Stärke zeigen - Natascha Kampusch - E-Book

Stärke zeigen E-Book

Natascha Kampusch

2,0

Beschreibung

Ihre Geschichte ging um die Welt: Als zehnjähriges Mädchen entführt, gelang Natascha Kampusch 2006 nach über acht Jahren Gefangenschaft die Flucht. Doch nach ihrer Selbstbefreiung ist sie bis heute Verleumdungen, Anfeindungen und sogar Hass ausgesetzt. Dennoch gelingt es ihr, ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen.    Woher nimmt sie täglich diese Kraft, um das Erlebte zu bewältigen?  Wie schafft sie es, trotz der Vergangenheit glücklich zu sein?   Was können wir als Leser:innen davon mitnehmen?     Zum allerersten Mal beschreibt die Autorin ihre persönlichen Zugänge und Methoden, die ihr über die Jahre geholfen haben, stark zu bleiben. Sie teilt uns intime Ansichten mit und gibt wertvolle Ratschläge, die dabei helfen können, auch in scheinbar aussichtslosen Zeiten nicht den Mut zu verlieren.

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Natascha Kampusch

Stärke zeigen

Dachbuch Verlag

1. Auflage: November 2022Veröffentlicht von Dachbuch Verlag GmbH, Wien

ISBN: 978-3-903263-53-6EPUB ISBN: 978-3-903263-54-3

Copyright © 2022 Dachbuch Verlag GmbH, WienAlle Rechte vorbehalten

Autorin: Natascha KampuschCo-Autorin: Judith Schneiberg

Lektorat: Nikolai Uzelac, Teresa EmichKorrektorat & Satz: Rotkel. Die Textwerkstatt, BerlinUmschlaggestaltung: Katharina NetolitzkyUmschlagmotiv: Reinhard HollDruck und Bindearbeiten: Rotografika, SuboticaPrinted in Serbia

Besuchen Sie uns im Internet:www.dachbuch.at

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Vergangenheit

Äußere und innere Räume

Die Kraft der Erinnerung

Wichtige Bezugspersonen

Die Kraft der Liebe

Familie als Ort der Zugehörigkeit

Die Kraft der Verbundenheit

Familie und ihre Verstrickungen

Die Kraft der Selbstbestimmung

Die Orientierung an Vorbildern

Die Kraft, über sich selbst hinauszuwachsen

Das Selbst und die anderen

Die Kraft des Selbstbewusstseins

Die Facetten der Einsamkeit

Die Kraft, eins zu sein mit sich selbst

Traumen und negative Erinnerungen verarbeiten

Die Kraft der Selbstheilung

Die Kraft, Hilfe anzunehmen

Die Kraft von Strukturen und Ritualen

Abschließende Gedanken zur Vergangenheit

Gegenwart

Widerstand leisten

Die Kraft der Selbstermächtigung

Der Wille zum Leben

Die Kraft der inneren Stärke

Die Realität akzeptieren

Die Kraft, aufrichtig mit sich selbst zu sein

Die Kraft der Dankbarkeit

Empathie entgegen dem Hass

Die Kraft der Vergebung

Die eigene Welt gestalten

Die Kraft der Kreativität

Abschließende Gedanken zur Gegenwart

Zukunft

Der Blick nach vorne

Die Kraft der Hoffnung

Die Kraft des Optimismus

Was uns Hoffnung gibt

Die Kraft unserer Träume und Ziele

Erkenne dich selbst

Die Kraft des Selbstentwurfs

Freiheit leben und ihre Grenzen kennen

Die Kraft, in Übereinstimmung mit seinem Innersten zu leben

Abschließende Gedanken zur Zukunft

Dank

Einleitung

In den Jahren nach meiner Selbstbefreiung wurde ich von vielen aufrichtig interessierten Menschen immer wieder gefragt, wie ich das, was mir in Gefangenschaft angetan wurde, nur überleben konnte. Wie ich es schaffte, trotz der Anfeindungen und Verleumdungen, die mir entgegenschlugen, meinen Lebensmut nicht zu verlieren. Wie ich das, was ich erleben musste, alles verarbeitet habe. Und woher ich meine Stärke nehme …

Auf den folgenden Seiten versuche ich, diese Fragen zu beantworten. Es geht mir darum, meine Bewältigungsstrategien für andere greifbar und dieses oder jenes vielleicht sogar praktizierbar zu machen. Dabei möchte ich mich weder als Psychologin oder Therapeutin noch als Coachin aufspielen. Das bin ich nämlich nicht. Aber ich darf behaupten, eine Expertin in Sachen Überleben zu sein, die anhand ihrer eigenen Lebensgeschichte zeigen kann, wie viel Kraft und Überlebenswille in jedem von uns stecken. Und da das Leben an uns alle die Herausforderung stellt, so lange wie möglich zu überleben – und das am besten mit Würde, Anstand, Freude und Zuversicht –, glaube ich sehr wohl, darüber etwas erzählen zu können.

Die Erlebnisse und Situationen, von denen meine Aufzeichnungen ausgehen, scheinen teilweise so extrem, dass der eine oder die andere vielleicht einwenden möchte, sie seien ja gar nicht exemplarisch und taugten nicht, um daraus etwas abzuleiten, was für alle gelten könnte. Ich dagegen bin der Überzeugung, dass nicht jeder erlebt haben muss, was ich durchgemacht habe, um plötzlich dazustehen und nicht mehr weiter zu wissen und schier verzweifelt zu sein. Viele Menschen kennen das Gefühl der Überforderung gegenüber den Herausforderungen des Alltags, sei es im Beruf, in der Familie oder in Beziehungen. Und nicht wenige verspüren das Gefühl von Einsamkeit und Isolation, auch ohne in Gefangenschaft zu sein. Letztendlich haben sich alle gleichermaßen in ihrem Leben zu bewähren, und jeder hat seine eigenen Kämpfe durchzustehen.

In dem Extrem, das ich erleben musste, zeigen manche Dinge lediglich stärkere Konturen, so scheint es mir. Und wenn ich heute darauf zurückblicke, kommt es mir vor, als würde ich durch ein Brennglas schauen, durch das sich die existenziellen Lebensthemen, die alle betreffen, mit einer außergewöhnlichen Dringlichkeit zeigen. Wer sind wir, wenn uns nahezu alles genommen wird? Was ist der Sinn, wenn wir vom Leben scheinbar nichts mehr zu erwarten haben? In diesen Fragen liegt der Schlüssel zu dem verborgen, was mich am Leben hielt und was mein Dasein noch heute lebenswert macht. Und weil das Themen sind, die jeden von uns angehen, kann meine Geschichte möglicherweise Inspiration bieten: für Menschen, die ebenfalls schwere Traumen erleiden mussten. Und auch für all jene, die nach Motivation und Rat suchen, weil sie in einer ­Lebenskrise stecken und sich daraus freikämpfen möchten, ist dieses Buch gedacht.

Von Geburt an habe ich gelernt, mich in das Leben, das für mich bestimmt war, einzufinden. Das war wahrlich nicht leicht, schon vor meiner Entführung nicht. Meine Kindheit war kein Zuckerschlecken, und alles, was danach kam, war, um im Bild zu bleiben, ein wirklich bitterer Kelch: Die Gefangenschaft beraubte mich wichtiger Phasen meiner Kindheit und Jugend. Der physische und psychische Missbrauch, den ich erlitt, zerbrach mich beinahe. Und nachdem es mir nach vielen Jahren endlich gelang, mich selbst zu befreien, geriet ich gleich erneut in ein unterdrückendes und zerstörerisches Machtgefälle, dieses Mal von den Medien und der breiten Öffentlichkeit. Menschen haben mich denunziert und schlecht über mich geredet, einzig und ­allein, um selbst gut dazustehen.

Ich habe mich in meinem Leben oft ohnmächtig gefühlt und war es de facto auch. Aber ich habe nie aufgegeben, selbst wenn nichts mehr dafürgesprochen hat, dass es sich noch zu hoffen lohnt. Ich habe es geschafft und habe überlebt – nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich.

Tag für Tag war ich in meiner Gefangenschaft aufs Neue herausgefordert, nicht zu resignieren und wenigstens einen Funken meiner Würde zu bewahren. In jeder Begegnung mit dem Täter war die Frage an mich gerichtet, was ich seiner Demütigung und Gemeinheit entgegenzuhalten hatte. Egal wie fremdbestimmt ich durch seine Dominanz und seine Unterdrückungsmechanismen war, in meinem Innersten habe ich stets, im kleinstmöglichen Rahmen, um Selbstbestimmtheit gerungen. Ich nutzte jeden noch so kleinen Handlungsspielraum aus, wollte mir meine Identität nicht rauben lassen. Und nur, weil ich die Kontrolle über die Situation nie ganz aufgab, war ich irgendwann auch in der Lage zu fliehen. Ich selbst hätte das nicht zu jeder Zeit so beurteilt, war zutiefst verzweifelt und fühlte mich bedroht und ausgeliefert. Aber rückblickend kann ich sehen, wie sich immer noch etwas in meinem Innersten aufgebäumt und um Haltung gerungen hatte.

Genauso war es, als mir nach meiner Gefangenschaft in Freiheit der Wahnsinn entgegenschlug. Es ­erschütterte mich in den Grundfesten meiner Überzeugungen, was Menschlichkeit und Gerechtigkeit betrifft. Trotzdem war ich nicht bereit, klein beizugeben, sondern habe die Deutungshoheit über meine eigene Geschichte gewahrt und nie aufgehört, mein Leben selbstbestimmt zu gestalten.

Die Frage ist, worin diese Kraft begründet liegt und welche Ressourcen das sind, auf die ich bis heute zurückgreife. Und stehen sie wirklich jedem Menschen zur Verfügung?

Eine Antwort möchte ich an dieser Stelle vorwegnehmen, weil sie über allem steht, was ich im Erleben und im Darüber-Nachdenken herausgefunden habe. Ich bin der Überzeugung, dass sie durchaus auch die Allgemeingültigkeit deutlich macht: Innere und äußere Stärke sind unweigerlich daran gekoppelt, wie gut wir uns selbst kennen. Wenn wir wissen, wofür wir stehen und einstehen. Was es ist, das wir für so wichtig und richtig halten, dass wir nicht bereit sind, es preiszugeben. Haben wir diese Klarheit, können wir auch auf einen festen und reifen Kern zurückgreifen, in dem wirklich alles angelegt ist. Er bildet unsere Kraftquelle. Und die einzige Verantwortung, die wir haben, ist es, diesen Kern zu wahren. Dabei muss es ­keine Rolle spielen, wie groß der Druck von außen oder wie klein der Spielraum ist, mit dem wir uns abfinden müssen – vorerst. Sowieso ist dieser Kern lebendig, und es ist ganz natürlich, dass er sich seinen Weg zur Entfaltung sucht. Das Lebendige bahnt sich immer seinen Weg, und wenn es noch so sehr unterdrückt wird. Meine Geschichte ist dafür ein mehr als anschauliches Beispiel.

Jeder Mensch steckt voller Potenzial – das ist nicht bloß eine Floskel. Wir alle bergen erstaunliche Ressourcen und Kräfte in uns. Und wir können dabei helfen, sie zum Fließen zu bringen; das Lebendige zu fördern, um unser eigenes Wachstum zu beschleunigen, wenn man so will. Es stimmt, Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht, aber wir können Erkenntnis säen und sie begießen. Das tun wir, indem wir bereit sind, in eine Auseinandersetzung mit uns selbst zu gehen. Natürlich erfordert das Mut zur Ehrlichkeit und gleichzeitig Geduld und Freundlichkeit sich selbst gegenüber. Wenn wir jedoch dazu bereit sind, lässt sich damit einer Dürre in unserem Leben vorbeugen, die zwangsläufig einsetzt, wenn wir inneren Raubbau betreiben und uns selbst das Wasser abgraben.

Wir alle haben Verletzungen und Narben, und wir alle haben unsere Gründe, warum wir sind, wie wir sind. Je mehr wir darüber erfahren und je eher wir uns verstehen, desto besser können wir damit leben. Nach und nach dringen wir dann auch in die tieferen Schichten vor, wo unsere Kraftquellen fließen und wo wir auf das stoßen, was wirklich in uns steckt. Je mehr wir uns kennenlernen, desto mehr können sich unsere Kräfte entfalten, und wir kommen in die Lage, uns selbst helfen zu können.

Auch was mit schmerzlichem Verlust einhergeht und ­tiefe Wunden hinterlassen hat, bietet manchmal eine ­Chance zur Weiterentwicklung. Gerade in den Schwächen liegt eine einzigartige wahre Kraft, und wer seine eigenen Schwächen gut kennt, kann auch seine Stärken besser leben und entwickeln. Wie viel Zeit es braucht, das anzunehmen, ist ganz individuell und steht nirgendwo festgeschrieben. Meine Geschichte zeigt jedenfalls: Man kann vieles überstehen. Und wenn nicht immer alles ohne Schmerz vonstattengeht, so lernt man mit der Zeit, dass er irgendwann nachlässt, dass Wunden heilen und dass das Leben ein kostbares Geschenk ist, das man ergreifen sollte.

Keine der Möglichkeiten, die uns das Leben bietet, sollten wir ungenutzt oder gar unbeachtet an uns vorüberziehen lassen. Ich habe in all den Jahren der Gefangenschaft und im späteren Ringen um meine Identität erlebt, dass man mit sich selbst in Dialog treten und so ins Reine kommen kann, auch wenn alle äußeren Umstände dagegensprechen. Ich habe mich in einen Heilungsprozess begeben – weg von der Opferrolle und hinein in eine aktive Rolle. Wenn mir das Leben auch noch so hart mitspielte, so habe ich die Verantwortung für mein Handeln und Verhalten nie zur Gänze abgelegt. Ich habe mir etwas aufgebaut, habe ­meine Kreativität entfaltet und mich weiterentwickelt. Ich darf aus Erfahrung sagen, dass das, was wir manchmal als Gordischen Knoten oder unverzeihliche Verletzung wahrnehmen, letztlich Herausforderungen sein können, an denen es ebenso möglich ist, zu lernen und zu wachsen.

Ich berichte in diesem Buch von Bewältigungsstrategien, die ich an meinem Verhalten und Denken ausmachen konnte, als ich verzweifelt war und in Not. Sie begleiten mich teilweise noch heute durch den Tag. Meine ­Geschichte und meine Strategien wollen eine Inspiration für andere sein. Doch mehr als ein Sprungbrett, um in eine Auseinandersetzung mit sich selbst zu gehen und herauszufinden, wo man steht, worum es einem geht, was und wer man sein möchte, können sie nicht sein. Jeder muss auf seine Weise und für sich selbst Antworten auf die Fragen des Lebens finden. Wie ich es erlebt habe und wie ich die Dinge angegangen bin, kann selbstverständlich nicht für alle gelten. Das Einzige, was sicher gilt, ist, dass jeder bei sich selbst beginnen muss – in den eigenen Gedanken, der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Überzeugungen. Dort nämlich fängt Veränderung wirklich an!

Diese Gewissheit habe ich deshalb, weil ich selbst erlebt habe, welch enorme Kraft unser Geist besitzt. Er kann Dinge in Bewegung bringen, die bereits für alle in Zement gegossen waren, auch für einen selbst. Er ist in der Lage, vermeintlich unlösbare Probleme zu lösen und Situationen zu verändern, die auf einen bestimmten Ausgang vorprogrammiert scheinen. Er schafft es, Dinge zu verarbeiten und einzuordnen, die uns in ihrer Wucht zu erschlagen drohten. Er schafft Ausblicke und schenkt uns Perspektiven, wenn unser erster Impuls womöglich war, gegen eine Wand zu laufen. Und er kann uns Visionen liefern, wo es nicht mehr viel zu hoffen gibt. Letztendlich bestimmt die Haltung unseres Geistes unseren Lebensweg.

Wir haben die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen, welche Haltung wir einnehmen – zu dem, was uns begegnet, und zu dem, was wir erleben. Unsere Vergangenheit kann Ursprung unserer Verletzungen und Narben sein. Sie kann uns aber auch Lehrmeisterin für die Zukunft sein. Die Gegenwart kann uns nicht bewältigbar erscheinen, oder sie kann eine interessante Aufforderung sein, uns selbst besser kennenzulernen. Unsere Zukunft ist für uns entweder ohne große Versprechen, oder wir erträumen und gestalten sie nach unseren Vorstellungen. Diese Entscheidungen zu treffen, bedeutet, die größtmögliche Freiheit zu erlangen.

Dieses Buch möchte Mut machen. Und ich wünsche mir, dass es überzeugen kann, einen ganz besonderen Weg zu gehen – den eigenen! Der alle Mühe wert ist, weil er zu einem selbst führt. Er mag nicht immer leicht sein, aber er ist so vielversprechend, dass es sich am Ende lohnen wird, ihn gegangen zu sein … Wer will schon hinter sich selbst zurückbleiben?

Vergangenheit

Äußere und innere Räume

Ich war ein Kind von gerade einmal zehn Jahren, als ich auf meinem Weg zur Schule von einem fremden Mann vom Gehsteig in einen Van gezogen und an einen mir völlig unbekannten Ort gebracht wurde. Einen Ort, an dem ich die nächsten achteinhalb Jahre meines Lebens gefangen gehalten werden sollte. Ich wurde mitten aus meinem vertrauten und natürlichen Umfeld gerissen. Dieses Leben nach meiner Entführung, so kann man sich denken, hatte nichts mehr mit dem davor zu tun.

Ich wurde in ein fünf Quadratmeter kleines Verlies gesperrt, metertief unter der Erde, ohne ein Fenster, durch das Licht, geschweige denn Leben hätte dringen können. Nichts war mir äußerlich geblieben, was ich mit meinem eigentlichen Leben, das mir an diesem Ort sehr schnell zur Vergangenheit wurde, in Verbindung bringen konnte. Einzig die Kleider, die ich am Leib trug, und meine Schulsachen, die ich damals bei mir hatte.

Der furchtbarste Einschnitt war jedoch, keinen Menschen mehr um mich zu haben, der mir vertraut war, der mir Nähe und Geborgenheit gab. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt mehr zur Außenwelt und wusste auch nicht, ob ich jemals wieder welchen haben würde, je mehr Zeit in Gefangenschaft verging. Der Täter war der einzige Mensch, den ich über viele Jahre zu Gesicht bekam, und damit meine einzige Bezugs- und Kontaktperson.

Ich fügte mich erschreckend schnell in die Situation, weil mir umgehend klar wurde, dass Betteln und Flehen nichts nützen würden. Innerhalb weniger Stunden gab ich nach und versuchte, mir im Rahmen dieser absurden, im Grunde surrealen Situation, ein Gefühl von Normalität zu verschaffen. Mein Geist leistete dabei Enormes, um diese Brücken zu schlagen, sodass ich nicht schon in der ersten Nacht an meiner Angst und Verzweiflung zerbrach.

Ich handelte, ohne viel nachzudenken in dieser außergewöhnlichen, albtraumhaften Situation. Ich folgte meiner kindlichen Intuition und nutzte meine ganze Kraft, um jeden erdenklichen Handlungsspielraum auszumachen und zu bewahren.

Die ersten Nächte musste ich, fern von allem mir Vertrauten, in eine Decke gewickelt auf einer dünnen Matte auf dem Boden schlafen, umgeben von kahlen Nut-und-Feder-Brettern, mit Tag und Nacht brennendem Licht. Das hatte ich so gewollt, weil meine Angst vor der Dunkelheit so groß war.

In den ersten Tagen und Wochen füllte sich nach und nach mein Verlies. Ich bekam frische Kleidung, die mich bei den nur fünfzehn Grad in dem kleinen Raum wärmen sollte. Auch eine Heizung machte die Situation etwas erträglicher. Dass es draußen langsam Frühling und dann Sommer wurde, bekam ich nicht zu spüren – weder das Licht noch die Gerüche und schon gar keine Wärme drangen nach unten zu mir. Das erste Mal durfte ich mein Verlies erst Monate später verlassen, um zu baden. Auch da bekam ich vom Hochsommer, es war August, nichts mit. Die Rollläden waren komplett dicht und alle Fenster verschlossen.

Irgendwann besorgte mir der Täter anstelle der dünnen Matte eine Liege, deren Federn zwar bei jeder Bewegung quietschten, die aber weitaus bequemer war. Am wichtigsten allerdings war es für mich, als der Täter mir meine Schulsachen wiederbrachte, die er mir mitsamt der Schultasche am Tag der Entführung weggenommen hatte. Die Tasche hatte er, genauso wie meine geliebten neuen ­Schuhe, die ich zum Geburtstag bekommen hatte, verbrannt. Meine Stifte, Bücher und Schreibblöcke bekam ich jedoch zurück.

Ich hatte es dort unten geschafft, mich, wann immer ich die Augen schloss, in eine andere Wirklichkeit zu träumen. Doch den Albtraum, in dem ich mich befand, hielt nichts von mir fern, wenn ich die Augen wieder öffnete. Intuitiv wusste ich: Ich brauche mehr Bilder. Bilder aus meiner Welt, die ich gestalten konnte. Mit meinen Stiften hatte ich nun buchstäblich etwas in der Hand, das es mir möglich machte, über meine Fantasie hinaus etwas zu erzeugen und tatsächlich zu verändern. Die Wachsmalstifte aus meiner Schultasche gaben mir die Chance, Bilder zu schaffen, die nicht wieder verschwanden, wenn ich in die harte Wirklichkeit zurückkehren musste. Natürlich blieben auch sie, was sie waren: imaginiert. Aber ich konnte sie greifbarer machen. Ich konnte die Welt in meinem Kopf realisieren – wenn auch nur mit Strichen und ein wenig Farbe – und sie der kranken Welt des Täters entgegensetzen.

Also malte ich die Nut-und-Feder-Bretter meines Verlieses voll. Es lenkte mich nicht nur ab, sondern schuf mir eine Kulisse, in der ich mir vormachen konnte, in meinem Zuhause in Wien bei meiner Mutter zu sein. An die Türe des Verlieses zeichnete ich eine Klinke, die sich in meiner Vorstellung jederzeit bewegen ließ und die Türe öffnen könnte. Herein käme meine Mutter, würde den Schlüssel auf die von mir gezeichnete Kommode legen und mich begrüßen. Die Zeichnungen halfen mir, tief in diese Imaginationen zu gehen. Ich konnte dem allgegenwärtigen Gefängnis entkommen, indem ich mir diese inneren Bilder ins Außen übertrug, sodass ich es schaffte, wann immer ich allein mit mir war, darin abzutauchen. Dort konnte ich verschlossene Türen für mich öffnen und hereinlassen, wen immer ich mir ersehnte. Und ich konnte dahin, wo ich sein wollte – zu Hause.

Als der Täter mir einige Monate später erlaubte, mir eine Wandfarbe für mein Verlies auszusuchen, um es etwas wohnlicher zu gestalten, wünschte ich mir die gleiche Art Rau­fasertapete und rosa Farbe wie in meinem alten Kinderzimmer. Von da an schlief ich jeden Abend mit der Hand an der Tapete ein, träumte mich in mein Zimmer, nachdem ich vom Flur aus meiner Mutter »Gute Nacht« gesagt hatte. Am nächsten Morgen würde sie hereinkommen, um mich zu wecken, und meine Kleidung für die Schule herauslegen. Ich gab mir damals das Versprechen, wirklich irgendwann dort wieder zu stehen, zu Hause in meinem Zimmer.

Ich habe mein Versprechen eingelöst und neun ­Jahre später, nach meiner Selbstbefreiung, die Hand an die ­Tapete des alten Kinderzimmers im Rennbahnweg gelegt und zu mir gesagt: »Hier bin ich wieder. Siehst du, es hat funktioniert.«

Es hat tatsächlich funktioniert, an die Bilder aus meiner Vergangenheit anzuknüpfen, die schönen Erinnerungen meiner Kindheit wachzurufen und sie in meinem Innern lebendig zu halten.

Die Kraft der Erinnerung

Wenn wir uns real oder in Gedanken in Situationen begeben, die für uns mit bestimmten Gefühlen verknüpft sind, werden sie wieder lebendig. Das ist es, was ich intuitiv machte, als ich mich in dem Verlies, in dem ich gefangen gehalten wurde, in meine Vorstellungswelt zurückzog und die schönen Bilder meiner Kindheit heraufbeschwor, um mich zumindest in meinem Geist nicht gefangen nehmen zu lassen. All die guten Erinnerungen und Erlebnisse waren es, aus denen ich instinktiv meine Kraft zog, um in der Isolation zu überleben.