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Die Klimakrise eskaliert, die Kriegsschauplätze der Welt spülen furchtbare Bilder in unser Blickfeld, und antidemokratische Parteien erleben einen beängstigenden Aufschwung. Wie können wir an einer solchen Welt weiter Anteil nehmen, ohne zu verbittern? Einige wichtige Antworten auf diese Frage liefert die Psychologie. Mit ihrer Hilfe kann es gelingen, persönliche innere Barrieren und Abwehrstrategien zu durchschauen und ihnen nicht aufzusitzen. Die gegebenen äußeren Herausforderungen im Rahmen der eigenen inneren Möglichkeiten in den Blick zu nehmen – dazu fordert dieses Buch nicht nur Klient:innen auf, sondern auch die Therapierenden selbst. Es wird von Übungen zur Selbstreflexion ergänzt, die zeigen, wie sich aus der eigenen Lebenssituation das Beste machen lässt, wie sich Beziehungen pflegen lassen und wie man dabei ganz nebenbei über sich selbst hinauswächst und sich wie die Schlange aus der einengenden Haut befreit.
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Seitenzahl: 233
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Lea Dohm
Wie wir die psychische Gesundheit der Zukunft gestalten
VANDENHOECK & RUPRECHT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2025 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe
(Koninklijke Brill BV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)
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Umschlagabbildung: La Muda © Mateo Schmitthenner
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Erstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
E-Mail: [email protected]
ISBN 978-3-647-99268-6
1Beginn
2Krankmachendes – globale Herausforderungen bedingen psychische Belastung
Arbeitswelt und Kapitalismus
Klimakrise
Hitze
Vulnerabel
3Transformation als Aufgabe der Psy.-Berufe
Die Bedeutung gemeinschaftlichen Handelns
Psy.-Berufe als Change Agents
Engagement fördert psychische Gesundheit
4Von der Isolation zur Verbundenheit – Intersubjektivität und Intentionalität als Grundlage eines neuen Wir-Gefühls
5Rahmenbedingungen – äußere Einflüsse, die auf unsere Psyche wirken
Die Resilienz der Einzelnen ist immer abhängig von der Resilienz des Systems
Kinder, Care-Arbeit und das Patriarchat
Demokratiekrise und Rechtspopulismus
Fake News, Dauerinformation, Nachrichtenmüdigkeit
Künstliche Intelligenz (KI) und Psyche
6Ein biopsychosozialökologisches Modell – die verflochtenen Grundlagen von Gesundheit und Krankheit
7Dooming-Kapitel – Herausforderungen und schlechte Nachrichten
8Sunshine-Kapitel – Ermutigendes, positive Entwicklungen, Hoffnung und Zuversicht
9Zurück zum Ich – psychische Gesundheit und jede*r Einzelne
10Wertewandel – ethische Überzeugungen und psychische Gesundheit
11(Psychische) Gesundheit im Wandel – nachhaltige Gesundheitsförderung braucht mehr Prävention
Aufwertung von Prävention
Die Rolle der sprechenden Medizin bei der Behandlung somatischer Erkrankungen – welche Rolle hat sie im Gesundheitswesen der Zukunft?
Was fördert gesellschaftlich psychische Gesundheit?
12Gemeinschaften der Zukunft – im Wandel vereint die psychische Gesundheit fördern
Stare
13Epilog
14Zum Weiterlesen und Weitermachen
Personenverzeichnis
Quellen und Literatur
Psychotherapie muss sich öffnen, breiter in die Gesellschaft hineinwirken. Wir müssen andere Wege der Versorgung finden und die ökologische Herausforderung muss damit Hand in Hand gehen. Beides hat sehr viel miteinander zu tun, zumal die Rahmenbedingungen auch etwas mit Menschen machen.
Silvia Schneider, Professorin für Kinder- und Jugendpsychologie, Ruhr-Universität Bochum
Die Welt, in der wir leben, ist in ständiger Veränderung – globale Krisen wie die COVID-19-Pandemie, ökologische Krisen, Kriege, Teuerung und Desinformationen prägen unsere Zeit. Die Krisen verändern sich ständig und prasseln über verschiedene Nachrichtenkanäle und Social Media auf uns ein. Die Herausforderungen durch die komplexen globalen Krisen betreffen uns alle. Doch als Fachkräfte für psychische Gesundheit sind wir im doppelten Sinne gefordert: Einerseits müssen wir unsere eigene Widerstandsfähigkeit stärken und uns selbst vor Überlastung schützen, andererseits tragen wir eine immense Verantwortung, um die psychische Gesundheit vieler Menschen zu fördern und zu bewahren. Gerechtigkeitstheoretische Ideale dürfen uns dabei ständig herausfordern, aber sie sollten uns nicht dauerhaft frustrieren oder überfordern.
Die globalen Krisen erfordern von uns eine kontinuierliche Auseinandersetzung und Weiterentwicklung – fachlich, methodisch und auch menschlich. Es ist hilfreich, die Krisen, Konfliktfelder und die mit ihnen verbundenen Veränderungen immer wieder aufs Neue ins eigene Fühlen, Denken und Handeln zu integrieren. Das hatte kaum jemand in der eigenen Lebensplanung so vorgesehen – zum Beispiel, dass die Klimakrise bis ans Lebensende einen Einfluss auf die eigenen Wünsche und Pläne haben würde. Doch nur wenn wir uns selbst als Fachgruppen den neuen Realitäten stellen, uns an sie anpassen und gleichzeitig die Gesellschaft, in der wir leben möchten, mitgestalten, können wir den Herausforderungen unserer Zeit ansatzweise gerecht werden. Inhaltlich geht es in diesem Buch somit nicht nur darum, eine eigene Krisenresilienz zu erlangen und diese im Behandlungsraum zu vermitteln. Das Berufsbild, aber auch das Menschsein, das ich beschreiben möchte, geht darüber hinaus. Es sollte gekennzeichnet sein von dosierter Hinwendung und einer aktiven, machbaren und somit hoffentlich nicht moralisierenden Auseinandersetzung mit den eigenen Werten, Verantwortungen und der eigenen Haltung.
Dieses Buch ist in gewisser Weise ein Appell an unsere Gemeinschaft, an die Gesamtheit der Psy.-Berufe. Damit meine ich Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen, aber generell auch Seelsorgende, Coaches, Beratende, und alle, denen der Schutz der psychischen Gesundheit unserer Mitmenschen am Herzen liegt. Es lädt dazu ein, innezuhalten, unsere Berufspraxis zu reflektieren und neue, innovative Wege zu finden, um sowohl unsere eigene psychische Gesundheit als auch die unserer Patient*innen und nachfolgender Generationen langfristig zu sichern. Nur wenn wir selbst den Krisen unserer Zeit kraftvoll begegnen, können wir unsere wichtige Aufgabe erfüllen: die psychische Gesundheit von so vielen Menschen wie möglich zu fördern und zu erhalten.
Hinweise für die Lektüre:
–Wenn ich im Buch von »wir« oder »uns« schreibe (siehe auch den Untertitel »Wie wir die psychische Gesundheit der Zukunft gestalten), meine ich in der Regel – sofern nicht anders gekennzeichnet – uns alle als Menschen auf dieser Erde.
–Welche äußeren Krisen uns gerade besonders beschäftigen, ändert sich ständig. Aufgrund der Dringlichkeit und der Prognosen, zum Beispiel vom World Economic Forum oder aus dem WeltRisikoBericht sowie der enormen Auswirkungen auf unsere Lebensgrundlagen und zivilisatorischen Errungenschaften, fokussiere ich mich in meinen Beispielen vor allem auf die Klimakrise (World Economic Forum, 2024; Bündnis Entwicklung Hilft/IFHV, 2024). Denn sie wird uns fortan begleiten und sich in absehbarer Zeit zuspitzen. Viele Aspekte der Klimakrise lassen sich auf andere gesellschaftliche und strukturelle Krisen übertragen. In diesem Sinne hat der Umgang mit der Klimakrise auch einen modellhaften Charakter.
–Ich habe mich in diesem Buch für das unter Engagierten übliche Duzen entschieden. Es bildet aus meiner Sicht besser ab, wie komplexe globale Krisen Hierarchien auflösen (übrigens auch die zwischen Patient*in und behandelnder Person), und dass wir als Menschen in unserer Antwort auf diese Krisen enger zusammenrücken und zusammenhalten sollten, anstatt uns auseinanderdividieren zu lassen. Ich freue mich deshalb sehr, liebe*r Leser*in, mit dir gemeinsam über Ziele und Lösungen nachzudenken.
–Im Buch erscheinen in dieser Schriftart einige etwas längere Zitate von Expert*innen, die ich im Zuge meiner Recherche befragt habe. Zu diesen Personen, die an diesem Buch mitgewirkt haben, findest du ausführlichere Beschreibungen im Personenverzeichnis am Ende des Buches.
–Mit diesem Buch wende ich mich nicht nur an ein fachliches Lesepublikum. Es soll Freude machen, anregen und nicht zu schwer zu lesen sein. Meine Überlegungen sind bewusst interdisziplinär angelegt. Vor dem Hintergrund globaler Krisen halte ich es für notwendig, fachliche Grenzen zu überschreiten und die Stärken interdisziplinärer Zusammenarbeit zu nutzen und zu fördern. Insofern wende ich mich auch an Leser*innen, die mit fachlichen Fragen möglicherweise nicht vertraut sind. Ich habe versucht, diesem Umstand gerecht zu werden und komplexe Sachverhalte mit anschaulichen Beispielen ergänzt.
–In der Mitte des Buches finden sich zwei Sonderkapitel, das »Dooming«- und das »Sunshine«-Kapitel. Sie sollen dazu einladen, mögliche eigene Hoffnungen und Ängste ins Bewusstsein zu holen. Bei beiden Kapiteln handelt es sich nicht um wissenschaftliche Vorhersagen, sondern um subjektive Einschätzungen von Kolleg*innen und Menschen, die sich schon seit vielen Jahren mit den globalen Krisen beschäftigen.
–Dieses Buch ist aus der Perspektive einer privilegierten, weißen Frau geschrieben. Ich halte es allerdings für notwendig, dass globale Herausforderungen aus vielen unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Nur so lassen sich Probleme und Lösungsansätze sichtbar machen, die einer Europäerin wie mir vielleicht verborgen bleiben würden. Der Epilog dieses Buches stellt einen Versuch dar, den Blick in dieser Hinsicht zu öffnen.
Es wäre mir eine große Freude, wenn du nach diesem Buch Lust bekommst, dranzubleiben und dich weiter mit diesen Themen zu beschäftigen. Dazu kannst du mir gerne eine E-Mail schreiben ([email protected]) oder mir auf Social Media folgen (@LeaDohm).
Wir erleben aktuell eine Pandemie der Einsamkeit und Hilflosigkeit. Trotzdem halten wir vielerorts an selbstzerstörerischen Strukturen fest, die über die letzten Jahrzehnte in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen aufgebaut wurden. Um das zu ändern – und die menschliche Lebensgrundlage inklusive der planetaren Belastungsgrenzen nicht weiter überzustrapazieren –, brauchen wir dringend die gesamtgesellschaftliche Anerkennung einer einfachen Tatsache: Wir sind emotional-soziale Wesen!
Dr. Maren Urner, Neurowissenschaftlerin, Professorin für Sustainable Transformation an der FH Münster
Sarah ist 38 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern im Grundschulalter und arbeitet als Krankenschwester. Ihre Schichten wechseln zwischen Früh-, Spät- und Nachtschichten und verlangen – obwohl sie ihren Beruf liebt – sowohl körperlich als auch emotional einiges von ihr ab. Nach der Arbeit wartet auf sie die Versorgung ihrer Kinder, deren Hausaufgaben, notwendige Einkäufe und Haushalt. Sarah möchte auch ihre Partnerschaft, Familie und Freundschaften nicht vernachlässigen. Ihre Erschöpfung ist hoch, selbst nachts findet sie, vermutlich auch infolge der Wechselschichten, kaum Ruhe. In ihrem Kopf läuft stets eine lange Liste mit, was sie am nächsten Tag zu tun hat und wie sie ihre Dienste mit der Kinderbetreuung organisatorisch vereinbaren kann. Sarah fühlt sich zunehmend überfordert und sucht deshalb Hilfe in einer Psychotherapie.
In den Sitzungen schildert sie ihre innere Zerrissenheit, den ständigen Stress und die fehlende Unterstützung. Doch obwohl sie sich bemüht, Strategien zur Entlastung zu finden und auszuprobieren, bleiben diese im Ergebnis oft ohne längerfristige Wirkung. Sowohl der Psychotherapeutin als auch Sarah wird deutlich: Das Problem ist nicht nur psychologischer Natur, sondern eine tiefgehende zeitliche, organisatorische und emotionale Überforderung, die sie nicht allein durch Therapiesitzungen bewältigen kann. Die Therapie kommt an Grenzen, da sich die strukturellen Probleme eines solchen Alltags psychotherapeutisch kaum lösen lassen. Sarah verlässt die Sitzungen oft mit dem guten Gefühl, dass ihr zugehört und sie verstanden wird; aber auch mit dem Eindruck, dass die Lösung ihrer Situation jenseits der Möglichkeiten der Psychotherapie liegt.
Schichtarbeit, beruflich und privat anspruchsvolle Care-Arbeit, finanzieller Druck und der anhaltende Versuch von Selbstoptimierung, um den äußeren Ansprüchen besser gerecht zu werden: Sarah, die Krankenschwester, zeigt uns mit ihrer Lebenssituation bereits mehrere zentrale äußere Einflüsse auf psychische Gesundheit auf, die heute viele Menschen betreffen. Wer in Beratung oder Therapie arbeitet, ist früher oder später mit einer Sarah konfrontiert – oder ist selbst von derartigem äußeren Druck betroffen. Die Begrenztheit der eigenen Methodik zu spüren, kann hilflos machen. Die größeren, äußeren, gesellschaftlichen und ökologischen Krisen, die solche psychischen Beschwerden mitverursachen, sind an diesem Punkt in der Behandlung möglicherweise noch gar nicht explizit erwähnt. Dennoch sind sie stets im Hintergrund wirksam und mit dem Anliegen unseres Gegenübers (und uns selbst) verstrickt.
Selbstverständlich kann etwa eine klassische Psychotherapie mit ihrem vielfältigen Methodenkoffer auch Patient*innen wie Sarah helfen, ihre Lebenssituation zu reflektieren und weiterzuentwickeln, Entlastung zu finden und damit bestenfalls einer Verschlimmerung der Symptomatik oder Chronifizierung vorzubeugen. Unbeeinflusst davon steht daneben die Erkenntnis, dass psychische Gesundheit nur zusammen mit ausreichend guten äußeren Lebensbedingungen erhalten werden kann. Wie solche gesunderhaltenden Rahmenbedingungen aussehen sollten, kann für Einzelne ganz unterschiedlich ausfallen und sich je nach Lebenssituation zudem ständig weiterentwickeln. Ein endgültiges Modell einer Gesellschaft, die psychische Gesundheit fördert, ist schwer vorstellbar. Stattdessen braucht es für die vielen unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen vermutlich auch viele verschiedene, jeweils passende Rahmenbedingungen, zwischen denen wir uns je nach eigener Bedürfnislage hin- und herbewegen können, und die bestenfalls wechselseitig mit Respekt und Wertschätzung betrachtet werden.
Es ist nicht nur in diesem Kapitel, sondern grundsätzlich unmöglich, alle krankmachenden Einflüsse der Gesellschaft auf unsere Psyche zusammenzutragen. Eine Fokussierung auf einige zentrale Faktoren ohne Anspruch auf Vollständigkeit ist nötig. Sinnvoll ist es vor allem, das eigene Gespür dafür weiterzuentwickeln, wo wir durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen in unserer psychischen Gesundheit mitgeprägt werden. Diese Eindrücke können wir abgleichen mit den wissenschaftlichen Prognosen für die nächsten Jahre und schließlich schlussfolgern, wie sich unsere Umgebung und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln können, sollen und zum Teil auch müssen, um psychische Gesundheit zu fördern.
In dieser Analyse wird sich zeigen: Gerade mit Blick auf die sich zuspitzenden ökologischen Krisen und ihren vielfältigen Folgen wird es wichtiger, das heute in der Medizin gebräuchliche biopsychosoziale Krankheitsmodell in seinen Implikationen bezüglich der sozialen Faktoren ernster zu nehmen und dieses schließlich zu erweitern (siehe Kapitel sechs). Hier eine erste Konfrontation mit einem langsilbigen, aber sachlich korrekteren Ausdruck: Wir brauchen ein biopsychosozialökologisches Krankheitsmodell.
Ein Ziel dieses Buches ist es, das Verständnis dafür zu schärfen, dass psychische Belastung und Symptombildung keineswegs ausschließlich, sehr oft noch nicht einmal vorwiegend, auf unserer individuellen Verarbeitung beruhen, sondern dass sämtliche Lebenswelten des Menschen bis hin zum Zustand unseres Planeten nicht ausgespart werden dürfen, wenn wir psychische Gesundheit fördern und erhalten möchten.
Selbstreflexion »Äußere Einflüsse auf meine Psyche«:
Schätz dich selbst auf den folgenden Skalen ein und definiere die wesentlichen Einflussfaktoren auf dein persönliches psychisches Wohlbefinden:
TUT MIR GUT
MACHT MICH KRANK
Familie
Freundschaften
Beziehung
Beruf
Ehrenamt
Care-Arbeit
Hobbies
Wohnsituation
finanzielle Situation
politische Lage
Am meisten belastet mich gerade:
Reflektiere dann:
An welchen Punkten, die eher krank machen, kann Psychotherapie ansetzen, und an welcher Stelle bräuchtest du vor allem eine Veränderung von Rahmenbedingungen?
Die systemische Psychotherapie hat das Zusammenspiel von äußerer Struktur und psychischer Gesundheit lange erkannt und bezieht etwas konsequenter beispielsweise auch die Angehörigen ihrer Patient*innen in die Behandlung mit ein. Es ist ein großer Fortschritt des deutschen Gesundheitssystems, dass die systemische Psychotherapie inzwischen neben der Verhaltenstherapie, der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und der Psychoanalyse als Richtlinienverfahren zugelassen wurde und somit von den gesetzlichen Krankenkassen voll übernommen wird! Auch in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ist dieser systemische Fokus schon seit längerem üblich: Die sozialen Systeme, in denen sich die jungen Menschen bewegen, werden hier bereits regelhaft mit unter die Lupe genommen.
Systemische Psychotherapie versteht das Individuum explizit als eingebettet in verschiedene Kontexte, die in einer Behandlung dann regelhaft einbezogen werden. Berücksichtigt werden typischerweise das Familiensystem mit dessen Kommunikationsmustern und Rollen, das soziale System von Freundschaften und Nachbarschaft, der Arbeitsplatz und die beruflichen Beziehungen, kulturelle Normen, Werte und Überzeugungen, die jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Systeme, aber auch die sogenannten intraindividuellen Systeme (z. B. innere Konflikte, Gedanken und Gefühle). In der systemischen Psychotherapie wird somit einbezogen (hier bewusst etwas verkürzt dargestellt), welche äußeren Strukturen und Muster mögliche Auswirkungen auf das Wohlbefinden der Patient*innen haben und wie diese weiterentwickelt werden können. Der Ausgangspunkt dieser Analyse bleibt jedoch immer der*die Patient*in selbst.
Das vorliegende Buch nimmt eine in Teilen ähnliche Betrachtung vor: Als Ausgangspunkt soll dabei aber nicht die psychische Gesundheit eines Individuums, sondern von so vielen Menschen wie möglich fokussiert werden. Dazu werden im Folgenden gesellschaftliche, politische und ökologische Rahmenbedingungen und Ideologien sowie ihre Auswirkungen auf die psychische Gesundheit beleuchtet.
Leitfragen werden sein:
–Was belastet unsere Psyche und macht uns krank?
–Wie sind die Prognosen für die kommenden Jahre und Jahrzehnte?
–Wie können wir in Anbetracht der sich verändernden äußeren Rahmenbedingungen psychische Gesundheit erhalten und fördern (auch bei uns selbst)?
–Was bedeutet das konkret für die Psy.-Berufe? (Den Ausdruck »Psy.-Berufe« verwende ich im Buch vereinfachend für Psycholog*innen, Psychotherapeut*innen, Psychiater*innen. Die meisten der hier beschriebenen Themen gelten aber genauso für Berufsgruppen wie Mediziner*innen, Ergotherapeut*innen, Krankenpflege Seelsorgende, Coaches u. v. m.)
–Was bedeutet es für dich persönlich und was kannst du tun, um psychisch so gesund wie möglich zu bleiben oder zu werden?
Zu bedenken ist dabei: Die Untersuchung der psychischen Beschwerden, die sich beispielsweise auf die Klima- und Umweltkrise zurückführen lassen, ist ein dynamisches und junges Forschungsfeld, in dem ständig mit neuen Erkenntnissen gerechnet werden kann. Gesellschaftliche Entwicklungen sind zudem bekannterweise ebenfalls sehr dynamisch: Was heute in den Medien präsent ist, kann morgen schon wieder ganz anders aussehen. Die Entwicklungen der KI sind rasant, ihre Einflüsse unabsehbar und in einer enormen Bandbreite zwischen sehr positiv und dystopisch denkbar. Zudem sind die Krisenfelder nicht isoliert zu betrachten, sondern mitunter komplex und kaskadierend miteinander verknüpft.
Drei Beispiele (Bündnis Entwicklung hilft/IFHV, 2024; Clayton, Manning, Speiser u. Hill, 2021):
–Bei voranschreitenden ökologischen Krisen steigt die Wahrscheinlichkeit für soziale Konflikte, gesellschaftliche Segmentierungsprozesse, die Radikalisierung und Entdemokratisierung von Gruppen.
–Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine führte zu einem Rückgang der Getreideexporte und damit zu einer erhöhten Ernährungsunsicherheit in vielen Regionen, auch weit abseits der Ukraine.
–Ein Erdbeben vor Japan löste einen Tsunami aus, der ein Atomkraftwerk überflutete. Es kam zu einer nuklearen Katastrophe.
In diesem Kapitel folgen exemplarisch zwei Großbaustellen und einige ihrer Auswirkungen auf die psychische Gesundheit, um unser Gespür über große Entwicklungen und ihre komplexen Einflüsse zu schärfen: der Arbeitswelt im Kapitalismus und der Klimakrise mit ihrer besonderen psychischen Gefährdung durch Hitzeereignisse. Es können nicht alle Probleme der Welt hier dargestellt werden und es ist herausfordernd, sich angemessen zu fokussieren. Ich möchte andere Krisen und wichtige Entwicklungen damit nicht herunterspielen. Doch es soll in diesem Buch anschließend vor allem um grundsätzliche Krisenresilienz und somit um Lösungen, Handlungsmöglichkeiten und transformative Herausforderungen für unsere Berufsgruppen und dich persönlich gehen, die helfen, unsere eigene psychische Gesundheit und die aller Menschen zu schützen.
Zu Beginn des Kapitels haben wir bereits Sarah kurz kennengelernt, die überarbeitete Mutter und Krankenschwester auf der Suche nach Entlastung. Es gibt viele Menschen mit unterschiedlichen privaten und beruflichen Hintergründen, die ihr Schicksal der Dauer-(über)belastung teilen. Vom Alter her gehört Sarah zu den sogenannten »Millennials«, das heißt der »Generation Y«, die in den Jahren vor der Jahrtausendwende geboren wurde. Diese Generation achtet bereits mehr als die vorangegangenen auf die sogenannte »Work-Life-Balance«, also auf eine ausgewogene Balance zwischen Arbeit und Privatleben. Sie sucht nach flexiblen Arbeitszeiten und -modellen, die es ermöglichen, sowohl private als auch berufliche Ziele zugleich zu verfolgen. Doch viele Millennials stehen finanziell wie personell unter Druck: Ihre Vorgesetzten, oft aus der Generation der sogenannten »Babyboomer«, sind noch in einer Arbeitswelt groß geworden, die anders aussah, die vor allem ganz zentral auf Leistung und Profit ausgerichtet war (Speck, 2024).
Das Aufeinandertreffen dieser Haltungen spiegelt den Wandel wider, den die Arbeitswelt heute erlebt und der in diesen unterschiedlichen Grundhaltungen der Generationen sein Abbild findet. Doch während die heute 55- bis 69-Jährigen finanziell noch über eine vergleichsweise bessere Absicherung verfügen, reicht es in den meisten jüngeren Familien heute nicht mehr, wenn nur eine Person berufstätig ist. Wohneigentum scheint für viele trotz harter Arbeit außer Reichweite (Oberst, Lerbs u. Hiller, 2024) und die ökologischen Krisen bereiten vielen jungen Menschen Sorgen und lassen sie die Grenzen unseres Wirtschaftssystems erahnen (Hickman et al., 2021). Der Druck von außen nimmt zu, insbesondere auf jüngere Menschen.
Mareike Schulze, Psychotherapeutin und seit vielen Jahren in eigener Praxis niedergelassen, erlebt diesen Wandel auch in den Schilderungen ihrer Patient*innen. Sie schreibt:
Steigende Lebenshaltungskosten und wirtschaftliche Instabilität setzen Menschen stark unter mitunter existenziellen Druck. Auch viele Arbeitsbedingungen an sich sind psychisch belastend: Erfolgsdruck, verschwimmende Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem, unsichere Arbeitsverhältnisse. Diese Faktoren können zu chronischem Stress und Ängsten führen. Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt ist die zunehmende soziale Isolation, mitunter bedingt durch die zunehmende Digitalisierung, was zu Einsamkeit bis hin zur Depression führen kann. Die sozialen Medien erhöhen zudem den Selbstoptimierungsdruck, weil Menschen sich mehr vergleichen, aber sie auch permanent mit vermeintlich idealen Lebensentwürfen konfrontiert sind, die es zu erreichen gilt. Dies kann zu einer starken Überforderung und chronischem Stress führen bis hin zum Burn-out.
Der Druck, ausreichend Geld zu verdienen, um den eigenen Lebensstandard wenigstens gleichbleibend halten zu können, belastet viele Menschen. Auch negative Folgen für die psychische Gesundheit können daraus resultieren, insbesondere wenn existenzielle Sorgen, chronischer Stress und Arbeitsdruck hinzukommen. Der Druck, den eigenen Lebensstandard zu halten, kann durch vermeintliche oder reale gesellschaftliche Erwartungen und Vergleiche mit anderen verstärkt werden, zu zusätzlichem Stress und Frustrationen führen und sich negativ auf das eigene Selbstwertgefühl auswirken.
Prof. Dr. Hartmut Rosa, Soziologe und Politikwissenschaftler an der Universität Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, untermauert Mareike Schulzes klinische Beobachtung mit seiner Forschung zu Zeitdiagnose und den empirischen Grundlagen von Gesellschaftskritik. Im Interview erläutert Rosa, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die auf genau dieses permanente Wachstum und die Beschleunigung angewiesen ist, um sich selbst zu erhalten (taz, 2022). Dies zwinge viele Menschen zu einer ständigen Selbstoptimierung, auch zu einem aggressiven Umgang mit der Natur und dem Blick auf andere als potenzielle Konkurrenz. Die frühere Grundhaltung, dass das eigene harte Arbeiten dazu führe, ein freies, besseres Leben zu schaffen und einen Mangel zu überwinden, sei dabei heute nicht mehr zu halten. Stattdessen geht es aus Sicht von Hartmut Rosa nun viel mehr darum, dass Eltern für ihre Kinder das bewahren wollen, was sie haben, gleichzeitig jedoch – etwa mit Blick auf die Klimakrise oder geopolitische Konflikte – das Schlimmste befürchten.
Hartmut Rosa bestätigt mit seiner Forschung den von vielen Menschen subjektiv so wahrgenommenen Wandel der Arbeitswelt, der sich auch darin zeigt, mit welchen veränderten Bedürfnissen (psychische Gesundheit, Zeit, Sinnerleben) jüngere Generationen auf ihre berufliche Zukunft blicken. Während aktuell die unterschiedlichen intergenerationalen Perspektiven und Erwartungen oft noch scheinbar unvereinbar nebeneinanderstehen und wechselseitig für Unmut sorgen können, scheint einigen Menschen subjektiv klar: Die Ausnutzung von Arbeitskräften für die Profitmaximierung macht Menschen (psychisch) krank.
Liegen diese Probleme in unserem Wirtschaftssystem, dem Kapitalismus, begründet?
Für eine solche Analyse ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, was Kapitalismus ausmacht. Kapitalismus meint unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit den folgenden drei Merkmalen (bpb, undatiert):
–privates Eigentum der Produktionsmittel (Fabriken, Maschinen …),
–Gewinnmaximierung,
–Steuerung der Wirtschaft über den Markt selbst.
Arbeitende sind in einem solchen System von den Kapitalbesitzer*innen wirtschaftlich abhängig und drohen damit, kapitalismuskritischen Schriften zufolge (siehe auch die Theorie von Karl Marx), ausgebeutet zu werden, wenn ihnen der Profit der Unternehmen vorenthalten wird. Das ist eine Schattenseite des Kapitalismus: Einige wenige Kapitalbesitzer verfügen über sehr viel Geld und Macht und versuchen in der Regel eher, ihren eigenen Gewinn zu maximieren, statt beispielsweise über faire Löhne etwas davon abzugeben.
Doch wie fällt die Bilanz des modernen Kapitalismus des deutschsprachigen Raums hinsichtlich psychischer Gesundheit aus? Tatsächlich hat der Staat hier in der Vergangenheit vielfach für das Gemeinwohl oder fairen Wettbewerb in das Marktgeschehen eingegriffen. Für die Rechte der Arbeiter*innen haben zudem die Gewerkschaften vieles erkämpft. In den Industrieländern des globalen Nordens hat der wirtschaftlich-technische Fortschritt auch zu großen sozialen Verbesserungen geführt und den Wohlstand für große Teile der Bevölkerung gesteigert (Dornes, 2016). Die Kindersterblichkeit ging immer weiter zurück, die Lebenserwartung stieg an (vgl. RKI, 2001).
Meine persönliche, auf den Erfahrungen meiner Arbeit bei der Deutschen Allianz Klimawandel und Gesundheit (KLUG) basierende Hypothese ist: Eine gute, moderne Gesundheitsversorgung ist heute ohne kapitalistisches Wachstum möglich. Auch wenn schlussendlich wieder Konkurrenz und Wettbewerb der (medizinischen) Wissenschaft und die damit verbundenen Hochspezialisierungen eben zu ihr führten. Denn selbst vor Forschung und Wissenschaft macht die kapitalistische Logik nicht halt – mehr Doktorand*innen, mehr Publikationen, mehr Drittmittel … Die Steigerungslogik (höher, schneller, weiter) ist im kapitalistischen System grundsätzlich problematisch. Der mit ihr verbundene Leistungsdruck und die ständige Beschleunigung setzen uns Menschen, vor allem auch Kindern und Jugendlichen, zu. Inzwischen wird immerhin erforscht, wie eine kapitalismusunabhängige Sozialpolitik der Zukunft gestaltet werden kann, etwa vom Deutschen Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (DIFIS).
Der Sozialforscher Hartmut Rosa fasst die Gemengelage zusammen: Der Kapitalismus ist nicht an allem Schuld. Er ist in seiner Ausprägung, wie Karl Marx ihn bemängelte, zudem heute in verschiedener Hinsicht überholt (bpb, undatiert; Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, undatiert). Gleichzeitig bleibt die zugrunde liegende Kritik selbstverständlich hochrelevant und bedarf ständiger Reflexion.
Die Auswirkungen des Kapitalismus auf die psychische Gesundheit sind enorm vielseitig und komplex. Sie unterscheiden sich zum Beispiel nach Positionierung, Hierarchiestufe oder finanzieller Absicherung und sind insgesamt immer eng verbunden mit den jeweiligen Gegebenheiten der Arbeitswelt und ihrer subjektiven Verarbeitung (Prins, Bates, Keyes u. Mutaner, 2015). Die oben beschriebene Annahme, dass der Kapitalismus grundsätzlich psychisch krank mache, ist wissenschaftlich nicht zu halten. Für verschiedene Arbeitsbedingungen kann man die pathogenen Einflüsse aber sehr deutlich aussprechen, ebenso für Armut.
Armut
Was schon seit vielen Jahren bekannt ist: Armut macht krank und lässt Menschen vorzeitig versterben. In den vergangenen Jahren hat sich die finanzielle Ungleichheit von Bevölkerungsgruppen sogar noch weiter verstärkt (Lampert, Hoebel, Kuntz, Müters u. Kroll, 2017; Hoebel et al., 2024).
Bei sämtlichen aktuellen Krisen (Klimakrise, Pandemie, gewaltvolle Konflikte …) sind ärmere Menschen stärker betroffen, obwohl sie in aller Regel deutlich weniger zur Entstehung der Krisen beitragen. In der Klimakrise wird dies besonders deutlich: Die reichsten 10 % der Weltbevölkerung verbrauchten beispielsweise seit 1990 ein Drittel des Emissionsbudgets, die ärmere Hälfte verbrauchte nur 4 %. In Deutschland emittierten 2019 die reichsten 1 % pro Kopf 20 × so viel wie die ärmeren 50 % und waren damit für mehr als 10 % der deutschen Emissionen verantwortlich. Eine absehbare weitere Zunahme der Teuerung, zum Beispiel durch Klimakrisenfolgen wie Ernteausfälle nach Extremwettereignissen, verschärft die Situation (Block, Falta, Wollmann, Alberts u. Geisenhainer, 2024; Flaute, Reuschel u. Stöver, 2022; Oxfam, 2020). Der Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach sagte dazu in seiner Eröffnungsrede des Kongresses »Armut und Gesundheit« am 5. März 2024: »Es sind diejenigen, die ohnedies durch Vermögen und Einkommen schon privilegiert sind, die einen großen Anteil am Klimawandel haben, unter denen der größte Teil der armen Bevölkerung besonders leidet.« Dies sei eine »unerträgliche Ungerechtigkeit« und ein »Makel unseres Gesundheitssystems« (Gesundheit Berlin-Brandenburg, 2024).
In der Fachliteratur wird diskutiert, ob es eher die Ungleichheit in der Einkommensverteilung oder die Armut an sich ist, die psychosoziale Probleme begünstigt. Martin Dornes, Psychologe am Frankfurter Institut für Sozialforschung, stellte heraus, dass auch finanziell ärmere Menschen durch wirtschaftlichen Wohlstand, Rechtssicherheit, den gewachsenen Zugang zu Bildung und Toleranz gegenüber Minderheiten in ihrer Lebenszufriedenheit hinzugewonnen haben. Kapitalismus hat Massenwohlstand gefördert (Dornes, 2016) – doch diese eurozentristische Perspektive bedarf einer Reflexion, denn unser Wohlstandszugewinn im Globalen Norden ging in weiten Teilen auf Kosten anderer und die finanzielle Ungleichheit verstärkt sich.
Das Erleben von Armut zieht sich auf komplexe Weise durch alle Lebensbereiche und bedeutet unter anderem:
mehr Stressfaktoren (z. B. Einkauf, kleinerer Wohnraum und angespannter Wohnungsmarkt, eingeschränkte Mobilität, Scham),
geringere Bewältigungsmöglichkeiten bei Problemen und Krisen (z. B. Schäden können nicht ersetzt werden, Freizeit- und Erholungsmöglichkeiten, geringere Mobilität),
erschwerter Zugang zu medizinischen Behandlungsmöglichkeiten,
Stigmatisierung und soziale Ausgrenzung,
ein deutlich erhöhtes Risiko, depressiv zu erkranken (Kroll, Müters u. Lambert, 2016).
Armut macht auf vielen unterschiedlichen Wegen körperlich und psychisch krank. Bereits Kinder und Jugendliche sind in ihrer psychischen Gesundheit benachteiligt, wenn sie in finanziell ärmeren Familien aufwachsen. So zeigten Forschende des Robert-Koch-Instituts, dass 23,1 % der Kinder und Jugendlichen aus Familien mit niedrigem Einkommen deutliche psychische Belastungen zeigten – im Vergleich zu 9,2 % der Gleichaltrigen aus der hohen Einkommensgruppe (Lampert u. Kuntz, 2019).
Selbstreflexion:
In welchem Ausmaß fühlst du dich finanziell abgesichert und wie wirkt sich dies auf zentrale Lebensentscheidungen aus?
Wie wird deine finanzielle Situation von Außenstehenden wahrgenommen?
Welche Berufe und Tätigkeiten erfahren in unserer Gesellschaft eine besonders geringe oder besonders starke finanzielle Honorierung?
Arbeit, Kapitalismus und psychische Gesundheit ist ein weites, komplexes Feld und in der bisherigen Darstellung wurde die Frage nach dem persönlichen Sinnerleben der eigenen Arbeit noch überwiegend ausgespart. Insbesondere bei jüngeren Menschen gewinnt hierzulande der Wunsch an Relevanz, für einen Arbeitgeber zu arbeiten, der die eigenen Werte abbildet (WEF, 2022). Verständlich: Ein solches Sinnerleben, überhaupt ein wertekonformes Leben stärkt die psychische Gesundheit – und auch die Bindung an den Arbeitgeber (Dohm u. Bühn, 2023).
Bei der Recherche treffe ich auf jemanden, der seine wissenschaftliche Arbeit dem Thema »Wandel der Arbeitswelt« und der Frage nach sinnvoller Arbeit gewidmet hat: Dr. Hans Rusinek, Arbeitsforscher und New Work-Spezialist von der Universität St. Gallen. Ich schreibe ihm eine E-Mail und frage nach: Welche Eigenschaften des Arbeitslebens, des Kapitalismus, der modernen Gesellschaft sind aus Ihrer Sicht eine psychische Belastung, überfordernd oder krankmachend? Während unseres Kontakts wechseln wir zum »Du«. Er antwortet:
Ich identifiziere vier Erschöpfungskrisen in der Arbeitswelt.
1.Persönliche Erwartungskrisen: Wo sich Hoffnungen, Versprechen und Erwartungen an die Arbeit einfach nicht einlösen. Da ist die Karotte mit der Beförderung und damit renne ich mich wund oder merke am Ende, dass es all die Arbeit nicht wert war, oder sogar: dass dann nur noch mehr Arbeit kommt.
2.Arbeitsspezifische Belastungskrisen: Wo sich die körperliche Seite verändert hat: Ich muss den ganzen Tag am Bildschirm sitzen, obwohl ich doch eigentlich mal Schweißen gelernt habe und gerne mit Metall arbeite. Ich kriege es nicht mehr hin, als Pfleger Patientinnen zu heben und das macht mich krank.
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