10 Jahre Freiheit - Natascha Kampusch - E-Book

10 Jahre Freiheit E-Book

Natascha Kampusch

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Beschreibung

"Freiheit beginnt in der Seele und arbeitet sich nur langsam von innen nach außen." Sie hatte geglaubt, mit ihrer Selbstbefreiung beginne ein völlig neues Leben voller Energie und Chancen. Stattdessen wurde sie immer wieder dazu gezwungen, in ihre dunkle Vergangenheit einzutauchen. Jetzt erzählt Natascha Kampusch erstmals, wie schwer sie es hatte, ihre Rolle zu finden – und warum sie den Glauben an das Gute im Menschen trotz allem nicht verloren hat. Das bewegende Buch einer mutigen Frau, die immer wieder die Kraft findet, ihr Leben in die Hand zu nehmen.

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Das Buch

Am 23. August 2006 endete eine der spektakulärsten Entführungen in der jüngeren Geschichte: Natascha Kampusch gelang die Flucht aus dem Kellerverlies, in dem sie über acht Jahre eingesperrt war. Darüber hat sie ein viel beachtetes Buch geschrieben. Zehn Jahre nach der Selbstbefreiung gewährt sie Einblick in ihr Leben nach der Flucht. Sie erzählt von ihren Erfahrungen, bitteren und schönen, von ihren Träumen und Alpträumen, von ihrem Alltag, ihrem sozialen Einsatz für Projekte (unter anderem in Sri Lanka) und ihrem Engagement für traumatisierte Jugendliche. In der Hoffnung, dadurch auch das eigene Trauma zu überwinden.

Die Autorin

Natascha Kampusch, Jahrgang 1988, war zehn Jahre alt, als sie auf dem Schulweg entführt wurde. Erst nach über acht Jahren gelang ihr die Flucht. Seitdem versucht sie, ihr Leben in Freiheit zu meistern. Seit einigen Jahren engagiert sie sich für traumatisierte Jugendliche.

2010 erzählte Natascha Kampusch die Geschichte ihrer Entführung in dem Bestseller 3096 Tage. Er war die Grundlage für den gleichnamigen Film, der 2013 in die Kinos kam.

Heike Gronemeier arbeitete zehn Jahre als Lektorin bei verschiedenen Verlagen. 2009 gründete sie die Agentur »text & bild« in München und ist seitdem als Lektorin und Co-Autorin freiberuflich tätig.

NATASCHA

KAMPUSCH

mit Heike Gronemeier

10 Jahre Freiheit

List

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ISBN 978-3-8437-1261-3

© 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinCovergestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenCovermotiv: © Kristof Gyselinck

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Gewidmet all jenen tapferen Frauen, die um ihre Unabhängigkeit kämpfen, in der Hoffnung auf ein freies, selbstbestimmtes Leben.

Gewidmet all jenen, die es geschafft haben, einen Ausweg aus einer scheinbar ausweglosen Situation zu finden.

Ich widme dieses Buch auch all jenen Menschen, die in ihrer Kindheit schrecklicher Gewalt und Missbrauch ausgesetzt waren und die nie Hilfe von außen erhalten haben. Ich hoffe, dass sie eines Tages in der Lage sein werden, ihren Schmerz zu überwinden und zu sich selbst zu finden. Geben Sie sich nicht auf, so endlos lang der Weg, der vor Ihnen liegt, auch scheinen mag. Vor allem die vergangenen zehn Jahre haben mir gezeigt, dass die Freiheit in unserer Seele beginnt und sich langsam von innen nach außen arbeitet.

Inhalt

Über das Buch und die Autorin

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog

Zwischen »Kaspar Hauser« und »Weltsensation«Die ersten Wochen meines neuen Lebens

»Frau Kampusch, wie geht’s Ihnen?«Das Interview

Annäherung unter dem Brennglas der ÖffentlichkeitMeine Eltern, die Medien und ich

»Geh doch mal tanzen!«Das Ringen um Normalität

AusgebremstDie schwierige Suche nach einer Aufgabe

3096 TageAus meinem Buch wird ein Film

»Vielleicht sprenge ich es eines Tages in die Luft«Das Haus in Strasshof

»Eine Frage des Anstands«Mein Engagement in Sri Lanka

In der Endlosschleife»Natascha-Gate«

Epilog

Anhang

Dank

Anmerkungen

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

Prolog

Glaube an dich du bist etwas wert. Tröste dich es wird alles wieder gut. Sei stark.

Halte durch du wirst es schaffen. Du wirst belohnt werden. Nur Mut. Es gibt immer Hoffnung.

Gib nie auf! Vertraue auf dich!! Vertraue auf die Zukunft. Alles wird gut werden. Glück auf!

Wenn du dir etwas vornimmst, und daran arbeitest wirst du dein gestecktes Ziel erreichen. Nichts kann dich umbringen. Sei Tapfer. Alles waß du dir von anderen antun läst, sollte nicht dein Proplem sein, befreie dich.

Fleiß zahlt sich aus. Du bekommst letztendlich immer was du willst. Was dich nicht umbringt, macht dich stärker.

Die Wege ans Ziel mögen schwer sein, aber, mit jedem schritt wird es dir leichter fallen!

Du stecks alles weg wenn es sein muss. Wenn er dich zerfäzt oder gemein anders ist, es ist nicht dein Proplem, sondern das seine!

Diese Zeilen (mit all ihren Rechtschreib- und Interpunktionsfehlern) habe ich während meiner Gefangenschaft mit verschiedenfarbigen Buntstiften auf die Rückseite eines Wandkalenders geschrieben. Manche Sätze, die mir besonders wichtig waren, habe ich zusätzlich eingekringelt. Meine Schrift war etwas ungelenk, es war nicht viel Platz auf dem Blatt, so dass ein Satz in den anderen, eine Zeile in die andere überging. So wie alles in diesem winzigen Raum ineinander überging. Tage und Nächte, Minuten und Stunden, Licht und Dunkelheit. Träume und Realität, angespannte Wachheit und unruhiger Schlaf. Ein Leben, verdichtet auf wenige Quadratmeter, umgeben von dicken, massiven Mauern. Unauffindbar, vielleicht längst vergessen und aufgegeben, wie der Täter mir immer wieder einredete.

Als ich diese Zeilen schrieb, war ich zehn oder elf Jahre alt, genau weiß ich es nicht mehr. Ich war überzeugt davon, dass diese Zeilen, diese Sätze, die mir Mut machen sollten, nur hier unten in diesem Verlies von Bedeutung sein würden. Dass sie mir über die Jahre meiner Gefangenschaft hinweghelfen würden, wie lange sie auch dauern mochte. Mir bei der Abgrenzung vom Täter und seiner Tat dienlich sein würden, was immer er mir auch antun würde. Ich habe damals definitiv nicht damit gerechnet, dass diese Sätze auch über den Tag meiner Gefangenschaft hinaus von Bedeutung sein würden.

Die über einen halben Meter dicken Mauern aus Schutt, Beton und Metall wurden nach meiner Selbstbefreiung ersetzt durch andere Mauern. Auf den ersten Blick durch sehr viel durchsichtigere, scheinbar leichter zu durchdringende. Doch diese Mauern konnte ich bis heute nicht ganz überwinden. Auch weil immer wieder neue dazukommen. Wie wallartige Ringe, die meiner neuen Freiheit, in die ich so viele Hoffnungen gesetzt habe und die ich mir während meiner Gefangenschaft so unendlich gut und schön ausgemalt habe, ein ums andere Mal Grenzen setzen. Grenzen, gegen die ich anrennen konnte, so viel ich wollte, ohne dass sie nachgaben. Grenzen, die so willkürlich erscheinen, dass ich kein Mittel habe, sie zu überwinden. Das Anrennen dagegen hat mich immer wieder in meiner Entwicklung, in meinem Versuch, mich mit dem Leben – meinem Leben – zu versöhnen, zurückgeworfen.

Viele dieser Ringe kamen von außen. Errichtet durch das öffentliche Interesse, das irgendwann keine Schranken mehr kannte. Es war sehr viel Empathie dabei und ehrliches Mitgefühl, aber auch mangelndes Gespür und Sensibilität für Ethik und Moral und die Bedürfnisse eines Opfers, das ich war, auch wenn ich es nie hatte sein wollen. Die anfängliche Anteilnahme vermischte sich mit Forderungen und Erwartungen, eigentlich klare Fakten traten hinter Spekulationen und kruden Theorien zurück. Viele, die mit diesem Verbrechen zu tun hatten oder nach meiner Selbstbefreiung damit befasst waren, sahen nicht die Menschen dahinter, sondern die Chance, bekannt zu werden, und sei es nur für die Halbwertszeit eines einzigen Interviews.

Es gibt, was das angeht, viele Opfer der Tat, unmittelbar wie mittelbar. Meine Eltern und meine Familie zählen dazu. Ich weiß, dass sie in den achteinhalb Jahren meiner Gefangenschaft mehrmals durch die Hölle gingen, zerfleischt von Selbstvorwürfen und dem Unvermögen, etwas gegen die Situation unternehmen zu können. Angeklagt und bezichtigt, misstrauisch beäugt, schwankend zwischen Hoffnung und Resignation und willfährige Opfer der Medien im Ringen um die ultimative »Inside-Story«. Meine Klassenkameraden, die in ihrem Schock die Schuld bei sich suchten und Angst davor hatten, dass ein ähnliches Schicksal ihnen selbst drohen könnte. Die vielen Ermittler und Einsatzkräfte, der Druck, Ergebnisse bringen zu müssen trotz weniger Anhaltspunkte. Versagensängste, tatsächliche Fehler, immer neue Theorien über mein Verschwinden oder meine Zeit in Gefangenschaft, all das war eine Melange, deren Nachgeschmack bis heute sehr bitter ist.

Ich selbst bin eine öffentliche Person geworden, nicht weil ich das immer schon gewollt hätte, sondern weil im »Fall Kampusch« nie Ruhe einkehrte. Verschwörungstheoretiker, Journalisten, tatsächliche oder selbsternannte Ermittler, Politik und Justiz – alle kochten ihr eigenes Süppchen, missbrauchten mich für Zwecke, über die ich keine Kontrolle hatte und deren zugrundeliegende Motive oft erst im Nachhinein sichtbar wurden. Aufklärung und ein Handeln im Interesse des Opfers waren manchmal tatsächlich nur ein Deckmäntelchen.

Ich wurde beschuldigt, die Entführung selbst geplant zu haben, mögliche Mittäter zu decken, zu lügen, in Selbstmitleid zu versinken und beständig Profit aus einer Geschichte zu schlagen, die sich so, wie ich sie immer wieder geschildert habe, nicht zugetragen haben konnte. Schließlich würde so kein Opfer aussehen, das ein jahrelanges Martyrium hinter sich hat.

Ich hatte lange genug Zeit, mich auf den Tag X vorzubereiten, auch wenn dann vieles anders gekommen ist und mich in seiner ganzen Wucht überrollt hat. Ich habe nicht auf einen fremden Retter oder ein Wunder gehofft, sondern mich, als ich innerlich bereit dazu war und sich eine Gelegenheit ergeben hat, selbst befreit. Ich habe die Kontrolle behalten und mich nicht meinem Schicksal ergeben. Ich habe während der achteinhalb Jahre meiner Gefangenschaft in Teilen die Rolle gespielt, die der Täter mir zugedacht hatte. Aber ich habe sie nie als meine Lebensrolle angenommen. Ich habe meine innere Identität nie aufgegeben, meinen Willen nicht brechen lassen. Wäre das passiert, hätte ich diese Zeit wahrscheinlich nicht überlebt.

Die Stärke, die dazu geführt hat, dass ich mich an eine surreale Situation anpassen konnte, wurde nun, nach meiner Selbstbefreiung, zu einem Makel. Zu einem vermeintlichen Beleg dafür, dass es so schlimm ja nicht gewesen sein konnte. Anstatt sich mit mir zu freuen, dass ich diese langen Jahre einigermaßen überstanden hatte, ging es nun darum, mich zu demontieren. Die Stimmung über das »Wunder von Strasshof« schlug um in Neid, Missgunst und teils unverhohlenen Hass, der mir vor allem aus der schützenden Anonymität des Internets entgegenschlug. Eine Form des Hasses, die ich bis heute nicht ganz verstehen kann.

Es ging so weit, dass ich mich für ein Verbrechen, das an mir verübt wurde, zu rechtfertigen hatte. Weil der Täter nicht mehr greifbar war, gab es keinen Fall Priklopil. Sondern nur noch den Fall Kampusch. Ich musste für die Verunsicherung, die diese Tat in der Gesellschaft ausgelöst hat, in gewisser Weise büßen. Eine kriminelle Tat eines einzelnen Mannes brachte zum Vorschein, wie dünn der Lack der Zivilisation ist, der unsere Gesellschaft überzieht. Wir sind die Guten. Das Böse lauert im Abgrund, es muss eine böse Fratze haben, offensichtlich sein. Das ist es aber eben nicht. Letztlich ist das nicht mehr als eine große Selbsttäuschung. Indem man Tätern, wie das auch bei Josef Fritzl geschehen ist, Etiketten wie »Monster« oder »Bestie« anheftet und sie somit vom Normalen in eine »übermenschlich-grauenvolle« Dimension hebt, erhofft man sich vielleicht eine Art Absolution. Mit so etwas habe man nicht rechnen können, das sprenge ja jede Vorstellungskraft. Das ist sicher richtig. Aber ist es nicht auch so, dass »die Gesellschaft« – ohne dass ich das jetzt verallgemeinern möchte – immer wieder auch wegguckt und sich wegduckt und damit den Dingen ihren Lauf lässt, weil sie es nicht erträgt, dass das Böse eben auch in der Nachbarschaft, in der Familie, mitten unter uns ist?

Genau das führt zu jener großen Verunsicherung, genau das kann man nicht ertragen und wähnt mindestens eine große Verschwörung dahinter. Die Tat eines Einzelnen, der doch eigentlich ein ganz Netter war, bürgerlich, ordentlich gemähter Rasen, vielleicht ein »Mama-Bub«, aber immer freundlich – das kann nicht sein, das darf nicht sein. Es muss viel monströser sein, mehr hineininterpretiert werden, damit man es erträgt.

Ich musste beides ertragen. Die Gefangenschaft und die stellvertretende »Inhaftnahme« danach. Mir kam es manchmal vor, als ob Kinder versuchten, einen seltsamen Käfer zu retten. Sich darum streiten, wer ihn halten darf, und ihn zum Schluss im Übereifer zerquetschen. Ich musste so vielen Bildern entsprechen, so vielen Rollen, die mir mit einem Mal zugedacht waren, dass ich mich manchmal fragte, wer ich eigentlich bin. Die meisten Menschen haben ein ganz eigenes Bild von mir als Person entwickelt. Nichts ist so befremdlich, wie sich selbst gegenübergestellt zu werden. Das ist in der Innenschau in den eigenen vier Wänden so, aber das ist um ein Vielfaches schwerer, wenn es über die Plattform der Öffentlichkeit geschieht. Jeder Journalist, jede Person auf der Straße wusste subjektiv besser über mich und meine Lebensgeschichte Bescheid als ich selbst. Über das, was ich dachte, was ich brauchte, was ich fühlte, wie ich zu sein hatte. Es war manchmal so, als könnte ich Natascha Kampusch nicht das Wasser reichen. Ich war nicht die zur Heiligen stilisierte Ikone, der Jungfrau Maria gleich, zu der ich aufgrund eines Fotos, das begleitend zu meinen ersten Interviews veröffentlicht wurde, hochgeschrieben wurde. Ich war nicht die Außerirdische oder der Engel, der gesandt wurde, um eine neue Kirche der Erleuchteten zu gründen. Ich war nicht die Blaupause für Menschen, die selbst Traumatisches erlebt hatten und die hofften, ich könnte eine Lösung für ihre Situation bereithalten. Ich war auch nicht die Hure, das Stück Dreck, das man noch ein Stück tiefer in den Schlamm treten musste, damit es endlich begreift, was Dreck fressen wirklich bedeutet. Nicht die Vorlage für krude Phantasien über den richtigen Umgang mit Mädchen und Frauen, nicht das Objekt für weitere Erniedrigungen und Demütigungen. Das hatte ich, weiß Gott, lange genug gehabt.

Ich war vor einem Feind geflohen und hatte mit einem Mal zig Feinde, in manchen Internetforen sogar Tausende Feinde. Ohne dass ich einen von ihnen gekannt oder irgendeinen Bezug zu ihm oder zu ihr gehabt hätte. Vor allem aber war ich nicht darauf vorbereitet, dem »Draußen« so schutzlos ausgeliefert zu sein. Denn dieses »Draußen« hatte so viele Facetten, dass ich darauf nicht vorbereitet sein konnte. Im Verlies hatte ich irgendwann gelernt, welches Verhalten welche Reaktion und Strafe nach sich ziehen würde. Der Täter ging auf eine Art tatsächlich sehr durchschaubar vor. Er wusste, welche Knöpfe er drücken musste, um mich zu treffen, ich wusste es umgekehrt nach einigen Jahren auch.

Strom abschalten, Licht abdrehen, Batterien für den Walkman wegnehmen, Nahrungsentzug. Schläge und andere Misshandlungen. Die Weigerung, ihn »Gebieter« zu nennen. Die Macht, schlampig zu putzen und ein Haar zu hinterlassen oder Fingerabdrücke, die ihm zum Verhängnis werden konnten. Die ständige Furcht, vor allem später, als ich mit ihm an der Billa-Kasse stand oder an der eines Baumarkts, dass alles auffliegen und man auf mich aufmerksam werden könnte. Es waren wenige Fäden, die ich während meiner Gefangenschaft in der Hand hatte, und es hat sehr lange gedauert, bis mir bewusst war, dass es diese Fäden gab und ich manchmal auch an ihnen ziehen konnte.

Draußen, in der Welt der Guten, hatte ich kaum eine Chance. Da ging es nicht um holzschnittartiges Reagieren, um Tat, Verfehlung und Strafe oder Belohnung. Da ging es um vielfältige Interessen, um sehr viel subtilere Formen von Strafe und Belohnung. Das ständige Schwelen der »Causa Kampusch«, die rein von der Aufklärung des eigentlichen Verbrechens her gesehen längst keine mehr war, hat mir sehr zugesetzt. Die immer haarsträubenderen Gerüchte haben dazu geführt, dass ich nicht zur Ruhe kam. Anfangs war ich empört. Dann wütend. Dann nur noch traurig. Ich habe mich mit der Frage gequält, was es ist, dass ich so abgelehnt werde, dass ich als jemand gebrandmarkt werde, dem man auf eine Art beinahe mehr Untaten zutraut wie dem Täter. Das Schlimmste, was man unterstellen konnte, war gerade gut genug. Ich habe nicht verstanden, warum sich die Grenzen so dermaßen verwischen konnten. Vielleicht, weil ich einigen Menschen oder Teilen der Gesellschaft unbewusst einen Spiegel vorgehalten habe. Der Blick hinein hat Angst gemacht. Angst vor Abgründen, vor Verdrängung, aber auch vor dem Zulassen von Stärke und Schwäche.

Ich habe wirklich geglaubt, mit meiner Selbstbefreiung würde das beginnen, was ich in einem Interview einmal als mein »drittes Leben« bezeichnet habe. Ein völlig neuer Abschnitt, ein Neubeginn, voller Energie und Chancen. Ich habe unterschätzt, auf welche Weise und über welch langen Zeitraum ich von außen dazu gezwungen werden würde, der dunklen Vergangenheit immer wieder Platz in meinem Leben einzuräumen. Es gab Phasen, da war ich tatsächlich überzeugt, ich könnte die Vergangenheit abstreifen wie einen Handschuh. Ohne immer wieder mit dem Zugang zu der einengenden Existenz davor konfrontiert zu werden. Als hätte ich mein Gedächtnis verloren und würde jetzt ein vollkommen neues Leben führen.

Der sinnbildliche Handschuh war einer, der mit der Zeit den Status eines Fehdehandschuhs bekam. Ich selbst weiß gut genug, dass ich nicht mein Gedächtnis verloren habe und mich dieser Handschuh mit seinen dunklen Fingern immer wieder daran erinnern wird, dass ich eine Geschichte habe, die ich mir nicht ausgesucht habe, die mich aber mein Leben lang begleiten wird. Das weiß ich, und darauf bin ich vorbereitet, und damit werde ich klarkommen, irgendwie, mal besser, mal schlechter. Dass mir andere ihren ganz eigenen Handschuh vor die Füße werfen, damit habe ich nicht gerechnet. Und die Motive schmerzen mich manchmal mehr als manche Misshandlungen des Täters. Die waren wenigstens offensichtlich.

Ich habe vollkommen unterschätzt, wie viel Kraft es mich kosten würde, etwas abzuschließen, was offenbar nicht abgeschlossen werden darf oder nicht abgeschlossen werden kann. Immer wenn ich denke, ich kann es schaffen, ich bin auf einem guten Weg, belehrt mich »die Welt« eines Besseren. Manchmal ist es meine innere Welt, die Erinnerung, die mich daran hindert, mich von der Vergangenheit zu lösen. Oft genug ist es die äußere, die offenbar ein Interesse daran hat, mich daran zu hindern, mein eigenes Leben zu führen. Indem sie mich in eine Zelle sperrt, in die ich lange Jahre de facto gesteckt worden bin. Aber aus der ich mich offenbar nicht befreien darf.

Denn genauso, wie der Täter überhöht werden musste, damit die Tat erträglicher wurde, muss das Opfer eine Rolle erfüllen. Entweder gebrochen bis zum Ende seines Lebens oder mit einem Erwartungsdruck belegt, an dem es nur scheitern kann. Ich weiß nicht, ob ein Außenstehender sagen würde, ich sei gescheitert. Weil ich zwar meinen Hauptschulabschluss nachgeholt, aber noch keine Ausbildung abgeschlossen habe zum Beispiel. Ich weiß nicht, ob ich in Zukunft als gescheitert gelten werde. Es kommt immer darauf an, nach welchen Maßstäben man »Scheitern« bemisst. Für mich ist es schon ein Sieg, dass ich noch lebe. Dass ich in der Lage bin, all das auszuhalten, mit dem ich von außen – auch und gerade in den letzten zehn Jahren – konfrontiert wurde. Dass ich weitgehend unabhängig und selbständig leben kann.

Ich lebe zwischen den beiden Polen aus der Stärke der Überlebenden und der Schwäche des Opfers. Es braucht vielleicht einen zweiten Blick, um das zu erkennen. Das, was man mir oft als Arroganz oder Hochmütigkeit ausgelegt hat, war in vielen Fällen nichts anderes als Rückzug, als ein Zeichen von Unsicherheit. Ein Schutzpanzer, den ich schon während meiner Kindheit langsam aufgebaut habe und in der Gefangenschaft vervollständigen musste. Ich habe unterschätzt, wie wichtig er auch in Freiheit sein würde. Worte können sehr verletzend sein. Ebenso können bestimmte Mechanismen der Gesellschaft schmerzhafte Wunden schlagen. Ich habe auf teils sehr bittere Weise Zusammenhänge erkennen müssen, an denen viele ihr Leben lang blind vorübergehen, ohne sie wahrnehmen zu müssen. Es gibt Tage, an denen ich wünschte, genau das wäre mir erspart geblieben. Und während ich diese Zeilen schreibe, weiß ich, dass es solche Sätze sind, die mir von manchen wieder ausgelegt werden als pures Selbstmitleid. Die in Blogs Kommentare nach sich ziehen wie »Dann geh doch zurück in den Keller«. Dass es heißen wird, jetzt schreibt sie noch ein Buch, »mach di net immer so wichtig, dei Gfries halt eh scho koana mehr aus«.

Ich bin darauf vorbereitet. Den Glauben an das Gute im Menschen werde ich trotzdem nicht verlieren. Und auch nicht den Mut, wenn man das Mut nennen will, Dinge anzusprechen, die ich für wichtig halte.

In einem Interview drei Jahre nach meiner Selbstbefreiung habe ich einmal gesagt, ich würde mich fühlen wie eine entwurzelte Orchidee, eine Pflanze, die irgendwohin geschwemmt wird, kurzfristig Wurzeln fasst und dann weitertreibt. Die dort eingepflanzt wird, wo andere sie gern sehen oder haben würden. Ich würde mir wünschen, dass dieses Buch ein Stück weit dazu beiträgt, Verständnis zu schaffen für mein Bedürfnis, dort zu wachsen und zu gedeihen, wo und wie ich das möchte. Dass es auch dazu beiträgt zu versöhnen, indem man einen zweiten Blick wagt, einen Blick dahinter. Und ich möchte einen Schlusspunkt setzen, hinter eine Geschichte, in der irgendwann alle nur noch Getriebene waren.

Ich möchte weiter auf mich und die Zukunft vertrauen. Ich habe nur dieses eine Leben, und ich möchte es nutzen. Auch wenn der Weg in dieses Leben, in meine Zukunft schwer sein mag, fällt es mir doch mit jedem Schritt leichter. Jeder Tag in Freiheit ist ein Geschenk, dem ich versuche, mit Freude und Dankbarkeit zu begegnen. Aber auch mit Mut und Tatendrang.

Nelson Mandela hat einmal gesagt: »Frei zu sein bedeutet nicht nur, seine eigenen Fesseln zu lösen, sondern ein Leben zu führen, das auch die Freiheit anderer respektiert und fördert.« Meine eigenen Fesseln muss ich selbst lösen – wie jeder andere auch …

Zwischen »Kaspar Hauser« und »Weltsensation«

Die ersten Wochen meines neuen Lebens

Wie ein Bienenschwarm sind alle um mich herumgeschwirrt, jeder hat gedacht, ui, aus der und ihrer Geschichte lässt sich etwas herausholen. Bildlich gesehen kam ich aus dem Loch gekrochen, und das Erste, was ich gesehen habe, waren Verträge. Alle haben gesagt, du musst nur hier unterschreiben, du musst nur tun, was wir dir sagen, dann wird alles gut.

Die ersten Tage meines neuen Lebens in Freiheit verbrachte ich, wenn man so will, in Unfreiheit. Es hatte eigentlich eine geschützte, behutsame Rückkehr in die Welt werden sollen, möglichst abgeschirmt vom draußen tobenden Mediensturm, der nach meiner Flucht und der Meldung, dass die jahrelang vermisste Natascha Kampusch wieder aufgetaucht sei, mit ungeahnter Heftigkeit losgebrochen ist. Die Wahl für mein erstes, neues Zuhause auf Zeit fiel auf das Allgemeine Krankenhaus Wien (AKH), zumal ich nach den achteinhalb Jahren im Verlies gründlich medizinisch untersucht werden sollte. Denn die Zeit in Gefangenschaft hatte auch körperlich deutliche Spuren hinterlassen.

Ich hatte massive Probleme mit den Augen, reagierte überempfindlich auf den Wechsel zwischen hell und dunkel. Einen Punkt zu fixieren fiel mir schwer, meine Augen wanderten unruhig hin und her. Wenn mich etwas überforderte – und überfordert hat mich in diesen ersten Tagen eigentlich alles –, begann ich mit den Augäpfeln zu rollen, was auf Außenstehende wie eine Art Tick gewirkt haben muss. Eine Macke aus dem Keller.

Ich hatte Probleme mit dem Gleichgewicht und der Motorik und konnte Entfernungen nicht gut abschätzen. »Freihändig« durch einen größeren Raum zu gehen bereitete mir Schwierigkeiten. Ich brauchte etwas oder jemanden, an dem ich mich festhalten konnte, damit ich meine Schritte sicher setzte. Der enge Bewegungsradius durch die Mauern, die mich jahrelang umgeben hatten, war wie in meinen Kopf eingebrannt. Diese Mauern waren Folterinstrument und Qual auf der einen Seite gewesen, hatten mir auf der anderen aber auch Schutz und Sicherheit geboten. Als ich sie zum ersten Mal hatte verlassen dürfen, haben mich die Dimensionen des Hauses über dem Verlies in Schrecken versetzt. Allein der Weg nach oben, der laut Aussage des Täters mit zig Sprengfallen gesichert war, die bei einer falschen Bewegung jederzeit hochgehen konnten. Die vielen Winkel, aus denen Priklopil hervorspringen und mich angreifen könnte. In meinem Raum unter der Erde war ich mit der Zeit darauf vorbereitet, wenn der Täter kam. Ich hörte das schabende Geräusch, wenn er den Safe beiseitewuchtete, konnte abschätzen, wie lange es dauern würde, bis er durch den schmalen Einlass durchgekrochen war und schließlich den Mechanismus für die schwere Tür bediente. Oben im Haus, wenn ich für ihn arbeiten musste, fühlte ich mich ungeschützter, seiner Willkür und Launenhaftigkeit viel unmittelbarer ausgesetzt.

Aufgrund der Mangelernährung hatte ich eine Reihe von Allergien entwickelt, meine Haut und mein Magen reagierten sensibel auf jede Veränderung. Auf den ersten Bildern, die nach meiner Selbstbefreiung im Fernsehen und den Printmedien zu sehen waren, konnte man unter der mittelblauen Decke den Saum meines bunten Sommerkleides erkennen, darunter meine dürren Beine. Die kalkweiße Haut war übersät mit geröteten Stellen, bräunlichen Flecken und Blutergüssen.

Während all der Jahre in Gefangenschaft hatte ich nie einen Arzt zu Gesicht bekommen. Wunden, die mir der Täter zugefügt hatte, einmal auch eine Verbrennung an Händen und Armen durch kochendes Wasser, waren nie professionell versorgt worden. Im Nachhinein hatte ich sicher Glück, dass ich mir dadurch nie eine schwere Infektion zugezogen habe. Denn auch im Umgang mit meiner Gesundheit zeigte sich letztlich die gespaltene und menschenverachtende Persönlichkeit des Täters.

Einerseits war er fast schon hysterisch, wenn es um vermeintlich gesunde Ernährung ging. Lebensmittel erschienen ihm grundsätzlich suspekt, die großen Konzerne würden alle unter einer Decke stecken und die Menschheit systematisch mit kontaminierten Speisen langsam vergiften. Vor allem Gewürze seien verstrahlt und müssten deshalb unter allen Umständen gemieden werden. Später wurden Kohlehydrate, Zucker und selbst Obst vom Speiseplan gestrichen. Wegen der Gifte in der Schale. Gleichzeitig hatte er kein Problem damit, mich tagelang hungern zu lassen, wenn ich »zu aufmüpfig« war. Die Magenkrämpfe und Schwindelanfälle, unter denen ich litt, seien eine gerechte Strafe für mein Fehlverhalten. Bis heute habe ich ein gestörtes Verhältnis zu Essen.

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie im Dezember 2006 eine Sendung aufgezeichnet wurde zum Thema »das erste Weihnachten in Freiheit«. Nach einer halben Stunde habe ich einen meiner Anwälte angerufen: »Ich sitze in Gänserndorf, bitte komm sofort, das ist alles so kompliziert.« Das Haus, in dem gedreht wurde, gehörte einer ORF-Mitarbeiterin, vor dem Gebäude stand ein riesiger Möbelwagen, aus dem unzählige Menschen Dinge heranschleppten, um das Haus umzugestalten. Alles wuselte herum, überall lagen Kabel, ich saß allein auf einem Sofa, wie bestellt und nicht abgeholt, niemand hat in diesem Moment gesehen, wie isoliert ich war unter diesen vielen Menschen.

Wenig später lieferte ein Catering-Unternehmen Kisten mit Gebäck und Semmeln, die Leute griffen im Vorbeigehen zu, aßen im Gehen, im Stehen, Brösel rieselten auf den Teppich, Tomaten mit Mayonnaise landeten auf dem Boden. Ich saß nur da und war fassungslos, wie achtlos hier mit Nahrung umgegangen wurde. Ein halbes Jahr nach meiner Flucht funktionierten die Mechanismen aus dem Verlies noch perfekt. Essen muss man sich verdienen. Essen muss man ehren. »Schling nicht so, sonst gibt es gar nichts mehr. Jetzt hast du dich schon wieder anbatzt.« Einmal war mir beim Herausnehmen eines Stück Fischs aus der Pfanne etwas Panade hinuntergefallen. Der Täter griff nach meiner Portion und schüttete Pril darüber. Damit ich lernen würde, dass man nicht so herumkleckert.

Das war ihm überhaupt das Wichtigste: Sauberkeit. Keime waren das schlimmste Übel, sie lauerten überall, gefährlich unsichtbare Krankheitsüberträger. Priklopil hatte einen regelrechten Putzzwang, der sicher nicht nur damit zusammenhing, dass er jede noch so kleine Spur von mir beseitigen wollte. Ein Haar von mir, eine Hautschuppe, ein Fingerabdruck, nichts davon durfte je oben im Haus entdeckt werden. Abgesehen von diesem Verfolgungswahn, in den er sich im Laufe der Jahre immer mehr hineinsteigerte, hatte er panische Angst vor Krankheiten, die durch Keime, Viren oder Bakterien ausgelöst werden könnten.

Gleichzeitig hatte er kein Problem damit, mir schwerste Schläge und Tritte zuzufügen, auch blutende Wunden. Einmal rutschte ich auf der Treppe hinunter ins Verlies aus und schlug mit dem Kopf auf den Stufen auf, so dass ich einen Moment lang bewusstlos war. Als ich zu mir kam, war mir speiübel, in meinem Kopf verspürte ich ein einziges Hämmern, das nicht aufhören wollte. Ich hatte Angst, dass ich mir den Schädel gebrochen haben könnte. In den nächsten Tagen lag ich nur im Bett und konnte mich nicht rühren. Sobald ich den Kopf hob, wurde mir schwarz vor Augen. Den Täter hat das nicht interessiert. Im Gegenteil, er bestrafte mich für mein »deppertes Verhalten«, weil ich bei meinem Sturz eine Glasschüssel hatte fallen lassen und die Stufen mit Blut verdreckt hatte. Spätestens in diesem Moment war mir klargeworden, dass er mich eher sterben lassen würde, als selbst bei einem schweren Notfall Hilfe zu holen.

Ich habe lernen müssen, Schmerzen zu erdulden und mit ihnen zu leben. Ich habe lernen müssen, Hunger zu erdulden und mit diesem quälenden Gefühl zu leben, das einem alle Sinne betäubt, einen schwindeln und den Bezug zur Realität verlieren lässt. Nach einer längeren Hungerphase konnte ich Nahrung nur löffelweise zu mir nehmen. Der Geruch, die Konsistenz, alles, von dem ich in den Tagen zuvor phantasiert hatte, war nun zu viel. Das Schlucken war ein einziges Würgen, hinterher brannte mein Magen wie Feuer, der ganze Bauch war aufgebläht.

* * *

Nach meiner Flucht waren Anzeichen meiner jahrelangen Gefangenschaft nach außen hin deutlich sichtbar. Aber niemand wusste, ob ich auch organische Schäden davongetragen hatte. All das sollte im AKH abgeklärt werden, ebenso mein psychischer Zustand.

Auf einer normalen, für alle frei zugänglichen Station konnte ich aus Sicherheitsgründen nicht aufgenommen werden. Also wurde entschieden, mich auf der kinder- und jugendpsychiatrischen Station unterzubringen. Da ich bereits volljährig war, musste ich mich selbst »einweisen« lassen, damit ich mich in der Klinik von Rechts wegen aufhalten durfte.

Ich kam in die geschlossene Abteilung, in der Patienten, die für sich oder andere eine Gefahr darstellen, ihre Zimmer von innen nicht immer öffnen können. Die Türklinke lässt sich bei Bedarf mit einem kurzen Handgriff abnehmen. Zusätzlich wurden Sicherheitsleute auf Station postiert, die den Eingang zu meinem Zimmer Tag und Nacht bewachten. Genauso, wie keiner hineindurfte, konnte ich fürs Erste nicht hinaus.

Das war einerseits gut gedacht, weil ich mich in diesem geschützten Raum sammeln und zu mir kommen konnte, andererseits war es vollkommen absurd. Kaum in Freiheit war ich wieder eingesperrt. Und das, wonach ich mich vor allem gegen Ende der Gefangenschaft am meisten gesehnt hatte, war ich in dieser ersten Zeit überhaupt nicht: Ich war nicht selbstbestimmt, ich konnte nicht frei entscheiden. Der Täter, der sich selbst als »Gebieter« über mein Leben gesehen hatte, war in gewisser Weise ersetzt worden durch ein ganzes Team, das nun über jeden meiner Schritte wachte und bestimmte.

Ich möchte hier auf keinen Fall falsch verstanden werden: Wenn ich diesen Vergleich ziehe, geht es natürlich nicht um die Methoden und die dahinterstehenden Motive – die hätten unterschiedlicher nicht sein können. Es geht allein darum, was diese Situation in mir emotional ausgelöst hat. Ich war auf eine Art wieder nur Objekt, auch wenn das in diesem Moment wahrscheinlich den Menschen, die sich nun um mich kümmerten, nicht in vollem Umfang bewusst war. Es ging schließlich nur um meinen Schutz, um meine psychische und physische Gesundheit und Stabilität.

Schon kurz nach meiner Selbstbefreiung war mir eine Betreuungskommission zur Seite gestellt worden. Sie bestand zunächst aus: Prof. Dr. Ernst Berger vom Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel, damals Konsulent des Psychosozialen Dienstes von Wien und in dieser Funktion »Projektleiter« der Stadt für die kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung; Prof. Dr. Max Friedrich, Vorstand der Uniklinik für Kinder- und Jugend-Neuropsychiatrie; Monika Pinterits, Jugendanwältin der Stadt Wien, sowie Udo Jesionek, der Chef der Opferhilfeorganisation Weißer Ring.

Das war die einzige Entscheidung, die ich damals selbst getroffen habe, noch auf der Polizeistation, in die ich nach meiner Flucht gebracht worden war. Ich kannte die Organisation aus dem Radio, weil ich im Verlies einmal eine Sendung gehört hatte, in der es um das Thema Opfer von Gewaltverbrechen ging, und dachte, sie seien die Richtigen. Auf jener Polizeistation begegnete ich auch zum ersten Mal Prof. Dr. Ernst Berger, der dort nach der ersten Einvernahme ein psychologisches Erstgespräch mit mir führte und mir die weiteren Maßnahmen erklärte. Er war auch derjenige, der die vorübergehende Unterbringung im Spital ins Gespräch brachte und mir von seinem Freund Max erzählte, einer Koryphäe auf seinem Gebiet.

Dazu kamen noch ein Medienberater und ein Rechtsanwalt der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien. Letzterer wurde mir in der Klinik vorgestellt, er hatte eine angenehme und zurückhaltende Art, und unser Gespräch verlief aus meiner Sicht eigentlich recht gut. Ich war erleichtert, dass ein erfahrener Opferanwalt das Mandat übernahm. Leider legte er nach nur vier Tagen das Mandat nieder; er könne das nicht alleine stemmen, ich solle mir eine große Kanzlei suchen, die Erfahrung mit solchen komplexen und vor allem im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stehenden Ereignissen habe.

Aus dem Team war unversehens ein Pfeiler weggebrochen, der nächste sollte im September folgen. Der Medienberater, der mir zur Seite gestellt worden war, stand vor der großen Aufgabe, die vielen Anfragen in- und ausländischer Zeitungen und Fernsehsender zu bearbeiten. Es ging um eine möglichst seriöse Berichterstattung, um Kontrolle von Informationen und vor allem um meinen Schutz. Es ging aber auch um ein riesengroßes Geschäft.

Als klar war, dass der öffentliche Druck nicht nachlassen würde und ich mich in irgendeiner Form äußern müsste, wurde die Pressestrategie festgelegt, die ein TV-Interview und zwei Gespräche mit Printmedien vorsah. Nachdem ich all das einigermaßen überstanden hatte, kam er mit einem Arm voller Blumen in die Klinik. Eine nette Geste, für die Schwestern und für mich. Er strahlte aus allen Knopflöchern, als er zu mir ins Zimmer kam und sich auf einen der Stühle setzte.

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