STAUB - Jens Soentgen - E-Book

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Soentgen Jens

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Beschreibung

Das große Universum der kleinen Partikel Wenn wir über STAUB sprechen, dann gibt es meist ein Problem: Hausstaub löst Allergien aus, Feinstaub belastet die Stadtluft, Aerosole transportieren gefährliche Viren. Doch die kleinen Teilchen können noch viel mehr: Staubböden sind sehr fruchtbar, der Amazonasregenwald ist auf die Düngung durch Saharastaub angewiesen und ohne STAUB in der Luft wäre es um einiges finsterer auf der Erde, da er das Sonnenlicht in die entlegensten Winkel spiegelt. Auch meteorologische Phänomene wie Regen oder Schnee könnte es ohne kleine Partikel in der Luft nicht geben. Klug, witzig und eloquent berichtet der Staubexperte Jens Soentgen von den nützlichen Quälgeistern, die uns täglich umgeben - Ein ganz besonderes Lesevergnügen.

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Jens Soentgen

Staub

Alles über fast nichts

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Dem Wind

Einleitung

Mit Verlaub – Staub

Als ich aus dem Norden nach Augsburg zog, musste ich mich an die bayerischen Bräuche erst gewöhnen. Beim Richtfest für das Gebäude des Wissenschaftszentrums Umwelt, meinen Arbeitsplatz an der Universität Augsburg, kam sogar der bayerische Ministerpräsident – damals war es Edmund Stoiber – vorbei. Er hielt eine kraftvolle, besser: kraftstrotzende Rede, in der es um Bayern, Bayern und nochmals Bayern ging. Schon das bayerische Abitur sei das beste, verkündete er, man wolle überall Elite sein! Später lief er an mir vorbei, tippte mit der flachen Hand gegen meinen Bauch und sagte: »Sie müssen mehr essen, Sie sind zu dünn!« Bier wurde in erstaunlichen Mengen getrunken, man erfreute sich an deftiger Volksmusik und Märschen, eine Polizeikapelle in zu der Zeit noch grüner Uniform spielte auf. Es war ein zünftiger Nachmittag.

Doch die Bemerkung mit dem Abitur wurmte mich, kam ich doch aus Nordrhein-Westfalen. Ich zog mich in die Bibliothek zurück und schlug ein Lexikon auf, in dem die Bedeutung der deutschen Familiennamen aufgelistet war. Und tatsächlich fand ich einen Eintrag zu »Stoiber«. Ich las: »unruhiger Geist, der Staub aufwirbelt«.

Insgesamt kann man feststellen, dass die Familiennamen verschiedener bayerischer Ministerpräsidenten ziemlich viel mit Staubaufwirbeln zu tun haben; so deutet der Nachname von Franz Josef Strauß auf eine Person hin, die ständig in heftige Auseinandersetzungen – für die früher die Bezeichnung »Strauß« üblich war – verwickelt ist. Und auch der amtierende bayerische Ministerpräsident reiht sich namenstechnisch in die Riege seiner Vorgänger ein. Ein »Söder« ist nämlich jemand, lehrt das Lexikon, der in der Küche steht und buchstäblich »die Pfanne heiß hat«, weil er dabei ist, etwas zu sieden. Söders Vor-Vor-Vorgänger Stoiber sagte dazu: »Wer in der Küche steht, muss Hitze vertragen.« Und nicht nur Hitze, dichter Dunst gehört zu diesem Geschäft, denn beim Grillen, beim Braten und beim Sieden bilden sich viele winzige Partikel.

In der bayerischen Politik wird gelärmt, gestritten und intrigiert. Christine Haderthauer, die erste weibliche CSU-Generalsekretärin und spätere Sozialministerin, hat das oft beklagt. Ihre Karriere begann steil und endete abrupt, als sie über die sogenannte »Modellauto-Affäre« stolperte. Haderthauer muss viele Feinde gehabt haben, und sie teilte in der Tat gern aus; womit wir zum Thema zurückkehren, denn »Hader« bedeutet auch wieder Streit. Es ist zugleich ein alter Name für zerschlissene und zerrissene Stoffreste und hängt auch hier mit unserem Thema zusammen, denn beim Zerreißen der Hadern, der Stoffreste in der Stoffmühle, entsteht ein dicker Faserstaub, der nicht anders aussieht als die wohlbekannte Wollmaus, die bekanntlich aus miteinander verhaderten bzw. verhedderten Fasern besteht.

Und auch sonst zeigen viele Familiennamen in Deutschland, dass Menschen und Staub mehr miteinander zu tun haben, als man denkt. Da muss man nicht einmal an den eher seltenen Familiennamen Steubesand oder, norddeutsch, Stövesand denken, mit dem einst wohl eilige Reiter bezeichnet wurden. Auch in ganz gebräuchlichen Familiennamen steckt der Staub. So ist der Müller jemand, der aus Korn ein staubfeines Pulver herstellt und an dessen Arbeitsplatz natürlich alles über und über mit Staub bedeckt ist; der Schmied ist jemand, der durch sein Hämmern, durchs Feuern seiner Esse, durch alles, was er tut, Unmengen von Partikeln erzeugt. Für die Namen »Koch« oder »Rauch« gilt dasselbe, ganz zu schweigen von den »Aschenbrennern« und »Köhlern«.

 

Staub scheint uns meist lästig, wenn nicht sogar gefährlich zu sein, und aus gutem Grund, denn er kann tief in uns eindringen, überwindet alle Grenzen und oft sogar eigens gegen ihn unternommene Schutzmaßnahmen, er kann in unserem Körper großes Unheil anrichten, stößt Entzündungsprozesse an, kann Krankheiten auslösen oder verschlimmern und ist allgemein problematisch. Deshalb ist auch die Staubforschung seit ihren Anfängen zum größten Teil mit den gesundheitlichen Auswirkungen des Staubes beschäftigt, sie fragt, wie man ihn vermindern oder ganz beseitigen kann. Von dieser durchaus berechtigten und wichtigen Perspektive ist auch unser Alltagshandeln weitgehend bestimmt. Wenn wir ein Gerät zum Umgang mit dem Staub kaufen, dann hat es in der Regel die Aufgabe, ihn wegzuschaffen, wie etwa der Staubsauger, aber auch der Staubwedel, der Staublappen, das Staubtuch sowie viele Bürsten und Pinsel aller Art. Dass Staub aber nicht nur eine ständige Belästigung oder Bedrohung unserer Welt ist, sondern dass unsere Welt auch wesentlich auf Staub gebaut ist, scheint zunächst paradox.

Und doch ist es eine Tatsache, dass Staub gerade für die geistigsten Bereiche unserer Kultur unentbehrlich war und ist. Ohne Staub keine Schrift. Noch heute wird mit weißem Staub, mit Gips oder Kreide, auf Tafeln geschrieben, noch heute bestehen die Grafiken und die Buchstaben in Büchern und ausgedruckten Dokumenten fast immer aus Ruß, dem bestimmte Bindemittel helfen, besser auf dem Papier zu haften. Auch dieses Buch macht keine Ausnahme – es erzählt mit Staub über Staub, wurde also unter Mitwirkung des Staubes verfasst und gedruckt.

 

Staub ist ein Kulturfolger. Wo Menschen sind, tummelt sich der Staub. Doch ursprünglich kommt der Staub, wie alle Kulturfolger, aus der Natur, denn auch in der Natur staubt es, und ohne diesen natürlichen Staub sähe unsere gewohnte Welt völlig anders aus. Der Himmel über uns wäre weit weniger abwechslungsreich, ja, im Grunde gäbe es ihn überhaupt nicht. Ohne Staub gäbe es zudem weder die Blütenpracht des Frühjahrs noch den Erntesegen des Herbstes, das Abendrot würde ebenso fehlen wie das freundliche Tageslicht, das uns auch im Schatten erreicht, weil es von unendlich vielen Partikeln in der Atmosphäre auch in verborgene Winkel weitergeleitet wird. Staub ist ausgleichende Gerechtigkeit.

Staub hat außerdem eine philosophische, eine metaphysische Bedeutung. Er lässt uns staunen, und mit dem Staunen fängt alle Philosophie an. Denn Staub ist ein Etwas, das gerade auf der Grenze zwischen dem Sein und dem Nichts steht. Er ist ein Fast-Nichts, ein Beinahe-Nichts, und wenn wir uns diesem Fast-Nichts etwas eingehender widmen, zeigt sich, dass es uns einlädt, all unsere Vorstellungen von der Welt neu zu denken.

Staubpartikel verhalten sich nämlich ganz anders als die gewohnten Dinge, die uns umgeben, anders als Tische, T-Shirts, Teller, Tassen und Telefone. Alles Gerät und Zeug, das wir täglich nutzen, ist dadurch gekennzeichnet, dass es da bleibt, wo man es abstellt oder ablegt, dass es bereit ist, wenn man es braucht, und sich nicht von selbst ungewollt im Raum bewegt oder gar auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Der Staub aber entzieht sich unseren Ordnungsvorstellungen und scheint sie sogar zu verhöhnen, er segelt umher, wo es ihm gefällt, ist nicht hörbar und auch nicht greifbar, er lässt sich nicht anfassen und ist gleichwohl geneigt, uns zu berühren und zu kontaminieren, sich auf uns niederzulassen oder gar in uns einzudringen.

 

Es steckt also einiges im Staub, das Winzigste erzählt nämlich die beste Geschichte vom Ganzen.

Immer schon hat der Staub die Aufmerksamkeit all derer auf sich gezogen, die sich mit den üblichen Weltbildern, in deren Mittelpunkt die trägen und schwer beweglichen Dinge stehen, nicht zufriedengaben. Die Erkenntnis der Bedeutung und der Eigenart des Winzigen ermöglichte erst unser modernes Naturbild, das sich unter anderem darin vom antiken unterscheidet, dass es sich mit gleicher Aufmerksamkeit den winzigen Dingen zuwendet wie den riesengroßen.

Betrachtet man die großen Trends, wie die Globalisierung, die zu einem stetigen Transport kleinster Partikel, zum Beispiel auch von Krankheitskeimen, führt, die Erderwärmung, die weltweit zunehmenden Feuer durch Waldbrände und anhaltende Verfeuerung fossiler Brennstoffe, das Wachstum der Städte und der Wüsten, dann ist damit zu rechnen, dass uns der Staub künftig noch viel stärker als derzeit beschäftigen wird, auch und gerade in Mitteleuropa. Denn mit einem Fortschreiten der globalen Erwärmung und der auf sie folgenden Dürren könnte es auch in Europa zu so katastrophalen Staubereignissen kommen wie in den USA in den 1950er-Jahren, als Staubstürme den trockenen, haltlosen Ackerboden weit weg transportierten. Es lohnt sich also, den Staub etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, statt ihn nur mit Staubtuch und Staubwedel zu verfolgen.

1

Das Nichts und das Fast-Nichts: Was ist Staub?

Wie ist es, ein Staubpartikel zu sein?

Um es gleich zu sagen: Das Leben als Staubpartikel ist schwierig, aber man gewöhnt sich daran. Zwar könnte man meinen, es sei ein wunderbarer, engelsgleicher Zustand, überall umherzuschweben, durch Fensterritzen und unter Türen einfach hindurchzusegeln und in wenigen Minuten Hunderte Meter in die Höhe zu fliegen. Denkt man aber länger darüber nach, kommt man darauf, dass auch die Staubkornexistenz ihre Tücken hat.

Die Kraft, die unseren gewöhnlichen Alltag am stärksten ordnet, ist die Schwerkraft. Sie stört uns meist, macht uns Mühe, macht buchstäblich alles schwer, sie ist schuld daran, dass wir uns morgens aufraffen, uns aus dem Bett wuchten, uns zur Arbeit und durch den Tag schleppen müssen, bis wir abends ermattet ins Bett sinken oder fallen. Einkäufe und Umzüge sind mühsam – wegen der Schwerkraft. Die klassische Maloche ist hart – wegen der Schwerkraft.

Sogar wenn wir über eine absolut horizontale Ebene laufen, kämpfen wir beim Gehen mit dieser Macht, die an uns zieht, weil der Körper mit jedem Schritt ein Stück aufwärtsbewegt werden muss. Andauernd droht die Schwerkraft uns zu besiegen, greift, wo sie nur kann, unsere Balance, unseren aufrechten Stand an und ist erst zufrieden, wenn wir am Boden liegen.

Uns der Schwerkraft entgegenzustellen, ist unsere tägliche Aufgabe, und das bereits vom zarten Alter von etwa einem Jahr an, wenn die Kinder sich erstmals hinstellen und äußerst stolz sind, wenn das gelingt, bis ans Ende unseres Lebens, das dadurch gekennzeichnet ist, dass wir uns zunehmend schwer(!)tun mit dem Stehen und Gehen und die Schwerkraft endlich gesiegt hat. Auch wenn wir im übertragenen, moralischen Sinn sagen, dass einer »fällt«, »stürzt« oder auch nur »stolpert«, meinen wir damit immer etwas Negatives, ein Versagen. Und wo sich einer »schwertut«: da geraten die Abläufe ins Stocken.

Durch den andauernden Krieg mit dem übermächtigen Gegner »Schwerkraft« übersehen wir, dass sie in unserem Leben nicht nur ein Gegenspieler ist, sondern auch eine wichtige ordnende und stabilisierende Funktion hat. Man könnte sogar sagen, dass sie mehr oder weniger alles zusammenhält, sie ist das verborgene Grundgesetz des Alltags. Sie sorgt nämlich dafür, dass alles eine gewisse Stabilität hat. Das Glas bleibt auf dem Tisch, die Suppe kann in den Teller gefüllt werden und bleibt dann auch dort. Der Salat wird in der Schüssel gemischt und verharrt darin, statt langsam Blatt für Blatt davonzuschweben. Möbel kann man in einem Zimmer hier und dort platzieren, sie bleiben dann an dem ihnen zugewiesenen Ort und stehen nicht etwa am nächsten Morgen an ganz anderer Stelle oder hängen gar an der Decke wie heliumgefüllte Luftballons. Auch die Babywindel, die man in den Mülleimer geworfen hat, mag zwar von dort aus einen unangenehmen Geruch verbreiten, aber sie bleibt wenigstens dort, statt vor unserem Gesicht umherzufliegen, während wir gerade dabei sind, das Mittagessen zuzubereiten. Autos, Fahrräder, Fußgänger und Hunde, denen wir draußen begegnen, bewegen sich horizontal und oft in halbwegs klaren Linien, sie schweben nicht kreuz und quer umher. Wir selbst bleiben stabil, wo wir sind, es sei denn, wir fassen den Entschluss, aufzustehen und uns fortzubewegen.

 

All das entfällt im Staubbereich. Denn hier spielt die Schwere nur noch eine geringe Rolle. Stattdessen werden andere Kräfte, die in der Materie stecken, wichtiger. Insgesamt wird die Welt unberechenbarer, denn alles kann überall sein und alles kann sich begegnen, sich miteinander verbinden.

Wären wir klein wie ein Staubteilchen, dann hätten unsere Beine kaum noch eine sinnvolle Bestimmung. Gehen würde nicht recht funktionieren. Es würde sich vielmehr ungefähr so darstellen wie das »Gehen« der Astronauten im Weltall. Es reichte, den Untergrund ein wenig anzutippen, schon entschwebte man in den Raum. Die kraftvollen Muskeln, mit denen unsere Beine ausgestattet sind, um uns »oben« zu halten, würden verkümmern. Stattdessen wäre es im staubteilchengroßen bzw. staubteilchenkleinen Leben viel wichtiger, sich ständig mit den Armen irgendwo festzuhalten. Und auch zur Fortbewegung wären die Arme deutlich brauchbarer, solange man irgendwo etwas findet, an dem man sich festhalten und weiterziehen kann.

Ein ruheloses, nomadisches Dasein! Man könnte sich nirgendwo hinsetzen, denn wann immer man es sich gemütlich machen wollte, schwebte man schon wieder davon. Hätte man irgendwo Bänke oder Stühle, müssten diese fest mit der Oberfläche vernagelt sein, und auch wir selbst müssten uns an die Stühle förmlich anbinden. Essen und Trinken wären genauso schwer, eine größere Menge Wasser, etwa ein Tröpfchen oder eine kleine Lache auf dem Tisch, wären für uns staubkleine Wesen schon lebensgefährlich. Berührte man sie, bliebe man unweigerlich hängen. Auch unsere Speisen, mehlfeine Körnchen nämlich, lägen nicht auf Tellern, sondern würden durch den Raum schweben. Sie blieben zwar auf einem Teller haften, doch schon der leiseste Windhauch bewegte sie wieder in die Luft, wo sie umherschwebten, verfolgt von unseren hungrigen Blicken.

Alles um uns herum würde in Bewegung geraten! Alles wäre chaotisch! Während es für staubfeine Teilchen nämlich ein Leichtes ist, zu entschweben, fällt es ihnen schwer, an einem Ort zu bleiben. Auch dieses Buch zu lesen, wäre im Staubreich nicht einfach, denn ein winziges Buch haftete fest an Ihrer Hand, Ihrer Kleidung und würde so zu einer allzu fesselnden Lektüre, die Sie, auch wenn Sie wollten, nicht mehr aus der Hand legen könnten.

Die Welt eines staubfeinen Teilchens ist also eine ziemlich verwirrende Welt. Einerseits kann man sich leicht fortbewegen, kann durch Fenster und Türen gehen, kleinste Ritzen, die man nicht mehr sehen kann, reichen als Durchlass. Man hat keine Flügel und kann doch fliegen oder zumindest schweben, der sanfteste Luftzug genügt. Auch in die Höhe kommt man ohne Mühe, je nach Wetterlage kann man sogar den Weltraum erreichen und die Erde von oben betrachten, ganz ohne Kosten – allerdings gäbe es keine Rückfahrkarte, denn gezielte Bewegungen sind schwer bis unmöglich.

»Mann über Bord« heißt es auf hoher See, wenn jemand aus dem Schiff gestürzt ist; und auch in der Staubwelt gilt: Wer sich einmal nicht festgehalten hat, entschwebt auf Nimmerwiedersehen.

 

Damit sind wir bei den vielen Gefahren, die einem Staubteilchen drohen. Die Erde unfreiwillig zu verlassen, dürfte eine davon sein, eine andere, viel alltäglichere ist die, plötzlich beerdigt zu werden. Innerhalb der Wohnung ist es wohl die Begegnung mit dem Staubsauger oder dem Luftreinigungsgerät, die dem Staub Sorgen machen könnte. Dieses Gerät macht aus vielen unabhängigen Staubansammlungen, die noch beweglich sind und umherschweben, eine einzige, die dann in der Mülltonne landet.

Doch nicht nur in der Wohnung, auch im Freien drohen Feinde. Die schlimmsten sind die, die friedliebend und freundlich daherkommen, die feinen, weichen Tröpfchen eines dichten Nieselregens etwa. Noch gefährlicher aber ist der Schnee. Wenn man in der Menschenwelt sagt: »Wie schön, es schneit«, dann erbebt die Staubwelt, denn aus Staubsicht sind die Schneeflocken wie eine riesige Armee von Wischmopps, die langsam durch die Luft nach unten sinkt und dabei allen umherschwebenden Staub, der sich nicht schnell genug in Sicherheit bringt, mitnimmt. Jede Schneeflocke beginnt ihr Leben, indem sie ein Staubkorn erledigt, denn im Kern der meisten Schneeflocken findet sich ein Staubpartikelchen, das wider Willen als Kristallisationskeim dient und damit unweigerlich nach unten transportiert wird. Und es bleibt nicht bei diesem einen Opfer.

Indem die Schneeflöckchen nach links und nach rechts pendelnd langsam durch die Atmosphäre nach unten sinken, binden sie mehr und mehr Staubpartikel. Ihre Bewegungen erinnern selbst an die des Staubes, und deshalb gelingt es ihnen auch, eine Menge von ihm einzufangen. Und selbst wenn der Schnee schon am Boden liegt, so zeigt eine neue Studie, hört sein Appetit auf Staub noch lange nicht auf! Denn er kühlt die über ihm liegende Luft ab, die daraufhin in eine Abwärtsbewegung gerät, wodurch auch die letzten sich noch in der Luft befindlichen Staubpartikel mitgerissen werden und an den feinen Kristallen hängen bleiben.

Und so kommt es, dass der weiße Schnee, jedenfalls der Schnee in Städten, der schmutzigste Niederschlag überhaupt ist. Dass es wirklich so ist, kann man einfach testen, indem man eine Handvoll frisch gefallenen Schnee auf einen weißen Teller legt und abwartet. Im warmen Zimmer offenbart schmelzender Schnee rasch seinen schwarzen Kern: die Rußpartikel, die er auf seinem langsamen Weg aufgesammelt hat und die sich in der kalten Winterstadtluft als Resultat ungezählter Feuer angesammelt haben. Auch viele Fasern finden sich, wenn man näher hinsieht. Wer je eine Portion Schnee in den Mund genommen hat, wird sich gut an den pelzigen, manchmal sogar metallischen Geschmack erinnern … Wer sich hingegen nicht so sehr für den Geschmack von Feinstaub und Abgasen interessiert, sollte lieber die Finger von diesem allerschmutzigsten, wenn auch unbestritten schönsten Niederschlag lassen.

 

Wenn also Niederschläge, besonders Schnee, ein Drama für die Staubwelt sind, so lebt sie umgekehrt auf, wenn es lange trocken ist und zudem noch die Sonne scheint. Denn dann gerät der Staub durch die Strahlung und die Wärme in Bewegung, das Wasser, das ihn schwer macht und bindet, verdunstet, vom Boden steigt immer neuer Staub auf, der, wenn keine Winde und kein Niederschlag ihn forttransportieren, auch länger schweben kann. In dem Fall kann sich sogar aus dem Nichts, aus der bloßen Luft heraus, neuer Staub bilden.

Hätte die Staubwelt ihre eigene Geschichtsschreibung, dann wäre der Beginn der Industrialisierung darin sicherlich als revolutionäres, gewaltiges Ereignis verzeichnet, denn von da an ging es mit dem Staub in der Luft stetig bergauf. Immer mehr und immer seltsamere Partikel erreichten die Atmosphäre, und die größten Industriestädte, die sich heute allerdings vor allem in Asien befinden, sind zugleich auch die gewaltigsten Staubschleudern, neben deren täglicher Partikelproduktion selbst Vulkane inzwischen bescheiden wirken. Seit seinem frühesten Auftreten wirbelt der Mensch Staub auf, und zwar einerseits durch sein Hämmern, sein Bohren, sein Pflügen und Stampfen, durch seine Arbeit und Tätigkeit, aber mehr noch deshalb, weil er mit dem Feuer, mit dem er seit etwa einer Million Jahren im Bunde ist, eine höchst produktive Staubquelle stets mit sich führt und in Betrieb hält. Denn neben Asche und Kohlendioxid ist Feinstaub eines der hauptsächlichen Exkremente des Feuers, egal wie hochtechnisiert es auch daherkommen mag. Und mit dem von den Feuern der Menschen und ihren Produkten ausgelösten Klimawandel, der zu immer mehr Dürren, viel weniger Schnee und mehr Waldbränden führen wird, stehen der Staubwelt wahrhaft großartige Zeiten bevor! Wir kommen darauf zurück.

Nun kennen Sie also die Freuden eines Staubpartikels und die Gefahren, die ihm drohen, seine Ängste und seine Hoffnungen. Aber was steckt dahinter? Wie kommt es, dass sich Staubteilchen so völlig anders verhalten als die gewöhnlichen Dinge, die doch immerhin aus demselben Stoff gemacht sind wie der Staub? Warum bleibt der Wollpullover im Schrank, während die Wollfluse, die sich von ihm abgelöst hat, quer durch die ganze Wohnung fliegt, als ginge sie die Schwerkraft nichts an? Warum flust der Pullover überhaupt, während die Fluse von sich aus nicht pullovert, keine Pullover hervorbringt?

Dahinter steckt, wie so oft, die Physik. Die eine Hälfte des Staubverhaltens erklärt die Thermodynamik. Diese lehrt, dass die Entropie, die Unordnung im Weltall, stetig zunimmt. Deshalb löst sich die Fluse vom Pullover ab und bildet in der Zimmerecke das Durcheinander der Wollmaus, während sich umgekehrt bislang noch nie aus noch so vielen Wollmäusen je ein Pullover gebildet hat.

Die andere, vielleicht noch interessantere Hälfte des Staubverhaltens lässt sich verstehen, wenn man sich die Physik und die Chemie der Oberfläche anschaut. Bei großen Gegenständen, etwa beim menschlichen Körper, ist mehr innen verborgen als außen offenbar. Das ist schon bei einer kleinen Zwiebel der Fall, denn die hat bekanntlich ziemlich viele, ziemlich dünne innere Schichten, während außen nur eine oder zwei Schichten als Schutz dienen. Ganz anders ist das bei Staubteilchen, die kaum ein Innen haben, das von ihrem Äußeren verborgen und zugleich geschützt wird. Sie sind so klein, dass fast alles, was innen ist, auch außen ist. Und was außen ist, das kann in Kontakt mit anderem treten, das ist aktiv und reaktiv, das lässt sich berühren, beknabbern, verreiben, erhitzen und verbrennen. Es gibt hier keine Oberfläche, hinter der sich eine Tiefe verbirgt, vielmehr ist alles Oberfläche. Und das hat enorme Konsequenzen. Staubteilchen sind deshalb nicht nur die allerfeinsten, sondern auch die allerempfindlichsten, allersensibelsten Teilchen, sie tragen ihr Herz nicht nur auf der Zunge, sondern sind ganz und gar Herz, ohne irgendeinen Schutz.

Jeder, der kocht, weiß, dass fein pulverisierte Zutaten viel intensiver und schneller agieren als grobe. Puderzucker löst sich schneller auf als Kandiszucker. Frisch gemahlener Pfeffer schärft viel kräftiger. Und auch bei Stoffen, die nicht essbar sind, lässt sich dies beobachten: Fein gesponnene Stahlwolle, die man zum Scheuern von Töpfen verwendet, ist ein leicht entzündbares Zeug, sie verglüht, wenn man auch nur einen Funken darauf fallen lässt, was ein Stück Stacheldraht nicht machen würde. Im Chemielabor weiß man, dass schlechthin jeder Stoff, den man fein pulverisiert und damit zu Staub macht, ein viel lebhafteres Temperament annimmt als Stoffe in groben Stücken. Deshalb ist der Mörser, in dem die Stoffe vermahlen werden, eines der Wahrzeichen der Chemie. Man kann (wenn auch nicht im Mörser) extrem feines Eisenpulver herstellen, das sich sofort entzündet, sobald man das Reagenzglas umdreht und das Pulver herausrieseln lässt. Einem Eisennagel käme ein solches Verhalten nie in den Sinn. Ganz ähnlich würde auch ein Weizenkorn nie explodieren, wenn man es mit einem Streichholz anbrennt, ein Teelöffel Weizenmehl, gut mit Luft gemischt, explodiert hingegen sehr wohl. Dieses Phänomen hat schon manche Kornmühle in die Luft gejagt und ist einer der Gründe dafür, dass Mühlen oft außerhalb von Städten angesiedelt wurden. Allen staubfeinen Teilchen fehlt gewissermaßen die schützende Schicht, die Haut, ihr gesamtes Inneres ist bloßgelegt. Alle staubfeinen Teilchen weisen eine stark erhöhte Reaktivität auf.

Und das Verhältnis von Oberfläche und Masse erklärt auch ihre hohe Mobilität, ihre unglaubliche Beweglichkeit. Staubpartikel sind in der Lage zu schweben, weil sie mehr Oberfläche als Masse haben, ganz ähnlich wie auch ein kleiner Fetzen Aluminiumfolie durchaus ein wenig umherfliegen kann, während eine gleich schwere Aluminiumkugel nur schnellstmöglich fällt.

 

Insgesamt kann man Staub als entfesselte Materie bezeichnen. Oder auch als befreite Materie, denn die Bande, mit denen die Materie sonst ruhiggestellt ist, sind weitgehend aufgehoben. Er ist frei, damit aber auch weitgehend schutzlos, zu dauerndem Ortswechsel und dauernder Transformation gezwungen. Wie fahrendes Volk verbindet er aber auch die sesshaften Dinge dieser Welt, manchmal über Tausende Kilometer und große Ozeane hinweg. Er ist ein Anarchist, der die üblichen Gesetze auf den Kopf stellt. Dieses Fast-Nichts hängt aber mit allem zusammen, denn alles kann zu Staub werden und dann in einen Zustand verminderter Sichtbarkeit, aber erhöhter Wirksamkeit und Beweglichkeit übergehen.

Doch Fast-Nichts ist als Bezeichnung für ihn zu negativ, denn zugleich ist der Staub auch Beinahe-Etwas, aus ihm kann alles werden, er ist ein Vorblick auf etwas, das in Gärung ist, das sich erst noch bilden wird. Die Erde selbst entstand, sagen uns die Physiker, aus kosmischem Staub, der sich verdichtete. Ständig ist die Staubwelt in Bewegung, in Transformation, bleibt keine Sekunde stabil. Und diese kleine Welt hat auch in allem Werden, in allem Wandel, in allen Umwälzungen der großen Welt immer wieder ihre Hand im Spiel.

Wie definiert man »Staub«?

»Staub« kommt als Wort ganz unschuldig daher. Es ist ein Sachwort, das zu dem nur noch selten gebrauchten Verb »stieben« gehört, womit eine ungeordnete Bewegung in alle Richtungen gemeint ist, wie zum Beispiel in: »Die Funken stieben.« Auch das Verb »stöbern« ist mit dem »Staub« verwandt, denn es bezeichnet etwas Ähnliches, nämlich das ungeordnete Suchen in alle Richtungen, das »Herumstöbern«, das wir von aufgeregt schnuppernden Hunden ebenso kennen wie von begeisterten Gelehrten in einem Archiv oder in einer Bibliothek. Auch das Verb »flusen«, das mit »fliegen« verwandt ist, hängt mit dem Staub zusammen, von ihm kommt nämlich die »Staubfluse«. Staub ist also das, was umherfliegt, und zwar in alle Richtungen. Man kennt auch den Plural, »Stäube«, der aber ist eher ungebräuchlich und wird nur in der Wissenschaft verwandt, um verschiedene Arten von Staub zu kennzeichnen.