Staat und Person - Hartmut Kreß - E-Book

Staat und Person E-Book

Hartmut Kreß

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Beschreibung

The state is currently undergoing a crisis, characterized by an erosion of the rule of law and the loss of influence of nation states resulting from globalization. On the other hand, the institution of the state in the cultural and legal history of Germany has been exaggerated and idealized. Theologically, it was regarded as the divine order of creation; philosophers declared it to be a ?moral person=; the modern judicial theory of the state raised it to the status of ?state person=. This book analyses the central ideas in the interpretation of the state since the Renaissance and Reformation for present-day purposes. In the face of today=s situation of upheaval, it outlines a political ethics that emphasizes the primacy of the human person.

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Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder

Band 10

Hartmut Kreß

Staat und Person

Politische Ethik im Umbruch des ­modernen Staates

Verlag W. Kohlhammer

1. Auflage 2018

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026291-1

E-Book-Formate:

pdf: ISBN 978-3-17-026292-8

epub: ISBN 978-3-17-026293-5

mobi: ISBN 978-3-17-026294-2

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

In der Gegenwart ist die Institution des Staates in eine tiefe Krise geraten. Zu ihren Merkmalen gehört die Erosion des Rechtsstaats. Andererseits ist der Staat in der deutschen Kultur- und Rechtsgeschichte verklärt und stark überhöht worden. Theologisch galt er als göttliche Schöpfungsordnung; Philosophen nannten ihn eine 'moralische Person'; die moderne juristische Staatstheorie erhob ihn zur 'Staatsperson' oder zur 'Staatspersönlichkeit'.

Das Buch wertet Staatsdeutungen aus, die seit der Renaissance und der Reformation entstanden sind. Angesichts der heutigen Umbruchsituation entwirft Kreß eine politische Ethik, in deren Zentrum der Primat der menschlichen Person steht. Zur Erläuterung geht der Autor auch auf verschiedene Handlungsfelder der Politik ein, z. B. auf Religionspolitik, Biopolitik, zukunftsorientierte Strukturplanung oder Kinderrechte.

Prof. Dr. Hartmut Kreß lehrt Ethik an der Universität Bonn.

Inhalt

Einleitung: Politische Ethik angesichts des heutigen staatlichen Umbruchs

I.  Theoriebildungen zum Staat in der Epoche des modernen Nationalstaats

I.I.  Theologische Staatsdeutungen und ihre Schattenseiten

1.  Die katholische Kirche im Kontrast zum säkularen Staat und zu den Grundrechten

2.  Lutherische Staatsauffassung: Theologische Überhöhungen des Staates

2.1.  Der Staat als Persönlichkeit und der Monarch von Gottes Gnaden. Der Denkansatz von Friedrich Julius Stahl

2.2.  Stahls Deutung des Staates als politischer Person im rechtsgeschichtlichen Kontext

2.3.  Staatsanschauungen im neueren Luthertum im Allgemeinen

2.3.1.  Schöpfungstheologische Grundlegung

2.3.2.  Zusammenschau von Staat und Ehe

2.3.3.  Distanz gegenüber Gewissens- und Religionsfreiheit

3.  Evangelisch-reformierte Ansätze: Klerikalisierung des Staates

3.1.  Ältere Traditionen: Zwischen Theokratie und Öffnung zur Moderne

3.2.  Die vormoderne Ein-Reiche-Lehre Karl Barths

3.3.  Das Denkmodell Barths: Desiderate und problematische Nachwirkungen

I.II.  Leitideen juristischer Staatsdeutung in der Staatsrechtslehre

1.  Ursprünge und Profil des modernen Staatsbegriffs

2.  Der Staat als Person

2.1.  Klassische juristische Theorien in der Ära des 19. Jahrhunderts

2.2.  Philosophiegeschichtliche Hintergründe

2.3.  Die Kritikbedürftigkeit der Persondeutung des Staates

3.  Alternative: Die liberale Option bei Hugo Preuß und Hans Kelsen

4.  Rückwärtsgewandte Juristen im 20. Jahrhundert: Carl Schmitt und Rudolf Smend

5.  Sozio-religiöse Prägungen des modernen juristischen Staatsdenkens

5.1.  Katholische Staatsrechtler: Carl Schmitt, E.-W. Böckenförde und weitere Autoren

5.2.  Exkurs. Karl Barth in Nachbarschaft zu Carl Schmitt

5.3.  Ein evangelischer Staatsrechtler: Rudolf Smend. Homogenität durch Integration

5.4.  Liberale Impulse bei Staatstheoretikern jüdischer Herkunft. Von Georg Jellinek über Hugo Sinzheimer bis Hans Nawiasky

5.5.  Resümee zum kulturellen Hintergrund moderner juristischer Staatsauffassungen: Kontrast zwischen Autoren jüdischer und christlicher Herkunft

II.  Stoßrichtungen neuzeitlicher Staatsdeutung seit der Renaissance. Mit Schlussfolgerungen für die politische Ethik heute

1.   Säkularisierung. Die Emanzipation des Staates von Kirche und Religion

1.1.  Denkanstöße schon im Mittelalter: Marsilius von Padua

1.2.  Impulse zur Entklerikalisierung bei Luther

1.3.  Philosophische Argumentationslinien im 19. Jahrhundert

1.4.  Heute symbolisch relevant: Verzicht auf einen Gottesbezug in Staatsverfassungen

1.5.  Schlussfolgerung: Säkulare Politik

1.5.1.  Institutioneller Reformbedarf zum Staat-Kirche-Verhältnis

1.5.2.  Merkmale säkularer Politik

2.  Zukunftsgestaltung durch den Staat. Die Idee der Utopie

2.1.  Die Profilbildung neuzeitlicher Utopien seit Thomas Morus

2.2.  Säkularisierung und Toleranz in Renaissance-Utopien

2.3.  Gesellschaftliche Modernisierung in den Utopien der Renaissance

2.4.  Stadtplanung in den Staatsutopien

2.4.1.  Die Impulse in der Renaissance

2.4.2.  Konzeptionen des frühen 20. Jahrhunderts im Umfeld des Bauhauses

2.5.  Staatsutopien in ethischer Interpretation

2.6.  Schlussfolgerung für heutige politische Ethik: Liberale Utopie

3.  Die Macht der Tatsachen. Vom Machtstaat zur ethisch-pragmatischen Deutung von Staat und Politik

3.1.  Machiavelli: Machtpraxis aufgrund von Realitätsanalyse

3.2.  Thomas Hobbes: Allmacht des Staates

3.3.  Max Weber: Staatliche Macht in der Logik politischer Folgenverantwortung

3.3.1.  Webers Staatsidee

3.3.2.  Politische Ethik bei Weber

3.4.  Schlussfolgerung: Verantwortung von Politikern für den Umgang mit Macht

3.5.  Heutige politische Ethik im Gefolge von Weber: Aktuelle Anschlussprobleme

3.5.1.  Das Dilemma nicht kalkulierbarer Risiken

3.5.2.  Vertrauenskrise der Politik heute

4.   Abschied vom Paternalismus. Von der »Obrigkeit« und dem »Policeystaat« zur Demokratie als Lebensform

4.1.  Patriarchalismus der Obrigkeit aufgrund der lutherischen Reformation, besonders bei Melanchthon

4.2.  Paternalismus im absolutistischen Staat

4.3.  Kritik des Paternalismus

4.3.1.  Kategoriale Differenz von Familie und Staat

4.3.2.  Durchgriff des Staates auf persönliche Überzeugungen

4.4.  Rückfall in staatlichen Neopaternalismus. Ein Gegenwarts­problem

4.5.  Kritikbedürftig: Die »Rettung« des Paternalismus durch begriffliche Modifikationen

4.6.  Schlussfolgerung: Demokratisierung politischer Verantwortung im postpaternalistischen Staat

4.6.1.  Der Staat – nur ein Wertenotar

4.6.2.  Politische Verantwortung aller Bürger

4.6.3.  Politische Verantwortung von Funktionseliten

4.6.4.  Verfassungsrechtliche Basis der Verantwortungsübernahme von Bürgern: Meinungs- und Versammlungsfreiheit

4.6.5.  Befähigungsgerechtigkeit als Alternative zum Paternalismus

5.  Die liberale Option. Der Rechtsstaatsgedanke

5.1.  Neuzeitliche Vertragstheorien von John Locke bis Moses Mendelssohn

5.2.  Der Rechtsstaat als kulturelles Gut. Kulturphilosophischer Zugangsversuch bei Friedrich Schleiermacher

5.3.  Anthropologischer Ansatz: Der liberale Rechtsstaat bei Wilhelm von Humboldt

5.4.  Historisch-systematische Einordnung der anthropologischen Staatsbegründung Humboldts

5.5.  Schlussfolgerung zum liberalen Rechtsstaat in der Gegenwart: Notwendigkeit von Fortentwicklungen

5.5.1.  Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger

5.5.2.  Rechtsstaatlichkeit in Entwicklungs- und Schwellenländern. Moderne Sklaverei und das Desiderat rechtsbasierter Entwicklungspolitik

5.5.3.  Zwischenfazit

III.  Politische Ethik als Ethik der Person

1.  Die Akteure bzw. Subjekte politischer Gestaltung

1.1.  Berufspolitiker: Das Gebot der Gewissensverantwortung

1.2.  Bürger in gesellschaftlich herausgehobenen Funktionen: Persönliche Verantwortungsübernahme

1.3.  Die Bürger in ihrer Gesamtheit als Subjekte politischer Gestaltung. Das Anliegen der direkten Demokratie

2.  Der Personbegriff als normatives Kriterium politischer Ethik

2.1.  Profil des Personbegriffs: Univoke Verwendung

2.2.   Abgrenzungen. Tiere und Roboter als »Personen«?

2.2.1.  Zum Verhältnis von Mensch und Tier

2.2.2.  Roboter als Personen?

2.2.3.  Resümee zur kriterialen Funktion des Personbegriffs

3.  Die Zukunftsverpflichtung von Politik. Primat der Person – verdeutlicht an Kinderrechten

3.1.  Antizipation von Zukunft durch Politik

3.2.  Kinderrechte als Personrechte – substanzieller Erkenntnisfortschritt in der Gegenwart

3.3.  Heutiger rechtspolitischer Klärungsbedarf zu Kinderrechten

3.4.  Die Korrelation zwischen Kinderrechten und zukunftsorientierter Politik

3.5.  Eine Spezialfrage: Wahlrecht für Kinder?

3.6.  Kinderrechte angesichts des medizinischen Fortschritts – Vorwirkung von Kinderrechten in der Fortpflanzungsmedizin

4.  Resümee. Politische Ethik ein Jahrhundert nach »Weimar«

Register

Personenregister

Sachregister

Einleitung: Politische Ethik angesichts des heutigen staatlichen Umbruchs

Erstens: Staat und Staatlichkeit in den Umbrüchen der Gegenwart

Der Staat im heute üblich gewordenen Sinn ist ein Phänomen der Neuzeit. Er stellt ein Artefakt bzw. ein Konstrukt dar, das Menschen seit der Epoche der Renaissance sowie dann vor allem seit dem 19. Jahrhundert geschaffen und fortwährend verändert haben. Dies erfolgte jeweils vor dem Hintergrund bestimmter geschichtlicher Gegebenheiten und auf der Basis unterschiedlicher gedanklicher Konzeptionen.

Als inzwischen klassische Ausprägung von Staatlichkeit ist in Europa der National- und Verfassungsstaat anzusehen, der im 19. Jahrhundert seine Gestalt gewann. Aktuell vollzieht sich freilich ein Einschnitt. Die bislang vertrauten Formen von Staatlichkeit sind an Grenzen gestoßen; der heutige Staat befindet sich im Umbruch und in der Krise. Weltweit ist das Phänomen der failing states, also der Sachverhalt fragiler, scheiternder oder gescheiterter, zusammengebrochener Staaten zu beobachten. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird die Erosion des Rechtsstaates nicht mehr nur von Spezialisten der Rechtswissenschaften erörtert1, sondern ist für Bürgerinnen und Bürger zu einer Alltagserfahrung geworden.

Dass diese Thematik überhaupt aufgebrochen ist, weckt Besorgnis und stellt ein Krisensignal erster Ordnung dar. Denn der Begriff »Staat« und der Sachverhalt des Rechtsstaats sind deckungsgleich – so besagen es jedenfalls gewichtige juristische Denkmodelle. Daher rührt die derzeitige Erosion des Rechtsstaats an die Fundamente des staatlich geordneten Zusammenlebens überhaupt.

Entsprechend wird in der Öffentlichkeit und in Medien zurzeit oft von »Staatsversagen« gesprochen. Als dessen Manifestation gelten zum Beispiel die Finanzkrise des ­Jahres 2008 oder in der Bundesrepublik Deutschland seit 2015 der PKW-Abgas- und -Diesel-Skandal. Letzterer war und ist keineswegs nur ein Ausdruck schwerer Managementverfehlungen oder von Industrie- und Wirtschaftsversagen, das allein Konzernen wie VW oder Daimler anzulasten wäre. Vielmehr sind mangelnde staatliche ­Kontrolle, Intransparenz von Regulierungen und staatliches Regierungs- und Behördenversagen in sehr hohem Maß mitverantwortlich.

Weitere Krisensymptome lassen sich ergänzen. Zu ihnen gehören die abnehmende Akzeptanz des heutigen Staates (»Staatsverdrossenheit«) bzw. sein Legitimationsverlust und seine Legitimationsdefizite. Zugleich nehmen die Aufgaben zu, die der Staat zu erfüllen hat. Das Spektrum herkömmlicher sowie neuartiger Staatsaufgaben ist breit gespannt und schließt derzeit ein, dass ökologische Probleme und der Klimawandel, neue Biotechnologien, demographischer Wandel, Migrationsschübe oder die nachindustrielle Revolution der Arbeitswelt durch die Digitalisierung zu bewältigen sind.

Nun ist bereits in den 1990er-Jahren dargelegt worden, dass Staat und Politik den ihnen gestellten Aufgaben weitgehend nicht mehr gerecht werden. Daher wurde vom »überforderten Staat« gesprochen – nicht nur in staatswissenschaftlichen Analysen2, sondern auch vonseiten des damaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes und späteren Bundespräsidenten Roman Herzog (1934–2017).3 Die Schere zwischen dem Zuwachs an staatlich zu bewältigenden Herausforderungen einerseits, mangelnder Problemlösungskapazität staatlicher Politik und Institutionen andererseits hat sich seitdem noch weiter geöffnet.

Andere Problempunkte kommen hinzu. Zu ihnen gehört der Sachverhalt, dass staatliche Aufgaben an nicht-staatliche Dienstleister delegiert werden. Hierdurch ereignet sich eine Entstaatlichung, die der Staat selbst vorantreibt. Dabei ist etwa an die Privatisierung oder die Auslagerung von Funktionen zu denken, die der Staat für die Sicherheit der Bevölkerung und für die Infrastruktur zu leisten hätte, oder anders gelagert an seinen partiellen Rückzug aus Bildung und Wissenschaft, indem er die Finanzierung der an staatlichen Hochschulen durchgeführten Forschung in beträchtlichem Umfang Dritten überlässt. Um noch ein speziell in der Bundesrepublik Deutschland unbewältigtes Problem zu erwähnen: In Deutschland sind aufgrund besonderer historischer Hintergründe nach dem öffentlichen Dienst die römisch-katholische und die evangelische Kirche immer noch die größten Arbeitgeber. Im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen übernehmen sie Tätigkeiten, für die grundsätzlich der Staat zuständig ist. Sie werden hierfür öffentlich refinanziert. Jedoch sind sie weitgehend von den einschlägigen staatlichen Gesetzen freigestellt, die eigentlich für alle Arbeitgeber zu gelten haben. Das Betriebsverfassungsgesetz, gesetzliche Vorgaben zur Nichtdiskriminierung von Beschäftigten sowie weitere Gesetze werden auf sie nicht angewendet. Eine derartige Exemtion der Kirchen als Arbeitgeber vom staatlichen Arbeitsrecht ist im europäischen und internationalen Rechtsvergleich singulär. Das kirchliche Arbeitsrecht ist im Inland zu einer Nebenrechtsordnung geworden, die zahlreiche Rechtsunsicherheiten erzeugt.4 Die Freistellung der Kirchen von staatlichen Gesetzen, die der Staat selbst vorgenommen hat, bildet eine Version von Entstaatlichung, die in dieser Form nur in der Bundesrepublik anzutreffen ist.

Zu solchen Formen der Entstaatlichung treten Sachverhalte und Entwicklungen hinzu, die noch sehr viel einschneidender sind. Sie betreffen keineswegs nur die Bundesrepublik. Entstaatlichung ereignet sich dadurch, dass im ausgehenden 20. und im 21. Jahrhundert Konzerne, überstaatliche Organisationen und Institutionen entstehen, deren Entscheidungen und Handlungen faktisch und rechtlich auf die Territorien der Nationalstaaten durchschlagen.5 Die Letzteren verlieren dadurch an Einfluss. Diese Spielart von Entstaatlichung ereignet sich im Außenverhältnis der Staaten. Sie hängt mit der heutigen Globalisierung bzw. Mondalisierung und Kosmopolitisierung zusammen und stellt den bisherigen Typus von Staatlichkeit, den Nationalstaat, ganz grundsätzlich in Frage.

Nun wäre vorstellbar, dass kompensatorisch supra- oder transnationale Staaten geschaffen werden. Dies ist allerdings zumindest jetzt noch nicht der Fall. Daher herrscht in der Gegenwart ein Schwebezustand. Wichtige Funktionen, die moderne Staaten auszuüben haben, namentlich die Gewährleistung der Grund- und Freiheitsrechte der Bürger, des inneren und äußeren Friedens und der Rechtssicherheit, werden auch in Zukunft unverzichtbar sein. Zurzeit ist jedoch ungeklärt, wie die Form und die Organisation von Staatlichkeit aussehen soll, die dies künftig leisten wird. In Europa befinden sich die bisherigen Nationalstaaten möglicherweise auf dem Weg zu einem Staatenbund, zu einem sogenannten Staatenverbund oder eventuell zu einem Bundesstaat. An die Europäische Union bzw. an bestimmte Institutionen, etwa die Europäische Zentralbank, sind von den Nationalstaaten bereits jetzt wesentliche Kompetenzen übertragen worden, so dass Letztere sich selbst entstaatlicht haben. Deswegen wurde bereits erwogen, ob ein point of no return erreicht sei und ob es sich bei der Europäischen Union um einen eventuell ganz neuartigen Typus eines Staates handele.

Doch nochmals gegenläufig: Spätestens seit dem Jahr 2016 ist unübersehbar, dass die Europäische Union – sei sie nun als eine Form von »Staat« zu begreifen oder nicht – in eine Identitätskrise geraten ist. Die Bevölkerung Großbritanniens hat 2016 in einer Volksabstimmung mehrheitlich für einen Austritt aus der EU gestimmt (»Brexit«). Auf der gleichen Linie liegt, dass schon im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Bevölkerungen von Frankreich und der Niederlande in Referenden den EU-Verfassungsvertrag abgelehnt hatten. In anderen Ländern fanden die hierzu geplanten Volksabstimmungen dann gar nicht mehr statt. Eigentlich hatte eine Verfassung der EU am 1. November 2006 in Kraft treten sollen. Als Ersatz schlossen die Staats- und Regierungschefs 2007 den Vertrag von Lissabon ab, der zwar seit 2009 formal in Kraft ist – aber ohne Legitimierung durch Volksabstimmungen bzw. ohne dass die Zustimmung der Bevölkerung eingeholt worden wäre. Das heißt: Das »Staatsprojekt Europa« ist fragil geworden.6 Dieser Befund ist Bestandteil dessen, dass sich Staatlichkeit heute generell im Umbruch befindet.

Zweitens: Zur Anlage des Buches

Angesichts des voranstehend skizzierten Problemhorizonts und der aktuellen Verwerfungen stellt sich die Frage: Was ist unter einem »Staat« eigentlich zu verstehen?

Die Frage ist komplizierter, als man es auf den ersten Blick vielleicht vermutet. An ihr haben sich seit ca. fünf Jahrhunderten zahlreiche Denker und Denkmodelle abgearbeitet. Das Buch befasst sich mit ihr in drei Schritten bzw. in drei Buchteilen.

(1) Der erste Teil des Buches legt dar, welche Leitgedanken zum Verständnis des Staates in seiner klassischen Epoche, nämlich im 19. und 20. Jahrhundert, entwickelt worden sind. Hierzu werden Stimmen und Positionen aus den Bereichen der Theologie, der Philosophie und vor allem der Rechtstheorie zu Rate gezogen. Die Theologie spielt deshalb eine relativ große Rolle, weil das Christentum in der Vergangenheit auf Kultur und Gesellschaft ideell und institutionell einen Einfluss besaß, den es in der Gegenwart weitgehend verloren hat und der erst recht in Zukunft so nicht mehr gegeben sein wird.

Im Ergebnis wird sichtbar werden, dass Philosophie, Rechtswissenschaften und Theologie eine Staatsüberhöhung und Staatsverklärung erzeugt haben, angesichts derer die faktische Delegitimierung und die Überforderung des heutigen realen Staates noch bedenklicher erscheinen. Geistes- und rechtswissenschaftlich ist dem Staat der Status einer »Person« oder einer »Persönlichkeit« zugeschrieben worden. Dieser begriffliche Sachverhalt ist bislang nur begrenzt systematisch aufgearbeitet worden. Am ehesten erfolgte dies im rechtswissenschaftlichen Schrifttum.7 Er wird im vorliegenden Buch ausführlich erörtert. Auf die »Staatsperson« sind starke Projektionen gerichtet worden. Es war ein mühsamer Prozess, bis sich staatstheoretisch eine alternative Leitidee ausprägte, die nicht mehr die Staatsperson, sondern den Primat der Einzelperson in den Fokus rückt.8 Auf diese Alternative wird im vorliegenden Buch der Akzent gelegt. Ihr zufolge sind die Rechte der Menschen bzw. die Grundrechte der einzelnen Person als die Norm anzusehen, die den Staat normiert (norma normans), von der her er seine Legitimität gewinnt und auf die hin er seine Zwecke zu setzen hat. Der Staat selbst wird damit zu einem Mittel zum Zweck und ist, nachgeordnet, als normierte Norm (norma normata) einzustufen.

(2) Als im 19. und 20. Jahrhundert verschiedene Staatstheorien entworfen wurden und sich die Rede von der Staatsperson ausprägte, brachen immer wieder gedankliche Unsicherheiten auf. Die Unschlüssigkeiten, ja Abwege und Aporien der modernen Debatten dürfen nicht ignoriert werden. Weil sie zahlreiche offene Fragen hinterlassen, ergibt sich die Konsequenz, dass nochmals weiter auszugreifen ist, um Ansatzpunkte für die Bewältigung des heutigen Umbruchs der Staatlichkeit zu gewinnen. Der Terminus »Staat« ist schon mehrere Jahrhunderte vor den Diskursen des 19./20. Jahrhunderts entstanden, nämlich im 15./16. Jahrhundert, d. h. in der Epoche der Renaissance. Der zweite Teil des Buches knüpft hieran an und legt dar, welche Vorstellungen seit der Renaissance zum Staat entwickelt worden sind.

Dies geschieht in fünf Teilschritten. Seit der Renaissance ist Staatlichkeit aus unterschiedlichen Perspektiven und mit divergierenden Interessen reflektiert worden. Als Leitlinien und als Postulate, die sich neuzeitlich insgesamt herauskristallisiert haben, hebt der zweite Buchteil hervor: erstens die Säkularisierung des Staates; zweitens seine Aufgabe, durch strukturelle Planung – klassisch insbesondere durch Stadtplanung – die gesellschaftliche Zukunft human zu gestalten; drittens die Ausübung von Macht und der verantwortliche Umgang mit ihr; viertens – negativ-abgrenzend – die Abkehr von paternalistischen Formen von Herrschaft und Regierung; demgegenüber fünftens als liberales Paradigma die Orientierung an den Freiheitsrechten der einzelnen Bürger.

Zu diesen fünf Gesichtspunkten werden jeweils repräsentative Autoren und Denkmodelle der Geistesgeschichte erwähnt; und es wird jeweils ein Fazit gezogen, das darlegt, welche Schlussfolgerungen für staatliche Aktivitäten und Gestaltungsprozesse in der Gegenwart zu ziehen sind. Ähnlich wie es im ersten Teil des Buches der Fall ist, läuft der zweite Teil auf eine liberale Staatsidee hinaus. Mit »liberal« ist gemeint, dass staatliches Handeln und staatliche Institutionen an den Menschenrechten, d. h. am Primat der einzelnen Personen und an ihren Schutz- und Freiheitsrechten zu bemessen sind. Mit diesem Zuschnitt ist der moderne Staat als liberaler Rechtsstaat zu begreifen.

(3) An das Leitbild des liberalen Rechtsstaats knüpft der dritte Teil des Buches an. Angesichts der definitorischen Schwierigkeiten, die beim Zugriff auf den Staatsbegriff entstehen, und in Anbetracht der aktuellen Verwerfungen von Staatlichkeit ist er nicht institutionentheoretisch als »Staatsethik« oder als Ethik der »Staatspflege«9 konzipiert. Vielmehr wird handlungsbezogen, handlungstheoretisch eine politische Ethik bzw. eine Ethik der Politik zur Sprache gebracht.

Nun wird »Politik« uneinheitlich definiert. Politikwissenschaftlich lassen sich »politics«, »policy« und »polity« unterscheiden. Demzufolge sind die prozedurale Seite der Politik (politics), ihre inhaltliche Dimension (policy) und ihre institutionelle, ordnungspolitische sowie normative Ebene (polity) voneinander abzugrenzen. Das vorliegende Buch legt Politik als einen Vorgang der Gesellschaftsgestaltung bzw. als diejenige Tätigkeit aus, die gesellschaftlich-kulturelle Gestaltungsabläufe intentional in Gang bringt und sie verantwortet.10 Bezogen auf Politik als menschlich zu verantwortendem Gestaltungsprozess entfaltet der letzte, dritte Teil des Buches dann den Ansatz einer politischen Ethik.

Ihren Kern bildet der Personbegriff, der in verschiedene Richtungen hin interpretiert wird. Subjektivitätsethisch wird zunächst nach der Handlungsverantwortung der Personen gefragt, die politisch gestaltend tätig sind. Sodann wird normativ-kriterial erörtert, was der Personbegriff als Kriterium bzw. als Maßstab staatlich-politischer Gestaltung in der Gegenwart austrägt – eine Frage, die zurzeit schon allein deswegen bedeutsam wird, weil beispielsweise über den Personstatus von Robotern nachgedacht wird. Schließlich wird zu betonen sein, dass Politik dem Primat der menschlichen Person zukunftsbezogen, prospektiv, generationenübergreifend gerecht werden muss. Dies Letztere wird im Schlussteil des Buches daran veranschaulicht, dass eine zukunftsorientierte Politik die Grund- und Personrechte von Kindern zu beachten hat, die als Repräsentanten der künftigen Generationen zu verstehen sind.

Mit solchen Gesichtspunkten soll politisch-ethisch aufgezeigt werden, wie auf den Legitimationsverfall und die Erosion des Staates, die in der Gegenwart festzustellen sind, konstruktiv reagiert werden kann. Insgesamt spricht das vorliegende Buch Grundsatzprobleme des Staatsbegriffs und der Staatsdeutung an, weist auf die Gefahr der Staatsüberhöhung hin, die sich vor allem in Deutschland in der Neuzeit ausgeprägt hat, und nimmt die Krise ernst, in die der Staat als Institution heute geraten ist. Aus der Krise der Institution »Staat« zieht es eine handlungstheoretische Konsequenz: Es unterstreicht das Anliegen politischer Gestaltungsverantwortung. Zu diesem Zweck wird politische Ethik als eine Ethik der Person entfaltet.

Zu formalen Aspekten: Das Buch führt zwei Bände fort, die vom Verfasser in der Reihe »Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder« des Verlags W. Kohlhammer bereits erschienen sind, nämlich den Band »Medizinische Ethik. Gesundheitsschutz, Selbstbestimmungsrechte, heutige Wertkonflikte«, 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2009, sowie die »Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik«, 2012. Der jetzt vorliegende Band »Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates« wurde im Februar 2018 abgeschlossen.

In den Fußnoten finden sich Belegangaben, durch die sich auch weiterführende Literatur sowie anderweitige Auffassungen erschließen lassen.

I.  Theoriebildungen zum Staat in der Epoche des modernen Nationalstaats

Voranstehend wurden Herausforderungen erwähnt, mit denen der Staat in der Gegenwart konfrontiert ist. Um sie gedanklich zu bewältigen, müsste es eigentlich hilfreich und erhellend sein, von den Einsichten der neueren Staatstheorie zu lernen. In den beiden zurückliegenden Jahrhunderten, dem 19. und dem 20. Jahrhundert, haben sich in Europa die Nationalstaaten ausgebildet. Wenn überhaupt, dann hätte in dieser klassischen Epoche moderner Staatsbildung, in der Phase des nationalen Verfassungsstaates, zutage getreten sein müssen, wie der »Staat« zu definieren und sinnvoll zu deuten ist. Mit den Staatstheorien, die seit dem 19. Jahrhundert konstruiert worden sind, beschäftigt sich der nachfolgende erste Teil des Buches. Um das ernüchternde Ergebnis vorwegzunehmen: Es fällt auf, wie tastend, heterogen und gegensätzlich in dieser herausragenden Phase der Staatlichkeit die Begriffsbildungen, Definitionen und Interpretationen ausfielen. Ein skeptisches Fazit ergibt sich sogar dann, wenn man die Reflexionen zugrunde legt, die sich in der einschlägigen Disziplin, der Staatsrechtswissenschaft, finden.

Die Staatslehre der Juristen wird in der zweiten Hälfte des ersten Buchteils ausführlich zur Sprache gebracht werden. Zuvor sind theologische Zugänge anzusprechen. Theologische und kirchliche Standpunkte zu thematisieren liegt schon allein deswegen nahe, weil – anders als es jetzt im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts der Fall ist und als es für die Zukunft zu erwarten ist – die christlichen Denominationen und Kirchen in Europa in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten noch eine hohe kulturelle Prägekraft besaßen. Sie haben das Selbstverständnis der Gesellschaft und nicht zuletzt die Staatsanschauung beträchtlich beeinflusst. Ob dies in wegweisender Form geschah, steht auf einem anderen Blatt und wird jetzt mit kritischem Zungenschlag darzulegen sein.

I.I.  Theologische Staatsdeutungen und ihre Schattenseiten

Zunächst werden tragende Ideen der katholischen Theologie bzw. des katholischen Lehramtes vor Augen geführt. Insgesamt kommt ihnen für das Staatsdenken im 19. und 20. Jahrhundert freilich nur ein begrenzter Stellenwert zu. Zumindest im mitteleuropäisch-deutschsprachigen Raum sind die gesellschaftspolitischen und akademischen Debatten zur Staatsidee stärker von den protestantischen Eliten geprägt gewesen. Die protestantischen Perspektiven werden in den Abschnitten erörtert, die sich an die Skizze zur katholischen Sicht anschließen. Ihr geistes- und kulturgeschichtliches Gewicht beruht darauf, dass deutsche Territorialstaaten und der 1871 begründete, von Preußen dominierte deutsche Nationalstaat mit den evangelischen Kirchen stets eng verbunden waren. Im 19. Jahrhundert war das Königreich Preußen von evangelischen Theologen wie Friedrich Schleiermacher (1768–1834) oder von kirchlich orientierten Rechtsgelehrten wie Friedrich Julius Stahl (1802–1861) explizit sogar als »christlicher Staat« bezeichnet worden11 – womit im Kern ein evangelischer Staat gemeint war.

Kulturgeschichtlich besaß dieser evangelisch-konfessionalistische Standpunkt äußerst zwiespältige Konsequenzen. So meinte Schleiermacher, der in Preußen zeitweise das Amt eines Staatsrats für das Unterrichtswesen innehatte, dass bei der Erteilung des obligatorischen christlichen Religionsunterrichts in staatlichen Schulen auf die »etwaigen jüdischen Zöglinge« keine Rücksicht zu nehmen sei.12 Seine Position war sogar schon zu seiner eigenen Zeit rückschrittlich. Denn in der damaligen jüdischen Freischule in Berlin waren, umgekehrt, die christlichen Kinder vom jüdischen Religionsunterricht befreit gewesen.13

Dem Postulat des christlichen Staates lag die Weichenstellung zugrunde, den Staat und die evangelische Kirche letztlich als Einheit zu begreifen. Die Ursachen sind in der Reformationsepoche zu suchen. Es waren insbesondere Vorschläge von Philipp Melanchthon (1497–1560), die hierfür Pate standen. Melanchthon ging so weit, dass er um der Einheit von Staat und Kirche willen in den Universitäten sämtliche Fakultäten, nicht nur die theologische Fakultät, auf die Confessio Augustana als lutherische Bekenntnisschrift verpflichten lassen wollte.

Für die katholische Kirche lag es hingegen fern, den territorialen oder den nationalen Staat mit der Kirche zu verschränken. Denn sie war zentralistisch an Rom orientiert. Hieraus erwuchs im 19. Jahrhundert in Deutschland zwischen ihr und dem Staat ein scharfer Gegensatz. In den Jahren 1871 bis 1887 kulminierte er im Kulturkampf, der zwischen Preußen sowie dem Deutschen Reich und ihr ausgetragen wurde und der auf staatlicher Seite zu den Kulturkampfgesetzen führte. Als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident sah Otto von Bismarck (1815–1898) im Vorhandensein der katholischen Zentrumspartei einen Angriff auf den deutschen Staat. Im Gefolge des deutsch-französischen Kriegs war das Deutsche Reich gegründet worden, und zwar am 18. Januar 1871 symbolisch durch die Kaiserproklamation in Versailles. Ein Jahr später, am 30. Januar 1872, erklärte Bismarck im preußischen Abgeordnetenhaus bezogen auf die Zentrumspartei: »Ich habe, als ich aus Frankreich zurückkam, die Bildung dieser Fraktion nicht anders betrachten können, als im Lichte einer Mobilmachung der Partei gegen den Staat«.14 An den Worten lässt sich ablesen, wie groß die Distanz zwischen der katholischen Kirche, für die das »Zentrum« stand, und dem Staat war. Bismarck sah in ihr eine Bedrohung des neuen deutschen Nationalstaats, auf den sich die evangelischen Kirchen ohne Vorbehalte eingelassen hatten und den sie nachdrücklich stützten.

Letztlich war die Distanz der katholischen Kirche gegenüber dem modernen Staat allerdings noch sehr viel massiver. Es geht nicht nur um ihr Verhältnis zum Nationalstaat. Vielmehr vermochte sie gedanklich keinen Zugang zum Phänomen des säkularen Staates zu finden, der sich von der Kirche emanzipiert hat. Auf ihn sich einzulassen, fiel – und fällt – ihr schwer. Bis ganz weit in das 20. Jahrhundert hinein gelang es ihr insbesondere nicht, den modernen Verfassungsstaat zu bejahen, der sich demokratisch begreift und der auf die individuellen Grund- und Menschenrechte verpflichtet ist. Diese geistesgeschichtliche Hypothek wirkt noch heute nach.

1.  Die katholische Kirche im Kontrast zum säkularen Staat und zu den Grundrechten

Erstens: Lang anhaltendes Nein zu den Menschenrechten

Für die katholische Lehre war herkömmlich der auf die Antike zurückgehende Gedanke tragend gewesen, die irdische Ordnung, die im Mittelalter respublica Christiana genannt wurde, stelle eine societas perfecta oder eine societas completa dar.15 Unter den »natürlichen« Formen der Vergesellschaftung bilde sie die höchste und umschließe alle sonstigen Gegebenheiten, etwa die Familie. Es handele sich um eine von Gott eingerichtete Ordnung der Schöpfung. Angesichts dessen wurde der moderne säkulare Staat von der katholischen Kirche als Abfall vom Glauben bewertet und noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als »nationale Apostasie« abgelehnt.16 Die Werke der neuzeitlich-modernen Staatsphilosophie von Machiavelli bis Rousseau waren katholischerseits als verboten gebrandmarkt und auf den Index librorum prohibitorum gesetzt worden.

In der Moderne wurde dann die Kirche selbst zur societas perfecta erklärt.17 Dies besaß bezogen auf den Staat antidemokratische und antiliberale Implikationen. Eine Ordnung, die unabhängig von kirchlichen Vorgaben existiert und auf die Freiheit der Einzelnen Wert legt, ließ sich mit römisch-katholischen Idealen nicht in Einklang bringen. Im 19. und 20. Jahrhundert profilierte die katholische Lehrbildung den Begriff der societas perfecta also so, dass er nicht mehr die irdische Ordnung bzw. den Staat, sondern die Kirche selbst kennzeichnete. Sie wurde ihrerseits als korporative Rechtspersönlichkeit gedeutet, die Rechtssubjektivität besitze, auf dem Willen Gottes gründe und hierarchisch strukturiert sei.18 Zugleich brachte diese Sicht ihren Anspruch auf letztliche Vorordnung vor dem Staat zum Ausdruck.

Erst mit großer geistesgeschichtlicher Verspätung, nämlich in den 1960er-Jahren, hat die katholische Kirche ihre Ablehnung des säkularen Staats, der Demokratie und der individuellen Menschenrechte einschließlich des Rechts jedes Menschen auf Gewissens- und Religionsfreiheit wenigstens im Prinzip zurückgezogen.19 Für sie selbst ist diese Selbstkorrektur heutzutage äußerst vorteilhaft. Im Rahmen des modernen Verfassungsstaates nimmt sie nun ihrerseits die staatlich gewährleistete Religionsfreiheit in Anspruch. Sie beruft sich darauf, dass ihr eine korporative, institutionelle Religionsfreiheit zustehe, die aus der staatlich geschützten persönlichen Religionsfreiheit ihrer Gläubigen abzuleiten sei. In ihrer Bejahung individueller Menschenrechte ist sie allerdings nicht konsequent. Vor allem für den kirchlichen Binnenbereich erkennt sie ihre Verbindlichkeit bis heute nicht an, weil die Grundrechte, namentlich die Religionsfreiheit sowie weitere Freiheitsrechte nur für den Staat, nicht aber für die Kirche gültig seien und weil die kirchlich-hierarchische Binnenstruktur den Vorrang haben müsse.

Eigentlich muss es überraschen, dass dieser Standpunkt der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland noch in der Gegenwart in der Regel ohne substanziellen Widerspruch hingenommen wird – bislang auch noch vom Bundesverfassungsgericht20 sowie oftmals in rechtswissenschaftlicher Literatur.21 Er hat weitreichende Folgen, zum Beispiel hinsichtlich der Einschränkung der Grundrechte von Beschäftigten in kirchlich getragenen Einrichtungen des Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesens.22 Immerhin wird das Problem heutzutage öffentlich diskutiert und nicht mehr gänzlich tabuisiert. Unter dem Druck des Bundesarbeitsgerichts23 mussten die katholischen Bischöfe ihr kirchliches Arbeitsrecht im Jahr 2015 ein Stück weit öffnen, so dass sie jetzt, wenigstens vordergründig, Grund- und Beteiligungsrechte ihrer Beschäftigten in etwas höherem Maß achten als zuvor.24

Zweitens: Das Subsidiaritätsprinzip – eine katholische Idee?

Mithin erkennt die katholische Kirche seit dem späten 20. Jahrhundert zwar nicht für sich selbst, aber bezogen auf den Staat Demokratie, säkulare Rechtsnormen und Menschenrechte formal an. Für ihr heutiges Bild des Staates ist noch ein weiterer Punkt relevant, nämlich das Subsidiaritätsprinzip. Diesem zufolge hat der Staat zu respektieren und zu fördern, dass eine Gesellschaft »von unten«, von den einzelnen Menschen sowie von kleineren, lokalen und regionalen Gemeinschaftsformen her aufgebaut ist. In der einschlägigen Enzyklika »Quadragesimo anno« aus dem Jahr 1931 heißt es in Nr. 79, es verstoße »gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen«. Sodann lautet Nr. 80:

»Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen«.

Heute wird im katholischen Schrifttum hervorgehoben, dass dieses Prinzip der Subsidiarität, das im Jahr 1931 im Blick auf die Sozialordnung der Nationalstaaten entwickelt worden sei, auch für Staatenverbände wie die Europäische Union Aussagekraft besitze.

Geistesgeschichtlich trifft es indessen nicht zu, wenn katholische Stimmen suggerieren, das Subsidiaritätsprinzip sei eine originär katholische Idee. Denn der Sache nach fand sich dieser Gedanke bereits bei dem evangelisch-reformierten Naturrechtslehrer Johannes Althusius25, dessen für die Staatslehre interessante Ideen im 19. Jahrhundert von dem Juristen Otto von Gierke (1841–1921) wiederentdeckt worden sind. In seinem 1880 erschienenen Buch schrieb von Gierke, er habe sie ihrer »fast räthselhaften Vergessenheit« entrissen.26 Auf Althusius nahm sodann der Jurist Hugo Sinzheimer (1875–1945) Bezug, als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Konzeption zum Aufbau von Staat und Rechtsordnung, speziell zur Arbeitsrechtsordnung und zum Tarifrecht entwickelte, die von der Selbstorganisation gesellschaftlicher Verbände ausging. Im Zusammenhang des Arbeits- und Tarifrechts betonte er die Rolle der Gewerkschaften. Im Jahr 1916 sprach er explizit von der »Subsidiarität des Tarifrechts«. Erst dann, wenn ein Verband seine Aufgaben nicht mehr zu meistern vermag, »tritt an seine Stelle der Staat«. Insofern betonte er die Prinzipien der »sozialen Selbstbestimmung« und der »Dezentralisation«. Staatliches Handeln solle sich darauf beschränken, rechtliche Rahmenordnungen zu kodifizieren:

»Der Staat verzichtet darauf, Entscheidungsnormen im einzelnen zu geben, er begnügt sich damit, Formen den Beteiligten zur Verfügung zu stellen, in denen sie selbst diese Normen erschaffen und verwalten können.«27

Heutzutage sind in katholischen Publikationen Ausführungen zu lesen, die für die katholische Kirche geradezu das Urheberrecht am Subsidiaritätsprinzip beanspruchen. Mit dem Subsidiaritätsbegriff habe es ein »hauptsächlich innerkirchlicher Terminus geschafft, […] zu einem zentralen Begriff der transnationalen politischen Praxis zu werden«.28 Eine derartige Vereinnahmung stimmt jedoch nicht damit überein, wie die Idee und der Begriff eines subsidiären Aufbaus von Staat und Gesellschaft geistesgeschichtlich tatsächlich zustande gekommen sind. Im Übrigen hat die katholische Kirche für ihre eigene Binnenstruktur den Subsidiaritätsgedanken, also einen angeblich »innerkirchlichen Terminus«, zugunsten zentralistischer sowie hierarchischer Strukturen ganz in den Hintergrund gerückt. Der Sachverhalt, dass die katholische Kirche das Subsidiaritätsprinzip im eigenen Binnenbereich missachtet, wird sogar von einzelnen Vertreterinnen oder Vertretern der katholischen Theologie eingeräumt und problematisiert.29 Der seit 2013 amtierende Papst Franziskus hat geäußert, er sei zu Dezentralisierungen und zur Verlagerung von Kompetenzen nach unten, an die Bistümer in den verschiedenen Regionen bereit. Ob es tatsächlich zu substanziellen Reformen kommen wird, lässt sich ganz schwer abschätzen.

Drittens: Heutige römisch-katholische Überlegenheitsansprüche

Zur Beziehung der katholischen Kirche zum modernen Staat ist summarisch daher festzuhalten: Noch in der Moderne hat sie den Staat durch ihren Rückgriff auf mittelalterliche Traditionen und auf das von ihr vertretene Naturrecht in einen religiösen Deutungshorizont einbinden wollen. Gegenüber dem modernen Nationalstaat und erst recht gegenüber dem an Grundrechte sich bindenden Verfassungsstaat blieb sie distanziert, ja abweisend. Tragende Prinzipien moderner Staatstheorie, vor allem die Verpflichtung des Staates auf die Menschenrechte, hat sie völlig verspätet und nur zögerlich rezipiert. Das Leitbild der Dezentralisierung (»Subsidiarität«), das sie dem Staat empfiehlt, ist von ihr selbst als gesellschaftlicher, ja globaler Großorganisation nicht übernommen worden. Letztlich ist für sie bis heute wichtig, sich vom weltlichen Staat abzuheben und ihrem eigenen Selbstverständnis gemäß über ihm zu stehen. Der aktuelle Problemstand sei abschließend mit zwei Schlaglichtern illustriert.

(1) Zum Aspekt der Abgrenzung: Durch ein am 1. Oktober 2008 von Papst Benedikt XVI. unterschriebenes Gesetz bekundet die römisch-katholische Kirche in ihrer staatlichen Gestalt als Vatikanstaat Autonomie von der weltlichen Gesetzgebung Italiens. Seit 2009 gelten im Vatikanstaat italienische Gesetze nicht mehr automatisch, so wie es zuvor aufgrund der Lateranverträge von 1929 der Fall gewesen war. Als (Vatikan-)Staat stellt die katholische Kirche ein vormodernes Relikt dar und ist sie die letzte absolutistische Monarchie Europas.30

(2) Zum Anspruch der Überlegenheit über den »nur« weltlichen Staat: Aus der Sicht katholischer Kirchenvertreter und Kirchenrechtler soll sich auch der heutige säkulare Staat in seiner Gesetzgebung an die Vorgaben der katholischen Kirche halten, zumal bei ehe-, familien- und sexualrechtlichen Themen. Denn die Kirche lehre naturrechtlich dasjenige, »was allen Menschen wesensgemäß ist«31, so dass ihre Auffassung nicht nur katholisch-partikular, sondern universal zu gelten habe. Zugleich wird die Forderung erhoben, dass »das Engagement der Politiker im Verfahren der Gesetzgebung möglichst auf die Übereinstimmung mit den Prinzipien der katholischen Moral- und Soziallehre zielen« soll. Die katholische Kirche sei mit ihren Werten »nicht profaner Plausibilisierungsstrategie zu unterwerfen« und im heutigen Staat keinesfalls nur »ein Akteur unter vielen«.32

Die These der Überlegenheit der kirchlichen Lehre und die Ansicht, dass sie den Staat überwölbt, gehören also keineswegs der Vergangenheit an. Entsprechende Ansprüche wurden nicht nur von den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. erhoben, sondern werden vom amtierenden Papst Franziskus aufrechterhalten. So tadelte er zum Beispiel in seinem Apostolischen Schreiben »Evangelii Gaudium« den modernen Säkularisierungsprozess sowie jeden kulturellen Relativismus und betonte, dass »die Kirche auf der Existenz objektiver, für alle geltender moralischer Normen besteht«.33 Konkret legte er diese Forderung in Bezug auf die Ehe und hinsichtlich seines Nein zu gleichgeschlechtlichen Lebensformen dar. Normativ beharrte er hiermit auf dem traditionellen kirchlichen Widerspruch gegen das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Menschen, besonders gegen ihre Grundrechte auf sexuelle und reproduktive Autonomie und auf Schutz des Privatlebens, das der Staat aufgrund der einschlägigen Verfassungsartikel und internationaler Konventionen – unter anderem Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention – abzusichern verpflichtet ist.

In die gleiche Richtung argumentierte im Jahr 2016 die römisch-katholische Kirche in Deutschland. Den Anlass bot die Auseinandersetzung, ob in die Verfassung des Bundeslandes Schleswig-Holstein nachträglich ein Gottesbezug eingefügt werden solle. Der Landtag hatte dies 2014 abgelehnt. Nun gehört in Schleswig-Holstein der katholischen Kirche nur eine recht kleine Minderheit der Bevölkerung an. Gleichwohl bemühte sie sich, mit Hilfe einer Volksinitiative den Landtag zu veranlassen, sich erneut mit dem Thema zu beschäftigen und Gott doch noch in die Verfassung aufzunehmen.34 Dies führte dazu, dass der Landtag dem Thema 2015/2016 wieder nachging. Am 22. Juli 2016 entschied er, alles beim Alten zu lassen und den Gottesbegriff aus der Landesverfassung herauszuhalten. Vor der abschließenden Plenardebatte hatte eine schriftliche Anhörung des Innen- und Rechtsausschusses stattgefunden. Von Interesse ist die Stellungnahme des für Schleswig-Holstein zuständigen Erzbistums Hamburg vom 10. Juni 2016. Es sprach sich zugunsten eines bestimmten, Gott nennenden Textvorschlags aus und begründete dies mit dem Postulat, auch der »moderne Staat« habe einen Gottesbezug in seine Verfassung »einzuflechten«, der die »Mehrdimensionalität« oder die »überbezügliche Dimensionalität« des Menschseins deutlich mache. Durch den Gottesbezug in der Verfassungspräambel sei das Signal zu geben, »dass nicht Atheismus oder Nihilismus […] zum Menschsein gehört«.35

Das Votum illustriert, dass die römisch-katholische Kirche nichtreligiöse Lebens- und Weltanschauungen (»Atheismus«/»Nihilismus«) unverändert abwertet und ablehnt. Sogar das Zweite Vatikanische Konzil, also das Reformkonzil, hatte 1965 den Atheismus »scharf zurückgewiesen«.36 Noch heute sieht die Kirche die religiöse Sicht, letztlich ihre eigene, als Basis sogar des säkularen Staates an. Mit Hilfe einer Nennung Gottes sollte dies in der Landesverfassung von Schleswig-Holstein zum Ausdruck gebracht werden, was der Kieler Landtag dann jedoch ablehnte. Ihrerseits nimmt sie für ihren Standpunkt nach wie vor einen Rang »über« dem Staat in Anspruch.

2.  Lutherische Staatsauffassung: Theologische Überhöhungen des Staates

In Deutschland übte und übt die römisch-katholische Kirche bis heute beträchtlichen Einfluss aus, der sich auch materiell in der staatlichen Gesetzgebung niederschlägt. Letztlich war für das im deutschsprachigen Raum vertretene Staatsverständnis im 19. und 20. Jahrhundert vor allem aber der Protestantismus maßgebend. Die Ursache war die enge Verflechtung der evangelischen Kirchen mit dem Staat seit der Reformation. Verfassungsrechtlich fand die Symbiose von Staat und Kirche bzw. von Thron und Altar erst 1919 durch die Weimarer Reichsverfassung ihr Ende. Partiell wirkt sie aber noch in der Gegenwart nach. Die nachfolgenden Darlegungen werden zu der sehr ernüchternden Bilanz führen, dass protestantisches Denken zu einer Theorie des Staates, die der Moderne adäquat ist, substanziell ebenso wenig beigetragen hat wie die katholische Sichtweise. Im Gegenteil, der Protestantismus – evangelische Kirchen, Vertreter der akademischen evangelischen Theologie sowie vom evangelischen Christentum beeinflusste Juristen – war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ein Anwalt für vor-, ja antidemokratisches Staatsdenken.

Hieraus erklärt sich der irritierende Sachverhalt, dass die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erst im Jahr 1985 ein Ja zur Ausprägung des Staates in einer freiheitlichen Demokratie bekundete. 66 Jahre nach dem Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung und 36 Jahre nach der Verabschiedung des Bonner Grundgesetzes wollte man die herkömmliche evangelische Abwehr gegenüber Demokratie, Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger endlich korrigieren und überwinden. Der Initiator der EKD-Denkschrift, der Münchener Systematische Theologe und Ethiker Trutz Rendtorff (1931–2016), hielt in seinem Vorwort fest:

»Zum ersten Mal erfährt die Staatsform der liberalen Demokratie eine so eingehende positive Würdigung in einer Stellungnahme der evangelischen Kirche. Darin wird über einen bedeutsamen Wandel im evangelischen Verständnis des Staates Rechenschaft abgelegt.«37

Das Dilemma, dass ein moderner säkularer Staatsgedanke geistesgeschichtlich extrem verspätet rezipiert wurde, existiert also nicht nur für die römisch-katholische Kirche oder – wie es neuerdings kritisch zu diskutieren ist – für den Islam als Religion, sondern gleicherweise für den Protestantismus.

Zur Veranschaulichung werden nachfolgend verschiedene protestantische Deutungen des Staates aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert vor Augen geführt. Um die lutherische Sicht zu illustrieren, dient das Gedankengebäude des Rechtsgelehrten Friedrich Julius Stahl (1802–1861) als Ausgangspunkt. Stahl war Mitglied des altpreußischen Evangelischen Oberkirchenrats. Seine Aussagen werden geistes- und theologiegeschichtlich eingeordnet und um Äußerungen namhafter lutherischer Theologen ergänzt.

2.1.  Der Staat als Persönlichkeit und der Monarch von Gottes Gnaden. Der Denkansatz von Friedrich Julius Stahl

Erstens: Christlicher Staat

Im 19. Jahrhundert gehörte Friedrich Julius Stahl zu den herausragenden akademischen Autoren des Luthertums. In einem 1847 veröffentlichten Buch setzte er sich für den »christlichen Staat« ein. Er entstammte einer jüdischen Familie, konvertierte als 17-Jähriger in Erlangen zum lutherischen Christentum, wurde 1840 an die Berliner Universität berufen, stand als Jurist dortigen konservativen Theologen nahe und war maßgeblich an der evangelisch-konservativen »Neuen Preußischen Zeitung« beteiligt, die nach dem auf ihrer Titelseite abgebildeten Eisernen Kreuz »Kreuzzeitung« genannt wurde. Abgesehen von seiner Mitgliedschaft im landesherrlichen preußischen Evangelischen Oberkirchenrat gehörte er zum Beraterkreis, der »Kamarilla« des antidemokratisch und antirevolutionär eingestellten preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Den »Volksstaat der Französischen Revolution« lehnte er ab.

Immerhin votierte er nicht nur in seiner »Philosophie des Rechts« (3. Aufl. 1854–56), sondern auch in seinem Buch »Der christliche Staat« (1847) für den Rechtsstaat als solchen.38 Ihm war wichtig, der Auffassung entgegenzutreten, dass der christliche Staat »den Rechtsstaat ausschlösse«.39 Hiervon ausgehend konzedierte er Menschen, die der evangelischen oder auch der katholischen Kirche nicht angehörten, das Recht auf ihre private religiöse Überzeugung. Hinsichtlich der Begriffsbildung zum Rechtsstaat gilt Stahl bis heute als Klassiker – ungeachtet dessen, dass er eine vormoderne rein formale Rechtsstaatsidee vertrat. Zu einer säkularen Konzeption drang er nicht einmal ansatzweise vor, da er die öffentliche Ordnung des Staates an Vorgaben des Christentums zurückkoppelte. Ihn interessierten – so seine eigene Formulierung – »Autorität, nicht Majorität«, d. h. Tradition statt Revolution, das monarchische Prinzip und monarchische Legitimität anstelle von Volkssouveränität sowie der christliche Staat im Sinn der Korrelation von Thron und Altar.40 Theologisch ist er dem orthodoxen Neu- oder Hochluthertum des 19. Jahrhunderts zuzurechnen.

Zweitens: Theologische Grundlegungen bei Stahl

(1) Was die theologisch-philosophische Dimension von Stahls Staatsdeutung anbelangt: Er hielt den Staat für eine »Ordnung« und »Institution«, deren Vorhandensein er mit der lutherischen Schöpfungslehre begründete. Gott habe als Schöpfer »Anstalten« wie die Kirche oder den Staat eingerichtet. Stahl ordnete den Staat gedanklich zunächst dem Naturzustand des Menschen, näherhin der sogenannten gefallenen Natur zu. Insoweit machte sich bei ihm die Lehre von der Erbsünde und vom Sündenfall bemerkbar, die für das Luthertum seit der Reformation ein Schlüssel dafür war, Zweck und Notwendigkeit des Staates theologisch herzuleiten. Gott habe den Staat – bei Luther selbst und in der Reformationsepoche hieß es noch: die Obrigkeit – eingerichtet, weil dieser in der irdischen Welt gemäß Gottes Willen den Sündenfolgen zu wehren habe.

(2) Für den rechts- und staatsphilosophischen Ansatz von Stahl war neben dem Schöpfungsgedanken noch ein zweiter Dreh- und Angelpunkt wesentlich, nämlich ein theologischer Theismus, den er im Kontrast zu Pantheismus, Deismus und Atheismus herausarbeitete. Insofern ist seine Staatsphilosophie in die philosophisch-theologischen Debatten einzuordnen, die vom Ausgang des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zur Persönlichkeit oder zum Personsein Gottes ausgetragen wurden. Zu den Denkern, die zu ihr beitrugen, gehörten Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Immanuel Hermann Fichte (1796–1879) mit seinem spekulativen Theismus sowie – mit religionskritischem Akzent – Ludwig Feuerbach (1804–1872) oder mit nochmals anderer gedanklicher Zuspitzung Vordenker der Lebens- und Existenzphilosophie wie Georg Simmel (1858–1918) und Martin Buber (1878–1965).41 Es handelte sich mithin um eine sehr breit gefächerte Diskussion.

Stahl schloss sich seinerseits einem kirchlichen theistischen Standpunkt an, indem für ihn das »oberste Princip der persönliche, überweltliche, offenbarungsfähige Gott« war42, wobei er Gott als »Persönlichkeit« bezeichnete. Hierauf basierend stellte er in seiner Staats- und Rechtsphilosophie »die Lehre von der Persönlichkeit und Freiheit Gottes« programmatisch »an die Spitze«43, deutete sodann analog zu Gott als Person auch den Menschen als zur Freiheit bestimmte Person44 und wies dem Staat die Aufgabe zu, für das menschliche Personsein und die menschliche Freiheit einen rechtlichen Rahmen zu schaffen. Das heißt, in staatsphilosophischer Ausrichtung lautete die Abfolge seines Gedankengangs:

• Ausgehend von Gott: »Bei der höchsten Persönlichkeit, bei Gott, sind die Momente der Freiheit alle in absoluter Weise«.

• Was dann den Menschen anbelangt: Da Gott als Persönlichkeit der Grund der Welt sei, bestehe auch für den Menschen die »Aufgabe […], wahrhaft und vollendet Person zu seyn«.

• Hier zeige sich freilich eine Ambivalenz: »Die menschliche Freiheit [ ...] ist nach allen ihren Momenten der Steigerung bedürftig« und befinde sich, »seit das Wesen des Menschen von der Sünde durchdrungen ist«, in »Zwiespalt und Widerspruch«.

• Deswegen bedürfe die menschliche Freiheit der Ordnung durch Gesetz und Rechtsstaat: »Die erste Anforderung der rechtlichen Freiheit ist also die Vernünftigkeit der Gesetze.«45

Dem auf diese Weise konstruierten Staat sprach Stahl hoheitlich-obrigkeitliche Züge zu. Zwar könne man ihn nicht erschöpfend definieren. Aber: »Will man die Form der Definition schlechthin nicht aufgeben«, so lasse sich sagen:

»der Staat ist der Verband eines Volkes unter einer Obrigkeit zu Schutz und Pflege aller leiblichen und geistigen Güter, insbesondere zur Handhabung des Rechts und der Gerechtigkeit«.46

Dabei komme es auf ein Doppeltes an, auf das Eingesetztsein der Obrigkeit durch Gott und auf ihre ethische Aufgabe. Hiermit schob Stahl grundlegende Einsichten moderner Staatstheorie völlig beiseite, die ein halbes Jahrhundert zuvor in Preußen von Autoren wie Moses Mendelssohn oder Immanuel Kant entwickelt worden waren: die Differenzierung zwischen Recht und Moral bzw. von Legalität und Moralität sowie die Beschränkung des Staates auf das Recht und auf die Wahrung der äußeren Ordnung.

(3) Stattdessen nahm Stahl eine weitere konfessionelle Leitidee auf, und zwar den lutherischen Berufsgedanken. Diesem gemäß hat Gott jeden Menschen in einen weltlichen »Beruf« hineingestellt und ihn zum Dienst am Mitmenschen gerufen. Stahl übertrug diese eigentlich individualethische Aussage auf den Staat, so dass »Dienst« und »Beruf« für ihn zu Kennzeichen des Staates wurden:

»Es ist also nicht der sittliche Beruf (das Ethos) der einzelnen Menschen, sondern der sittliche Beruf der menschlichen Gemeinschaft (des Volkes) als Eines Ganzen, auf welchen der Staat sich gründet.«47

Den so verstandenen Staat erhob Stahl zu einer eigenen Entität. Er sei eine sittliche Einrichtung und in sich selbst »ein Reich der Sitte«. Zum »Wesen des Staates« gehöre es, die von einer über ihm stehenden, nochmals höheren Macht, nämlich von Gott gesetzten Gebote zu »handhaben«. Hierdurch werde er zum »Wächter heiliger Ordnungen«.48

Es kann nicht überraschen, wenn Stahl hieraus weitreichende materiell-rechtliche Konsequenzen zog und er dem Staat die Wahrung kirchlicher Moralauffassungen auftrug. Seiner Auffassung zufolge

»ist es gewiß nicht der bloße Gesichtspunkt der Förderung oder Vervollkommnung menschlichen Daseyns, aus welchem der Staat die heiligen Gebote der Ehe (Verbot der Blutschande, der Ehescheidung), den Gehorsam der Kinder gegen die Eltern aufrecht hält, aus welchem er das Verbrechen straft, Zucht gegen Unsitte und Unehrbarkeit übt, sondern der Gesichtspunkt eines ihm aufgetragenen unverbrüchlichen Gebotes«.49

(4) Seine terminologische Pointe erhielt Stahls Ansatz darin, den Staat, der gleicherweise Rechtsstaat und sittliches Reich sein sollte, als Subjekt, nachdrücklicher noch: als Persönlichkeit zu charakterisieren. Der Staat stelle »das zur Persönlichkeit konstituirte Volk« und »ein Subjekt vor und über« den Mitgliedern der Gesellschaft dar.50 Er sei eine »politische Person«, eine »Persönlichkeit« in höherem Sinne.51 Aus seiner schöpfungstheologisch sowie theistisch fundierten Staatstheorie deduzierte Stahl sodann die Legitimation der erblichen Monarchie. Der personanalog als Subjekt begriffene Staat werde durch den Monarchen als Person abgebildet: »Die Herrschaft des Staates, sohin der Staat selbst, wird persönlich im König.«52 Weil sich die Entität, die Persönlichkeit des Staates in der Person des Monarchen manifestiere, sei dieser »von Gottes Gnaden«.

Als lutherisch argumentierender Rechtsphilosoph vertrat Stahl mithin die restaurative These des Gottesgnadentums des Fürsten, die den damaligen Bemühungen um Demokratisierung und Aufwertung des Parlaments und der aufgeklärten Idee der Volkssouveränität gänzlich entgegenstand. Eine seiner Schlüsselformulierungen lautete:

»Wenn der Staat zunächst als ein sittliches Reich der menschlichen Gemeinschaft sich darstellt, so ist es doch, tiefer betrachtet, zugleich eine göttliche Institution. Es ruht vor Allem das Ansehen des Staates auf der Verordnung (Ermächtigung, Einsetzung) Gottes.«53

In der einschlägigen Passage seiner Staatsphilosophie, der zufolge die von Gott verordnete Obrigkeit »von Gottes Gnaden« ist, berief sich Stahl legitimatorisch auf die Bibelstelle Röm. 13,1. Insofern folgte er der auf evangelischer Seite eingebürgerten Praxis, zwecks theologischer Begründung Bibelstellen heranzuziehen. Zu den Implikationen seiner Persondeutung des Staates gehörte, die Gewaltenteilung zu relativieren, weil »Persönlichkeit« und »Wille« nicht geteilt werden könnten; es gebe lediglich verschiedene Organe unter dem Souverän.54

Drittens: Damalige staatspolitische Konsequenzen

(1) Spiegelbildlich zu seiner theologischen (Über-)Legitimierung und Personifizierung des Staates rückte Stahl die individuellen Menschenrechte in die zweite Reihe. Grund- oder Menschenrechte besäßen ihre Geltung kraft staatlicher Verleihung55, nicht aber weil sie jeder einzelnen Person per se von Geburt an aufgrund ihres Menschseins zustehen. Deshalb ging es Stahl speziell bei der Religions- und Gewissensfreiheit nicht um die »Anerkennung eines Rechts des Menschen«. Vielmehr solle der Staat, die »christliche Obrigkeit«, gegenüber andersgläubigen Menschen und ihrem »bestimmten religiösen Zustand« lediglich »Schonung« üben. Ihnen sei ihr »irriges, religiöses Gewissen« zugute zu halten.56 Im Widerspruch zu den Liberalisierungen, die damals auch in Deutschland rechtlich ins Auge gefasst wurden, lehnte er die Zulassung Andersgläubiger zu öffentlichen Ämtern prinzipiell ab.57

Hier schlug durch, dass er die Rechtsordnung mit einer christlich verstandenen Moral in eins setzte. Damit fiel er hinter die Einsicht zurück, der zufolge der Staat sich aus Fragen der Gesinnung und Religion konsequent herauszuhalten hat und Menschen aus Gründen ihrer moralischen oder religiösen Überzeugung nicht benachteiligt werden dürfen. Mit seinem obrigkeitlich-herablassenden Standpunkt befand sich sein Denkansatz im Kontrast zu der Staatsidee, die in der Paulskirchenverfassung von 1849 ihren Niederschlag gefunden hatte und darauf abzielte, jedem Menschen als Einzelnem Bürgerrechte zuzubilligen und ihn in seinen Grund- und Freiheitsrechten zu respektieren.

(2) Es lag ganz auf Stahls Linie einer lutherischen obrigkeitlichen Staatslehre, dass der preußische König Friedrich Wilhelm IV. es im Jahr 1849 zurückwies, von den Deputierten der Frankfurter Nationalversammlung die Kaiserkrone für ein neu zu gründendes Deutsches Reich anzunehmen. Zu den Abgeordneten, die dem König das Anliegen vortrugen, gehörte der Historiker und Rechtsgelehrte Friedrich Christoph Dahlmann (1785–1860). Eigentlich genoss Dahlmann bei Friedrich Wilhelm IV. hohe Reputation. In einem Brief schrieb der König Dahlmann allerdings abwehrend – hierin der staatsphilosophisch-lutherischen Logik Stahls folgend –, er sei »König von Gottes Gnaden«, der »wohl weiß, wer die Kronen nimmt und giebt«.58

Der Gegensatz, in dem der obrigkeitlich denkende Lutheraner Stahl zu Dahlmann stand, wurde noch bei anderer Gelegenheit offenkundig. Dahlmann hatte wiederentdeckt, dass im späten Mittelalter im Ripener Privileg vom 5. März 1460 die Unteilbarkeit von Schleswig und Holstein urkundlich garantiert worden sei – »dat se bliven ewich tosamende ungedelt«/»dass sie ewig zusammen ungeteilt bleiben« –; er sprach sich für eine freiheitliche Repräsentativverfassung in Schleswig-Holstein aus59 und setzte sich zeit seines Lebens für die Autonomie des Landes von der dänischen Krone ein. Stahl konnte dieses Engagement nicht nachvollziehen. Es entsprach seinem konservativen Obrigkeitsideal, dass er im Jahr 1850 das Bemühen der in Schleswig-Holstein lebenden Bevölkerung kritisierte, in das übrige Deutschland eingegliedert zu werden. Bei derartigen Bestrebungen gelange der revolutionäre Geist der Französischen Revolution zum Zuge. Weil »die Regel des Gehorsams« zu betonen sei, bestehe kein Recht zur Abwendung von der Herrschaft des dänischen Königs.60

(3) Im Fazit ist zu sagen, dass in Stahls Staatsanschauung die Abständigkeit des deutschen Luthertums von Demokratie, Parlamentarismus, liberalen Grundrechten und Volkssouveränität markant zutage trat. Innerhalb und außerhalb des protestantischen Christentums hat sein Denken über einen langen Zeitraum hinweg große Beachtung gefunden. Das Werk des »politischen Professors« Stahl wirkte polarisierend und wurde zum Gegenstand liberaler oder sozialistischer Kritik sowie umgekehrt zur Referenz legitimistischer, restaurativer oder konservativer Positionen.

In ihren Einzelheiten kann die Wirkungsgeschichte hier dahingestellt bleiben.61 Stattdessen sind nur die Leitideen hervorzuheben, die auf der Linie Stahls für das lutherisch-theologische Staatsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts generell charakteristisch waren:

• die schöpfungsordnungstheologische Fundierung der Staatslehre;

• die enge Verknüpfung von Staat und Ehe mit der Pointe, beide Gebilde patriarchalisch bzw. paternalistisch zu verstehen;

• die Distanz gegenüber dem Anliegen persönlicher Gewissens- und Glaubensfreiheit, verbunden mit bestenfalls geringer Bereitschaft, andere Religionen und Weltanschauungen öffentlich anzuerkennen.

Mit solchen Vorstellungen verstärkte das Luthertum in der Moderne den Etatismus und eine hierarchisch-obrigkeitliche Sicht des Staates. Bevor sie sogleich im Horizont lutherischer Theologie nochmals näher erläutert werden, ist zuvor das herausragende Motiv zu unterstreichen, mit dem sich Stahl in Einklang mit einer breiten Strömung damaliger rechtswissenschaftlicher Staatslehre in Deutschland befand: der Auffassung, der Staat sei eine Person.

2.2.  Stahls Deutung des Staates als politischer Person im rechtsgeschichtlichen Kontext

(1) Stahls Staatsanschauung ist in den größeren Rahmen einzuordnen, dass seit dem 19. Jahrhundert der Personbegriff neues philosophisches Interesse fand62 und er unter anderem auch rechts- und staatstheoretisch zu einem Schlüsselbegriff aufstieg. Einsetzend beispielsweise mit Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), dem Vordenker der Historischen Rechtsschule, gelangte das Konstrukt der juristischen Person zum Zuge, die Savigny von dem einzelnen Menschen als einer sogenannten moralischen Person kategorial abgrenzte. Dabei dachte er an überindividuelle Personverbände, etwa an Gemeinden, Städte oder an Korporationen wie Universitäten. Definitorisch hielt er fest, solche juristischen Personen seien »künstliche, durch bloße Fiction angenommene Subjecte«; und er äußerte, die »größte und wichtigste unter allen juristischen Personen« sei »der Fiscus, das heißt der Staat selbst«.63

(2) Zu dieser Fiktionstheorie wurde im 19. Jahrhundert rechtswissenschaftlich eine Alternative entwickelt. In der Theoriebildung des Rechtsgelehrten Otto von Gierke wurden überindividuelle Vereinigungen – Verbände, Genossenschaften, Stiftungen – jeweils als sozialer Organismus mit eigener Persönlichkeit interpretiert. Er nannte sie »reale Verbandspersönlichkeiten«.64 Dabei stützte er sich auf ältere Überlegungen, die von dem reformierten Naturrechtslehrer Johannes Althusius stammten. Bei Althusius finde sich der Gedanke, »dass der Staat ein organisch geordneter und gegliederter Körper mit eigner Persönlichkeit sei«65. Von Gierke betonte seinerseits den Stellenwert der Verbände im Staat, beeinflusste Autoren wie Hugo Preuß, auf den noch einzugehen sein wird, und stand im Rahmen der personalisierenden Deutungen von Staat und Gesellschaft für ein organologisches Denkmodell.

(3) Kurz gesagt: Rechtstheoretisch wurde im 19. Jahrhundert die »Person« des Staates in anorganischer oder in organischer Version ausgelegt. Bei Stahl trat eine nochmals andere Version zutage, den Personbegriff auf den Staat zu applizieren. Er sprach vom Staat als einer politischen Person oder einer politischen Persönlichkeit. Seine Begriffsbildung erfolgte nicht auf der Basis von römischem Recht und im Sinne des Konstrukts der juristischen Person, das sein Zeitgenosse Carl von Savigny präferierte.66 Ferner ist sie von der organologischen Theorie abzuheben, die dann Otto von Gierke als Alternative zur Fiktionstheorie entwarf und die germanistisch an die deutsche Rechtsvergangenheit anschloss. Vielmehr wurde sie religiös-christlich im Horizont des Luthertums und damaliger theistischer Theologie entworfen. Wenn Stahl den Staat als sittliches Reich und als politische Persönlichkeit auslegte, deduzierte er dies aus einem theistisch-personalistischen Gottesbild.

Im Ergebnis entwarf er ein hoheitliches, hierarchisches Bild des Staates. Hierin war er repräsentativ für die Positionierung des neuzeitlichen lutherischen Christentums überhaupt, die nun knapp skizziert wird.

2.3.  Staatsanschauungen im neueren Luthertum im Allgemeinen

2.3.1.  Schöpfungstheologische Grundlegung

(1) Theologisch hatte sich Stahls Staatsdeutung an die lutherische Schöpfungslehre angeschlossen. Bei ihm selbst geschah dies dergestalt, dass er den persönlichen Schöpfergott hervorhob und von diesem ausgehend als christliche Leitaussage einen »Zug der Schöpfung nach Persönlichkeit«67 in den Mittelpunkt rückte. Aus der schöpfungstheologischen Vorgabe leiteten sich seine Ideen über den Menschen, das Volk oder den Staat als Personen ab. Letzteren nannte Stahl zugleich »Anstalt« und »Institution«.

Die von ihm vollzogene schöpfungsdogmatische Fundierung der Staatsanschauung war in ihrer Substanz schon im 16. Jahrhundert bei Martin Luther (1483–1546) angelegt gewesen. Sie blieb auch in den Jahrzehnten nach Stahl, letztlich bis in das ausgehende 20. Jahrhundert und in die Gegenwart hinein die Angel lutherischen staatsbezogenen Denkens. Aus ihr erklären sich in hohem Maß die Schattenseiten und die ideologischen Verblendungen der lutherischen Sichtweise. Der Ansatz, den Staat für eine göttliche Schöpfungsordnung zu halten, hatte den Effekt, ihn metaphysisch zu überhöhen und ihm autoritativ-obrigkeitliche Züge zu verleihen.

(2) Aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist exemplarisch der Erlanger lutherische Theologe Paul Althaus (1888–1966) zu erwähnen. Er erklärte den Staat zur »Ordnung Gottes, durch welche Gott in einer Welt der Sünde und des Widerstreites die Menschen vor dem Chaos bewahrt und Leben in Gemeinschaft ermöglicht«. Demgegenüber laufe »Demokratie« auf »Zerstörung der Gottesordnung des Staates« hinaus.68

Wie ideologieanfällig die lutherische Staatsanschauung war, belegt der Ansbacher Ratschlag aus dem Jahr 1934, der im Wesentlichen von dem Erlanger lutherischen Theologen Werner Elert (1885–1954) verfasst worden war. Zu den »natürlichen Ordnungen«, in denen sich Gottes Gebot und Gesetz manifestiere, rechnete diese lutherische Erklärung nicht nur den Staat, sondern gleichfalls »Familie, Volk, Rasse (d. h. Blutzusammenhang)«, so dass die Rassenideologie des NS-Staats bejaht wurde. Was den Staat im engeren Sinn anbetrifft, haben dem Ansbacher Ratschlag gemäß die Christen »jede Ordnung, also auch jede Obrigkeit« mit »Dank gegen Gott« anzuerkennen, so dass »glaubende Christen Gott dem Herrn« ebenfalls dafür zu danken hätten, »daß er unserem Volk in seiner Not den Führer als ›frommen und gerechten Oberherrn‹ geschenkt hat«.69

(3) Geradezu paradox wirkt es, dass die den Staat schöpfungstheologisch legitimierende bzw. überlegitimierende Tendenz des Luthertums ausgerechnet bei dem evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) wiederkehrte. Er gehörte zu den wenigen Theologen, die gegen die NS-Ideologie frühzeitig Einspruch erhoben. Später beteiligte er sich an der Konspiration gegen Hitler. Auf der Grundsatzebene hielt allerdings auch er fest: »Die Obrigkeit hat den göttlichen Auftrag, die Welt mit ihren von Gott gegebenen Ordnungen auf Christus hin zu erhalten. […] Jedermann ist ihr zum Gehorsam verpflichtet.«70

(4) In der Nachkriegszeit bemühte sich der lutherische Theologe Helmut Thielicke (1908–1986) um Korrekturen. Ihm lag daran, die lutherische Orientierung an Schöpfungsordnungen und an der Obrigkeit mit einer demokratischen Staatsordnung und rationaler Politik in Einklang zu bringen. Zu diesem Zweck trug er einen Gedanken vor, der sich in gewisser Weise gegen die bei Friedrich Julius Stahl anzutreffende Beschreibung des Staates als gottgewollter Anstalt richtete. Thielicke argumentierte, Luther selbst sei der Meinung gewesen, dass die einzelnen menschlichen Personen es seien, die von ihrer Gott zu verdankenden Vernunft Gebrauch zu machen hätten. Zwar blieb Thielicke dabei, den Staat für eine gottgewollte Ordnung zu halten, nämlich für eine »vom Sündenfall provozierte NotverordnungGottes«. Als Institution wohne dem Staat aber keine Vernunft inne.

Damit widersprach Thielicke der Sache nach der Deutung und Verklärung des Staates als personaler Entität und als politischer Person. Vielmehr sei der Staat auf »die verantwortlich zu gebrauchende Vernunft von Personen« angewiesen. Seine Gedankenführung lief darauf hinaus, die traditionelle schöpfungstheologische Staatsidee des Luthertums so umzuinterpretieren, dass es im Staat auf die Rationalität von Menschen ankomme. Dadurch wollte er über das Obrigkeitsparadigma hinausgelangen und zur Demokratie aufschließen.71

Thielickes Überlegungen entsprangen der Nachkriegsära. Einerseits versuchte er in den hergebrachten Bahnen des Luthertums zu verbleiben, wollte andererseits aber doch moderat neue Akzente setzen. Seine Denkbemühungen erfolgten jedoch erst, nachdem lutherisches Staatsdenken in den 1930er-Jahren endgültig vollständig entgleist war. Insgesamt fiel es dem Protestantismus äußerst schwer, die Fehlleistungen und Irrwege seiner Staatslehre selbstkritisch aufzuarbeiten.72 Die Evangelische Kirche in Deutschland rang sich – wie erwähnt – erst 1985 zu einer Denkschrift durch, die ein Ja zu Demokratie, Grundrechten und Rechtsstaat aussagte.

2.3.2.  Zusammenschau von Staat und Ehe

(1) Im Staatsdenken des lutherischen Juristen Stahl trat noch ein weiteres Motiv zutage, das für das Luthertum, darüber hinaus jedoch für protestantische und christliche, ja für gesamtgesellschaftliche Einschätzungen in Deutschland überaus gewichtig war. Teilweise wird es noch aktuell staats- und rechtspolitisch geltend gemacht73: die Korrelation von Staat und Ehe. Der Staat sei auf die verschiedengeschlechtliche Ehe und die Familie gegründet. Stahl selbst meinte, beide – sowohl der Staat als auch die Ehe – stünden im Dienst des Christentums: »Es ist der christliche Staat ebenso wie die christliche Familie ein natürliches Mittel zur Erweckung und Befestigung des christlichen Glaubens«.74 Daher insistierte er in seiner Theorie des christlichen Staates auf rigoristischen staatlichen Rechtsnormen, was zum Beispiel das Nein zur Ehescheidung anbelangt. Soweit der Staat Ehescheidung überhaupt dulde – und zwar einzig im Fall »schwerer Verschuldung« eines Ehepartners –, müsse die Wiederverheiratung zumindest für eine bestimmte Zeit verboten werden.75 Ferner seien gemischte Ehen – die »Ehe zwischen Christen und Anhängern einer andern Religion (Juden, Mahomedanern [!], Heiden, Mitgliedern deistischer und pantheistischer Sekten)« – zu verbieten.76 In seinem Denkmodell bekräftigten und verstärkten sich die Staats- und die Ehelehre wechselseitig, und zwar im Sinn eines vormodernen Paternalismus.

(2) Ideengeschichtlich fußt die Verschränkung von Staat und Ehe auf Überlieferungen seit der Antike. Luther und das Luthertum haben sehr dazu beigetragen, sie jahrhundertelang weiter zu tradieren und zu konservieren. In der vorindustriellen Zeit bildete die Familie einen größeren Verband und war zugleich eine Wirtschaftsgemeinschaft (oeconomia), zu der neben der Frau, den Kindern, den Großeltern und anderen Verwandten ebenfalls das Gesinde oder die Sklaven gehörten. Der Vater bzw. der Hausherr (pater familias) besaß »Gewalt«, nämlich die Entscheidungsgewalt über die übrigen Mitglieder der Familie. Noch im Mittelalter und in der Neuzeit, also auch bei Luther, wurde die Familie als einer der drei Stände angesehen, in die sich die Gesellschaft aufgliederte.

Luther unterschied zwischen dem Ehe-, Familien- und Hausstand als einer Wirtschaftsgemeinschaft (oeconomia), dem Predigerstand (ecclesia) sowie dem Stand der Obrigkeit (politia). Er hielt den ehelichen Stand bzw. den Hausstand für die Basis der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung überhaupt: Die Haushaltung/oeconomia sei »Ursprung« von »Polizei und Stadtordnung«, von Fürstentümern und Königreichen.77 Zudem sei sie von Gott bereits vor dem Sündenfall im Paradies erschaffen worden. Dogmatisch ausgedrückt handelt es sich bei ihr also um eine supralapsarische Stiftung mit besonders hohem Rang und besonderer Würde. Demgegenüber wurde das weltliche Regiment, die Obrigkeit, im Luthertum im Allgemeinen als eine Schöpfungsordnung interpretiert, die erst nach dem Sündenfall zustande kam (dogmatisch: infralapsarisch; also nicht vom Ursprung, von Anfang an). Belangvoll war nun, dass Luther die von Gott gewollte Aufgabe des Hausvaters auf die weltliche Ordnung als Ganze, d. h. auf die Obrigkeit übertrug. Der Hausvater und der Fürst hätten vergleichbare Aufgaben zu erfüllen, nämlich »Nahrung, Haus und Hof, Schutz und Sicherheit« zu geben und zu erhalten. Weil die Obrigkeit ihrerseits von Gott eingesetzt worden sei, müsse ihr unbedingter Gehorsam geleistet werden, ebenso wie dem Hausherrn und Familienvater bzw. mehr noch als ihm. In seinem Großen Katechismus von 1529 bekräftigte Luther die Gehorsamsforderung mit dem 4. Gebot, dem biblischen Gebot der Elternehrung, weil die Obrigkeit bzw. der Landesvater »nicht ein einzeler Vater« sei, »sondern sovielmal Vater, soviel er Landsessen, Bürger oder Untertane hat.«78

(3) Als Stahl im 19. Jahrhundert Ehe und Staat miteinander verschränkte, rekurrierte er daher auf ein Gedankenmotiv, das sich schon bei Luther selbst fand. Es forderte Gehorsam sowohl gegenüber dem Haus- als auch gegenüber dem Landesvater. Im Ergebnis verfestigten die Ideen Luthers und des Luthertums jahrhundertelang das Paradigma des deutschen paternalistischen Staatsgedankens, auf den später ausführlich kritisch einzugehen sein wird.79

Es dauerte bis zur Aufklärungsepoche, dass die Analogiebildung Ehe/Staat hinsichtlich ihrer staatspaternalistischen Implikationen durchschlagend kritisiert wurde. Argumentativ krankt sie schon allein daran, dass sie die Deutungsebenen vertauscht und eine μετάβασις εἰς ἄλλο γένος, einen Gedankensprung vollzieht. Immanuel Kant legte dar, dass es ein kategoriales Fehlurteil bildet, die Nähebeziehung von Vater und Kind und die hier unterstellte »Gütigkeit« des Hausherrn auf eine andere Ebene zu übertragen, nämlich auf die der gesamten Gesellschaft. Dadurch komme für den Staat die Vorstellung einer »väterliche[n] Regierung (imperium paternale)« zustande, wobei »die Untertanen als unmündige Kinder« betrachtet, vom »Wohlwollen« des Herrschers abhängig gemacht und ihrer Freiheitsrechte beraubt würden. Kant hielt dies für »Despotismus«.80

(4) Obwohl Kants Kritik scharfzüngig und treffsicher war, verhinderte sie nicht, dass das Luthertum an der Verknüpfung von Ehe und Staat noch im 19., 20. und auch im 21. Jahrhundert festhielt. Dabei nahmen Lutheraner in Kauf, dass die frühere oeconomia, das Sozialgebilde von Ehe/Familie/Hausstand als bäuerliche oder handwerkliche Wirtschaftseinheit, im 19. Jahrhundert durch die bürgerliche Ehe und Kleinfamilie als Nachfolgeinstitution abgelöst worden war. Trotz der veränderten lebensweltlichen Realitäten galten sowohl die Ehe als auch der Staat in der lutherischen Ordnungstheologie des 19./20. Jahrhunderts durchgängig als die