Start/Up - Paul Piper - E-Book

Start/Up E-Book

Paul Piper

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Beschreibung

"Du musst ein Schwein sein" – das ist die Lehre, die Mark Cain, Absolvent der Schweizer Eliteuni St. Gallen, nach 5 Jahren erfolglosem Kampf für sein Start-up "Webbster" ziehen muss. Er hat nach den Werten seines Elternhauses gekämpft, mit Fleiß, Können und einem ehrlichen Produkt. Nun ist er pleite, isoliert und von Panikattacken gequält – ein Loser, in den Augen seiner ehemaligen Kommilitonen, die nach einem ganz anderen Rezept von Erfolg zu Erfolg segeln. Mark zieht den Stecker. Von jetzt an wird er es machen wie die anderen, nur cleverer: Mit einem Sixpack aus Skrupellosigkeit, Arroganz und rotzfrechem Verhalten. Schon die Idee zu seinem neuen Start-up bewegt sich im Graubereich des Legalen. Mit einer Software zur Manipulation des Online-Werbemarkts will er auf betrügerische Weise Geld für Klicks kassieren, die es gar nicht geben wird. Der Roman "Start/Up" gibt einen Einblick in die Welt der deutschen Start-up Szene, deren Nimbus aus Reichtum und Macht junge IT-Unternehmer zu gefeierten Popstars macht, in der aber soziale Kälte, Bindungslosigkeit und Einsamkeit herrschen.

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Paul Piper

Start/Up

Setz das Netz in Flammen

© 2020 Paul Piper

Herausgeber: Pikai Verlag

Autor: Paul Piper

Lektorat: Jasmin F. Weiner, Henriette Piper

ISBN Paperback: 978-3-9822427-0-5

ISBN e-Book: 978-3-9822427-1-2

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Frankfurt - Sommer 2013

Berkeley - Herbst 2008

Teupitz - Frühjahr 2014

St. Gallen - Sommer 2009

Berlin - Sommer 2016

Teupitz - Frühjahr 2010

München - Frühjahr 2017

Berlin - Winter 2010

Berlin - Herbst 2017

Stuttgart - Frühjahr 2011

Frankfurt - Herbst 2018

Stuttgart - Sommer 2012

Los Angeles - Sommer 2019

Danksagung

Kapitel 1:

Frankfurt - Sommer 2013

So vom Flugzeug aus betrachtet wirkte die sonst so vertraute Stadt auf Mark geradezu surreal. Als wäre der Höllenschlund aufgesprungen und hätte die Finanzwelt in Flammen gelegt. Die in rotgelbes Licht getauchten Straßenzüge wirkten wie pulsierende Adern, die in ihrer Wut die komplette Stadt in Hitze ertränkten. Es wirkte auf ihn, als könnten nur noch die Finanztürme mit ihrer Wuchtigkeit diesem bewegten Nachtleben entkommen und nun teils pechschwarz, teils in grelles Licht getaucht bis weit in den Himmel hineinragen. Vor wenigen Jahren noch hätte er sich über die Landung gefreut. Die wenigen Sekunden, kurz bevor die Reifen auf der Fahrbahn aufsetzten, gaben ihm ein unvergleichbares Gefühl der Schwerelosigkeit. Aber heute nahm er es kaum wahr. Er starrte noch einen Augenblick aus den schmalen Airbusfenstern hinaus, während der Flieger sich weiter dem Boden näherte. Der Druck auf den Ohren nahm zu. Er schluckte – für den Druckausgleich.

Mark war angespannt. Immer wieder hatte er den Flug über auf seinen Laptop geschaut. Und auch jetzt wandte sich sein Blick auf das Arbeitsgerät. Mit ernster Miene schaute er auf den Quelltext. Die dunkle Oberfläche der Entwicklungsumgebung starrte zurück. Er startete den Compiler und wartete darauf, dass das Programm zu laufen begann. Hier im Flieger konnte er zwar keinen Live-Test durchführen, aber zumindest könnte er noch mal schauen, ob die letzten Änderungen Fehler warfen. Die Kommandozeile blitzte auf und lieferte eine Reihe von Einträgen, gefolgt von einer Statusmeldung: „> Training: … DONE.“ Immerhin. Nur die Graphen waren noch nicht so, wie er sie sich vorstellte.

Es war wichtig, dass dieses Mal alles funktionierte. Das Programm hatte noch seine Tücken, aber wenn es morgen fehlerfrei lief und er Simons Unterstützung bekam, könnte es etwas richtig Großes werden. Das wäre dann ein absoluter Gamechanger. „Nicht wie damals“, dachte Mark und erinnerte sich wieder an diese E-Mail von 2010 - die E-Mail, die alles verändert hatte:

Sehr geehrter Herr Cain,

nach erfolgter Prüfung und Analyse der Unterlagen und des Konzeptes können wir Ihnen leider keine positive Rückmeldung geben. Für Rückfragen stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.Freundliche Grüße,Ihre Sparkasse

Die Erinnerung an das Unrecht holte ihn sofort wieder ein. Er konnte noch immer das Gesicht des Bankberaters vor sich sehen. Wie der Typ so frech sein konnte. Jedes Wort war gelogen. Er hätte es damals schon besser wissen müssen. Was für ein verficktes Arschloch. Nicht einmal seinen eigenen Namen hat er damals drunter gesetzt! Jeder Muskel in seinem Arm spannte sich an. Am liebsten hätte Mark seine Wut gleich hier und jetzt an seinem Vordermann ausgelassen, der seinen Sitz weit nach hinten gelehnt hatte und Marks Platz auf ein Minimum beschränkte. Verdient hätte er den kräftigen Tritt gegen die Rücklehne. Wegen ihm durfte er die letzten zwei Stunden wie auf einer Folterbank eingespannt verbringen. Den klebrigen Limofleck, den er sich durch das ruckartige Zurückfahren der Stuhllehne zugezogen hatte, würde Mark ihm auch nicht verzeihen. Dazu diese ekligen fettigen Haare, die zu einem „man bun“ zusammengebunden waren und etwas über die Lehne hingen. Sein Sitznachbar war auch nicht besser. Der hatte bereits nach dem Start seine Schuhe ausgezogen und sich zu einem Knoten zusammengerollt, sodass er Mark gleichermaßen ins Ohr schnarchen und seine Armlehne vereinnahmen konnte.

Von hinten schlich die Stewardess durch die Reihen. Ein letzter Kontrollgang vor der Landung. „Können Sie sich dann bitte auch anschnallen und das Gerät wegpacken?“, zwitscherte sie. Er nahm es zur Kenntnis und starrte wieder auf den Laptop, aus dem er die alte Mail gefischt hatte. „… nach erfolgter Prüfung und Analyse der Unterlagen und des Konzeptes …“ „Was für ein merkwürdiger Satz“, dachte er sich. Und noch dazu von einem Bankberater. Er hatte nicht um einen Kredit gebeten, sondern schlicht um die Weiterleitung an den Gründerfond. Aber selbst das war wohl zu viel verlangt von diesen Bankern. Hätte er bloß diese Mail nicht aufgemacht, aber jetzt war es eh zu spät. Der Vordermann wackelte auf seinem Sitz herum und beugte sich nach vorne, um eine Cola-Dose in das Aufbewahrungsnetz zu drücken. Dazu das laute Getose der Turbinen und der Druck auf den Ohren. Gott, wie er Reisen mittlerweile hasste. Nicht mehr lange.

Er tauchte wieder in die Mail ein. „…Prüfung und Analyse…“ – als ob das in diesem Fall zwei unterschiedliche Schritte wären. Schwer vorstellbar, dass der Berater einer kleinen lokalen Bank überhaupt zu einer tiefergehenden Analyse zur Wirtschaftlichkeit von Online-Geschäftsideen in der Lage wäre. Geschweige denn jemals ernsthaft eine Prüfung durchführen würde. „Gelesen“, „zur Kenntnis genommen“, „Gelocht und in die Tonne getreten“ – das wären passendere Sätze! Dass dieser Wichser sich überhaupt angemaßt hatte, Gatekeeper zu einer Förderung des Landes zu sein. Zuvor hatte er noch mit Begeisterung von der Idee geschwärmt und „wäre natürlich bereit“, zu unterstützen. Man solle doch aber auch einmal über eine Anlage nachdenken, das Geld könne ja ruhig arbeiten, während man es selbst auch tue, wiederholte Mark innerlich. Die lächelnde Visage seines Bankberaters sah er immer noch vor sich. Mark durchsuchte seinen Account nach weiteren Mails aus dem damaligen Schriftverkehr. Jede Menge Fragen und detaillierte Antworten, dazu der konkrete Businessplan. Gleichzeitig immer wieder Rückfragen, ob man nicht Interesse an einer neuen Anlage habe, die Sparkasse könne da helfen. Mark klickte zurück zur ersten Mail und schaute auf das Sendedatum. November 2010, eine gefühlte Ewigkeit war das jetzt her. Aber irgendwie hätte es auch gestern sein können. Das war der Anfang gewesen.

„Tut mir ausgesprochen leid, aber der Tisch muss nun wirklich eingeklappt und der Laptop verstaut werden. Kann ich Ihnen dabei helfen?“

„Nein, geht schon“, murmelte er. Sie konnte ja nichts dafür. Auch wenn er bei Gott nicht nachvollziehen konnte, warum Frauen in dem Alter überhaupt noch Flugbegleiterinnen waren. Vermutlich hatte sie den Absprung nicht geschafft. Seine Nachbarin hatte ihm mal erzählt, dass das bei den älteren Flugbegleiterinnen so wäre: Entweder man wechselt und wird Ausbilderin, dann kann man aber nicht weiterfliegen, oder man bleibt bei seiner Leidenschaft und akzeptiert, dass irgendwann das Gehalt knapper wird, und die langen Strecken ohne Schlaf auch aufs Gemüt schlagen. Dass das unattraktiv für alle Beteiligten war, dafür sorgten die Airlines schon. Wirkt auch besser, wenn junge Studentinnen das nebenberuflich machen. So hatte sie es ihm immer wieder erzählt. Eine komische Vorstellung. Nur fürs Reisen so einen Scheiß zu ertragen. Dazu auch noch die ganze kosmische Strahlung. Scheiß System.

Er guckte wieder nach oben. Die fettigen Haare des Vordermanns lagen immer noch auf der Lehne. Sie würden bestimmt einen Fleck hinterlassen. Ob der Bezug je gewechselt wurde? Vermutlich nicht. Er drehte sich um und blickte den Gang hinunter. Die Flugbegleiterin gab ihm mit einem weiteren Handzeichen zu verstehen, dass er nun alles wegpacken sollte, bevor sie den Notsitz runterklappte und sich überdeutlich anschnallte. „Irgendwie passend, dass die neben der Toilette sitzen darf“, dachte er. Dann klappte er den Laptop zu, verstaute ihn in seinem Rucksack, den er zwischen seinen Füßen eingekeilt hatte und starrte wieder aus dem Fenster. Immer schneller zogen die Wolken an ihm vorbei. Mittlerweile konnte man die Autos schon klar unter sich erkennen, deren Licht stellenweise das Orangerot der Straßen in grelles Weiß tauchten. Die Landebahn kam näher und gab ihm für einen kurzen Augenblick wieder das Gefühl von Schwerelosigkeit. Wenigstens etwas. Dann der Krach des Aufsetzens, das noch lauter werdende Getöse der Turbinen. Die Durchsage des Kapitäns, man solle noch sitzen bleiben, bis das Gate erreicht war, wurde natürlich von allen ignoriert. Sein Sitznachbar schubste ihn an, damit er ihm endlich Platz machte. Gott, wie Mark dieses Gedränge in der Enge hasste.

Frankfurt - Hotel am Markt

Die nächsten Schritte waren längst zur Routine geworden. Rucksack aufgesetzt, Gepäck aus dem Fach geholt, schnell noch das zerknüllte Jackett gesucht und gewartet, bis man endlich aussteigen durfte. An den Massen vorbei durch das Terminal zum Taxistand. Er lief wie automatisch und driftete immer wieder in Gedanken ab. Das Ausschalten der Umgebung war eine Gewohnheit, die er sich über die Jahre angeeignet hatte. Programmierer nannten es auch „den Tunnel.“ Alles andere wurde routiniert vom Unterbewusstsein übernommen.

Als er wieder zu sich kam, befand er sich im Hotelzimmer und hatte das Gepäck notdürftig im Flur geparkt. Das Necessaire war bereits im Badezimmer aufgehängt, die Lederschuhe säuberlich in die Ecke gestellt, Hemd und Jeans über den Stuhl geworfen. Ein kurzer Blick in die Hotelbar, ein Fläschchen Whiskey geöffnet und neben dem Laptop am schmalen Zimmertisch aufgestellt. Er öffnete seinen E-Mail-Client und schaute sich den morgigen Tagesablauf an. Der Termin mit Simon, der mittlerweile als Investor tätig war, blieb unverändert. Gute Neuigkeiten also. Simon würde die Idee bestimmt spannend finden. Er war schließlich Profi und musste ein Gespür dafür haben, wie revolutionär der Gedanke war. Vielleicht kannte er sogar jemanden bei Google. Dann könnte man dem kalifornischen Unternehmen eventuell doch noch als Dienstleister die Idee anbieten. Eine Win-win-Situation für alle. Mark spürte, wie er sich entspannte. Zum ersten Mal seit Langem gelang es ihm wieder, tief durchzuatmen.

„Ein letzter Test“, dachte er zuversichtlich und wählte sich in das Hotelnetzwerk ein. Wie viele andere hatte auch dieses Hotel so eine komische Firewall dazwischengeschaltet, die man leicht mit der Einwahl in ein VPN-Netzwerk umgehen konnte. Zahlen würde er bestimmt nicht – man musste kein Mitleid mit Hotels zu haben, die für das Internet Geld verlangten. Er öffnete seine VPN-Software und legte los. Es war eh besser, wenn seine IP-Adresse verschleiert war, und das VPN würde auch das gewährleisten. Noch sollte niemand wissen, was er da tat, sonst würde sein Projekt vielleicht gestoppt werden, bevor es angefangen hatte. Er startete die Entwicklungsumgebung und führte erneut das Programm aus. Ein knappes „Missing CSV-File (URI):“ blitzte in der Konsole auf. Er hatte vergessen, den Parameter richtig zu setzen! Er versuchte es erneut und sah der Konsole zu, wie sie mit der Generierung von Anzeigen begann.

„Yes!“, dachte sich Mark und freute sich. Es schien tatsächlich zu funktionieren: Sein Programm konnte Google vorgaukeln, ein Nutzer zu sein, der Marks Webseite besucht und Anzeigen anschaut. Wenn das Programm jetzt noch die Anzeige anklicken würde, hätte er bewiesen, dass er den Anzeigenmarkt mit seinem Bot künstlich manipulieren konnte. Mark war zum ersten Mal seit Langem wieder in seinem Element. Er konzentrierte sich auf die weiteren Parameter, aber alles passte. Er guckte einen Moment lang dem Prozess zu, der immer wieder URLs öffnete, Seiten herunterlud, das JavaScript interpretierte und dann einen Augenblick lang stoppte. Nach kurzer Zeit erschien das Signal „Ignoring generated ad.“ Das Programm hatte also erfolgreich seine Webseite aufgerufen, sich von Google eine Anzeige ausliefern lassen und sich dann dazu entschlossen, diese zu ignorieren.

Das war schon einmal ein wichtiger Zwischenschritt. Mark freute sich und wartete einen kurzen Moment, bis ein neuer Eintrag erschien. „Downloading sources“, gefolgt von „Interpreting JavaScript“, eine weitere Pause, dann „Ignoring generated ad“. Immer und immer wieder durchlief das Programm diesen Kreislauf. Dazwischen immer wieder Pausen von zwei Sekunden, mal fünf, und auch mal zwölf. „Fein, und jetzt auch mal mit Erfolg?“, sprach er in Gedanken dem Programm zu. Er starrte weiter auf den Monitor. „Ignoring generated ad“, „Ignoring generated ad“, „Ignoring generated ad“. Er nippte noch einmal an dem bereits leeren Plastikfläschchen, dann plötzlich: “Clicking ad”, gefolgt von einem “Reconnecting…” „YES!!!“, rief er und klatschte dabei mit der flachen Hand auf den Tisch. Er wechselte im Browser auf die Übersicht des neuralen Netzwerks. Auch der Graph sah super aus. Eine abfallende logarithmische Kurve beim Modell Score, sich der Null annähernd, aber auch nicht übermäßig trainiert. Die Sache mit dem neuralen Netzwerk hatte er eigentlich nur für Simon eingebaut. Neurale Netze waren Teil von künstlicher Intelligenz und „künstliche Intelligenz“ in einer Software klang irgendwie cool. Es konnte einem ja egal sein, ob es wirklich etwas Sinnvolles zum Programm beitrug.

Mark stand auf, zog den Stuhl ans Bett und stellte den Laptop darauf, putzte sich die Zähne und legte sich hin. Er versuchte, abzuschalten. Aber sein Kopf war noch viel zu wach. Immer wieder musste er auch an Webbster denken, seine Firma, mit der er letzten Monat Konkurs anmelden musste. Er würde sich zwingen müssen, abzuschalten. Das neue Projekt war eh besser: Mit seinem neuen Programm hatte er den Beweis geliefert, dass Google anfällig für Betrug im Anzeigenmarkt war. Solange das Programm lief, würde er über die Anzeigen auf seiner Webseite Geld verdienen, ohne dass das jemand nachvollziehen konnte. Ob das legal war, war eigentlich egal – erstmal zählte nur die Idee. Simon würde das verstehen. Im Grunde zeigte er damit nur auf, dass es Löcher im System gab. Der Rest würde sich schon irgendwie klären. Und Simon würde nicht mal groß investieren müssen. Er brauchte ihn sowieso nur als Mentor und Vermittler, damit Google bereit war, ihm zuzuhören. Sein Kopf raste. Die Nacht würde unruhig werden.

Frankfurt - Greenwall-Tower

Als nach wenigen Stunden endlich der Wecker klingelte, war Mark längst wach. Er hatte versucht, seinen Kopf zu beruhigen und sich immer wieder von einer zur anderen Seite des Bettes gewälzt, aber letztlich keine Ruhe gefunden. Er war schweißgebadet. Er brauchte Simons Hilfe, auch wenn er dafür über seinen eigenen Schatten springen musste. Aber erst einmal brauchte er einen klaren Kopf. Er ging ins Badezimmer und warf sich eine Ladung Wasser ins Gesicht. Hoffentlich würde ihm die kalte Morgenluft noch etwas helfen, fitter zu werden. Wie in Trance wusch er sich, zog ein frisches Hemd an, dann die Jeans und Schuhe, steckte den Laptop in seine Tasche und verließ das Hotelzimmer.

Kurze Zeit später kam Mark im Greenwall Tower an, einem eleganten Glasturm in der Nähe der Alten Oper. Die Aufzugtür öffnete sich und Mark marschierte auf den weißen Tresen zu, der direkt vor einer bis zum Boden reichenden Fensterwand aufgebaut war. Davor erstreckte sich das übergroße Firmenlogo, das einen Samen symbolisieren sollte, aus dem ein ganzer Baum zu sprießen schien. Darunter der Schriftzug: „Seed Ventures – We plant ideas for a greater harvest!“ Etwas weniger dick hätte man auch auftragen können. Aber irgendwie schien das die Masche der Venture-Firmen zu sein: Der Name musste suggerieren, dass man etwas für die Allgemeinheit tut und Wachstum das Maß aller Dinge ist. Oder besser noch – wie hier – auch gleich noch mit der Natur im Einklang war. „Warum die sich nicht gleich ‚Zen Masters‘ nennen…“, dachte sich Mark und schüttelte den Kopf.

Mark hatte in den letzten Jahren viele Venture-Capital-Firmen kennengelernt, also Risikokapitalanleger, die sich für einen Firmenanteil an jungen Unternehmen beteiligten. Einige seiner alten Freunde von der Uni waren zu diesen Firmen gewechselt. „Es macht mehr Spaß, Geld zu verteilen, als nach Geld zu fragen. Besonders, wenn es nicht dein eigenes ist“, hatte irgendjemand mal auf einer abgedroschenen Gründerparty zu ihm gesagt und vermutlich Recht gehabt. Damals hatte er noch darüber gelacht. Erst jetzt verstand er so richtig, was damit wohl gemeint war. Es war ungewohnt ruhig im Eingangsbereich. Keine laute Stimme, keine unruhige Bewegung. Nur das klackernde Geräusch seiner Schuhsohlen auf dem blanken Marmorboden störten das Ambiente. In dieser Welt war er der Störkörper. Auf dem Weg hierher hatte er eigentlich nicht wahrgenommen, dass es besonders laut gewesen war, aber nun spürte er den Umgebungswechsel. Wenigstens lächelten die Empfangsdamen ihm freundlich zu.

„Guten Morgen. Kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Morgen. Ich, ähh, habe einen Termin mit Herrn Alberts, neun Uhr.“

„Ich schau mal gerade im System. Ihr Name war?“

„Cain, wie Nein nur mit C und A. Ich bin vermutlich etwas früh dran.“

Die Empfangsdame drehte den Kopf zum Monitor, während Mark die Visitenkarten auf dem Tresen begutachtete. Hochwertiges Papier, leicht grau und faserig, das Logo klein in der Ecke. Gestanzt, nicht gedruckt. Mark nahm eine in die Hand. Saubere Oberfläche, generell nichts Aufwendiges, also auch hier: Understatement. Er steckte sich eine Karte in die Hosentasche und dachte kurz darüber nach, wie absurd es eigentlich war, dass er das immer noch tat. Die Kontaktdaten hatte er längst, also war es wohl eher eine Form der Höflichkeit. So oder so ein unsinniges Gehabe.

„Ah, da haben wir Sie ja. 9 Uhr, wie Sie gesagt hatten. Da haben Sie wohl doch nicht gelogen.“ Die Empfangsdame lächelte kurz und griff zum Hörer. Es klingelte. „Hallo Herr Alberts, Ihr 9-Uhr-Termin ist hier.“ Sie lächelte Mark erneut an, wartete kurz und legte dann auf. „Herr Alberts verspätet sich etwas, aber wenn Sie möchten, kann ich Sie schon einmal ins Besprechungszimmer führen.“ Sie stand auf und führte Mark einen langen Gang entlang, vorbei an mehreren Einzelbüros, alle mit schweren Holztischen und aufwendigen Lichtinstallationen bestückt. Die Lampen kannte er. Unverschämt teuer, dafür sorgten sie angeblich für besonders natürliches Raumlicht. Von jedem Raum aus schien man einen klaren Blick auf die Innenstadt zu haben. Das Ambiente machte nicht gerade den Eindruck hektischen Betriebs, eher einer entspannten Gelassenheit. Alle in perfekt sitzenden Anzügen gekleidet, mal zurückgelehnt am Telefon, mal beim Surfen über den Rechner gehängt.

„So, da wären wir also“, trällerte sie und öffnete eine schwere Holztür, die mit dem Wort ‚Amazonas‘ beschriftet war. Mark ging an ihr vorbei und auf die Fensterwand zu. Ihm fiel sofort der Fußboden auf, der sich nun zu einem feinen Parkett gewandelt hatte und insgesamt wärmer auf ihn wirkte. Er blickte aus dem Fenster - wieder dieser phänomenale Blick über die Stadt. „Trinken Sie Kaffee?“

„Ja, gerne. Bitte mit Milch“, erwiderte er, ohne sich umzudrehen. Sie öffnete ein Panel an der Holzwand, hinter dem ein Kaffee-Vollautomat versteckt war, und drückte auf ein paar Tasten. Dann kam sie zurück zum Tisch, baute eine ganze Reihe von Süßigkeiten und Milch vor ihm auf, stellte den Kaffee ab und verschwand aus der Tür. Mark schaute noch einen Augenblick auf die Türme der Stadt und das palastähnliche Opernhaus. Er beobachtet die überfüllte Straße und wunderte sich kurz, dass die direkt daneben liegende Parkanlage vollkommen leer gefegt war, bevor er sich dann an den überbreiten Tisch setzte, seine Tasche direkt neben ihm, den Blick auf die Tür fokussiert. Er nahm einen kräftigen Schluck. Er war müde.

Es dauerte. Simon schien sich Zeit zu lassen. „Typisch“, fand Mark. Auch an der Uni war Simon nicht gerade der Überflieger gewesen, sondern hatte eher durch Abwesenheit geglänzt. Er hatte recht früh einen Praktikumsplatz bei einem der Coupon-Start-ups bekommen, Copon.io, was Mark damals vollkommen unbeeindruckt gelassen hatte. „Vertane Zeit“, hatte er das Simon gegenüber kommentiert, aber Copon.io war ein großer Erfolg geworden. Das Start-up hatte früh die Aufmerksamkeit von Investoren auf sich gezogen, als klar wurde, dass sich das Geschäftsmodell in den USA rasant zu verbreiten schien. Dabei war es eigentlich nichts Besonderes. Copon.io stellte eine Plattform für Unternehmen zur Verfügung, über die diese rabattierte Angebote verbreiten konnten, zeitlich oder im Vorrat begrenzt, sodass das Gefühl, ein Schnäppchen geschossen zu haben beim Käufer die Begierde steigerte. Coupon.io kassierte für die Vermittlung die vereinbarten Prozente, der Rest ging an die ausgebenden Unternehmen. Für alle Beteiligten also ein super Geschäft. Die Idee war gut, aber natürlich keine Originelle gewesen. Die Gründer hatten sie aus den USA mitgebracht und kurzerhand den HTML-Quelltext und die Stylesheets kopiert. Vermutlich hatte die Entwicklung der Plattform keine zwei Wochen in Anspruch genommen. Die Investoren liebten Geschwindigkeit bei Start-ups und belohnten sie mit viel Geld. Dass das Ganze nah an Diebstahl lag, war allen Beteiligten dabei egal. Mark hatte Jahre gebraucht, das zu verstehen.

Noch zu Unizeiten hatte Simon Mark eingeladen, bei Coupon.io mit einzusteigen. Für die IT hätte man jemanden wie ihn gut gebrauchen können. Ein Posten als CTO wäre doch nett! Aber Mark war das Ganze rechtlich zu heiß gewesen und er hatte ohnehin kein Interesse an geklauten Ideen gehabt. Nur Idioten haben es nötig, andere nachzuahmen. Simon hingegen hatte diese Skrupel offensichtlich nicht gehabt und war darüber mit den richtigen Personen in Kontakt gekommen. Einmal hatte er Mark eine Excel-Liste gezeigt. Gegliedert nach Venture-Capital und Business Angels, also Investoren, dazu die Pressevertreter und hilfreiche weitere Gründer. Das Who’s who der Branche. Alles geordnet nach Nützlichkeit.

Mark starrte auf seine rechte Hand, die vor Stress leicht zitterte. „Zu viel Kaffee“, vermutete er, steckte sie dann aber doch lieber in die Tasche, wo er die Visitenkarte spürte und nun mit der Hand hin und her flippte. Er wunderte sich, wo Simon steckte. Er musste schon mindestens eine halbe Stunde gewartet haben. Er griff nach seinem Handy, das er kurz zuvor noch auf den Tisch gelegt hatte, und begann einen Browser zu öffnen. Eigentlich war ihm gar nicht nach Lesen, aber er wollt jetzt auch etwas beschäftigt wirken, wenn Simon reinkäme. Er öffnete die Financial Times und las die Überschriften, bevor er gelangweilt zu einem Technologieblog wechselte. Echtes Interesse an den Finanznachrichten hatte er, ehrlich gestanden, auch noch nie gehabt. Aber es wirkte besser, wenn man die FT las. Eine weitere halbe Stunde später öffnete sich schlagartig die Tür und Mark legte das Handy auf den Tisch. Simon stürmte herein.

„Guten Morgen, Mark. Schön dich zu sehen. Geht’s gut?“ Mark, der mittlerweile tief in seinen Stuhl versunken war, richtete sich wieder auf und versuchte, etwas bemüht, aufzustehen. Simon gab ihm zu verstehen, dass er ruhig sitzen bleiben solle.

„Ja, klar. Danke, dass es geklappt hat“, erwiderte Mark.

„Na, dann schieß mal los, was verschafft mir die Ehre?“ Simon zog einen Stuhl vom Tisch und setzte sich.

„Naja, ich war gerade in der Stadt gewesen und wollte die Gelegenheit nutzen, sich mal wieder auszutauschen.“ Mark beugte sich nach vorne. „Ich weiß nicht, wie viel du über die letzten Jahre von mir erfahren hast. Aber ich bin da gerade an was Großem dran.“ Mark pausierte kurz und rang nach dem nächsten Satz, dann ging es weiter: „Wie du ja sicher weißt, hatte ich mit meiner ersten Idee nicht so wirklich Erfolg gehabt. Da war vieles nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte, aber vielleicht wird man ja durch die Erfahrung klüger.“

„War das diese Plattformgeschichte?“

„Genau. Mir fehlte es eigentlich an allem; Geld, Erfahrung, Unterstützung. Aber dieses Mal ist das alles anders. Ich hab zwischenzeitlich jede Menge Auftragsarbeit gemacht und noch mehr dazu gelernt…“

Simon unterbrach. „Okay. Aber du bist jetzt auch nicht pleite, oder?“

Mark war von der Frage überrascht. „Nee, quatsch.“

„Na, das ist doch prima. Ich hab ja ein Herz für kleine Unternehmer. Stell ich mir irgendwie romantischer vor, als das, was ich hier so mache.“ Simon gestikulierte etwas mit der Hand, bevor er weiter ausholte. „Ohne Witz, ich würde töten für ein kleines Unternehmen, mit dem ich ohne Mühe jeden Monat mein Einkommen habe. Ist doch prima, wenn das bei dir der Fall ist. Und was machst du jetzt konkret?“

Mark registrierte, dass das Gespräch in die falsche Richtung lief und versuchte, gegenzusteuern. „Ich mach jetzt was ganz anderes als Webbster. Ist ´ne ganz neue Idee. Geht in Richtung neurale Netze. Wird dich interessieren.“

Simon lehnte sich zurück und stöhnte leicht desinteressiert in sich hinein. „Was Neues… Aber sonst ist wirklich alles okay?“, fragte er Mark.

Mark zögerte einen Moment. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Simon es ihm so schwer machen würde. „Nun, es könnte besser laufen, aber…“

Simon lehnte sich zum ersten Mal nach vorne. „Hör mal, Mark. Ich finde das zwar spannend, was du so machst. Aber neurale Netze…das macht derzeit wirklich jeder. Wenn du jetzt noch Cloud Computing sagst, können wir gleich abbrechen.“

„Okay, aber ich…“, setzte Mark an, doch Simon fiel ihm ins Wort.

„Nee, versteh mich jetzt nicht falsch. Ich finde das ja super, dass du auch ´n Zukunftsthema machst, aber wenn du wüsstest, wie viele Businesspläne ich derzeit bekomme, in denen irgendjemand irgendwas von neuralen Netzwerken schreibt. Das ist total verrückt. Leider alles immer nur derselbe Mist. Irgendwas Abgefahrenes, was dann hinterher eh nicht funktioniert. Neulich bot uns jemand eine KI an, die angeblich die Aufzucht von Pflanzen bei Kleingärtnerbetrieben vereinfachen soll. Wer will denn so was?“ Mark wusste nicht, was er darauf antworten sollte, aber Simon ließ ihm ohnehin keine Chance, zu Wort zu kommen. „Erzähl mir doch lieber mal, was Nicky jetzt so macht.“

Nicole Vollmer, kurz „Nicky“, war eine gemeinsame Freundin, mit der Mark im Auslandsemester in den USA zusammengewohnt hatte. Sie war der Typ Einserschülerin, nur auch beliebt. Freies Sprechen lag ihr, und Männer konnte sie ohne Probleme um den Finger wickeln. Nicole hatte nach dem Bachelor das Fach gewechselt und sich in Jura eingeschrieben. Sie trafen sich in den ersten Jahren regelmäßig zum Kaffeetrinken. Meistens noch in der Uni-Bibliothek.

„Nicky geht‘s gut. Denke ich. Ich habe lange nichts von ihr gehört.“

„Oh, das ist schade. Hast du ihre Nummer? Dann ruf ich sie nachher mal an.“

Mark zögerte. „Ja, denke schon.“

„Na, dann mal her damit.“

Widerwillig nahm Mark das Handy vom Tisch, das er bei Simons Auftritt von sich geworfen hatte, und kramte in seinen Kontakten. Er leitete Nickys Profil an Simons Handynummer weiter.

„Erledigt“, sagte er und legte das Handy wieder auf den Tisch zurück. Simon richtete sich auf.

„Prima, danke.“ Er wartete auf den kurzen Handyton, der ihm den Erhalt des Kontakts signalisierte, bevor er fortfuhr: „Fein. Zurück zu dir. Warum bist du konkret hier? Mach doch mal ‘nen Elevator-Pitch…“

Mark erschrak. War es nicht offensichtlich, was er wollte? Er wollte sich erst einmal zu seinem Projekt austauschen. Er wollte Kontakte, oder von Simon hören, welche Erfolgsaussichten er dem Projekt einräumte. Also eher Guidance als Geld. In ihm wuchs das Gefühl, dass der Trip ein Fehler gewesen war.

„Ich wollte mit dir über mein Projekt reden“, erwiderte er schließlich.

„Da kann ich dir leider nicht helfen“, sagte Simon und es klang schon wie das Ende des Gesprächs. „Wir sind derzeit eher auf der Suche nach erneuerbaren Energien, also weniger Web als noch vor ein paar Monaten. Wobei, am liebsten schon noch verwandt…Da machst du aber nichts, oder?“

„Nein, aber…“

„Schade. Naja, kannst dich ja melden, wenn du in der Richtung mal was hörst.“ Simon schaute auf die Uhr. „Ich muss leider wieder weiter. Aber war mal wieder nett. Ist cool, dass du hier warst.“ Simon stand auf und streckte Mark die Hand über den Tisch entgegen. Mark musste sich geradezu verrenken, um sie bei der überbreiten Tischplatte zu erreichen. „Hol dir doch noch ´nen Kaffee und genieß die Aussicht. Wir schreiben uns, ne?“ Und so schnell, wie Simon in das Zimmer gestürmt war, war er auch schon wieder draußen.

Mark wusste nicht so recht, wie ihm geschehen war. „Dachte der, dass ich ein Bittsteller bin und nach Geld frage?“ Er schaute auf sein Handy und las die Uhrzeit ab. Gerade einmal sieben Minuten hatten sie miteinander verbracht. „Sieben Minuten“, dachte Mark. Und dafür war er extra nach Frankfurt geflogen. Er hatte so darauf gehofft, mal eine Zweitstimme zum Projekt zu hören. Eine Meinung von jemandem, der beurteilen konnte, ob die gesetzlichen Risiken durch die finanzielle Seite ausgeglichen würden. Jemand, der vielleicht beim nächsten Schritt helfen konnte. Über das Telefon hätte er das alles nicht erzählen wollen. Man weiß ja nie so genau, wer mithört. „Sieben Minuten!“ Dabei hatte er eine Präsentation vorbereitet, um die Details durchgehen zu können. Er hätte die Slides öffnen müssen. Oder hätte das zu sehr nach Business Plan ausgesehen? Er steckte seine Hand wieder in die Tasche und starrte auf die leere Kaffeetasse. „Wieso dachte der, dass ich auf Geld aus bin? Hält der mich für solch einen Loser?“

Mark wusste, dass Venture Capitalists, kurz VCs, eigentlich immer auf der Suche nach dem nächsten Invest waren. Und er hätte ahnen können, dass Leute wie Simon so reagieren. Das mussten sie tun! Simon war schließlich auch nur Dienstleister. Hinter ihm stand ein mächtiger Fond, an dem größere Firmen und wohlhabende Privatpersonen beteiligt waren. VCs verteilten zwar Geld, aber sie mussten auch schnell ein Gefühl für erfolgreiche Geschäftsmodelle und neue Trends entwickeln. Trendthemen wurden dann auch genauso schnell wieder uninteressant.

Mark wusste das. Aber dass ausgerechnet Simon dachte, dass er es nötig hatte, so wie die Anderen einem dieser Trendthemen hinterher zu hecheln, machte ihn wütend. War da gar kein Platz mehr für Freundschaft oder zumindest freundschaftlichen Austausch? Und wenn nicht, warum konnte er ihm nicht mal diese zehn Minuten schenken und wenigstens so tun, als ob? „Was für ein Arschloch.“ Mark spürte, wie sich seine Hand in der Hosentasche zusammenballte und dabei die Visitenkarte zerdrückte. „Wichser.“ Er stand auf und nahm die Kaffeetasse in die Hand. Am liebsten hätte er sie gegen die Wand geschleudert. Er war gerade dabei, tief durchzuatmen, als es an der Tür klopfte. Die Empfangsdame lächelte ihn an.

„Sie waren hier fertig, oder?“ Mark nickte. „Sehr gut, dann kommen Sie bitte mit. Herr Alberts hatte mich gebeten, kurz zu lüften.“ Sie zeigte mit ihrer Hand nach draußen, während sie sich schon wieder zu einer neuen Gruppe umdrehte, die im Flur wartete. „Sie können dann schon mal rein.“ Eine Gruppe junger Männer, die so aussahen, als ob sie gerade das zweite Uni-Semester hinter sich hatten, wuselten an ihr vorbei. Alle in ihren besten Anzügen. Perfekt gestylte Haarschnitte. Einheitslook. Sie setzten sich wie selbstverständlich hin und kramten ihre iPads raus, während Mark seine Tasche nahm und das Zimmer verließ. „Sie kennen den Weg?“ fragte die Empfangsdame.

„Ja“, erwiderte Mark und zog schnellen Schrittes den Gang entlang, vorbei an den Glasbüros und dann schnurstracks zum Aufzug.

Der Lärm der Straße war geradezu erdrückend. Mark hätte sich am liebsten sofort in einer Höhle verkrochen, aber hier war er der Stadt schutzlos ausgeliefert. Er wollte einfach nur weg. Raus aus dem Lärm, raus aus der Masse, raus aus allem. Die ganze Stadt widerte ihn an. Er überlegte kurz, ob er sich ein Taxi nehmen sollte, aber er konnte nirgendwo eins entdecken. Einen der neuen Taxi-Nachahmer? Er ahnte, was dann kommen würde: Bestimmt wieder so ein Geisteskranker, der noch nicht verstanden hatte, dass die Unternehmen seine Dummheit ausnutzten. Noch mehr Dummheit konnte er einfach nicht ertragen. All diese Loser überall. Diese verfickten Loser. Dann lieber zu Fuß.

Mark ging langsam die Straßenzüge entlang. Es war bewölkt, vereinzelt erwischten ihn Regentropfen. Geschlagen und am Ende seiner Kräfte trottete er weiter. „Wie kam Simon dazu, ihn wie einen Bittsteller zu behandeln?“, dachte er erneut. „Was für ein Arsch! Dabei verstehen wir uns doch eigentlich gut? Und dann die Sache mit Nicky… Was zum Henker wollte der Wichser von ihr? Als ob die an so jemandem wie ihm interessiert wäre…oder vielleicht doch?“

Mark bog in eine Seitenstraße ab, vorbei an einer alten Stadtvilla, deren Eingang etwas erhöht über der gesamten Nachbarschaft thronte. Er setzte sich auf die Treppenstufen und stellte seine Tasche neben sich. Vor dem imposanten Gebäude muss er unglaublich klein auf die vorbeifahrenden Autos gewirkt haben. Die nun etwas häufiger fallenden Regentropfen blendete er vollkommen aus. „Solche Ärsche kriegen immer alles… verfickter Arsch! Nichtskönner!“ Da war sie wieder. Die Wut. Marks unglaubliche Wut. Er spürte das Wummern des Blutdrucks in seinen Gefäßen, spürte die Hitze in seinen Wangen hochsteigen. „Und was mach ich jetzt? Was verfickt noch mal mach ich jetzt?“ Mark schaute in die Ferne und nahm für einen Augenblick einen Obdachlosen auf der gegenüberliegenden Straßenseite wahr, der den Mülleimer mit einem Stab nach Pfandflaschen durchforstete. Aber dessen Schicksal ließ ihn kalt. Er starrte weiter vor sich hin. „Warum wie ein Bittsteller? Der kennt mich doch? Warum sollte ich nach Geld fragen wollen?“

Seine Gedanken drehten sich immer schneller. Jetzt musste er sich wieder an diese eine Mail des Bankberaters erinnern, mit der er ihn vollkommen verarscht hatte, dann an die vielen Situationen, in denen er bloßgestellt worden war, dann an die vielen Partys, zu denen er eingeladen gewesen war. Damals, als es ihn noch interessierte, was die anderen von ihm dachten. All die Partys, die sich an Prunk zu überbieten versuchten. All diese Oberflächlichkeiten. Er dachte wieder an Nicky, die nach der Uni in die M&A Branche eingestiegen war und jetzt mit Sicherheit in ihrem beschissenen Porsche durch die Gegend düste. Geradezu spielerisch – so wie ihr eigentlich immer alles zuflog, ihr und etlichen anderen von der Uni. Alle hatten ihr Scheißleben im Griff. „Diese verfickten reichen Erben…“ Er erinnerte sich an all die Freunde, denen er geholfen hatte, denen er großzügig Webseiten entwickelt hatte, die sich danach nicht mehr gemeldet hatten. Er erinnerte sich an das Interview, das er mit viel Anstrengung organisiert hatte und das nie richtigstattfand, weil am gleichen Tag einer der alten Herren der Branche auch ein Interview geben wollte. Er erinnerte sich an Kai, der ihm mit Projektarbeit vorübergehend aus der Patsche geholfen hatte, und an ihren Streit, weil ein Kunde…„Diese beschissenen Scheißkunden.“ Schließlich erinnerte er sich noch an seine Mutter, seine arme Mutter, und wie er sie in den letzten Monaten immer wieder im Krankenhaus besucht hatte. „Nie wieder!“

Mark nahm seine Tasche und lief ohne Umwege zum Hotel. Er warf die Hoteltür hinter sich zu und streifte seine Schuhe mit den Füßen ab. Er zog den Laptop aus der Tasche und öffnete die Entwicklungsumgebung. Ein paar der Programmparameter veränderte er noch, bevor er die VPN-Verbindung öffnete und dann das Programm startete. Über die VPN-Verbindung würde seine Ursprungsadresse verschleiert werden. Zudem hatte er in sein Programm Tor eingebaut, eine Software, die alle Übertragungen über ein undurchdringbares Netz an Zwischenrechnern schickte. Ihn würde niemand zurückverfolgen können! Diese verfickten, arroganten Wichser, dachte er wütend. Aber er würde es auch ohne ihre Hilfe schaffen!

Kapitel 2

Berkeley - Herbst 2008

Das Austauschprogramm ihrer Uni in St. Gallen hatte Mark zusammen mit Nicky nach Berkeley geschickt. Berkeley! Er war an der amerikanischen Elite-Uni angenommen worden, der Traum aller Studenten seines Jahrgangs. Mark genoss die Auszeichnung und die dazu gewonnene Freiheit in vollen Zügen. Sicherlich war das Studium fordernd, aber hier konnte er endlich seinem Hobby, dem Programmieren, nachgehen und dafür auch noch universitäre Credits bekommen. Seine einzige Sorge war, dass ihm Zeit für die Arbeit an der eigenen Plattform fehlte, einem Baukastensystem für Webseiten, mit deren Entwicklung er während des Studiums in der Schweiz begonnen hatte und die nun kurz vor dem Abschluss stand. Vermutlich hätte er auch das geschafft, wäre da nicht noch Nicky, seine Mitbewohnerin, gewesen. Nicky forderte regelmäßig ein, unterhalten zu werden und hatte ihn auch an diesem Abend überredet, in einen Szeneklub zu gehen. Der Bison Club war mit aufwändigen Holzpaneelen ausgekleidet, in deren Flächen Farbmonitore eingelassen waren, die animierte Gesichter als Porträts abspielten. Das Holz verschluckte einige Dezibel des lauten Basses der Elektronikmusik, die alle Gespräche unterdrückte und Partystimmung verbreitete. Es war schon spät, als Mark endlich den Mut hatte, sich langsam zu verabschieden.

„He, du kannst mich doch jetzt hier nicht alleine lassen!“ Nicky stellte das leere Cocktailglas auf den Tresen und rannte hinter Mark her. „Warte auf mich!“ Sie holte ihn beim Eingangsbereich ein, gerade als er nach draußen verschwinden wollte.

„Es ist 2 Uhr, ich bin müde, lass uns nach Hause gehen“, erklärte sich Mark, der mit geröteten Augen nur noch auf ein Bett hoffte.

„Ach komm schon! Sei nicht so ein Spielverderber!“ Sie zog spielerisch an seiner Hand – „Bitteee…nur noch einen Tanz?“

Mark wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte, und blickte sie erschöpft an. Bevor er protestieren konnte, zog ihn Nicky schon zufrieden lächelnd hinter sich her, zurück auf die Tanzfläche. Der Laden brummte und Nicky war in bester Laune. Sie zwängten sich an durch die Körpermassen der Tanzenden hindurch in die Mitte des Saales. Ein Grüppchen Jungs, die Mark nur flüchtig kannte, wartete bereits. Mit leichten, zum Takt passenden Bewegungen beobachteten sie die nähere Umgebung. Keiner von ihnen sah so richtig gut gelaunt aus - etwas zu cool für den Laden. Lediglich Mike, der mit seinen 1.86 Metern etwas über die anderen hinausragte, schien in bester Stimmung zu sein und hielt eine Flasche Grey Goose-Wodka in der Hand, für die er Abnehmer suchte. „Was für ein widerliches Gesöff“, dachte sich Mark, aber Grey Goose war sowas wie der Champagner unter den teuren Clubgetränken. Dass er nur Brechreiz auslöste, schien keinen zu stören. Mark hatte Mike das erste Mal auf einer Studentenverbindungsparty gesehen, auf der er sich zwei geöffnete Bierflaschen „für den Weg“ verkehrt herum in die Hosentaschen gesteckt und so tief triefend den Club verlassen hatte. Der Moment war ihm in Erinnerung geblieben, wobei Mike im Alltag sicher eher zu den Leistungsträgern zählte. Er war Investmentbanker oder so. Auf jeden Fall fuhr er stets im Camarro, einem Muscle-Car, vor, wenn er bei den Partys aufkreuzte. Camarro fährt man nur, wenn man es dicke hat.

„Heheey, look who’s back!”, rief Mike Nicky zu. Nicky lächelte nur und bewegte rhythmisch ihre Hüften. Mark wippte, sobald er angekommen war, etwas unkoordiniert mit, sein tänzerisches Talent war auch an guten Tagen auf ein steif wirkendes Tippeln reduziert.

„You know…. you are kinda beautiful!“

Nicky verdrehte die Augen, lächelte, nahm Mike die Flasche ab und dann einen kräftigen Schluck. Als wäre etwas wieder hochgekommen, verzog sie das Gesicht und wandte sich Mark zu: „Du auch?“ Nicky zeigte die Flasche.

Mark schüttelte den Kopf. „Gott, bitte nicht.“ Nicky lachte und drehte sich wieder zu Mike um, der die Gelegenheit nutzte, um sie weiter zuzulallen und zu tanzen begann. Mark wandte sich leicht genervt ab und hielt einen Moment lang nach Frauen Ausschau, während er mit seinem klassischen Tanzmove weiter von links nach rechts wankte.

Nach kurzer Zeit schossen sich Marks Augen erneut auf Nicky ein, die ein wenig zu eng mit ihrem Partner tanzte. Er beobachtete ihre geübten, gleitenden Bewegungen, mit denen sie sich Mike hingab. Ihr weißes Kleid saß eng und wirkte im Schwarzlicht der Diskothek wie ein Kunstwerk, von dem er nicht mehr ablassen wollte. Mark beobachtete, wie sie ihrem Tanzpartner in die Haare griff und etwas ins Ohr flüsterte, bevor sie langsam und zum Rhythmus der Musik den Hintern zu ihm drehte und sich an seinem Körper rieb.

Für einen Augenblick kreuzten sich ihre Blicke und Mark wandte sich verlegen ab. Nicky, die Mark wohl beobachtet haben musste, bahnte sich den Weg zurück zu ihm. Sie legte ihren Kopf auf sein rechtes Schulterblatt und umarmte ihn so kräftig, sodass er seine Arme nicht mehr bewegen konnte. „Uff“, stöhnte er, schüttelte sie von sich ab und drehte sich um.

„Die Jungs laden uns noch auf ´nen Sekt ein. Kommste mit?“ Überrascht zuckte er mit den Schultern, richtig begeistert war er nicht, aber was blieb ihm anderes übrig.

Das Rudel zog durch die Menschenmassen am Tresen vorbei und eine kleine Empore hinauf. Dort wartete ein muskulöser Sicherheitsmann, der vor ihnen ein mit Karabinern befestigtes Samtseil öffnete, das zur Absperrung diente. Sie nahmen in einer Sitzecke Platz, von der aus sie das Geschehen gut beobachten konnten. Einer von ihnen griff zur Flasche Sekt, die im Eiskübel bereits auf sie wartete, und schenkte allen ein. Die Zeit von Grey Goose