeden historischen Bildes, oder, genauer gesagt, des historischen Genres darin besteht, uns in eine längst vergangene Zeit zu versetzen, so weiß ich nicht, wie man dieses Ziel besser erreichen kann, wie es Repin getan hat. Alle Legenden, Erzählungen und Erinnerungen, Taras Bulba6 selbst, all dies wurde ins Leben zurückgerufen.“

Der so gefeierte Maler zeichnet einige Blätter von St. Petersburger Stadtansichten für ein amerikanische Magazin. Die russischen Künstler sind seit Tschaikowskis sensationellem Erfolg bei seiner Tournee durch Amerika gerade en vogue.

Inzwischen werden Teile der Repinschen Ausstellung nach St. Petersburg nun in Moskau gezeigt und Ilja Repin, der oft anwesend ist und seinen Triumph genießt, sieht Tolstois These, dass auch seine Kunst elitär ist, widerlegt. An seinen Freund, den nun schon greisen Kritiker Stassow schreibt er: „Meine Ausstellung mach hier viel Aufsehen… Viele Leute kommen, Studenten und Studentinnen und sogar Handwerker drängen sich in den Sälen.“

Zar Alexander III. hat Repin für das Bild „Die Saporosher Kosaken schreiben einen Brief an den türkischen Sultan“ die wahrhaft fürstliche Summe von 35.000 Rubel geboten, ein Angebot, dass der Künstler nicht ausschlagen kann und darf. Es ist die bisher höchste Summe, die je ein Maler für sein Werk erhalten hat. Was würde wohl Tolstoi dazu sagen? In Moskau besucht der Maler seinen Freund und Mäzen Pawel Tretjakow, dessen Galerie geschlossen ist, weil die stark ramponierten Säle renoviert werden. Der kauft fast die ganze Repinsche Ausstellung, fünfzig Gemälde.

Es ist ein herzliches Wiedersehen mit dem selbstlosen Kaufmann und Förderer junger russischer Maler, der für sein soziales Engagement in der Stadt für eine Ehrenbürgerschaft der Stadt Moskau vorgeschlagen ist. Tretjakow ist trotz seines Reichtums ein bescheidener Mann, trägt einen Anzug so lange, bis an Kragen und Manschetten der Stoff durchgewetzt ist und obwohl er eine Kutsche hat, geht er oft zu Fuß und lässt den Kutscher einfach hinterher fahren. Viele Orden und Medaillen wurden dem Moskauer Kaufmann verliehen, die er nie trägt, sondern die Kinder damit spielen lässt. Hochgestellten Mitgliedern der Zarenfamilie weicht er, wenn es geht, aus.

Repin glaubt, Tretjakow mochte Würdenträger einfach nicht, weder weltliche noch geistliche. Als dem Galeristen der Besuch von Johannes von Kronstadt angekündigt wird, einem Popen, dem tausende Gläubige anhängen, die ihn für einen Heiligen halten, packt Tretjakow kurz entschlossen seine Reisetasche und fährt für zwei Tage nach Kostroma. Er sei geschäftlich abberufen wurden, lässt man den Geistlichen, dessen Besuch wohl eine hohe Ehre ist, ausrichten.

Auch Alexander III. hatte die Galerie besichtigt und 1893 beschlossen, Pawel Tretjakow wegen der Förderung der russischen Kunst und seines sozialen Engagements in den Adelsstand zu erheben. Ein hoher Staatsbeamter überbringt die frohe Botschaft und ist erstaunt über die ablehnende Reaktion des Galeriegründers: „Ich danke Seiner Majestät sehr für die große Ehre, aber den hohen Titel eines Adligen nehme ich nicht an. Ich bin als Kaufmann geboren und ich werde als Kaufmann sterben.“

Doch die Ehrenbürgerschaft Moskaus, seiner Heimatstadt, die er sehr liebt, nimmt der Großkaufmann bewegt an. Sein Bruder Sergei, der ein Jahr zuvor gestorben war, hatte in seinem Testament verfügt, dass er seinen Teil der Kunstsammlung der Stadt Moskau vererbt. Das ist nun für Pawel Tretjakow Anlass, auch seine Sammlung der Stadt zu schenken und damit den Grundstein für ein der breiten Öffentlichkeit zugängliches Kunstmuseums zu legen. Die gesamte, der Stadt Moskau überlassene Sammlung zählt 1287 Gemälde, 518 Zeichnungen und neun Skulpturen russischer Künstler sowie zusätzlich 75 Gemälde und acht Zeichnungen zeitgenössischer deutscher und französischer Maler. Das neu gegründete Kunstmuseum öffnet im August 1893 unter dem Namen „Moskauer Städtische Kunstgalerie Pawel und Sergei Michailowitsch Tretjakow“ seine Pforten.

Von Moskau aus reist Repin nach Witebsk weiter, er hat genug vom Trubel. Hier, am Fluss Dwina besichtigt er das zu veräußernde Landgut Sdrawnewo, das er kurz entschlossen kauft, um auf dem flachen Land ungestört zu arbeiten und mit seinen Töchtern ein einfaches Leben führen zu können. Denn inzwischen ist er, sicher auch von dem Asketen Tolstoi beeinflusst, Veganer geworden. Und hier hofft er nicht nur wieder zu Kräften zu kommen, sondern er besinnt er sich auf seine bäuerlichen Wurzeln, bringt das verwahrloste Haus in Ordnung und befestigt das Flussufer mit Hilfe der Bauern, die er auch zeichnet und wie immer wieder auch seine Lieblingsmotive, die Töchter Vera und Tatjana. Er schildert Stassow im fernen St. Petersburg seine Plackerei auf dem Gut: „Ich denke oft an Sisyphus, der Steine schleppte und beneide Antaeus. Ach, wenn doch diese Berührung mit der Erde, aus der der Poseidon-Sohn seine unbezwingbare Stärke schöpfte, auch meine Kräfte wieder herstellen könnte, die in Petersburg in letzter Zeit nachzulassen begannen.“

Und auf diesem Gut fernab von Moskau und der Hauptstadt, erreicht Ilja Repin ein Angebot der Akademie. Dem Maler wird nicht nur eine Professur angeboten, sondern er wird auch auf ausdrücklichen Wunsch des Monarchen Alexander III. gleichzeitig in eine Kommission berufen, die die Kaiserliche Akademie der Künste modernisieren soll. Geschmeichelt nimmt Repin an und schreibt an den 70jährigen Stassow: „Ich betrachte es jetzt als meine Pflicht gegenüber der jungen Generation und der russischen Kunst, in die Akademie einzutreten…Denn wo sonst kann man die jungen Künstler, die in ganz Russland wie Pilze aus dem Boden schießen, malen lehren.“

6Taras Bulba - Erzählung von Nikolai Gogol, die 1835 erschien und vom Aufstand der Saporosher Kosaken gegen polnische Besatzer handelt

VI.

Das Verhältnis zu Frankreich festigt sich und Alexander III. lässt seinen Botschafter in Paris die geheime Militärkonvention unterschreiben, die gegenseitige Unterstützung im Falle eines Angriffs des Dreierbundes von Österreich-Ungarn, Deutsches Reich und Italien. Weil er selbst immer schwächer wird und einen Vertrauten für wichtige Regierungsgeschäfte braucht, findet er den in Sergei Graf Witte, den er zum Finanz- und Verkehrsminister ernennt. Witte bedankt sich auf seine Weise und lässt einen Goldrubel mit dem Konterfei des Zaren prägen. Durch den Übergang zum Goldstandard stabilisiert der Finanzexperte auch international den Rubel. Seine intensive Industrialisierungs- und Infrastrukturpolitik löst einen regelrechten Wirtschaftsboom in ganz Russland aus.

Der triste Winter in St. Petersburg ist die hohe Zeit der Konzerte und Theater-Premieren. Im Mariinski-Theater erlebt die Familie des Zaren am 18. Dezember die Uraufführung eines romantischen Ballettmärchens zur Weihnachtszeit, das Marius Petipa und Lew Iwanow inszenierten, „Der Nussknacker“. Der Direktor des Theaters Iwan Wswoshski ließ es sich nicht nehmen, selbst die prunkvolle Bühnendekoration und die erlesenen Kostüme zu entwerfen.

Es ist die Geschichte vom Nussknacker und dem Mäusekönig von E. T. A. Hoffmann, die Alexander Dumas mit seiner kindgerechten Version in der ganzen Welt bekannt gemacht hatte und für die Pjotr Tschaikowski eine Ballettmusik komponierte. Sein Bruder Modest hatte ihn dazu angeregt, der für die Kinder seiner Schwester Alexandra ein kleines Theaterstück nach diesem Stoff geschrieben hatte. Vor der Premiere gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Petipa, der das Libretto geschrieben hatte und Iwanow, seinem Stellvetreter. Auch Tschaikowski machte Iwanow die Hölle heiß, weil es zwischen ihnen gewaltige Meinungsunterschiede in der Art der Interpretation gab.

Es kam wie es kommen musste, die Premiere des Balletts „Der Nussknacker“ ist kein großer Erfolg, weil das erlauchte Publikum die Grotesken nicht verstehen wollte. Aber als die Petersburger mit ihrem Kindern an den nächsten Abenden ins Theater strömen, rast das Publikum nach jedem Akt. Und während die Ballerinen den Tanz der Schneeflocken und die Solistin die Rolle der Zuckerfee tanzen, fallen draußen weiche weiße Flocken vom Nachthimmel, überzuckern die Stadt. Ein Petersburger Wintermärchen.

Zarewitsch Nikolaus träumt von Alix von Hessen und beschließt im Frühjahr endlich nach Deutschland zu reisen. Sein Bruder Georgi schreibt aus Abastumani, dass es ihm besser geht und er so manche Nacht im Observatorium verbringt. Der zweite Sohn von Alexander III. leidet an Tuberkulose und lebt im Kaukasus, wo er in klarer alpiner Hochgebirgsluft Linderung und Heilung erhofft. Dort oben auf dem 1.600 Meter hohen Berg Kanobili wurde extra wegen der Passion des kranken Großfürsten, er beschäftigt sich mit Astronomie, 1892 das erste russische Bergobservatorium eröffnet. Abastumani, einst ein normales, kleines georgisches Bergdorf, ist seit der Anwesenheit des Zarensohnes zu einem Modekurort geworden, den nun viele Adlige besuchen. In der Schlucht am Dorfrand am Fluss Ozche wurde nach dem Entwurf eines Schweizer Architekten für Georgi Romanow ein märchenhafter Winterpalast aus Holz errichtet.

Der jüngere Bruder des Thronfolgers schwärmt über die Schönheit der Natur des von dichten Nadelwäldern umgebenen Ortes mit seinen Heilquellen, auf den alte Wehrtürme herunterblicken. Aber er begeistert sich nicht nur für die Schönheit der Landschaft, sondern auch für die Herzogin Lisa Nijaradze, mit der er oft bei Spaziergängen gesehen wird. Und als Georgi sogar davon träumt, die rassige Georgierin zu heiraten, schreitet Zar Alexander ein und verheiratet die Herzogin zwangsweise mit einem verdienstvollen adligen General. Das wäre für den nationalistischen Herrscher doch zuviel, eine Georgierin in der Familie und vielleicht, sollte Nikolai etwas passieren, auf dem Thron. Sein Sohn ist über dieses erzwungene, tragische Ende seiner ersten Liebe erschüttert und selbst die Zarin Maria Fjodorowna schafft es nicht, ihn aufzuheitern.

Pjotr Tschaikowski ist nach einer Konzertreise aus Paris zurück und wie immer inspiriert ihn das Reisen. Dann wandert er stundenlang herum und lässt die Noten emotional in seinem Kopf tanzen. Er selbst notiert das so: „Welch unermessliche Seligkeit ergreift mich, wenn der Hauptgedanke empfangen ist und sich zu entwickeln beginnt. Man vergisst alles um sich herum, gebärdet sich wie ein Verrückter. Alles im Innern zittert.“ Nun geht er schwanger mit der Idee zu einer sechsten Sinfonie, die er „Pathétique“ nennen will. Seinem Freund, dem Großfürsten Konstantin, kündigt er an, „eine grandiose Sinfonie zu schreiben, die den Schlussstein meines ganzen Schaffens bilden soll“. Ihm schwebt ein programmatisches Werk vor, das sein Leben und Leiden beinhalten soll und die Idee hat vom Komponisten mit solcher schöpferischen Urgewalt Besitz ergriffen, dass er in weniger als vier Tagen den ersten Satz komponiert und den Rest schon im Kopf klar umrissen hat. „Die Musik ist durchaus subjektiv und ich habe nicht selten auf meinen Wanderungen, sie in Gedanken komponierend, bitterlich geweint.“

In nur vier Wochen ist in der Kleinstadt Klin die sechste Sinfonie, die Selbstbiografie in Noten, vollendet. Zum ersten mal in seinem Leben fühlt Tschaikowski, dass er nun seine Aufgaben erfüllt und alles offenbart hat, was er den Menschen mit seiner Musik zusagen vorhatte.