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Horst Dreier

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Beschreibung

Staat ohne Gott ist keine Streitschrift, wohl aber eine streitbare Analyse. Die These von Horst Dreier lautet: In der modernen Demokratie darf sich der Staat mit keiner bestimmten Religion identifizieren, und heiße sie auch Christentum. Nur in einem Staat ohne Gott können alle Bürger gemäß ihren durchaus unterschiedlichen religiösen oder sonstigen Überzeugungen in Freiheit leben. Staat ohne Gott heißt also nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott. Es heißt vielmehr, dass die Demokratie des Grundgesetzes mit jeder Form eines Gottesstaates, einer Theokratie, einer sakralen Ordnung oder eines christlichen Staates gänzlich unvereinbar ist. Die Entwicklung Deutschlands hin zu einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft hat neue Konfliktfelder zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen sowie zwischen ihnen und der Staatsgewalt entstehen lassen. Gerade angesichts der intensiv geführten Debatte um den Zusammenprall der Kulturen und die Herausforderung freiheitlicher westlicher Gesellschaften durch den Islam aber ist eine Besinnung auf die Grundstrukturen und Grundfragen des säkularen Staates geboten – auf sein Programm, sein Profil, seine Problematik.

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Horst Dreier

Staat ohne Gott

Religion in der säkularen Moderne

C.H.Beck

Zum Buch

«Staat ohne Gott» ist keine Streitschrift, wohl aber eine streitbare Analyse. Die These von Horst Dreier lautet: In der modernen Demokratie darf sich der Staat mit keiner bestimmten Religion identifizieren, und heiße sie auch Christentum. Nur in einem Staat ohne Gott können alle Bürger gemäß ihren durchaus unterschiedlichen religiösen oder sonstigen Überzeugungen in Freiheit leben.

Die Entwicklung Deutschlands hin zu einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft hat neue Konfliktfelder zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen sowie zwischen ihnen und der Staatsgewalt entstehen lassen. Gerade angesichts der intensiv geführten Debatte um den Zusammenprall der Kulturen im allgemeinen und die Herausforderung freiheitlicher westlicher Gesellschaften durch den Islam im besonderen aber ist eine Besinnung auf die Grundstrukturen und Grundfragen des säkularen Staates geboten – sein Programm, sein Profil, seine Problematik.

Über den Autor

Prof. Dr. Horst Dreier, geb. 1954, ist Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Für seine Lehre wurde er mehrfach ausgezeichnet. Horst Dreier ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina sowie Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zur Rechtsphilosophie und zum Verfassungsrecht. Die Ursprünge von Staat ohne Gott gehen auf seine Zeit als Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München 2011/12 zurück.

Inhalt

Vorwort

EINFÜHRUNG: Der säkulare Staat als religiöser Freiheitsgewinn

KAPITEL I: Facetten der Säkularisierung – Mit einem Exkurs zu Hans Blumenberg

I. Ausgangsbefund: Verwirrende Begriffsvielfalt

II. Begriffliche Ursprünge: Statuspassage (saecularisatio) und Entzug von Herrschafts- und Vermögensrechten (Säkularisation)

1. Saecularisatio: Übertritt vom Ordens- zum Weltgeistlichen

2. Säkularisation von geistlicher Herrschaft und Kirchengut

III. Säkularisierung als geistesgeschichtliche Interpretationskategorie

1. Vom Aufstieg des Säkularisierungstopos

2. Vielfalt der Diskurse heute

3. Exkurs zu Hans Blumenberg: Säkularisierung als «Kategorie historischer Illegitimität»?

a) Blumenbergs Argumentation

aa) Ausgangspunkt: Anamnese

bb) Präzisierung: Kriterienkatalog

cc) Anwendung: Löwith

dd) Kernargument: Eigenständigkeit der Moderne

b) Der begriffsgeschichtliche Einwand

c) Der bleibende Wert

IV. Säkularisierung sozialwissenschaftlich: Faktischer Bedeutungsverlust von Religion

1. Säkularisierung als Gegenstand empirischer Sozialforschung

2. Das Indikatorenproblem: Entkirchlichung, Entchristlichung, Religionsschwund

3. Das Ebenenproblem: Personen- oder Staatsbezug?

4. Modernisierungstheorie und Säkularisierungstheorem

V. Säkularisierung im staats- und verfassungsrechtlichen Sinne

KAPITEL II: Eine kurze Verfassungsgeschichte der Religionsfreiheit in Deutschland

I. Der Ausgangspunkt: Religionsfreiheit heute

II. Paradoxer Anfang: Religionsfreiheit als Herrschaftsrecht (Augsburger Religionsfrieden 1555)

1. Glaubenszweiheit, nicht Glaubensfreiheit

2. Bekenntniszwang (ius reformandi)

3. Auswanderungsfreiheit (ius emigrandi) als Derivatgrundrecht

III. Innerchristliche Pluralisierung (Westfälischer Frieden 1648)

1. Von der Glaubenszweiheit zur Glaubensdreiheit

2. Einschränkungen des ius reformandi

3. Stufungen der Religionsfreiheit

IV. Sukzessive Ausweitungsprozesse (1794, 1815)

1. Praeterlegale Toleranz

2. Fortschrittlichkeit des Preußischen Allgemeinen Landrechts (1794)

3. Gleichstellung dreier christlicher Konfessionen

V. Programmatischer Durchbruch: Paulskirchenverfassung 1848/49

VI. Praktische Fortschritte (1850, 1871)

1. Preußen als «christlicher Staat»?

2. Entwicklungen auf Reichsebene

VII. Umsetzung der Programmatik der Paulskirche (1919, 1949)

VIII. Resümee: Vom Staatsattribut zum subjektiven Recht

KAPITEL III: Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates – Konzeption, Kritik, Kontroversen

I. Das Konzept religiös-weltanschaulicher Neutralität des Staates

1. Verfassungsrechtliche Verankerung

2. Konsens: Identifikations- und Privilegierungsverbot als Kerngehalte

a) Institutionelle Nichtidentifikation

b) Sachliche Nichtidentifikation

c) Diskriminierungsverbot

d) Verzicht auf religiöse Legitimation

e) Bedeutungszuwachs

3. Dissens: Reichweite der religiös-weltanschaulichen Neutralität im Rechtsetzungsprozeß

a) Keine Wirkungsneutralität

b) Begründungsneutralität

c) Einschränkungen des politischen Prozesses?

d) Fazit

II. Kritik: Einwände gegen das Konzept

1. Der Einwand evidenter Nichtgeltung

2. Der Einwand des Selbstwiderspruchs

3. Der Einwand des Definitionszwanges

III. Kontroversen: Exemplarische Problemfelder

1. Verfassungszuträglichkeit als Bewertungskriterium?

2. «Ehrfurcht vor Gott» als schulisches Erziehungsziel?

IV. Zum Stellenwert des Neutralitätsgebotes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

KAPITEL IV: Sakrale Elemente im säkularen Staat?

I. Religious turn in den Geistes- und Kulturwissenschaften

II. Problematische Deutungsangebote: Staatsmythologie und Verfassungssakralisierung

1. Verfassung als Mythos?

2. Sakralisierung der Verfassung?

III. «Sakralisierung des Rechts» als historische Konstante?

IV. Religiöse Tiefenstruktur des liberalen Staates?

V. «Sakralität der Person» als Kern der Menschenrechtsidee?

1. Sakralisierung der Person?

2. Affirmative Genealogie?

3. Subjektive Evidenz und affektive Intensität

VI. Resümee: Eigenständigkeit säkularer Ordnung

KAPITEL V: Der Präambel-Gott

I. Gott in der Präambel: Bestandsaufnahme

II. Das Ringen um die Präambel im Parlamentarischen Rat

1. Der schwierige Weg zum Gottesbezug

2. Verantwortung statt Vertrauen

III. Invocatio Dei – Nominatio Dei – Demutsformel

IV. Gefährdung der Säkularität und Neutralität des Staates?

1. Normativer Gehalt der Präambel?

2. Schmälerung der religiös-weltanschaulichen Neutralität?

KAPITEL VI: Das Böckenförde-Diktum: Erfolgsgeschichte einer Problemanzeige

I. Omnipräsenz der These

II. Genese und Kontext

III. Vorläufer

IV. Rezeptionen und Lesarten

1. Grundwertedebatte und Grenzen des Staates

2. Religionsdebatte und Rolle der Kirchen

V. Analyse der Deutungsdivergenzen

1. «Voraussetzungen, die er nicht garantieren kann»

2. «Moralische Substanz», «religiöser Glaube»

VI. Was bleibt? Versuch eines Resümees

Abkürzungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Sachregister

Vorwort

Manche Bücher haben eine längere Vorgeschichte. Dieses zählt dazu. Die Rückschau umfaßt mehr als ein halbes Jahrzehnt. Während meiner Münchener Zeit als Fellow der Carl Friedrich von Siemens Stiftung im akademischen Jahr 2011/12 arbeitete ich neben einigen anderen Projekten an einem Vortrag für den Gesprächskreis «Grundlagen des Öffentlichen Rechts» in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Ich hatte mir das Thema «Säkularisierung und Sakralität» vorgenommen. Ausgesprochen wertvoll waren für mich seinerzeit einige längere, teils bis in die tiefe Nacht reichende Gespräche, die ich mit Heinrich Meier, dem Geschäftsführer der Stiftung, führen konnte. Er war es auch, der in der Folgezeit mit großer Beharrlichkeit darauf drängte, sich des Gegenstandes in Gestalt eines etwas breiteren thematischen Formates anzunehmen. Ich freue mich darüber und bin stolz darauf, daß das Ergebnis meiner Bemühungen nun in der Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung erscheint – Heinrich Meier sei Dank.

Besonderer Dank gebührt auch dem Exzellenzcluster «Religion und Politik» der Universität Münster. Dort wurde mir im Wintersemester 2016/17 die Ehre zuteil, die kurz zuvor geschaffene Hans-Blumenberg-Gastprofessur zu bekleiden. Die aus diesem Anlaß gehaltene Vortragsserie unter dem Titel «Herausforderungen des säkularen Verfassungsstaates» umfaßte die Themen der ersten vier Kapitel des vorliegenden Buches. Ich möchte mich ausdrücklich für die vielen interessanten Diskussionen und Gespräche bedanken, die ich während dieser Zeit führen durfte und die für die schriftliche Ausarbeitung der Vortragstexte von großer Wichtigkeit waren. Ohne irgendjemanden aus dem vielköpfigen Kreis der am Exzellenzcluster beteiligten Personen ausschließen zu wollen, möchte ich neben meinem früheren Schüler und heutigen Kollegen, Fabian Wittreck, vor allem Thomas Gutmann, Nils Jansen, Detlef Pollack und Ludwig Siep nennen. Dem Schlußkapitel über das Böckenförde-Diktum liegt ein Vortrag zugrunde, den ich am 21. Februar 2017 in Bremen auf Einladung der dortigen Juristischen Gesellschaft gehalten habe.

Meinen wiederholten Dank möchte ich nicht zuletzt Helmuth Schulze-Fielitz aussprechen, der – wie seit vielen Jahren – auch diese Texte in ihrer Entwurfsfassung genau studiert und mit konstruktiv-kritischen Hinweisen versehen hat. Möge diese Art des intensiven Gedankenaustausches und der freundschaftlichen Kooperation noch manches weitere Jahr andauern! Schließlich danke ich dem Verlag C.H.Beck und namentlich meinem Lektor Dr. Stefan Bollmann sowie Angelika von der Lahr für die vorzügliche Zusammenarbeit.

Würzburg, den 31. Oktober 2017

Horst Dreier

EINFÜHRUNG

Der säkulare Staat als religiöser Freiheitsgewinn

«Staat ohne Gott» heißt nicht: Welt ohne Gott, auch nicht: Gesellschaft ohne Gott, und schon gar nicht: Mensch ohne Gott. Was aber heißt es dann? Die titelgebende Wendung zielt zentral auf den Umstand, daß der Staat in der modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie auf jede Form religiöser Legitimation zu verzichten hat und sich mit keiner bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren darf. Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates bildet die Kehrseite der Religionsfreiheit, die alle Bürger genießen. In einem solchen Staat ohne Gott leben Menschen gemäß ihren durchaus unterschiedlichen religiösen oder sonstigen Überzeugungen, während der Staat sich zur absoluten Wahrheitsfrage distanziert verhält und sie weder beantworten will noch kann, weil ihm dafür schlicht die Kompetenz fehlt. Religionsfreiheit der Bürger und weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates sind die beiden Säulen, auf denen die Säkularität des freiheitlichen Verfassungsstaates ruht.[1] Dabei ist Säkularität des Staates nicht zu verwechseln und schon gar nicht gleichzusetzen mit der Säkularität (oder gar der massiv betriebenen Säkularisierung) der Gesellschaft im Sinne einer laizistischen Kampfparole. Mit nicht erlahmender Energie hat Martin Heckel, der Doyen des deutschen Staatskirchenrechts, immer wieder auf die «Selbstbeschränkung des säkularen Staates auf das Säkulare» und darauf hingewiesen, daß dieser sich eben gerade nicht des Religiösen bemächtigen oder sich als «säkularisierender Staat» gerieren dürfe.[2] Der freiheitliche, säkulare Verfassungsstaat versteht sich nicht als Widerpart des Glaubens, sondern bietet diesem eine Plattform. Staat ohne Gott und kraftvolle Religiosität in der Gesellschaft schließen sich mithin keineswegs aus. Im Gegenteil: Die verschiedenen religiösen Gruppen können sich überhaupt nur dann ungehindert als gleichberechtigte Freiheitsträger mit umfänglichen Betätigungsmöglichkeiten entfalten, wenn der Staat selbst sich weltanschaulich strikt neutral verhält und nicht Partei ergreift. Die gleiche Freiheit aller auch in Fragen des Glaubens und der Weltanschauung bedingt die korrespondierende Enthaltsamkeit des Staates. Die Säkularisierung des Staates ist daher freiheitsnotwendig und entfaltet – nur scheinbar paradox – religionsbegünstigende Wirkungen.[3] Ganz in diesem Sinne hat Bischof Wolfgang Huber in einer Rede aus dem Jahre 2007 über den «Dialog der Religionen in einer pluralen Gesellschaft» zutreffend davon gesprochen, daß die Religionsfreiheit als universales Menschenrecht «nur verwirklicht und gesichert werden kann, wenn die staatliche Ordnung einen säkularen, demokratischen Charakter trägt und eine Pluralität von Meinungen und Gruppen zulässt».[4]

«Staat ohne Gott» ist mithin keine Streitschrift für einen kämpferischen Atheismus. Es ist überhaupt keine Streitschrift, sondern eine Analyse. Diese mag allerdings insofern als streitbar verstanden werden, als sie aufzeigt, daß die säkulare Grundrechtsdemokratie des Grundgesetzes mit jedweder Form eines Gottesstaates, einer Theokratie, einer sakralen Ordnung oder eines christlichen Staates gänzlich unvereinbar ist. Im freiheitlichen Verfassungsstaat ist die Autorität des Rechts von der Autorität eines bestimmten Glaubens oder einer bestimmten Weltanschauung abgekoppelt. «Der moderne Verfassungsstaat ist ein innerweltliches Projekt.»[5] Sosehr auch der freiheitliche säkulare Staat mit seinen Regelungen und Maßnahmen zuweilen tief in das Leben der Menschen eingreift, sowenig maßt er sich dabei Entscheidungskompetenzen über die fundamentalen metaphysischen Fragen nach dem Sinn der Welt und unseres Daseins in ihr an. Der Staat soll Frieden stiften und Freiheit gewährleisten, Wohlfahrt und Ordnung garantieren und das Miteinander der Menschen auf eine allseits verträgliche Weise organisieren. Doch so wichtig diese Aspekte zweifelsohne sind, so klar ist auch, daß sie nur Fragen unserer äußeren Lebensverhältnisse und insofern «vorletzte» Fragen betreffen. Die Antwort auf die letzten Fragen nach dem Sinn unserer Existenz, dem Warum, Woher und Wozu – sie überläßt er jedem Einzelnen. Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten, «daß das Grundgesetz den Staat nicht als den Hüter eines Heilsplanes versteht, kraft dessen er legitimiert erschiene, dem Menschen die Gestaltung seines Lebens bis in die innersten Bereiche des Glaubens und Denkens hinein verordnen zu dürfen».[6] Er ist keine sinnstiftende Instanz. «Der moderne säkulare Verfassungsstaat hat ausdrücklich auf die Legitimationsressource ‹Religion› verzichtet, und nur dadurch konnte er die Religionsfreiheit gewähren.»[7] Um es in Anspielung auf einen berühmten Satz des Römerbriefes zu sagen: Die Obrigkeit des freiheitlichen Verfassungsstaates ist nicht von Gott. Hier geht, wie es das Grundgesetz in Artikel 20 formuliert, alle Staatsgewalt vom Volke aus. Nach diesem Prinzip der Volkssouveränität gründet sich staatliche Herrschaft weder auf das Gottesgnadentum eines Monarchen oder das Charisma überragender Führergestalten noch auf eine metaphysische Idee oder sakrale Instanz, sondern allein auf den Willen der zum Staatsvolk zusammengefaßten Individuen. «We the People» – das sind die berühmten ersten drei Worte der US-Verfassung von 1787. Jenseits dieses Volkes gibt es für den irdischen Staat und das weltliche Recht keine weitere Legitimationsinstanz oder Sinnstiftungsquelle.[8] Umso kräftiger strahlt daher ein anderer biblischer Satz: «Mein Reich ist nicht von dieser Welt.»

Müssen sich Politik und Religion, Herrschaft und Heil, Staat und Glaube trennen und der Staat sich ohne Transzendenzbezug etablieren und legitimieren, führt das weder zur Heillosigkeit der Welt noch zum verordneten Atheismus, sondern entpuppt sich gerade unter den pluralen Bedingungen der säkularen Moderne als heilsam: heilsam vor allem für die friedliche Koexistenz verschiedener Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und für die allen Menschen gleichermaßen zustehende Möglichkeit, sich zu einer dieser Gemeinschaften zu bekennen und das eigene Leben an deren Lehren auszurichten – oder sich von ihnen gänzlich fernzuhalten. Entscheidend ist die Einsicht, daß die nach langen und schweren Kämpfen erreichte «politische Neutralisierung religiöser Wahrheitsansprüche» nicht automatisch einen umfassenden Bedeutungsverlust der Religion zur Folge haben muß oder gar nur als «Resultat einer allgemeinen Vergleichgültigung dieser Bekenntnisse»[9] zu begreifen wäre. Auch erfaßt die zweifellos besonders markante Sentenz des protestantischen Kirchenrechtlers Rudolph Sohm, der Staat an sich sei ein «geborener Heide»,[10] die Sachlage nicht recht, weil diese Charakterisierung schon wieder als Stellungnahme zuungunsten der Religion verstanden werden könnte. Davon kann aber keine Rede sein. Denn der säkulare Staat befindet sich in einem Verhältnis der Äquidistanz zu allen religiösen wie weltanschaulichen Positionen, nicht in einer Oppositionshaltung zu ihnen.

Die eigentliche Pointe der historischen Entwicklung liegt nämlich gerade darin, daß die Ausdifferenzierung der Sphären die Religion keineswegs zwingend schwächt, sondern durchaus zu ihrer Stärkung als Glaubensmacht führen kann.[11] Jedenfalls ist mit dem säkularen Staat mitnichten ein erster Schritt in Richtung Religionslosigkeit getan. Säkularität des Staates ist «kein anti-religiöses Projekt».[12] Denn gerade weil umfassende Religionsfreiheit gewährt wird, ist insbesondere den Glaubensgemeinschaften breiter Raum zur Entfaltung, zur hör- und sichtbaren Praxis, auch zur Einmischung in öffentliche Angelegenheiten gegeben. Religiöse Freiheit meint gerade nicht den «Rückzug der Kirchen in den Bereich des Privaten und auf das Feld einer individualistisch verkürzten Frömmigkeit».[13] Sie kann sich auch darin äußern, sich kraftvoll in das gesellschaftliche Geschehen einzumischen. Keineswegs ausgeschlossen ist demzufolge «das politische Eintreten für Ziele und Forderungen, die sich aus religiöser Motivation herleiten».[14] Dies alles zeigt klar: Der säkulare Staat perhorresziert Religion nicht, ordnet sie aber der Sphäre der Gesellschaft zu. Sie ist nicht länger Fixpunkt und Legitimationsanker politischer Herrschaft, sondern Gegenstand persönlichen Glaubens und Handelns. Zutreffend hat man es als den dogmatisch wie rechtshistorisch springenden Punkt bezeichnet, daß Säkularisierung «nicht zur Religionsbekämpfung, sondern zum Schutz der religiösen Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften und ihrer Anhänger»[15] geschah. Und so, wie sich Religion jetzt ganz ohne institutionelle Verquickung mit politischen Institutionen auf sich selbst, ihr Proprium, konzentrieren konnte, so wurde auch die Politik von Transzendenzbezügen und entsprechenden Heilserwartungen entbunden. Zugespitzt hat Hermann Lübbe von der «Evidenz» gesprochen, daß Religionsfreiheit ein «Institut der Förderung der Interessen der Kirchen selber ist», weil der «Entzug politischer Herrschaftsrechte die Kirche nicht beraubt, vielmehr entlastet» und die Entfaltung religiösen Lebens begünstigt habe.[16] In diesem Sinne bedeutet Säkularisierung «nicht Funktionsverlust der Religion, sondern deren Verselbständigung».[17] Nun kann sich die Eigenlogik von Recht, Religion und Politik entfalten. Für die Gläubigen ist Säkularisierung insofern geradezu ein Glücksfall.[18]

Wiewohl man also mit guten Gründen annimmt, daß der Säkularisierungsprozeß auch der Religion einen «Freiheitsgewinn beschert»,[19] sollten wir nicht die Augen davor verschließen, daß dieser Freiheitsgewinn durchaus seine Kosten haben kann und in ihm gewisse Risiken liegen, die in den letzten anderthalb Jahrzehnten mit zuweilen zerstörerischer Kraft zutage getreten sind. Wir dürfen, anders gesagt, niemals die Ambivalenz des Religiösen vergessen.[20] Religiöse Orientierung kann durchaus zu einer substantiellen Ressource für ein freiheitliches politisches Gemeinwesen werden, kann dieses aber genausogut durch Desinteresse gefährden, durch Mißachtung diskreditieren oder aufgrund konträrer Ordnungsvorstellungen gezielt torpedieren. Es gibt keinen Automatismus, demzufolge Religion immer zugunsten der Stabilisierung freiheitlicher und friedensverbürgender Verfassungszustände wirken würde. Das anzunehmen wäre ganz ahistorisch und uninformiert. Der «politische Sprengstoff, den die Religion in sich birgt»,[21] steht uns heutzutage ohnehin nur allzu deutlich vor Augen. Dabei kann das «Potential an Intoleranz und Gewaltneigung» im übrigen auch nicht vornehmlich oder ausschließlich auf monotheistische Offenbarungsreligionen begrenzt werden.[22] Das Problem ist wegen des absoluten religiösen Wahrheits- und Befolgungsanspruches ein allgemeines: «Sosehr Religion den Menschen humanisieren kann, so sehr kann sie ihn auch barbarisieren, und die eine religiöse Bewußtseinsgestalt kann sehr schnell in die andere umschlagen; auch sind die Übergänge fließend.»[23]

Weil Religion also keineswegs nur befriedende und konfliktmindernde, sondern oft auch konfliktverschärfende Effekte zeitigt und dadurch selbst zum Konfliktfaktor wird, kann schließlich und endlich aus dem vielfältigen Mit- oder auch Nebeneinander unterschiedlicher Religionen in einer Gesellschaft rasch ein Gegeneinander werden. Die gewachsene religiöse Diversität stellt höhere Anforderungen an die Kompatibilität unterschiedlicher Freiheitsansprüche im Sinne der Verwirklichung religiös geprägter Verhaltensweisen.[24] Lange Zeit hieß Religionsfreiheit in Deutschland ja kaum mehr als: Bikonfessionalität. In den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik herrschten zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen und dem Staat klare und übersichtliche Verhältnisse, so daß sich auch das Religionsverfassungsrecht «in bemerkenswerter Ruhe»[25] entwickeln konnte. Die Kirchen wirkten sozial kohäsiv, Religion war aufgrund der kulturellen Harmonie eine integrierende und stabilisierende Größe. Das hat sich mit der Entwicklung Deutschlands hin zu einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft, in der der Anteil der Konfessionslosen permanent wächst und in der auch dezidiert atheistische Bürger leben, entscheidend verändert. Spürbar sind frühere kulturelle wie soziale Selbstverständlichkeiten weggebrochen und stillschweigende Einverständnisse entfallen. Entsprechend scharf schälen sich Konfliktfelder zwischen den Anhängern verschiedener Glaubensrichtungen sowie zwischen ihnen und der Staatsgewalt heraus. Friedrich Wilhelm Graf konstatiert nüchtern:

«Mehr Verschiedenheit bedeutet potentiell mehr Konflikt. Die weiter wachsende Zahl miteinander konkurrierender religiöser Akteure macht es für den parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat jedenfalls nicht leichter, den schnell entzündlichen Mentalstoff ‹Gottesglaube› unter bürokratisch-rationaler Kontrolle zu halten.»[26]

Das vorliegende Buch will nun aber nicht die seit langer Zeit intensiv geführte Debatte um den Zusammenprall der Kulturen im allgemeinen und die Herausforderung freiheitlicher westlicher Gesellschaften durch den Islam im besonderen fortführen. Den zahlreichen und längst nicht mehr überschaubaren Publikationen zu den notorischen Streitfällen (Kopftuch und Kreuz im Klassenzimmer oder im Gerichtssaal, Schwimmunterricht für muslimische Mädchen, Zulassung des Schächtens, Tragen der Burka, Abdruck von Mohammed-Karikaturen usw.)[27] soll nicht noch eine weitere hinzugefügt werden. Vielmehr erscheint gerade wegen dieser chronischen Konfliktlinien eine Besinnung auf die Grundstrukturen und Grundfragen des säkularen Staates geboten – sein Programm, sein Profil, seine Problematik.

Dazu suchen die folgenden sechs Kapitel des Buches beizutragen. Jedes von ihnen behandelt ein in sich abgeschlossenes Thema und sollte demgemäß aus sich heraus verständlich sein. Dennoch ist die Reihenfolge der Kapitel keine beliebige. Das erste Kapitel sondiert wichtige terminologische Fragen und trägt dem Umstand Rechnung, daß die Verwendung des Begriffs «Säkularisierung» von einer auf den ersten Blick verwirrenden Vielfalt ist, was immer wieder zu Mißverständnissen führt und so interdisziplinäre Diskussionen erschwert; hier ist Bewußtsein für die Sinnvarianz von Säkularisierung ebenso wichtig wie eine präzise Begriffsverwendung im jeweils einschlägigen Kontext. Mit dem Rückblick auf den schwierigen und windungsreichen, langen und keineswegs selbstverständlichen Prozeß der Durchsetzung der Religionsfreiheit in Deutschland (Kapitel II) und der intensiven Diskussion des zentralen verfassungsrechtlichen Grundsatzes der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates (Kapitel III) werden die beiden Säulen einer näheren Untersuchung unterzogen, die in verfassungsrechtlicher Sicht die Säkularität eines Staates ausmachen und insofern die Rede von einem «Staat ohne Gott» des näheren verständlich machen können. Freilich drängt sich politik- und verfassungstheoretisch die – im Ergebnis eindeutig zu verneinende – Frage auf, ob nicht vielleicht in bestimmten Tiefenschichten unseres staatsrechtlichen Denkens sakrale Elemente unverändert und womöglich unvermeidlich weiterwirken (Kapitel IV). Auch der Gottesbezug in der Präambel des Grundgesetzes wird zuweilen als eine solche transzendente Verankerung und somit als schlagender Einwand gegen die Möglichkeit eines strikt innerweltlichen Begründungsprogramms säkularer Staatlichkeit verstanden (Kapitel V). Gerade wenn man, wie hier, diesen Einwand für keineswegs überzeugend hält, stellt sich um so stärker die Frage nach den stützenden und haltenden gesellschaftlichen Kräften für eine freiheitliche Verfassungsordnung. Dieser Umstand legt es nahe, das mittlerweile omnipräsente Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes vom säkularen Staat, der seine eigenen Voraussetzungen nicht garantieren könne, auf seinen Bedeutungsgehalt und seine analytische Kraft hin zu befragen (Kapitel VI).

Fußnoten

1

Böckenförde 2007, S. 12ff.; Gärditz 2010, § 5 Rn. 19ff., 37ff.; Dreier 2013, S. 12ff.; Heimann 2016, S. 26.

2

Statt vieler Belege nur Heckel 2007, S. 59.

3

Lübbe 2008, S. 12, 23. Ähnlich schon Schlaich 1985, S. 438.

4

Rede anlässlich der Verleihung der Ehrenmedaille des EAK zum Gedenken an Hermann Ehlers, leicht abrufbar unter: ekd.de

5

Mahlmann 2016, S. 59.

6

BVerfGE 42, 312 (332).

7

Schnädelbach 2009, S. 100. Desgleichen Gärditz 2010, § 5 Rn. 20.

8

Goerlich 2011, S. 43.

9

Beide Zitate: Lübbe 1986, S. 75f. Dort heißt es weiter: «Die politische Neutralisierung religiöser und konfessioneller Wahrheitsansprüche resümiert nicht fortschreitenden religiösen und konfessionellen Indifferentismus.»

10

Die Wendung entstammt offenkundig einer Rede, die Sohm im September 1895 bei einem Kongreß der Inneren Mission in Posen gehalten hat. Eine exakte schriftliche Fundstelle scheint nicht zu existieren. Bezugnahme auf die Sohmsche These etwa bei Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat (Parl. Rat V, S. 519).

11

Siehe Fischer 2009, S. 11, 41f., 52; Dreier 2013, S. 39f. m.w.N.

12

Mahlmann 2016, S. 63.

13

Huber 2006, S. 541. Zur irreführenden Redeweise von Religion als Privatsache jüngst Schuppert 2017, S. 136ff.

14

Böckenförde 2007, S. 14. Siehe auch Goerlich 2011, S. 39.

15

Heckel 2009, S. 367. Klar ist somit, daß «das Neutralitätsgebot nicht auf eine laizistische Zurückdrängung der Religion aus der öffentlichen Sphäre in den Privatbereich zielt» (Fateh-Moghadam 2014, S. 150); deutlich auch Mückl 2012, S. 55ff.

16

Lübbe 2008, S. 25f. Von der «Befreiung des Religiösen durch eine säkulare Distanz des Staates» spricht Heun 2006, Sp. 2076.

17

Hahn 2003, S. 345, der fortfährt: «Damit wird das Religiöse radikal zum Religiösen, sowie sich das Politische zum Politischen politisiert.»

18

So Gerhardt 2007, S. 132ff.

19

Fischer 2009, S. 11.

20

Appleby 2000; Heinig 2003, S. 40; Dreier 2008, S. 11ff.; Graf 2013, S. 13ff.; ferner die Beiträge in Oberdorfer/Waldmann 2008 und in Enns/Weiße 2016.

21

Meier 2013, S. 306.

22

Siehe Leonhardt 2017, S. 11ff. (Zitat: S. 12).

23

Graf 2013, S. 14.

24

Näher Dreier 2008, S. 16ff., 21ff.; weiter Überblick zum Umgang mit kultureller und religiöser Pluralität bei Schuppert 2017.

25

Unruh 2017, S. 210.

26

Graf 2013, S. 18.

27

Exemplarisch seien genannt: Heinig/Morlok 2003; Wittreck 2003; Krüper 2005; Grimm 2007/2008; Waldhoff 2010, S. 51ff., 108ff., 115ff.; Steinberg 2015; Ladeur 2015; Heimann 2016, S. 91ff.; Engi 2017, S. 363ff., 414ff., 451ff.

KAPITEL I

Facetten der Säkularisierung

Mit einem Exkurs zu Hans Blumenberg

I. Ausgangsbefund: Verwirrende Begriffsvielfalt

Wer von Säkularisierung spricht, muß erklären, was er damit meint. Denn da der Begriff alles andere als einheitlich verwendet wird, ist Differenzierung geboten. Hans Joas, fraglos ein erstrangiger Experte auf diesem Feld, hatte lange Zeit sieben Bedeutungsvarianten unterschieden und sodann mit Blick auf Charles Taylors Werk über «Ein säkulares Zeitalter» noch eine achte ausgemacht.[1] Seine Rede von der «berüchtigten Vieldeutigkeit» des Begriffs[2] erscheint schon wegen der Verwendung in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen nur allzu berechtigt. Wenn man zum Beispiel in der politischen Soziologie oder Sozialphilosophie von säkularen Bürgern spricht, so sollen sie mit dieser Titulierung von religiösen Personen oder Gruppen abgegrenzt werden. Demgemäß räsonniert Jürgen Habermas etwa über den Vernunftgebrauch gläubiger und säkularer Bürger.[3] Säkular soll hier ganz offensichtlich wenn schon nicht «ungläubig», so doch «nichtgläubig», also a- oder irreligiös, bedeuten. Das ist eine mögliche Verwendungsweise von säkular: Man kann mit diesem Adjektiv gläubige Menschen von nichtgläubigen unterscheiden.

Wenn nun freilich Verfassungsrechtler vom säkularen (manchmal auch: säkularisierten[4]) Staat oder von dessen «Säkularität»[5] sprechen, dann meinen sie keineswegs einen a- oder irreligiösen Staat, sondern einen, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gewährleistet und religiös-weltanschauliche Neutralität praktiziert. Dieser säkulare Staat könnte theoretisch ausschließlich von gläubigen Bürgern im Sinne Habermas’ bevölkert sein. In der Praxis setzt er in aller Regel eine religiös und weltanschaulich plurale Gesellschaft voraus. Wichtig ist, wie der Theologe Rolf Schieder hervorgehoben hat, daß das Adjektiv säkular bei dieser Betrachtungsweise nur dem Staat zukommt: «Eine ‹säkulare Gesellschaft› ist ein Oxymoron.»[6] Oder anders gesagt: Wir dürfen die Säkularisierung des Staates nicht mit der Säkularisierung der Gesellschaft gleichsetzen oder verwechseln.

Das bedeutet allerdings zugleich: Schieders Oxymoron-These gilt nur bei einer ganz bestimmten, spezifisch auf die staatsrechtliche Seite bezogenen Begriffsverwendung. Völlig anders sieht die Sache aus, wenn man auf den tatsächlichen Umfang religiöser Praktiken und die soziale Bedeutung der Religion in einem politischen Gemeinwesen abhebt und diese Vorgänge als Säkularisierung begreift. Denn auch wenn die verfassungsrechtlichen Garantien der Religionsfreiheit vollständig gesichert sind, kann es – wie in vielen europäischen Staaten und besonders in Deutschland zu beobachten – zu einem Rückgang der Bedeutung der Religion als einer gesellschaftlichen Kraft und zu einem Verlust an kirchlicher Bindung weiter Bevölkerungskreise kommen. Säkularisierung in diesem Sinn meint umfassende soziale Prozesse etwa der Entkirchlichung oder des Verschwindens der Religion aus dem öffentlichen Leben. Hier geht es um die soziale Wirklichkeit, nicht um die normative Verfassungsrechtslage. Säkulare Gesellschaften sind dann solche, in denen immer weniger religiös oder konfessionell gebundene Bürger leben. Der Satz oder die Klage, die Gesellschaft werde immer säkularer, ist bei Zugrundelegung dieses Bedeutungsgehalts durchaus sinnvoll. Wenn man insofern den Abschied von der Säkularisierungsthese[7] verkündet, dann meint man nicht, daß der säkulare Staat seinem Ende entgegengeht, sondern daß dieser soziale Prozeß der Säkularisierung im Sinne der lange Zeit dominanten Modernisierungstheorie nicht mehr als unangefochtene Wahrheit gelten darf.[8]

Solche realen (und in Grenzen quantifizierbaren) Prozesse[9] muß man wiederum sorgfältig unterscheiden von der Säkularisierungsrede, die den Terminus als «kulturdiagnostischen Schlüsselbegriff»[10] handhabt, mit dem umfassende historische Transformationsprozesse beschrieben werden. Für eine derartige Begriffsverwendung als eines «Generaltopos der Kulturanalyse»[11] stehen Namen wie Max Weber oder Ernst Troeltsch und die von ihnen geprägten suggestiven Formeln von der Entzauberung der Welt oder der Säkularisierung als wichtigster Tatsache der Moderne.[12]

Schon diese Beispiele für die einschüchternde Vieldeutigkeit und «irrlichternde Vielfalt gegensätzlicher Säkularisierungsbegriffe»[13] zeigen, daß es Sortierungs- und Sondierungsbedarf gibt, wenn man nicht hoffnungslos aneinander vorbei reden oder sich mit der fast schon resignativen Bemerkung Reinhart Kosellecks begnügen will, es handele sich um «ein weitgreifendes und diffuses Schlagwort», «über dessen Gebrauch kaum Einigkeit zu erzielen» sei.[14] Für Orientierung kann zunächst der Rekurs auf die begriffsgeschichtlichen Ursprünge sorgen (dazu II.). Hier sollte man ausdrücklich von Säkularisation sprechen. Die dann folgenden Abschnitte unterscheiden geistesgeschichtlich-historische, sozialwissenschaftlich-empirische und schließlich staats- und verfassungsrechtliche Redeweisen von Säkularisierung und arbeiten entsprechende Sinnvarianten heraus (III.–V.).[15] Diese Verwendungsweise eines engeren Begriffs von Säkularisation und eines weiteren von Säkularisierung steht im Einklang mit dem mittlerweile ganz überwiegenden Sprachgebrauch in Wissenschaft und Literatur.[16] Das zeigt sich etwa an entsprechenden Lemmata in einschlägigen Staatslexika,[17] wird aber auch von den Autoren des Artikels «Säkularisierung» im Lexikon für Theologie und Kirche und in der Enzyklopädie Philosophie eigens betont.[18] Freilich hat sich diese Differenzierung erst in einem längeren Prozeß herausgebildet.[19] Man muß immer in Rechnung stellen, daß gerade die noch heute relevante ältere Literatur des öfteren allein von Säkularisation sprach, ohne damit lediglich die beiden kanonistischen und staatskirchenrechtlichen Phänomene zu meinen, die die begrifflichen Ursprünge markieren und denen jetzt unser Augenmerk gilt.

II. Begriffliche Ursprünge: Statuspassage (saecularisatio) und Entzug von Herrschafts- und Vermögensrechten (Säkularisation)

1. Saecularisatio: Übertritt vom Ordens- zum Weltgeistlichen

Untersuchungen zu den begriffsgeschichtlichen Ursprüngen unseres Terminus[20] weisen zumeist darauf hin, daß schon im Codex Iustinianus von saecularis in dem ganz allgemeinen Sinne von weltlich im Unterschied zum geistlichen Leben der Mönche und Kleriker die Rede ist. Diese älteste Erwähnung kommt unserem heutigen modernen Verständnis von Säkularisierung noch am nächsten. Die begriffliche Entwicklung im kanonischen Recht ist aber durch eine interessante, erläuterungsbedürftige Binnendifferenzierung von geistlich oder klerikal gekennzeichnet. Im 15. und 16. Jahrhundert schält sich in Gestalt der Dreiteilung von Laien, Weltpriestern und Ordensklerikern eine exklusive Hervorhebung des spezifisch mönchischen Lebens als eines Lebens nach der Regel (regularis) heraus – und zwar insbesondere im Verhältnis zu denjenigen Geistlichen, die nicht mönchisch leben und infolgedessen als Weltgeistliche, als saeculares, gelten. Der Übergang von der einen Lebensform in die andere heißt dann: saecularisatio und bezeichnet in diesem spezifisch kanonistischen Sinn[21] den Übertritt eines Ordensgeistlichen, also eines nach der Regel seines Ordens in klösterlicher Gemeinschaft lebenden Mönchs, in den Stand eines Weltgeistlichen, also eines Priesters, der nicht hinter Klostermauern zusammen mit seinesgleichen, sondern in der Welt lebt – also säkular.[22] Es geht um den Wechsel vom status regularis in den status saecularis.[23] Hans Maier umschreibt das so: «Ein Ordenskleriker, wenn er den Orden verläßt, kann ‹Weltpriester› sein und bleiben – vorausgesetzt, er ist geweiht. Er wird säkularisiert, nicht laisiert.»[24]

Der Codex Iuris Canonici von 1917 (cc. 638, 640–643) verwendete Säkularisation in diesem präzisen Sinne als terminus technicus für «den rechtmäßigen Rücktritt eines Ordensmannes mit höheren Weihen in die Welt».[25] Ein solcher Transfer kommt nicht nur für Personen in Betracht, sondern konnte auch als Bezeichnung der Umwandlung eines Klosters in ein Chorherrenstift dienen.[26]

2. Säkularisation von geistlicher Herrschaft und Kirchengut

Die soeben erörterte kirchen- oder ordensrechtliche Bedeutung von Säkularisation besteht unverändert bis heute fort, wird aber durch eine politisch-rechtliche überlagert. Diese zweite Bedeutung von Säkularisation hat angeblich sogar eine Geburtsstunde, nämlich den 8. Mai 1646, und einen Geburtsort, nämlich Münster. Wie dies?[27]

In einem Bericht vom 8. Mai 1646, den die evangelischen Reichsstände in Münster an diejenigen zu Osnabrück sandten, referierten sie die Reaktion der katholischen Seite auf Vorschläge der evangelischen, im Sinne eines ewigen Vergleichs dem rechtlich sanktionierten Übergang katholischen Kirchengutes in die Hände der Protestanten zuzustimmen, die dieses faktisch besaßen. Das lehnte der französische Gesandte, der Herzog von Longueville, dem Bericht zufolge mit den Worten ab, eine solche Entscheidung stünde nicht in der Macht der katholischen Stände, sondern bedürfte der Zustimmung des Papstes (die natürlich völlig ausgeschlossen war). Wörtlich heißt es in dem Bericht, die Position des Franzosen referierend: «daß in ihren, der Catholischen, Mächten nicht stünde, wegen Geistlicher Güter einen solchen Vergleich zu treffen, daß dieselben der Catholischen Kirchen entzogen, und, wie er redete, secularisiret würden».[28] Hier haben wir also unser Stichwort, das damals in seiner politisch-staatsrechtlichen Bedeutung in der Tat neu war. Ungeachtet seiner anti-evangelischen Spitze[29] etablierte sich der Terminus in der Folgezeit im Sinne rechtsförmiger Überführung von Kirchengut (Vermögen, Grundbesitz) in weltliche Oberhoheit.

Den spektakulärsten Fall und die «umfassendste Säkularisation der deutschen Geschichte»[30] bildete bekanntlich der Reichsdeputations-Hauptschluß (RDH) von 1803.[31] Die Verabschiedung dieses «letzten Reichsfundamentalgesetzes» des Alten Reiches[32] markiert ohne Zweifel eine Wendemarke in der deutschen Geschichte und einen tiefgreifenden Verfassungsumbruch – oder auch einen Verfassungsbruch. Die tiefgreifenden Regelungen dieses Dokuments, das gleich in seinem (allerdings unendlich langen) Einleitungssatz von «Säcularisationen» spricht,[33] hatten sich in dem Jahrzehnt zuvor schon immer deutlicher angekündigt und herausgeschält,[34] wurden nun aber mit einer bemerkenswerten Rigidität und Konsequenz durchgeführt. Den Hintergrund bildeten der Verlust der linksrheinischen Gebiete an das napoleonische Frankreich und das reichsrechtlich anerkannte Prinzip der Kompensation der betroffenen Landesherren.[35] Diese «Entschädigung» erfolgte nun neben der Mediatisierung kleinerer reichsunmittelbarer Herrschaften sowie der meisten Reichsstädte[36] durch umfassenden Zugriff auf geistliche Territorien und Besitztümer: direkt durch Einverleibung verschiedener Bistümer und Reichsstifte, indirekt durch Ermächtigung an die Landesherrn, denen die in ihren Territorien liegenden Stifte, Klöster und Abteien zur «freien und vollen Disposition» (§ 35 RDH) standen – eine Möglichkeit, von der diese nur allzu gerne ausgiebigen Gebrauch machten, katholische nicht anders als protestantische. Die Säkularisationen waren umfassend in dem Sinne, daß sie sowohl die politischen Herrschaftsrechte wie auch die Vermögensrechte umfaßten,[37] also neben dem imperium auch das dominium.[38] Die Herrschaftssäkularisation beendete die landesherrliche Gewalt der geistlichen Reichsstände und führte zu deren Einverleibung in ein weltliches Fürstentum. Die Vermögenssäkularisation als Säkularisation des Kirchengutes transferierte die Verfügungsgewalt darüber im Wege des Einzuges auf den Begünstigten. Es ging «der gesamte Vermögensbesitz der geistlichen Fürstentümer auf den erwerbenden Staat über»,[39] und zwar einschließlich der Güter der Domkapitel. § 34 RDH drückte das so aus: «Alle Güter der Domcapitel und ihrer Dignitarien werden den Domänen der Bischöfe einverleibt, und gehen mit den Bisthümern auf die Fürsten über, denen diese angewiesen sind.» Das vormals selbständige Fürstbistum Würzburg und dessen Zuschlagung an Bayern bietet ein plastisches Beispiel für die Beendigung der geistlichen Landesherrschaft und die Feststellung, daß die «Landesherrschaft über die nach dem Westfälischen Frieden erhalten gebliebenen geistlichen Reichsterritorien […] zumeist den ihnen jeweils benachbarten weltlichen Fürsten zugesprochen» wurde.[40] Um eine annähernde Vorstellung von den gewaltigen Dimensionen des Gesamtvorganges zu vermitteln, seien nur folgende Daten genannt: Die Zahl der reichsunmittelbaren Herrschaften verringerte sich von über 1000 auf gut 30, von vormals 47 Reichsstädten blieben ganze sechs übrig, 19 Reichsbistümer und 44 Reichsabteien wurden aufgehoben.[41]

In ihrer weichenstellenden Bedeutung für die weitere politische und gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands ist die beispiellose Flurbereinigung durch den Reichsdeputationshauptschluß gar nicht zu überschätzen. Es kommt dabei aus heutiger Sicht nicht so sehr darauf an, ob dieses Staatsgrundgesetz eine «Fürstenrevolution» zur Grundlage hatte[42] oder ob es sich gar um eine «legale Revolution»[43] handelte. Auf jeden Fall entfaltete es Rechtswirksamkeit, und das bedeutete nicht allein das definitive Ende des Alten Reiches mit seiner überholten ständischen Struktur; die Neuordnung wurde zudem zum Wegbereiter der föderalen Entwicklung Deutschlands, beförderte die konfessionelle Durchmischung der Territorien, sicherte die Ausbildung lebensfähiger moderner Flächenstaaten und bildet noch heute den Hintergrund für die Staatsleistungen an die Kirchen, deren Ablösung in der Weimarer Reichsverfassung vorgesehen war und einen bislang uneingelösten Verfassungsauftrag des Grundgesetzes darstellt (vgl. Art. 140 GG i. V. m. Art. 138 Abs. 1 WRV).

Entscheidend für unseren Zusammenhang ist aber noch etwas ganz anderes, nämlich der Umstand, daß dem Säkularisationsvorgang das Odium des Rechtsbruches und des illegitimen Zugriffes auf den Kirchenbesitz anhaftete.[44] Martin Heckel spricht vom «Rechtsbruch großen Stils»[45] und läßt noch zwei Jahrhunderte später bittere Empörung durchklingen, wenn er Säkularisation als einen «opportune[n] politische[n] Kampfbegriff» geißelt, «der die revolutionäre Eroberung der geistlichen Staaten und den gigantischen Raub ihrer Eigentums- und Forderungsrechte durch die weltlichen Reichsstände dadurch vernebelte, daß er diesen beispiellosen Rechtsbruch des Staatsrechts und des Zivilrechts terminologisch nur als (überfällige) kirchenrechtliche Umwidmung überflüssigen Kirchenguts ausgab».[46] Ohne solch starke Dosis grimmigen Furors formuliert: «Diese Vorgänge konnten als Unrecht gegen die katholische Seite und als Verlust von traditionsreichem Kulturgut betrachtet werden, weswegen dem Begriff von nun an auch oft eine negative Bedeutungskomponente beigemengt wurde, sofern man nicht vorwiegend freiheitlich-fortschrittlich dachte.»[47] Die Frage, ob diese negative Tönung auf das allgemeine geistesgeschichtlich-historische Verständnis von Säkularisierung durchschlägt, bildet den zentralen Ausgangspunkt für die einschlägigen Untersuchungen Hans Blumenbergs, womit wir bei der nächsten Kategorie angelangt wären.

III. Säkularisierung als geistesgeschichtliche Interpretationskategorie

Während die ordensrechtliche saecularisatio ebenso wie der politisch-staatsrechtliche Begriff der «Säkularisation» hinlänglich klar und präzise definiert ist, läßt sich das von der nun in Augenschein zu nehmenden Bedeutung von Säkularisierung nicht sagen. Im 19. Jahrhundert setzt sich ein Verständnis von Säkularisierung durch, das weit über jene relativ konkreten Bezugspunkte hinausreicht und auf das Ganze eines kulturellen Epochenwandels und einer historischen Zeitenwende zielt.

Jetzt wird, wie Werner Conze es formuliert hat, Säkularisierung als «ein geschichtlicher bzw. geschichtsphilosophischer Prozeßbegriff moderner Entchristlichung in vielfältigen Perspektivmöglichkeiten verstanden […], mit dessen Hilfe die Bewegung der modernen Welt gedeutet werden soll».[48] Ähnlich lautet ein weiterer Befund:

«Der Ausdruck ‹Säkularisierung› […] hat im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte eine außerordentliche semantische Erweiterung erfahren: Zuerst im rechtlich-politischen Bereich beheimatet, dringt er in die Geschichtsphilosophie und -theorie ein und findet schließlich auch in Ethik und Philosophie Anwendung. Im Verlaufe dieser Verschiebungen und Erweiterungen hat der Begriff allmählich den Rang einer Herkunftskategorie eingenommen, mit der die historische Entwicklung der modernen westlichen Welt von ihren christlichen Wurzeln her einheitlich gedeutet wird.»[49]