Stadtrandritter - Nils Mohl - E-Book

Stadtrandritter E-Book

Nils Mohl

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Beschreibung

– Ein Ausflug in deinen Kopf, das wäre, glaube ich, ein Abenteuer! Mädchen trifft Junge wieder. Traum wird Wirklichkeit wird Albtraum. Am Stadtrand, dort, wo die Hochhäuser stehen. Ein Fest wirft seine Schatten voraus, und der Herbst kommt. Laub fällt. Regen, Regen, Regen. Und am Ende gerät die Zeit aus dem Takt, steht die Kirche in Flammen. Ein Kurzschluss? Brandstiftung? Die Folge all der Kreuzzüge, die im Namen von Eifersucht, Trauer, Rache und Überzeugung geführt wurden? Die Frage, die bleibt: Was, wenn sich alle bisherigen Gewissheiten in Rauch auflösen? Woran überhaupt glauben? Mohls neuer Roman, der für sich stehende zweite Teil seiner Liebe-Glaube-Hoffnung-Trilogie, ist ein atemberaubendes, genresprengendes Epos, das dem mehrfach preisgekrönten Vorgänger «Es war einmal Indianerland» in nichts nachsteht.

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Seitenzahl: 675

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Nils Mohl

Stadtrandritter

Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungHinweis– Woran glaubst du?Trailer #1Trailer #2Trailer #3Âventiure I Silvester |Der SchlüsselAnfang Oktober| The Making-of| The Making-ofÂventiure II Merle & Kondor |Die Auserwählten IAugust, SeptemberÂventiure III Silvester |Das SchwertAnfang Mitte Oktober| The Making-of| The Making-ofÂventiure IV Merle |Die AusfahrtEnde SeptemberÂventiure V Silvester |Der TraumMitte Oktober| The Making-of| The Making-ofÂventiure VI Merle & Kondor |Die Auserwählten IISeptember, OktoberÂventiure VII Silvester |Die KroneEnde Mitte Oktober| The Making-of| The Making-ofÂventiure VIII Merle |Das FestEnde OktoberÂventiure IX Silvester |Das FeuerEnde Oktober| The Making-of| The Making-of– …?!? ...Soundtrack
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Für meine Eltern, Elke und Holger Mohl

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Dieser Roman spielt hauptsächlich an einem Ort, der sehr an den Hamburger Stadtteil Jenfeld erinnert. Es gibt dort eine Kirchengemeinde «Der Gute Hirte», ein klimatisiertes Einkaufszentrum, einen Getränkebasar, Plattenbauhochhäuser, einen Bauspielplatz – und im nahen Öjendorfer Park findet tatsächlich von Zeit zu Zeit das Mittelalterspektakel «Spectaculum» statt; die fiktiven Schauplätze sollten mit den realen trotzdem nicht verwechselt werden. Viel mehr noch gilt dies für die Ereignisse und handelnden Personen. Der Pastor der Geschichte ist definitiv nicht nach dem Vorbild eines Menschen in diesem Amt gestaltet. Leben und Ansichten aller Figuren sind freie Erfindungen, eventuelle Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit zuweilen nicht einmal gewollt. In Jenfeld hat in diesem Jahrhundert nie eine Kirche gebrannt. Alles Literatur.

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– Woran glaubst du?

– …?!

– Vorschläge?

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Trailer #1

[0:57 Uhr, K16, ganz oben]

Wie in einem Traum, wenn man noch nicht wach ist und doch weiß, man träumt; man befindet sich hier und trotzdem auch woanders, kommt nie ganz nach drüben, weder auf die eine, noch auf die andere Seite. Kennst du das?

Kennst du das, wenn die Wirklichkeit durchscheinend wird?

Du fehlst.

Ich höre deine Stimme. Wie sie meinen Namen sagt. Fest und warm. Merle, Merle von Aue. Und was war, spult da oben bei mir ab.

Aus der Finsternis schälen sich zerklüftete Wolkengebilde. Hoch aufgetürmte Massive, hinter denen weit entfernte Sterne als matte Lichtpunkte den Nachthimmel sprenkeln. Spärliche Verkehrsgeräusche wehen heran. Wind pfeift um Betonecken, Oktoberwind. Flüstert mit der Balkonbrüstung, an der du und ich lehnen.

– Wie möchtest du sterben, Merle von Aue?

– Wie möchtest du sterben, Silvester Lanzen? Zahnlos und schrumpelig?

– Lang und qualvoll.

Stockwerk um Stockwerk um Stockwerk geht es zu unseren Füßen in die Tiefe. Mir dämmert, woran du denkst. An wen. Du hast es selbst erlebt, dass ein Mensch vor der Zeit geht, ganz plötzlich, ein geliebter Mensch. Ich sage:

– Ich bin 17, ich würde gerne uralt werden.

– Diese Vorstellung, sagst du, mittendrin: zack!, Sicherung raus und weg. Der Tilt. Ich will wissen, wenn es so weit ist.

Ganz unten im schummrigen Außenlicht des Hauseingangs kratzt Laub vor den Treppenstufen über Stein, tanzt im Kreis herum; ein Ringelreihen, gelenkt von unsichtbarer Hand.

– Ich will überhaupt nicht sterben, sage ich.

– Wer weiß, sagst du, vielleicht geht danach ja alles noch mal von vorne los.

– Du meinst, das volle Programm, von A bis Z?

– Na ja, gibt Schlimmeres, oder?

– Okay, ich nehme die ersten 17 Jahre ohne die letzten zwei Wochen. Frag mich lieber was anderes.

– Egal was?

Ein betont gelangweiltes Achselzucken von mir.

– Egal. Frag!

– Sicher?

Unter meiner Mütze lugt eine Haarsträhne hervor. Ich zwirbele sie mir um den Finger. Verscheuche die Gedanken an die Zeit seit deinem Geburtstag und das irre Hickhack zwischen dir und mir. Ich sage:

– Feuer frei!

Du legst den Kopf schief.

– Wann hattest du das letzte Mal Sex?

Ich schaue dir in die Augen, wickele die Haarsträhne noch ein bisschen fester, schenke dir ein Grübchenlächeln, extrasüß, stumm wie ein Püppchen.

– …

– Okay, hattest du überhaupt schon mal Sex, Merle von Aue?

Das gefällt dir gut: Kopfschieflegen und meinen Namen an deine Worte anhängen. Aber mir gefällt das auch. Ich sage:

– Kratzen wir unsere Initialen eben noch in die Brüstung, Silvester Lanzen? Ich muss langsam los.

Du lachst in dich hinein, auf diese typische Art, leise, stillvergnügt, während ich den Fahrradschlüssel hervorkrame.

– Ich wusste es, sagst du, ich wusste, du kneifst!

– Aha. Und wieso?

– Vielleicht haben wir das wirklich schon erlebt. Ich meine, hast du mal darüber nachgedacht? Wiedergeburt. Ewige Wiederkehr. Seelenwanderung. All dieses Zeug. Beschäftigt dich das?

– Ob ich als Krabbeltierchen zurückkehren will nach dem Tod?

Ich schüttle den Kopf, ritze probehalber mit der Schlüsselspitze den Stein, stupse dich an. Wird wirklich Zeit für den Rückweg, soll das heißen, mach schon mit. Du rührst dich aber nicht. Dein Gesicht! Es ist jetzt wieder ganz ernst.

– Woran glaubst du?

Ich (halb spitz, halb unschuldig):

– Das solltest du deine Freundin mal fragen, interessiert die bestimmt.

Die Sterne zwischen den Wolken, das kreiselnde Laub am Boden. Über uns und unter uns Abgrund.

– Eben nicht, sagst du, also?

– Also? Die Antwort … kennst du die nicht auch wieder im Voraus?

Du stößt dich von der Brüstung ab, gehst rüber zur dunklen Rückwand des Balkons, verharrst dort kurz. Drei Schritte entfernt von mir. Deine Erscheinung, dünn wie ein Papierhemd; dieser gefütterte Riesenparka, in dem du steckst!

– Komm, sagst du, trau dich.

– Ich verstehe nur Ritterburg, Silvester Lanzen.

Du gehst in die Hocke, lässt dich gegen die Wand fallen, rutschst daran hinab, bis du sitzt. Mir fällt auf, dass der Wind, der die ganze Zeit im Ohr gerauscht hat, für einen Moment aussetzt.

Keine Kälte auf der Haut mehr. Kein Geräusch. Nichts.

– Zugbrücke runter, Merle von Aue, woran glaubst du?

– Ich glaube, du willst mich rumkriegen.

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Trailer #2

[Nachgestellt: das Ende.]

Sirenengeheul, das durch die Nacht heranwehte, Böen verwirbelten die Rauchsäule über der eingerüsteten Kirche, heftige Böen; brennende Bauplanen schlackerten um Rohrstangen vor der fensterlosen Fassade, die Planken loderten. Das Feuer schlug, angefacht von den Windstößen, aus den Schächten am Boden empor bis zur Dachkante, rankte rauschend hinauf ins Dunkle, erblühte in elektrischem Orange. Die Gesichter der Menschen, der vielen, ausschließlich jungen Menschen auf dem Parkplatz an der Straße: verzerrt vom Widerschein der zappelnden und wild züngelnden Flammen, erhitzt von der Flucht aus den Kellerräumen, wo bis eben Bässe puckernd und meißelnd den Boden zum Vibrieren gebracht hatten, Musik durch die Gänge gesprüht, vor Minuten noch gefeiert, getanzt worden war. Der scharfe, süßliche Geruch in jeder Faser der Kleider jetzt. Ganz nah die Sirenen inzwischen, das Heulen; ein in die Adern fahrender Lärm. Vorn in der Menge, auf den silbernen Rüstungen der zwei Ritter vom Mittelalterspektakel, spiegelte sich eine Funkengarbe, wie Goldregen, und dann: Blaulicht. Feuerwehrleute sprangen von Löschzügen, rollten Schläuche aus, fluoreszierende Streifen an derber Schutzkleidung, Sicherheitsstiefel mit groben Profilsohlen. Klare Befehle an alle Umstehenden. Zurücktreten! Platz machen! Dazu Knisterstimmen aus Funkgeräten. Vermisste? Ein Trupp mit Atemschutzgeräten stampfte auf den Hintereingang zu, durch das Gewicht der Montur (samt gelber Sauerstoffflasche auf dem Rücken) in den Bewegungen eingeschränkt wie Harnischfechter. Maskenbrillen schirmten die Augenpartien ab. Beile, Karabinerhaken und anderes Zubehör baumelten an breiten Hüftgurten. Die Helme bestückt mit Klemmleuchten, in deren Lichtstrahl sich faseriger Qualm wie Trockennebel wand. Jemand auf der Wiese beim Pastorat schrie außer sich, irrte schreiend umher, leer der Blick, andere kamen hinzu, versuchten zu beruhigen, nahmen einander an der Hand oder in den Arm, zitternd, schluchzend, davongekommen, auf den Lippen nichts als hilfloses Stammeln und ein asche- und rußdurchsetzter Geschmack. Salz.

– Da unten! Ich glaube, da unten sind noch welche drin!

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Trailer #3

[1:49 Uhr, die fremde Wohnung, im Halbdunkel]

Wie beim Erinnern, wenn man sich in der Vergangenheit verliert und doch weiß, was kommt; man fällt aus der Gegenwart, ohne jemals ganz fort zu sein.

Du kennst das.

Kennt das nicht jeder? Die Zeit gerät scheinbar aus dem Takt, man geistert in ihr hin und her, rückwärts, vorwärts; ganz selbstvergessen, bis man sich mit einem Mal besinnt, und was war lebendig vor einem steht.

Du bist da.

Jemand berührt mit den Fingern dein Gesicht, Silvester Lanzen. Streicht dir über die Wange, wie um zu trösten.

Das bin ich. Merle.

Wir sind allein in dieser fremden Wohnung. Das Surren des Filmprojektors erfüllt den Raum. An der Wand gegenüber eine großformatige Kachel aus Licht. Schatten von Fusseln und Flusen wippen an den Rändern auf und ab. Im monotonen Rhythmus flappt das Ende eines Filmstreifens aus einer leer laufenden Spule.

– Warum haut einen das so um, Merle von Aue, das war alles abgehakt, wieso macht einen das so fertig?

Deinen Kopf hast du in meinen Schoß gebettet, liegst auf der Seite, die Beine angewinkelt, deine Füße berühren die Sofalehne.

– Ssscht, mache ich.

Etwas Feuchtes, das an meinem Handballen kitzelt. Ich verwische die Träne auf deiner Haut. Für mich waren es nichts weiter als verwackelte Aufnahmen von Fremden, dich hat es kalt erwischt; du hast die alten Filme vorher nicht gekannt, teilst jetzt ein Geheimnis mit mir. Ich überlege, mich über dich zu beugen, dir einen Kuss auf die Stirn zu geben.

– Gefallen dir Heulsusen eigentlich, Merle von Aue, echte Waschlappentypen, die Gefühle zeigen können?

Du hast dich zu mir gedreht, schaust mich an.

– Gib’s zu, sage ich, das ist doch alles bloß Masche.

Sage es leise. Zeichne deine Kinnlinie nach, ziehe dann die Hand zurück, berühre dabei das Tuch, das du um den Hals trägst.

Noch immer flappt der Filmstreifen gegen den Apparat.

– Alles Schauspielerei, sagst du, genau.

– Na klar, sage ich, in Wahrheit hast du mich natürlich nur hergelotst, um …

– … um dich rumzukriegen, ergänzt du.

– 18, ein paar Krümel und so durchtrieben, Silvester Lanzen, puh!

– Und, Merle von Aue? Funktioniert die Masche denn?

Die Schatten der Fusseln und Flusen wippen weiter auf und ab.

– Das könntest du mal abstellen, sage ich.

Du setzt dich auf, durchatmend, reibst dir zwei Mal kräftig übers Gesicht. Lehnst dich dann vor zum Wohnzimmertisch, streckst den Arm nach deinem Trödelmarktfund aus.

– Vielleicht geht es ja gar nicht um Sex, sagst du.

Klickst den Hauptschalter an der Seite des Projektors auf Aus.

– Ach!

– Zumindest nicht jetzt und hier.

Kein Surren mehr, kein Flappen. Die Kachel aus Licht ist von der Zimmerwand verschwunden. Du lässt dich zurück zu mir in die Polster sinken.

Diese Stille und Dunkelheit. Die Wärme, die dein Körper ausstrahlt.

– Ich darf nicht einschlafen, ich muss nach Hause, sage ich.

Mehr zu mir selbst. Rutsche im Sofa ein Stück nach oben, beiße fest auf meine Backenzähne, um ein Gähnen zu unterdrücken.

Deine Schulter tickt gegen meine Schulter.

– Du schuldest mir noch eine Antwort.

– Wegen deiner Masche? Ich muss dich enttäuschen, leider nein, funktioniert heute nicht. Netter Versuch trotzdem.

– Danke.

– Fast zu dramatisch für einen Flirt.

– Hm, das ist ja auch mehr, sagst du, ich bete dich an.

– Haha!

– Jetzt ist es raus, Freundschaft reicht mir auf Dauer nicht, Merle von Aue!

Ein Schweigen hält die Sache einen ganzen Moment in der Schwebe.

Dann sage ich:

– Ich glaube nicht, dass das so leicht geht.

– Womit wir wieder bei der Frage wären, sagst du, woran genau glaubst du überhaupt? Und ich meine nicht die Sache mit Gott und so weiter.

– An Vertrauen? Freundschaft? An Treue. Und ich möchte dich jetzt nicht allein lassen, aber …

– Aber?

Du machst dir am Knoten deines Halstuchs zu schaffen, öffnest ihn.

– Es geht nicht gut aus, wenn ich noch bleibe, sage ich.

Beobachte, was deine Hände tun, sehe sie näher kommen. Spüre jetzt den weichen Stoff, der den Geruch deiner Haut verströmt, auf meiner Haut, während du das Tuch in meinem Nacken bindest; dieses Dreieckstuch, das vorhin auch im Film zu sehen war, an jemand anderem.

– Was geht schon gut aus, Merle von Aue?

– Nichts?

– Nichts. Aber bis dahin glaubt man trotzdem an das Gegenteil, oder? Was immer das heißt.

Ich finde es schön, wie du deine Stirn in Falten legen kannst dabei. Und zugleich stört es mich ein bisschen. Du weißt, wie das geht: mich angucken, als könntest du in mir lesen.

– An das Gute, sage ich.

– Das ist das völlig Irre an uns, ja, sagst du, wahrscheinlich schon, für das Gute opfern wir uns gerne auf, um weniger allein zu sein.

– Daran glaubst du?

Deine Hand streicht inzwischen eine Strähne hinter mein Ohr, während dein und mein Blick sich treffen und nicht voneinander lassen.

– Wie du guckst, Merle von Aue. Visier hoch, daran glaubst du doch auch!

– Ein Ausflug in deinen Kopf, das wäre, glaube ich, ein Abenteuer!

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Âventiure ISilvester |Der Schlüssel

Anfang Oktober

|Samstag, drei Wochen vor Ausbruch des Feuers

Silvester liegt auf dem Sofa, noch in den Klamotten vom Vorabend (abgesehen von Schuhen, Dreieckstuch und Parka), Augen geschlossen. Blind lauscht er durch die Wohnungstür das Treppenhaus hinunter, hört Schritte drei Stockwerke tiefer und wie die schwere Haustür im Erdgeschoss hinter jemandem zuschnappt.

– Merle …

Die zwei Silben: ein kaum vernehmliches Flüstern.

Silvester tastet (dabei ein Lächeln im Gesicht und ohne die Lider auch nur einen Spaltbreit zu öffnen) mit den Fingerspitzen über den Kissenbezug neben sich. Die Rezeptoren der Unterhaut melden ans Hirn: eine Mulde, noch warm, verlassen. Draußen rasselt ein Fahrrad über das unebene Pflaster davon.

Silvester begreift: Sie ist weg.

Er blinzelt kurz in die Welt hinaus, ins Dunkle um ihn herum. Nur ein wenig schummriges Licht von den Straßenlaternen sickert am heruntergelassenen Rollo vorbei ins Zimmer. Silvester stellt sich die Wirklichkeit dahinter vor: die beiden Hochhausblocks über Eck, die sich zu einem burgartigen Karree schachteln.

Graue Waschbetonplatten, gleichförmige Fassaden.

Fenster neben Balkonen neben wieder Fenstern, Balkonen und noch mehr Fenstern. Der Innenhof: eine schmutzig grüne Rasenfläche voller Maulwurfshügel. Mittendrin ein paar Bäume in letztem Laub, zwei steinerne Tischtennisplatten, ein Spielplatz: Schaukel Rutsche Klettergerüst.

Alles noch menschenleer um diese Zeit. Alles friedlich, beinah still. Nur von der nicht weit entfernten Autobahn summt es dumpf und eintönig. Ab und zu fährt auch ein Wagen auf der nahen Ausfallstraße vorbei.

Silvester nimmt die Geräusche kaum wahr, hat Merles Stimme im Ohr, ihr helles Lachen, bei dem die Grübchen so rund werden wie die feinen Ausbohrungen in einem Mensch-ärgere-dich-nicht-Würfel.

– Du lebst seit deiner Geburt hier, und du hast das noch nie gemacht, fragt Merle, wirklich noch nie?

Auf dem Weg zum höchstgelegenen Etagenbalkon von K16 (diesem Koloss, der alle Gebäude der Siedlung um Längen überragt) ist das gewesen. Erst ein paar Stunden her. Drei, vier vielleicht? Fünf höchstens.

Die verkratzten und vom vielen Anfassen ganz stumpfen Handläufe.

Das fahle Licht.

Die abgewetzten Stufen.

Der Widerhall der Schritte von den beschmierten Wänden.

– In diesen Treppenhäusern riecht es immer nach Suppe, sagt Silvester, ist dir das schon mal aufgefallen? Außerdem habe ich latent Höhenangst, ich war bislang nie sonderlich scharf auf so eine Klettertour …

Mehr als 320 Stufen, hat Silvester getippt. Merle: über 360. Sie gewinnt. Artig gratuliert Silvester. Nach beinah 400 Stufen treten sie, beide außer Atem, an die Brüstung. Der Blick geht weit über die nächtliche Siedlung.

– Wow, sagt Merle, gib’s zu, das hat was.

– Zugegeben, sagt Silvester, die Häuser steigen aus der Landschaft wie anderswo Kirchtürme, und der Kirchturm sieht aus wie anderswo Hochhäuser, ein Klotz aus Beton. Welch ein Zuhause!

Silvester wohnt mit seiner Mutter im Südturm des Einkaufszentrums, keine fünf Minuten zu Fuß entfernt von der Wohnung, in der er jetzt die Nase in das Kissen presst, auf dem Merles Kopf gelegen hat. Er riecht den Horngeruch und die Spur eines Shampoos. Wildblüten?

Merle dürfte genau in diesem Moment unter der sanft geschwungenen Brücke durchfahren, die sich über die breite Straße beim Einkaufszentrum spannt. Wie ein absurd überdimensionierter Torbogen wirkt sie von weitem. Und tatsächlich markiert diese Fußgängerbrücke die unsichtbare Grenze, die den Stadtteil in zwei Hälften teilt.

Hier: die neuere Hälfte, sozialer Wohnungsbau, die Hochhäuser, K16, eine ausgediente, ungenutzte Kaserne, der Park. Dort: die ältere Hälfte, Doppelhäuser, Einzelhäuser, die meist wie die Doppel- und Einzelhäuser links und rechts von ihnen aussehen, sogar ein paar Villen gibt es, dazu ein Seniorenheim, die Fernsehstudios und das Eiscafé, in dem Merle jeden Sonntag jobbt. Auch der Gute Hirte steht hier.

Merle entfernt sich in Silvesters Vorstellung rasch in diese Richtung. Sie wohnt in der Nähe der Kirche in einer Seitenstraße.

Die vor Kälte vermutlich stark geröteten Wangen. Der Bommel der Mütze. Die im Wind flatternden Ohrenklappen. Vor allem aber die darunter hervorlugenden Locken. Silvester hat auch dieses Bild klar vor sich. Merle von Aue!

– Der Gral.

Das hat er bei der Septemberausfahrt ans Meer (halb im Scherz) zu Kamp gesagt. Kurz vor seinem Geburtstag war das, noch keine zwei Wochen her. Der Pastor hat den Rauch seiner Zigarette in die Luft über ihren Köpfen geblasen.

– Und deine Freundin?

– Domino? Sie will nicht alles wissen. Domino ist super. Auf ihre Art. Sie verlangt auch nicht, dass ich Dinge sage, die ich eigentlich nicht fühle.

– Sagst du ihr denn, was du fühlst?

Silvester hat beinah tonlos gelacht. Und dann wieder ernst geantwortet:

– Zum Glück nicht! Nein. Aber sie weiß natürlich, dass ich früher schon für Merle geschwärmt habe, als wir noch Konfirmanden waren.

Erneut blinzelt Silvester.

Dominos Wohnung. Dominos Möbel. Dominos Fernseher, der an der Wand gegenüber prangt wie ein geschwärztes Altargemälde. Das alarmrote Lämpchen unten rechts am Gehäuse glüht.

– Hmm!

Silvester angelt sich eine Wolldecke vom Fußende des Sofas, rollt sich hinein, krümmt sich in Fötusstellung zusammen.

Noch ein leiser Seufzer. Mit einem großen Anteil Zufriedenheit darin.

Herbstferien. Samstag.

Wäre Merle noch da, er würde sie jetzt bitten, ihn zu kneifen. So aber wirft er sich einfach herum, dass das Sofagestell aufquietscht, und es dauert nicht lang, da spürt er die schwere Müdigkeit in seine Knochen zurückkehren.

Merle muss inzwischen bestimmt schon, durch die bereits stark gelichteten Kronen der Bäume an der Straße, den offenen Turmkopf des Guten Hirten erkennen können: Die Glocke hängt oben (zwischen zwei Betonplatten) an einer Metallstange. Auf der Zinne darunter: das gedrungene, steingraue Kreuz. Noch ein Stück tiefer: ein weißer Uhrenwürfel. Die schwarzen Zeiger werden dicht beieinanderstehen.

Halb sechs war es eben. In ein paar Stunden hebt das Flugzeug ab: Eine Woche lang wird Merle mit ihren Eltern und ihren Brüdern verreist sein.

Silvester denkt an das Auf und Ab der letzten Zeit, vermisst umso mehr den schlafwarmen Körper neben sich, sinkt nach einer Weile dennoch wieder hinab in einen dämmrigen Zustand, spinnt sich ein in einen Kokon aus faserigem Halbschlaf, in dem die Bilder ineinander verschwimmen.

Aus einer Perspektive, die er selbst nie eingenommen haben kann, sieht er Merle und sich noch einmal dabei zu, wie sie in der Nacht zu zweit auf Merles Rad, einem rostigen Herrenrad, durch die leeren Straßen radeln. Schräg von oben und von der Seite: sie auf dem Sitz, er auf dem Gepäckträger. (Merles Oberkörper, der vor Anstrengung im Rhythmus der Tritte hin und her pendelt.) Sie lacht, flucht über den störrischen Stahlgaul, bremst.

Wechsel. Frontal von vorn: er auf dem Sitz, sie auf der Rahmenstange. Das Vorderrad schlingert. Aber sie kommen voran, passieren unter Johlen die verlassene Kreuzung beim Einkaufszentrum, wo die Ampeln nur noch blinkendes Orange in alle Richtungen senden.

Der Mond über K16 hat vergessen unterzugehen; silbrig und vor Übermüdung ganz blass schwimmt das abgeflachte Halbrund im Schwarz hinter tiefhängenden, nachtgrauen Wolken.

Auf der Erde fegen Blätter über den Asphalt: Papierschnitzeln gleich, die in einen Schlauch gesaugt werden. Gelbes Licht in kleinen Pfützen auf dem Fußweg.

– Das sieht nicht nur im Film nach etwas aus, hört Silvester eine Stimme gegen Fahrtwind Kettengeschnurre Schutzblechklappern anrufen.

Ist das er selbst? Ist sie das?

Aus dem Fahrrad, aus dem Stahlgaul, wird ein Pferd aus Fleisch und Blut und gesprenkeltem Fell. Ein Apfelschimmel.

Merle trägt ein Kettenhemd, überkniehohe Langschaftstiefel, deren kompakte Fußteile fest in den Steigbügeln sitzen. Silvester ist splitternackt, was ihn verblüfft, aber nicht unangenehm berührt, seine Haut jedoch glänzt (und zwar nur am Rumpf) schwarz wie Teer, und er hat Sorge, dass Merle das bemerken und es sie verstören könnte, klammert sich, so fest es geht, mit den Armen (kalkweiß sind sie, registriert er erleichtert, zum Glück!) an sie, die ihrerseits nun entschlossen den Rennspieß (mit der geringelten Bemalung und der scharfen Silberspitze) senkt.

Silvester erkennt nicht, auf wen sie zugaloppieren.

Hört allerdings Hufgetrappel. Wer kommt ihnen dort entgegen?

Die Augäpfel zucken hinter den geschlossenen Lidern.

Noch weiß Silvester, wo er sich befindet, dass er nicht schläft. Und döst dann, sehr bald schon, doch ganz hinüber, fällt zurück ins Unbewusste seiner Träume, in tiefen Schlaf. Bis ihn der Lärm weckt, den Domino bei ihrer verfrühten Rückkehr mit dem Rollkoffer veranstaltet. Das schwergewichtige Ding schlägt gegen Fußleisten.

Silvester schreckt auf.

– Domino …! Zurück …? Heute schon?

Das Knirschen und Wimmern der Räder, als das Gefährt über das Laminat ins Wohnzimmer gezogen wird. Das Hochschnellen des Rollos. Dämmerlicht, das in den Raum stürzt wie ein schlaftrunkenes Kind. Dann eine Stille, die nichts Gutes verheißt.

+

Keine Frage, Silvester sieht es: Sie bittet ihn mit ihren gesprenkelten Mandelaugen, die Wahrheit durch eine harmlose Erklärung in ein lächerliches Hirngespinst von ihr zu verwandeln. Finde für das alles schnell einen Zauberspruch, auf dass der Spuk vorbei ist. So guckt sie. Und er sagt etwas in die quälende Wortlosigkeit hinein. Es folgt allerdings kein erleichtertes Aufatmen.

– Sil, das ist so originell, wie eine Leiche in einen Teppich einzurollen.

Domino kommt genau einen Tag zu früh zurück, denkt er. Während sie wohl denkt (glaubt Silvester): genau einen Tag zu spät.

– Ich weiß, Dom, sagt er, aber es ist nun einmal so: Nichts war. Nada.

Sie lehnt an der Zarge der Wohnzimmertür, klemmt sich ihr tintenschwarzes seidiges wirbelloses Haar auf der einen Seite zurück hinter das Ohr.

– Ihr hättet doch wenigstens bei Fräulein zu Hause euren kleinen Kinoabend veranstalten können!

– …

Silvester stöhnt. Fräulein ist Dominos Name für Merle. Mittlerweile ganz klar ein Schimpfwort. Domino feuert nach:

– Du trägst kein Halstuch! Nimmst du das zum Fernsehen neuerdings ab?

– …

Treffer. Silvester hat es Merle mitgegeben. Als Andenken. Und Merle hat im Gegenzug etwas für Silvester dagelassen, wovon er noch nichts weiß. Bis Domino ihm die kurze Notiz vorliest, die sie auf dem Sideboard im Flur gefunden, die Merle dort für Silvester platziert hat.

– Wenn ich zurück bin. Im Eiscafé. Samstag. Drei Uhr. Okay? M.

Domino zückt ein Feuerzeug, dreht das knirschende Rädchen, hält die Flamme gegen das Papier. Es entzündet sich, lodert hell auf. Domino muss schnell sein, um es in den Aschenbecher zu legen, bevor sie sich verbrennt.

– Danke, dass du es mir wenigstens vorgelesen hast.

Es ist das i-Tüpfelchen. Aber auch ohne diese Nachricht wäre die Sache klar. Zwei Teebecher, eine leere Eispackung, aus der zwei lange Löffelstiele ragen. Plus der Filmprojektor auf dem Tisch.

Domino ist noch nicht ganz heimgekehrt, hat kaum die Jacke abgestreift und über den Stuhl gelegt, da weiß sie: Silvester hat mit Fräulein die Nacht verbracht. In ihrer Wohnung.

– Und ich habe sie alle deinetwegen gescheucht und bekniet, ich dumme Kuh.

Ihre erste aufwendige Außenaufzeichnung.

Domino arbeitet in der Aufnahmeleitung bei den Fernsehstudios. Ihre Mutter ist dort Maskenbildnerin, hat ihr geholfen, einen der begehrten Ausbildungsplätze an Land zu ziehen, als Domino mit 16 den Schulabschluss in der Tasche hat. Inzwischen ist sie 20 und fest angestellt. Damit sie früher zurückkann, hat sie die Produktionsleiterin überreden müssen.

– Letzte Woche war das alles doch noch so unglaublich wichtig, Dom.

Silvester wundert sich.

– Mein Part war so weit durch, und es ist schließlich nicht irgendein Datum, sagt Domino spitz, wir sind vor genau einem Jahr in diesem Baumhaus gewesen, Sil. Vergessen?

Fügt hinzu, dass sie Tod, Teufel und alle Timings in Bewegung gesetzt habe, um jetzt schon bei ihm sein zu können.

– Klar, sagt er, furchtbar lieb von dir, Dom.

Es klingt bescheuert. Was er sagt. Und wie er es sagt.

Silvester spürt ein Bauchflattern, beißt sich auf die Lippe. Aber die Worte sind ausgesprochen. Also bemüht er sich, so gut es geht, um Gefasstheit. Greift nach einer Flasche Wasser, die neben dem Sofa steht, schraubt sie gemächlich auf, trinkt.

– Lieb von mir, ja, sagt sie, und jetzt sei du auch so lieb und erzähl wenigstens die Wahrheit. Warst du der Erste für Fräulein? Hat es ihr Spaß gemacht?

Diese Wut und Wucht im Blick. Ein krasser Gegensatz zu ihrer Zierlichkeit. Dominos Körper ist dünn, beinah ähnlich brustlos wie sein eigener; und unfassbar biegsam. Aber mehr als alles andere an ihr liebt er die Augen. Kann sich nie sattsehen an ihrem eleganten, tatsächlich mandelförmigen Zuschnitt unter den grazilen Brauen. Das Erbe ihrer vietnamesischen Vorfahren.

– Was ist mein bestes Feature?

Das hat Domino ihn gleich nach ihrer ersten Nacht gefragt. Damals ist sie für ihn noch die früher beste Freundin seiner Schwester Kitty gewesen. Er hat gesagt:

– Deine Retinae.

– Das machst du absichtlich, oder?

– Diese Ausdrücke? Ja.

– Was ist denn das Tolle an meinen Retinae?

– Ihre Farbe. Dieser perfekte Cola-Ton. Einfach süß.

Dafür hat sie ihn geküsst und hinterher erneut mit enormer Heftigkeit die schlanken Glieder um ihn gewunden. Mit dieser Energie ist sie vor zwölf Monaten zurück in Silvesters Leben gekracht. Eine Naturgewalt.

Silvester weiß, dass Domino lange nicht gerade als Kind von Traurigkeit galt. Bis zu dem Tag, an dem Silvester und sie zusammenkommen, ist Domino nie länger mit jemandem zusammen gewesen. Zuerst hat Silvester ihre Beziehung deshalb auch eher für ein Abenteuer gehalten, das maximal ein paar Wochen halten wird. Aber sie bleiben ein Paar, obwohl Domino und er kaum Interessen teilen. Was immer wieder Anlass zu Kabbeleien gibt.

– Gehen wir aus?

– Keine Lust, Dom. Warum liest du nicht auch einfach mal ein Buch?

– Wer Bücher liest, lebt nicht, los, hopp, aufs Sofa.

– Sobald du die Kiste ausstellst.

Ihr ausgestreckter Zeh nähert sich dem Powerknopf am Fernseher. Der seidene, mit Drachen-Motiven bestickte Kimono rutscht von den Oberschenkeln.

– Nur, wenn ich dir die Kleider dann vom Leib reißen darf, sagt sie, komm her!

Dominos Freizeit besteht aus Couch Fernseher Motorroller Fitnesscenter und (an den Wochenenden) Clubs. Silvester, noch Schüler, zieht es stattdessen zu den Gleichaltrigen in den Guten Hirten, mit denen Domino nichts anfangen kann.

Deshalb behakeln sie sich ebenfalls regelmäßig.

Wenn er sich freitags zum Knappentreffen der Jugendgruppenleiter aufmacht. Oder einmal im Monat samstags zum Konfirmandenunterricht. Oder immer sonntags zum Kinoclub. Meist beginnt es damit, dass Domino ihn aufzieht.

– Ich bin drauf und dran, den Sektenbeauftragten der Stadt anzurufen, sagt sie, ich kenne wirklich niemanden unter 79, der freiwillig so viel Zeit in muffigen Gemeinderäumen verdödelt wie du. Was haben diese Leute nur, was ich nicht habe?

– Nicht schon wieder, Dom.

– Paukt ihr Bibelverse?

– Kein Sex vor der Ehe!

Silvester hat den Zeigefinger mahnend erhoben und die Stimme gesenkt.

– Ist gut, ist gut, gickelt Domino, ihr seid keine abgedrehten Jesus-Freaks, die Bibelverse pauken. Aber was seid ihr, mein kleiner Heiliger?

– Naive Weltverbesserer. Was willst du hören?

– Ihr lasst Teenager mit Pappe und Klebestift basteln! Was ist der Kick?

– Wir finden uncool sein cool.

– Spinner! Kirchen sind groß, Kirchen sind dunkel, Kirchen sind kalt, Kirchen sind langweilig. Ist das die neue Coolness?

– Wir sind ja mehr die Kellerkinder aus den Katakomben. Stell dir das vor wie ein Spielparadies im Möbelhaus, nur für Ältere. Billardtisch, Kicker und Dartscheibe statt Rutsche, bunter Bälle und Trampolin.

– Horror. Hör auf!

– Gerade die Mädchen fahren voll drauf ab. Die finden Kamp natürlich sexy. Und das hat für uns Jungs durchaus Vorteile.

– Der Pastor? Der hat doch auch schon Rost an der Rüstung. Obwohl, seine Figur kann sich sehen lassen, stimmt. Und wer Teddybäraugen mag, okay.

– Komm mit, schau dir die Leute an.

– Ich fahre dich lieber rum, gebe dich ab und geh dann in der Zwischenzeit shoppen. Aber du kannst mich jederzeit ausrufen lassen, mein Schatz!

– Dann fahr mich rum.

Zum Abschied vor der Kirche hat Domino Silvester dann gerne noch mal (mit absichtlich übertriebener Leidenschaft) die Lippen auf den Mund gedrückt:

– Na, sagt sie, ein Quickie hinterm Taufbecken? Wie wär’s?

+

Der Rollkoffer mitten im Raum: ein Grabstein ohne Inschrift. In der Luft hängt weiter der Geruch von verbranntem Papier.

– Warum hast du nicht angerufen, Dom?

Dominos Arme sind verschränkt. Sie hat sich ein Kaugummi in den Mund geschoben, mahlt angestrengt mit den Kiefern.

– Warum ich nicht angerufen habe? Du gehst doch sowieso nie an dein Telefon, fährt sie ihn an.

– …

Silvester widerspricht nicht. Man kann sich leicht vorstellen, findet er, dass sie in der Lage wäre, Ziegel mit der Handkante zu spalten. Besonders, wenn sie auf 180 ist.

Und der nächste Vorschlag, den er ins Rennen wirft, bringt sie locker über diese Marke.

Sie stemmt die Fäuste in die Hüften:

– Auszeit? Was soll das heißen, sagt sie, wann sehen wir uns dann deiner Meinung nach wieder?

– Je nachdem. Nächsten Monat? Gar nicht?

– Sei nicht albern. Was soll das bringen?

– Was ist daran albern, Dom?

– Hast du mit ihr geschlafen?

– Und wenn nicht?

Inzwischen steht Silvester strumpfsockig am Esstisch. Domino lehnt in roten Rüschenstiefeletten an der Heizung vor dem Fenster.

Er ist nah genug, um ihr Deo zu riechen.

– Wenn nicht, dann kann ich nur sagen, wie dumm von ihr, ätzt sie, dann hat Fräulein was verpasst.

Er denkt an die nächtliche Fahrradfahrt, an Merles Freude über die Aussicht von K16, an das Leuchten ihrer hellgrünen Stachelbeeraugen.

Ist es das?

Von Merles wacher Neugier fühlt man sich eingeladen. Auf Merle möchte man ständig zugehen, sie spaßhaft in den Arm zwicken, um von ihr dafür gegen die Schulter geboxt zu werden, und natürlich möchte man dieses Merle-Lächeln andauernd sehen. Die Grübchen.

Silvester möchte das.

Und ist da nicht noch mehr?

Wie Merle vorhin erschrocken ist, nachdem Silvester die Filmrolle vom hochgeklappten Spulenarm gehoben hat; das runde Teil lässt sich leicht mit nur einer Hand fassen, wiegt beinah nichts. Plastik.

Merken, dass die Hand zittert.

Dass sie leer ist.

Dass die Filmrolle weggefeuert wurde, blind weg, mit voller Wucht (von einem selbst). Noch hören, wie etwas hart gegen die Wand prallt, am Boden aufkommt, ein paar Hüpfer macht, Film abribbelt.

Nach einer Weile drückender Stille ist Merle dann zuerst aufgestanden, hat den Beutel mit den restlichen Filmen geholt, ihn dort, wo Domino jetzt auch steht, für Silvester aufgehalten. Merle mit dem Dreieckstuch um den Hals. Die ganz praktisch entscheidet, was als Nächstes zu tun ist. Die ihr Erschrecken einfach abschüttelt, noch bevor seins überhaupt einsetzt.

– Es gibt Dinge, die höher sind als Sex, Dom.

Sie guckt ihn plötzlich fragend an. Und dann sagt sie ihm auf den Kopf zu, er habe mit Fräulein auf ihrem Sofa geschlafen: gefickt. Und sie verlange, dass er das zugebe, sie wolle es von ihm hören. Alles andere würde sie verrückt machen.

– Und komm mir jetzt bitte nicht mit fehlenden Gemeinsamkeiten, tiefsinnigen Gesprächen und diesem ganzen Blabla, fährt sie fort. Du willst dich auf ihrem Schoß zusammenrollen? Dann roll dich auf ihrem Schoß zusammen. Geh!

– Wie du meinst, sagt er, trotzdem bleibe ich dabei, ich habe es zwar zu weit gehen lassen, es war aber nichts.

Er spürt den Druck auf den Ohren. Er findet selbst, es klingt wie eine Lüge.

Pause.

Sehr lange Pause. Bis Domino hervorbringt:

– Ich wünschte nur, ich könnte auf dich verzichten, Sil, kann ich aber nicht.

Das ist die Chance. Die Gelegenheit nach den vielen halbherzigen Versuchen der letzten Zeit, ausnahmsweise einmal keinen Rückzieher zu machen, ihr endlich zu beichten, was er fühlt und was er nicht mehr fühlt.

Nur, was fühlt er?

– Dom, sagt er, ich bin ein Arschloch. Tut mir leid.

Silvester betrachtet ihren gerade emporstrebenden Hals. Die zarten Schultern, die sich unter dem dünnen Blusenstoff abzeichnen, als sie mit den Besenstiel-Armen zurück in den roten Stutzer schlüpft: Die Wolljacke besitzt eine Doppelreihe von je drei großen Knöpfen.

– Wenn ich zurück bin, möchte ich, dass du aufgeräumt hast. Und schmeiß bitte die Wolldecke in die Waschmaschine, Sil!

Domino fädelt, während sie spricht, sehr sorgfältig die dunklen Knöpfe in die schlitzförmigen Löcher, ohne Silvester aus den Augen zu lassen.

– Also ehrlich, Dom, du wirst keine Spermaflecken finden, und wenn du zurück bist, bin ich weg.

Sie neigt den Kopf zur Seite, fixiert ihn starr.

Das ist zu viel.

Sie öffnet das Fenster. Greift Decke und Kissen vom Sofa, wirft alles nach draußen. Schnappt sich an der Garderobe ihren silbernen Fiberglashelm mit dem schwarzen Schirm. Der Klick-Schnellverschluss für den Kinnriemen schlägt gegen den Türrahmen, als sie aus der Wohnung stürmt.

Silvester wartet. Wartet auf den finalen Donnerhall, der ausbleibt.

Domino kehrt zurück. Mit schlanken Schritten.

– …?

Kommt zu ihm, küsst ihn, kurz nur, flüchtig, wie eine Frau, die zur Arbeit geht.

– Bis später, Sil.

Als sie das zweite Mal auf dem Absatz kehrtmacht, glaubt Silvester fast nicht mehr daran, dass sie die Wohnung überhaupt verlassen wird. Sie schiebt ihm die Zunge in den Mund. Silvesters Hose wird eng. Der Jet-Helm schlägt gegen sein Knie.

Dann stößt Domino sich unvermittelt mit der freien Hand von seiner Brust ab. Er solle die Sachen draußen nicht vergessen, sagt sie im Davonrauschen, er dürfe sie wieder reinholen, sobald sie ausgelüftet seien.

Ihre Worte haben ihn kaum erreicht, da rummst auch schon die Wohnungstür zu, nun doch. Die Druckwelle lässt Becher und den Eisbecher und die Löffel auf dem Tisch erzittern.

Draußen startet Domino die Rosinante, gibt stoßweise Gas, fährt an.

Silvester lauscht dem sich entfernenden Nähmaschinengesang des Scooters.

Schließt das Fenster, setzt sich.

Sitzt eine Weile einfach am Tisch, dreht eine von Dominos Haarnadeln in den Fingern und lauscht hinaus in die Siedlung.

Das leise Rauschen einer Klospülung bei den Nachbarn. Das Auftappen eines Tennisballs auf den Gehwegplatten vor dem Haus.

Der Tag steckt noch im Nachthemd. Nicht einmal richtig hell ist es.

Silvester erhebt sich, schaltet Licht an, blickt sich um in der Wohnung, die ihm (mehr denn je) wie ein Bühnenbild vorkommt, in das man ihn hineingesetzt hat. Wie gut alles zueinanderpasst: von den Lampenschirmen über Sofa Kommode Regal bis hin zum Übertopf für die Zimmerpalme.

Ein paar Zeitschriften liegen aufgefächert in einer Bodenschale neben dem Sofa. Mit Ausnahme vielleicht der Haarnadeln auf dem Esstisch und den Bildern darüber weckt nichts besondere Wärme in Silvester.

Er tritt dichter an die gerahmten Fotografien heran. Vier Porträts. Arrangiert als Quartett in zwei Reihen.

Kitty. Silvester.

Bozorg. Domino.

Bozorgs heller, europäischer Teint. Dominos deutlich dunklere, asiatische Pigmentierung. Kittys kastanienbrauner, afrikanischer Hautton.

Und was ist mit Silvester selbst? Obwohl die Ähnlichkeit unübersehbar ist, obwohl Kitty und er dieselben Eltern haben, verblüfft es ihn immer wieder, dass seine große Schwester und er so unterschiedlich aussehen.

Sie schwarz, er weiß. Ganz klar.

Und doch auch wieder nicht. Ein Hauch von Karamell mischt sich in sein Weiß. An die Farbe von Honig lässt Silvester das immer denken, diese blasse Sorte, die nur ein wenig goldbraun schimmert. Doch das allein wäre es noch nicht. Das Kraushaar aber: Das natürlich verrät ihn. Obwohl die Locken hell sind.

– Blonder Neger!

So haben sie ihn in der Grundschule gehänselt. Und er hat sich lange gefragt, ob es wirklich ausschließlich die Haare sind.

– Du bist anders als die meisten.

Das hat auch Merle letzte Nacht gesagt. Sicher keine Anspielung auf sein Aussehen, dennoch ist er zusammengezuckt.

– Was meinst du genau? Wieso bin ich anders?

Mondlicht fällt auf die Hochhäuser. Die Betontürmchen der Siedlung: lauter sehr unterschiedlich weit abgeschliffene Zahnstümpfe. Silvester wendet sich Merle zu. Ertappt sich bei einem halben, nach innen gerichteten Lächeln.

Merle überlegt. Er strahle so etwas aus; halb arrogant, halb traurig wirke das, sagt sie nach einer Weile, ziemlich besonders, ziemlich unwiderstehlich, leider.

– Ist Kitty auch so gewesen?, fragt sie.

– Kitty war eher wie du, sagt er, fast immer fröhlich.

– Ich wünschte, ich hätte sie noch richtig kennenlernen können.

Und mit diesem Merle-Satz hinter der Stirn macht Silvester sich schließlich ans Aufräumen. Denkt, als er später den Parka überzieht und ein letztes Mal das Quartett an der Wand betrachtet: Bozorg hat sie gemacht, die vier Fotos, sogar das von sich, mit Selbstauslöser, hat den Blick dafür gehabt. Denkt (wie so häufig): Wo Bozorg wohl steckt, was er macht, wie es ihm geht?

Dann schaltet Silvester das Licht aus.

| The Making-of

Silvester über … Silvester (I)

Was ich toll finde an ihm? Dass er sich nicht so einfach unterkriegen lässt. Silvester Lanzen (18) wächst ohne Vater auf, verliert als Teenager dann auch noch seine ältere Schwester Kitty, und all das macht ihn schon zu einem eher nachdenklichen Typ …

Keine Frage: Kitty war eine ganz wichtige Bezugsperson für ihn: Sie spielt rührend mit Silvester, als er klein ist, bringt ihm später das Radfahren bei, schmiert Schulbrote, hilft bei den Hausaufgaben. Sie tut es, weil ihre Mutter zu kämpfen hat, um die Kinder und sich überhaupt über Wasser zu halten; außerdem liebt Kitty ihren drei Jahre jüngeren Bruder abgöttisch. Kaum vorstellbar, was dieser Verlust für ihn bedeutet. (Denkt nach.) Beeindruckend auf jeden Fall: Der Lebensmut verlässt Silvester nie …

Trotzdem: Er hat zwei Gesichter. Zuweilen zeigt er beide gleichzeitig. Dann hat er diesen traurigen Blick drauf und sein gewinnendes Lächeln. Eine Kombination, die ankommt beim anderen Geschlecht. Ja, er kann wortgewandt und witzig sein, wenn er gut drauf ist. Kann sich aber auch als echtes Ekel aufführen und die Zähne nicht auseinanderkriegen. Oft versteht er sich selber nicht. Und das hat nun weniger mit Kittys Tod zu tun. (Lacht.) Ich sag mal: So bist du als Junge mit 18 einfach, oder? Eine merkwürdige Ansammlung widersprüchlicher Ichs.

Vor dem Eingang das kraftlose Leuchten vom beinah farblosen Himmel. Der Atem kondensiert hauchzart vor dem Mund. Silvester stellt den Beutel mit dem Projektor und den Filmrollen ab, hebt eine der Klappen an der Briefkastenanlage (vierte Reihe von unten, rechts außen), zögert nur kurz.

Blickt hinüber zu dem Mädchen, das allein neben der Sandkiste mit einem Tennisball spielt. Eben noch hat er die ausgelüftete Decke und die zwei Kissen im Vorgarten eingesammelt, alles wieder hochgeschleppt und sorgfältig hinter sich abgeschlossen; jetzt wirft er den Wohnungsschlüssel (Dominos Geschenk für ihn zum Geburtstag) entschlossen in die dunkle Öffnung.

Metall schlägt auf Metall.

Als wenn Klingen gekreuzt werden. Das war’s.

– Abenteuer vorbei, sagt Silvester im Stillen.

Die Worte lösen etwas in ihm aus, das sich anfühlt wie ein Stromstoß hinter der Stirn. Ein allerletzter Blick hoch zu den Fenstern im dritten Stock.

Auch Bozorg hat, bevor er aufgebrochen ist, eine ganze Zeitlang hier gelebt. Als Dominos Mitbewohner. Seine Sachen lagern noch im Keller.

Vor der Ausfahrt ans Meer ist Silvester mit Kondor hinabgestiegen, um für Merle in dem Verschlag nach Bozorgs Gitarre zu suchen, hat dabei auch diese gefütterte Militärjacke entdeckt, den Parka. Gleich an Ort und Stelle schlüpft Silvester hinein. Kondor schmeißt sich fast weg:

– Fehlt nur noch die Pappschachtel oder der Hut fürs Kleingeld, Meister.

– Es kommt jetzt die Zeit der Herbst- und Wintermode, sagt Silvester, du hast keinen Plan! Das ist ein Kleidungsstück der Ausnahmeklasse.

Silvester erinnert sich gut, wie Bozorg (Dreadlocks Ziegenbart Spitzbauch) das erste Mal in ebendiesem Aufzug, mit olivgrüner Kutte und Instrument, bei ihnen geklingelt hat. Sechster Stock. Südturm.

– Hier steht eine 1,90 Meter große Geschirrspülmaschine, Schwesterherz, Marke Bozorg, mit Gitarre, ruft Silvester über die Schulter.

Kitty, ihren Kater Prinz im Arm, hüpft herbei, dreht dem kleinen Bruder zur Strafe das Ohr um, im Spaß, aber mit drohendem Blick: Du hast Glück, dass ich dich nicht an Ort und Stelle vierteile. Aber nach Bozorgs Besuch ist das wieder vergessen.

– Wie gefällt dir meine Eroberung, Silvester Lanzen?

Kitty liegt neben ihrem Bruder auf dem Bett, bäuchlings, die Unterschenkel und Füße pendeln in der Luft, das Kinn ruht auf ihren Händen.

– Das ist der Nerd aus der Videothek gegenüber, sagt Silvester, und er hat dir beim ersten Date ein Ständchen gebracht. Auf der Klampfe.

– Er bringt mich zum Lachen, Bruderherz, er wohnt bei Domino, und er weiß, wie man einer Dame ganz altmodisch den Hof macht.

– Auf jeden Fall kommen wir jetzt günstig an Filme, sagt Silvester.

– Du bist eifersüchtig, sagt Kitty, gib’s zu.

Erneut dreht sie ihm ein Ohr um.

– Au! Von wegen, Schwesterherz. Dich würde ich niemals in die engere Wahl nehmen. Diese ständigen Gewaltausbrüche. Einen unmöglichen Geschmack hast du außerdem!

Kissenschlacht. Prinz ergreift maunzend die Flucht. Federn fliegen.

Die anschließende Rangelei verliert Silvester, behält aber in einem Punkt recht: Als Mitarbeiter der Videothek darf sich Bozorg jeden verfügbaren Titel über Nacht kostenlos ausleihen. Und bald bringt er beinah täglich für Silvester ein Meisterwerk mit, alle Genres querbeet.

– Filme sind Lebenserweiterungen, Kleiner.

– Und was, wenn ein Film Mist ist?

Bozorg trommelt sich mit zwei Fingern gegen die vorgeschobenen Lippen.

– Dann ist das Mist. Aber selbst in den miesesten Streifen findet man immer etwas Interessantes, jedenfalls, wenn man sich auskennt. Aber besser natürlich, du guckst und ehrst die Meisterwerke.

– Weil Meisterwerke anders sind.

– Echte Meisterwerke sind eine Welt für sich, sagt Bozorg, die beschäftigen dich, verstehst du? Die guckst du, und dann weißt du, da hat jemand einfach die Messlatte ein Stück nach oben verschoben, und du bist nicht mehr derselbe.

Kittys Freund entpuppt sich als wandelndes Filmlexikon. Und als jemand, der offenbar keine Mühe hat, mit Menschen zurechtzukommen. Selbst ihre Mutter findet Gefallen an ihm. Vielleicht, weil Bozorg sich so eindeutig vom Vater ihrer Kinder unterscheidet; anhänglich zuverlässig uneitel, wie er ist (und dazu nicht sonderlich musikalisch, trotz der Gitarre).

– Mama mag ihn, Bruderherz.

– Der Typ wirkt arg verkifft, Schwesterherz. Klar.

Aber auch Silvester glaubt: Bozorg ist der Richtige für Kitty. Er trägt sie auf Händen. Und seine Hände sind pfannengroß.

– Kleiner, deine Schwester ist eine Art Gottesbeweis, sagt Bozorg einmal.

Zeigt Silvester nebenbei Porträts, die er von Kitty gemacht hat. Schwärmt von ihrer Löwenmähne und der kastanienfarbenen Haut, die selbst unter den Nägeln milchigbraun schimmert.

– Gottesbeweis, sagt Silvester, ja, wenn du ihr weh tust, bringe ich dich um.

– Wenn ich ihr weh tue, mach ich mich selber weg. Keine Sorge.

Für Bozorg, gerade eben 19 geworden und gerade mit der Schule fertig, ist Kitty die erste große Liebe. Er fotografiert sie ungezählte Male. Und er filmt sie.

Auf der ersten Rolle, die Silvester mit Merle letzte Nacht in Dominos Wohnung angesehen hat, füttert Kitty Enten im Park.

Die Kamera fährt immer dichter heran an ihre Fingernägel. Dann ein Schnitt. Die gleichen Hände, die Augen und Mund auf einen großen blassen Zeh malen. Bozorgs Zeh, der hin und her wackelt.

Die Filme sind im selben Karton eingemottet gewesen wie der Parka, in einem Plastikbeutel, den Kondor zuerst in die Hand bekommt.

– Was ist denn das, Meister, fragt Kondor aufgeräumt, Heimpornos aus grauer Vorzeit? Schmutziger Kram mit Spielzeugen und Tieren?

Er beugt sich im trüben Kellerlicht vor, linst in die Tragetasche.

– Finger weg, geht dich nichts an, sagt Silvester.

Schlägt auf Kondors bandagierte Hand, fester als nötig, nimmt ihm die Tüte weg. Kondor verzieht vor Schmerz das Gesicht, sagt aber nichts weiter:

– …

Silvester entschuldigt sich:

– Kannst du nicht wissen, sagt er, Filme von Bozorg.

Die Kamera, mit der sie aufgenommen wurden: eine von Kittys spontanen Überraschungen. Typisch Kitty. Silvester ist dabei, als das antike Gerät (ein Trödelmarktfund) an Bozorg überreicht wird.

– Zeig mir die Filme aus deinem Kopf, sagt sie.

Stapelt gleich noch neun handliche Kartons neben der Kamera zu Türmchen auf, originalverpackte Filmkassetten.

Der Ausdruck in ihrem Gesicht: Wenn Silvester in Merles Augen schaut, meint er häufig dasselbe zu erkennen. Diese Gabe, alles mit dem Blick aufzusaugen, wie ein ins Spiel vertieftes Kind, dem Jetzt und Hier völlig ergeben.

Bozorg, gerührt, zupft sich am Bärtchen unter dem breit vorspringenden Kinn:

– Ich soll dich filmen?

– Film von mir aus Blumenkohlwolken am Himmel oder Schatten von Motten hinter einem Lampenschirm oder deinen großen Zeh, was dir eben einfällt. Egal. Lass die Zugbrücke runter!

Hat sie das wirklich so gesagt? Sind diese Worte nicht auch vorhin gefallen? Die letzten zwei zumindest, die hat Silvester ganz sicher in der letzten Nacht gehört.

Kann Merle gewesen sein. Oder er selbst:

– Zugbrücke runter!

Auf dem Balkonboden vom K16 hocken sie, Hände eingeklemmt zwischen den Oberschenkeln, sie reden reden reden. Beide klappern mit den Zähnen. Auch wenn es unausgesprochen bleibt: Silvester will nicht, dass die Nacht hier endet. Und Merle, glaubt er, will es auch nicht.

– Meine Ma ist leider gerade in keinem guten Zustand, unser ganzes Zuhause ist in keinem guten Zustand, sagt er, sonst hätte ich vorgeschlagen, wir gehen noch zu mir. In aller Freundschaft.

– Ich habe Kondors Bude gesehen, sagt Merle, so schlimm kann es nicht sein, aber es ist eh spät. Ein andermal.

Dann hat beim Aufstehen der Schlüssel in Silvesters Hose gezwackt; und kurz darauf waren sie hier, vor diesem Eckblock. Genau hier, vor Dominos Haustür, wo Silvester jetzt seine Kopfhörer aufsetzt.

Ein Windstoß treibt einen Schwung trockenes Laub über den Gehweg. Kälte kriecht durch die Tunnel von Silvesters Jackenärmeln. Er zieht die Schultern hoch, schüttelt sich, klappt die Kapuze nach oben, schnappt sich den Beutel.

Im Kopf Bruchstücke der Filmbilder, die er mit Merle gesehen hat. Kitty unter Blumenkohlwolken am See im Park. Motten hinter einem Lampenschirm.

Verruckelte Aufnahmen.

Belangloses Zeug, bis das erste Mal das Grab zu sehen gewesen ist, noch ohne Stein. Welke Kränze, vom Wetter verschmutzte Schleifen. Kittys frisches Grab. Danach: Silvester, drei Jahre jünger, beim Streichen seines Zimmers im Südturm. Schließlich die kurze Sequenz, die ihn vollständig wegknockt.

Katzenfell. Sehr nah, unscharf. Rückzoom. Kittys Kater, der auf einem Bett hockt, mit geneigter Stirn an etwas stupst. Ein nackter Rücken. Die Frau dazu liegt bäuchlings auf dem zerwühltem Laken. Die Höcker der Wirbelsäule unter der Haut. Die Schulterrundungen. Ein Kopf, der wie schlafend auf der Armbeuge ruht, abgewandt vom Betrachter.

Die Katze. Die Frau, von der Silvester weiß, dass es seine Mutter ist. Bilder, die ihm nichts Neues erzählen. Und doch! Bozorg hat das gefilmt und Silvester keine Ahnung gehabt, dass es diese Aufnahmen gibt.

– Beide haben später versucht, sich wegzumachen, sagt er, Bozorg. Und meine Mutter auch.

Merle fragt nichts nach und sagt nichts. Bettet, als sie merkt, was vorgeht, einfach Silvesters Gesicht in beide Hände, dreht es weg, kommt mit ihrem dicht an seins heran, bis ihre Augen ganz nah sind.

Ihr Zimtgeruch. Das Klimpern des Holzperlenkettchens um ihr Gelenk.

Das Filmprojektorsurren.

Silvester hört es noch einmal. Und dann, gedämpft durch seinen Kopfhörer, wieder die Titschgeräusche. Er sieht zu der Kleinen mit dem Tennisball hin.

Die hält prompt die Filzkugel fest und zeigt ihm den Mittelfinger.

Silvester amüsiert das. Er wirft eine Kusshand zurück, macht sich auf den Weg, quer über die Wiese, steuert auf die Schneise zwischen den Häuserblocks zu, wo (knapp vor der Straße) in struppigen Heckengebilden letzte Blätter und Schnipsel von Folienverpackungen um die Wette zittern rascheln wispern. Halb verborgen hinter dem Geäst: die Großraumboxen für die Müllcontainer.

Waschbetonplatten.

Feuerverzinkte Fronttüren.

Feuerverzinkte Einwurfklappen.

Oben auf der Einhausung thront Kondor. Im Schneidersitz. Sein langes Haar schimmert schwarz durch die gelochte Häkelkappe auf dem Kopf.

– He, Meister, ruft Kondor, ein Kommen und Gehen in deinem Liebesnest, dagegen führt ein Deckhengst ja beinah schon ein geruhsames Leben.

Silvester entsorgt den schweren Beutel, ohne ein Wort von sich zu geben.

– …

Rumpeln im Bauch der Box unter Kondor. Silvester entfernt sich wieder.

In Kondor kommt Bewegung. Er rutscht von seinem Aussichtspunkt: Der ölige Zopf wischt im Nacken über das Leder der Motorradjacke. An den zahllosen Reißverschlüssen klimpern stumpf die Zipper. Kondor:

– Nicht so hastig, warte mal! Du mit Merle? In Dominos Wohnung? Und dann die Show da mit der fliegenden Bettwäsche. War ja besser als Kino eben.

Silvester greift in die Parkatasche, schaltet Musik an.

+

Am Rand des Fußweges stehen die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange, ein Stück weiter in Parktaschen Tür an Tür; nirgendwo ein Mensch.

Die Siedlung schläft noch immer, schläft sich aus.

Kondor hat sich an Silvesters Hacken geheftet.

– Wenn ich Personenschutz brauche, melde ich mich bei dir, sagt Silvester, okay? Aber ich wäre echt dankbar, wenn ich jetzt meine Ruhe hätte.

Er macht dazu eine abwehrende Handbewegung, fragt sich dennoch irritiert, warum Kondor so früh schon an einem Samstag auf den Beinen ist. Und: Was hat er um diese Uhrzeit hier verloren?

– Schon klar, kapiert, kapiert, sagt Kondor.

Er bleibt nichtsdestotrotz an Silvester dran. Silvester schaltet die Musik aus. Hört das Schlappen seiner und Kondors Schuhe.

Zwei, vielleicht drei Minuten lang geht das so, kein Wort fällt. Dann, in der Kurve beim Parkplatz vor K16 wird es Silvester zu dumm. Er bleibt stehen. Kondor schließt auf, schlurft an Silvester vorbei, stellt sich in dessen Blickfeld.

– Okay, was wird hier gespielt, Kondor, worum geht’s?

Kondor kratzt sich im Schritt. Hinter ihm ragt klotzig der Wohnturm auf. Fahles Licht fällt von der Seite gegen die oberen Stockwerke. Der Morgen schickt sich an, die Dämmerung endgültig zu vertreiben.

– Du hast deiner Süßen den Laufpass gegeben, sagt Kondor, stimmt’s? Hat sich ja lange angebahnt. Und? Glücklich jetzt?

– Geh mir nicht auf die Nerven.

– Warst du Merles erster Kerl?

Silvester bringt ein verkniffenes Lächeln zustande.

– Was willst du, Kondor?

Kondor quirlt mit einem Arm müde Luft um. Er sagt:

– Die Sache ist, ich muss dir noch was stecken.

– Und?

– Du erinnerst dich, Meister, worüber wir gestern gequatscht haben?

– Du bist bei Edda und Mauser raus, du willst abhauen.

– Egal, sagt Kondor.

Winkt ab.

– Egal? Gut, dann lass uns ein andermal darüber sprechen.

Silvester will sich schon wieder in Bewegung setzen, doch dann zögert er. Vielleicht ist es Kondors eigenartiger Gesichtsausdruck?

Kondor sieht (Stirn kraus, Mund verzerrt) auf die eigene Hand, als betrachte er etwas am Straßenrand Aufgelesenes, Abstoßendes. Wackelt mit dem Stumpf, der sich dort befindet, wo bei anderen Menschen der kleine Finger sitzt.

– Glaub nicht, was man dir erzählen wird, sagt er.

Silvester geht nicht darauf ein. Verdreht die Augen, wendet sich ab.

Aber Kondor ruft ihm noch etwas hinterher. Silvester spürt sofort das Kribbeln im Nacken. Ein Pochen in den Adern. Er dreht sich um. Stockt.

Kein Kondor.

Silvester braucht eine Sekunde, bis er es begriffen hat: Kondor ist weg! Als hätte sich dessen Häkelmützchen plötzlich in eine Tarnkappe verwandelt.

– Hey, Kondor! Wo steckst du?

Silvester geht über den Parkplatz. Dreht sich einmal um die eigene Achse. Hält vergeblich Ausschau.

Alles klar, sprechen wir ein andermal über die Katze!

Das ist er gewesen: Kondors letzter Satz. Als verhallendes Echo geistert er jetzt durch Silvesters Kopf. Sprechen wir ein andermal über die Katze!

Über die Katze!

Die Katze!

Seit vorletztem Sonntag wird Kittys Kater vermisst. Silvesters Mutter hat sein Verschwinden, so kurz vor Kittys drittem Todestag, spürbar zugesetzt.

– Erst verschwindet vor 15 Monaten Bozorg über Nacht, sagt sie, und man hat nie wieder etwas von ihm gehört. Und jetzt Prinz. Silli, ich habe furchtbar Angst.

– Wovor? Es gibt keine Rückfälle, okay!

Silvester versucht das nervöse Hin und Her ihrer Pupillen zu beruhigen, indem er seine Mutter fest anguckt.

Sie stehen nebeneinander am Wohnzimmerfenster.

Adern aus Regenwasser an der Scheibe.

Dahinter verschwommen die Blocks der Siedlung.

– Ich bin traurig, sagt sie, aber bitte mach dir meinetwegen keine Sorgen. Angst habe ich um dich.

Silvester nimmt sie in den Arm. Seine Mutter drückt sich fest an ihn.

– Versprich es, sagt er, es muss weitergehen.

– Versprochen, sagt sie, Ehrenwort, so etwas wie früher passiert nicht wieder. Und du: Pass auf dich auf. Bitte!

Im ersten Jahr nach Kittys Tod haben sie alle am Rad gedreht. Einmal, im Frühling kurz vor der Konfirmation, findet Silvester seine Mutter auf dem Küchenboden, auf den Knien neben ihrem Erbrochenen. Sie erkennt ihn nicht mehr, macht sich, das Haar wirr und strähnig, an einem Tablettenbriefchen zu schaffen, zu bedröhnt, um die Kapseln herauszudrücken.

Domino wiederum feiert damals so oft es nur geht besinnungslos, Wochenende um Wochenende. Und Bozorg legt 20 Kilo zu, greift zur Flasche. An Neujahr bearbeitet er dann mit einer Rasierklinge die Haut und das Fleisch der Unterarme, säbelt den Namen Kitty hinein.

– Ich wollte mich nicht wegmachen, behauptet er, ich schwör’s, ich wusste, dass die Schnitte nicht reichen.

Domino findet ihn in der Badewanne. Ruft den Notarzt. Fortan umschließt eine steife Ledermanschette mit Rollschnallen Bozorgs gesamten linken Unterarm.

Außerdem kommt Kamp danach regelmäßig in die Videothek, zwei Mal die Woche. Er redet mit Bozorg und überzeugt ihn davon, sonntags einen Kinoclub im Guten Hirten zu organisieren, gemeinsam mit Silvester. Doch Silvester merkt es bald: Die alte Droge wirkt bei Bozorg nicht mehr, Filme sind dem Freund plötzlich egal, selbst die Meisterwerke.

– Ich schmeiß hin, sagt Bozorg, ich starre nur noch gegen Lichtflecken auf der Leinwand, ohne mitzudenken. Wie hirntot.

Zu dritt sitzen sie auf den Treppen zu den Katakomben. Der Pastor trägt einen seiner farbigen Rollkragen-Pullover. Die Konturen des muskulösen und sehnigen Oberkörpers zeichnen sich ab. Kamp wirkt jünger als Ende 30, treibt eine Menge Sport. Er nickt:

– Zu viel Mitleid, zu viel rücksichtsvolle Blicke?

Bozorg kaut ein Stück Nagelhaut ab.

– Ja, sagt er, das ist, als wenn Leute auf eine Karre mit Totalschaden stieren. Sie sehen das Blut an der kaputten Scheibe und tun fürchterlich betroffen. In Wirklichkeit sind sie nur heilfroh, weil es nicht sie selbst erwischt hat.

– Mit Recht, sagt Kamp.

– Die Sache ist nur, sagt Bozorg, ich sitze drin in den Trümmern, sehe all diese Gesichter. Wenn mir noch einer sagt, wie tapfer er das findet, wie ich das alles wegstecke, dann flippe ich aus.

Kamp streicht sich das graublonde Haar aus der Stirn, zieht dabei nur kurz die Augenbrauen zusammen.

– Was meinst du, Silvester, wie geht es dir?

– Keine Ahnung, ich verstehe das, was Bozorg meint, mich gucken die Leute schon mein Leben lang komisch an wegen meiner Frisur und meiner Haut, aber das juckt mich nicht mehr groß. Mit der Zeit gibt sich das, oder man blendet das aus.

Der Pastor hat noch einmal genickt und dann den Arm um Bozorg gelegt, mit festem Druck Bozorgs Schulter gepackt, ihn sanft gerüttelt.

– Deine Kinoabende bedeuten den Jugendlichen etwas, und Silvester hat recht, das mit den rücksichtsvollen Blicken wird sich bald geben, du kommst raus aus den Trümmern.

Bozorg hat energisch den Kopf geschüttelt.

– Silvester bekommt das auch ohne mich hin, und vielleicht mache ich besser überhaupt ganz den Schuh, hau mal ab für eine Weile, sonst werde ich hier schlicht verrückt auf Dauer, laufe Amok oder fresse und trinke mich bestenfalls tot.

Noch einmal rüttelt Kamp Bozorg durch.

– Du und Kitty, ihr hattet nicht viel Zeit zusammen, ich weiß, sagt er, und es gibt leider keinen Weg, die Zeit nachträglich zu verlängern. Die Liebe weist immer in die Zukunft. Nimm ihre Kraft mit auf den Weg. Versuch dich durchzubeißen.

Bozorg hat danach noch ein paar Monate ausgehalten.

Aber im Sommer vor einem Jahr ist er dann, ohne Abschied, von einem Moment auf den anderen verschwunden. Beinah wie Kondor gerade eben.

Silvester schüttelt den Kopf.

– Hey, Kondor, lass den Blödsinn. Komm raus! Was weißt du über den Kater?

Etwas streift Silvesters Knöchel. Eine Tüte aus hauchdünnem Plastik huscht an ihm vorbei: Der Wind bauscht sie auf, treibt sie vor sich her, auf die übervollen Altglas- und Papiercontainer zu, lässt die Tüte flatternd aufsteigen und im Flug halsbrecherische Drehungen vollführen.

– Wo steckst du, Kondor?

+

Nasskalte Luft betastet Silvesters Wangen und Ohren, die Stirn. Die Temperaturen sind einstellig am frühen Dienstagmorgen. Tag drei nach der Trennung von Domino. In den halbkahlen Baumkronen der vielen Birken rund um den Bauspielplatz hängt dichter Dunst. Hochnebel.

Silvester kommt aus der geziegelten Baracke, schließt hinter sich die Tür, stapft zur Pforte. Ihr heiseres Quieken beim Öffnen erschreckt ein Eichhörnchen. Es schießt, glutfarbenes Fell und Schwanz, einen Stamm hinab, wirbelt einen anderen wieder hinauf. Aus dem Wipfel flattern zwei Elstern.

Silvester schaut hoch.

Die schwarzen, wild schlagenden Flügel in der Luft über ihm.

Das Gezeter, überlaut feindlich unwirklich.

Als er weitergeht, ist ihm, als ob er mit jedem Schritt um Millimeter in den Boden sacken würde. Und er spürt das T-Shirt unterm Parka am Rücken kleben.

Auch die Hände überzieht ein feuchtwarmer Film.

Er hat sie wieder in den Taschen der Jacke vergraben, und seine Finger befühlen den einzelnen Wollhandschuh (noch vom Vorbesitzer Bozorg), finden das längliche Stück Leder mit dem Metallanhänger. Ein Tierhalsband. Der Grund für Silvesters Besuch beim Baui.

– Versuch’s mal drüben, am alten Autowrack.

Die Leute vom Baui haben sich vergnügt angeguckt. Offenbar hat Silvester Kondor nur knapp verpasst. Kulturbeutel unterm Arm, Handtuch über der Schulter: So soll Kondor vorhin in die Baracke gestiefelt sein.

– Große Show! Schnurstracks rein in die Toilette, und eine Ewigkeit später geleckt bis zum gestriegeltem Zopf wieder raus.

– Gestern hat er hier übrigens schon nach Lappen und Putzzeug gefragt, scheint fast, als würde er eine Zeitlang in der Karre bleiben wollen. Darf man fragen, was das wird, Silli? Hast du eine Ahnung?

Ein Geruch nach verrottenden organischen Stoffen hängt in der Baracke. Fast wie am Meer, allerdings ein wenig muffiger.

Staubpartikel wirbeln durch das künstliche Licht.

– …

Silvester zuckt mit den Achseln. Nebenher nimmt er, schon aus Gewohnheit, eine Einzahlung in die Spendenbox auf dem Tresen vor. Wie immer wird protestiert:

– Halt dein Geld besser zusammen!

– Wo was war, kommt was wieder, keine Sorge, entgegnet Silvester.

Froh darüber, Kondor endlich aufgespürt zu haben. Mit rätselhafter Leere im Kopf, diffuser Wut im Bauch hat er seit Samstag nach ihm gesucht.

Jetzt ist er fast am Ziel: Pulserhöht quert er den von Laub bedeckten Bolzplatz vor dem Baui, gelangt auf ein ödes, unkrautüberwuchertes Gelände.

– Das verwunschene, vergessene Land.

Kittys Kosename für diese Gegend am Rand der Siedlung.

– Das ist nicht das verwunschene, vergessene Land, Schwesterherz, das ist ein verwahrlostes, verlottertes Nirgendwo.

– Die Welt und die Dinge sind, was du in ihnen siehst, sagt Kitty.

– Klingt nach Bozorg, Schwesterherz, sagt er, ich sehe jedenfalls eine Todeszone zwischen verfeindeten Staaten, bloß ohne Wachturm.

Eine Übertreibung. Aber Silvester ist nie wohl gewesen, wenn er Kitty, die einmal die Woche ehrenamtlich am Baui gearbeitet hat, abholen ging.

– Du guckst zu viel reißerisches Zeugs, Bruderherz, ich spreche mit Bozorg, wir werden dich auf Filmdiät setzen müssen.

Kitty versetzt ihm einen Ellenbogenstoß in die Rippen. Silvester sagt:

– Brand III und Konsorten treiben sich am Wrack rum, das weißt du.

– Ach, wo denn? Du und ich, wir treiben uns hier rum.

– Trotzdem nicht gerade ein Ort zum Picknicken. Komm, lass uns gehen!

Der Maschendrahtzaun der Grundschule. Die berankte Schallschutzwand der Autobahn. Eine Reihe weit ausladender Bäume, hinter der die Betonrücken einiger Hochhäuser aufscheinen: Zu drei Seiten ist das Areal abgeriegelt. Das Wrack selbst befindet sich (durch Hügel gegen neugierige Blicke von vorn geschützt) am Ende eines unebenen Trampelpfads in einer Senke.

Die Windschutzscheibe: blind, zerkratzt. Ein Loch klafft in einem Seitenfenster, notdürftig verklebt mit einem Müllbeutel. Eingetrockneter Staub und Dreck und Vogelkot auf der Karosse, dazu diverse Schichten Grafitti-Schmierereien.

Silvester schielt ins Innere. Kondors Siebensachen liegen, hineingestopft in Einkaufstüten, im Fußraum auf der Beifahrerseite. Ein Paar blaue Boxhandschuhe baumeln vom gesprungenen Rückspiegel. Unwillkürlich fischt Silvester in der Tasche des Parkas wieder nach dem Halsband von Prinz, stößt dabei wieder erst auf den alten Wollhandschuh, bevor er es zu fassen bekommt.

Edda hat ihm das Halsband überreicht.

– Tut mir so leid, sagt sie, ich habe keine Ahnung, was uns das sagen soll, Kondor hat behauptet: alles ein Missverständnis.

Edda (Kurzhaarschnitt Erdbeereiswangen Hornbrille) schaut Silvester an: Ich wünschte, ich könnte helfen, ich weiß aber nicht, wie, sagt ihr Blick. Dann umarmt sie ihn ungestüm und sehr fest, ganz nach Edda-Art. Silvester sagt:

– Zu mir hat Kondor gemeint, ich soll nicht glauben, was man mir erzählt.

– Das Halsband lag auf seiner Matratze, meint Edda (mit der Miene von jemandem, den pochender Zahnschmerz piesackt), was soll ich dir sagen?

Edda ist nicht nur Merles beste Freundin und die Nachfolgerin von Bozorg in der Videothek. Sie arbeitet auch im Jugendbüro des Guten Hirten und hat zusammen mit Silvester den Kinoclub wieder aufleben lassen. Sie und ihr Freund Mauser haben Kondor beherbergt, in ihrer ausgebauten Gartenlaube mit Chemieklo in der Kolonie am See. Über zwei Wochen.

– Ihr habt ihn also nicht rausgeschmissen?

– Er ist von sich aus gegangen, sagt Edda, wie geht es deiner Mutter?

– Sie weiß von nichts. Ich will sie nicht durcheinanderbringen. Aber erinnerst du dich, dass sie von Anfang an behauptet hat, es war ein Einbruch?

– Warum sollte das jemand tun? Warum sollte Kondor einen Kater kidnappen?

– Catnappen?

Es rutscht Silvester so raus. Edda lacht.

– Entschuldigung!

Silvester hat auf das Katzenhalsband geblickt, das Edda ihm gegeben hat, und selbst gelacht. Silvester blickt auch in dieser Sekunde wieder auf das Halsband.

Ohne zu lachen.

Im Hintergrund das Branden der Autobahn. Dann Kondors Stimme:

– Hier ist der Vogelfreie, du hast mich, Meister! Gibt es Kopfgeld?

Kondor hebt die Hand. Silvester sieht den oben noch geröteten Stumpf.

– Wo ist Prinz?

Kondor weicht zurück, als Silvester auf ihn zukommt. Die ohnehin schon leicht vorstehenden Augen treten noch weiter vor.