Konfliktstoffe - Soentgen Jens - E-Book

Konfliktstoffe E-Book

Soentgen Jens

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Beschreibung

Stoffe aller Art werden rund um den Globus aus dem Boden, aus Lebewesen oder aus der Luft gewonnen, in Raffinerien und Fabriken gereinigt, zerlegt, wieder verbunden, durch Pipelines gepumpt, auf Containerschiffen verschickt, transformiert und verbraucht. Gleichzeitig machen sie sich, oft unerkannt, selbst auf den Weg, versickern und verdunsten, geraten in Nahrungsketten, verteilen sich in der Atmosphäre und in Gewässern, dringen ein und breiten sich aus. Es ist gerade dieses ungeplante und ungewollte Eigenleben, das zu Konflikten führt – Konflikte, denen die Stoffgeschichten nachgehen, indem sie den Lebensweg ausgewählter Substanzen nachzeichnen. Dieses Buch beantwortet die grundlegenden Fragen zu Theorie und Praxis der stoffgeschichtlichen Forschung. Zugleich erzählt es exemplarisch die Biografien typischer Konfliktstoffe unserer Zeit, nämlich Stickstoff, Nitrosprengstoff, Gummi und Kohlendioxid, sowie die Geschichte der ungleichen Schwestern Aspirin und Heroin.

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Jens Soentgen
Konfliktstoffe
Über Kohlendioxid, Heroinund andere strittige Substanzen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
KonfliktstoffeÜber Kohlendioxid, Heroin und andere strittige Substanzenin der Reihe »Stoffgeschichten«
© 2019 oekom verlag MünchenGesellschaft für ökologische Kommunikation mbH,Waltherstraße 29, 80337 München
Korrektorat: Silvia StammenUmschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenUmschlagabbildungen: shutterstockLayout + Satz: Markus Miller
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-86581-999-4
Meiner Mutter
und dem Andenken meines Vaters
Inhalt
Vorwort
Eine Frage vorweg: Was sind Stoffgeschichten?
Kapitel 1Die Geschichte des N: Vom »Weizenproblem« zur Überdüngung
Kapitel 2Zerstörung als Ziel: Explosivstoffe aus dem Labor
Kapitel 3Heroin und Aspirin: Ungleiche Schwestern
Kapitel 4Gummi: Der Raub indigenen Wissens
Kapitel 5Kunstgummi: Ein deutscher Mythos und seine dunkle Vergangenheit
Kapitel 6Kohlendioxid: Vom Brunnengeist zum Klimakiller
Statt eines Epilogs: Lob des Erzählens
Anmerkungen
Über den Autor
Stoffgeschichten – Band 11
Eine Buchreihe des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg in Kooperation mit dem oekom e. V.
Herausgegeben von Prof. Dr. Armin Reller und Dr. Jens Soentgen
Die Dinge und Materialien, mit denen wir täglich hantieren, haben oft weite Wege hinter sich, ehe sie zu uns gelangen. Ihre Vorgeschichte wird aber im fertigen Produkt ausgeblendet. Was wir an der Kasse kaufen, präsentiert sich uns als neu und geschichtslos. Wenn man seiner Vorgeschichte aber nachgeht, stößt man auf Überraschendes und Erstaunliches. Auch Verdrängtes und Fragwürdiges taucht auf. Am Leitfaden der Stoffe zeigen sich in scharfer, neuartiger Beleuchtung die ökologischen und politischen Konflikte unserer globalisierten Welt.
Deshalb stellen die Bände der Reihe Stoffgeschichten einzelne Stoffe in den Mittelpunkt. Sie sind die oft widerspenstigen Helden, die eigensinnigen Protagonisten unserer Bücher. Ausgewählt und dargestellt werden Stoffe, die gesellschaftlich, ökologisch und politisch relevant sind, Stoffe, die Geschichte schreiben und geschrieben haben. Stoffgeschichten erzählen von den Landschaften, von den gesellschaftlichen Szenen, die jene Stoffe, mit denen wir täglich umgehen, durchquert haben. Sie berichten von den globalen Wegen, die viele Stoffe hinter sich haben und blicken von dort aus in die Zukunft.
»Konfliktstoffe«ist der elfte Band der Reihe. Er erläutert erstmals systematisch die Grundlagen und Perspektiven der stoffgeschichtlichen Forschung. Zugleich erzählt der Band, beruhend auf aktuellen Forschungsarbeiten, die Geschichten von sechs Stoffen, die Geschichte machen und gemacht haben: Stickstoff, Nitrosprengstoff, Gummi, Heroin und Aspirin sowie Kohlendioxid. In diesen für die Moderne repräsentativen Stoffgeschichten wird das Verhältnis unserer Gesellschaft zu ihrer ökologischen Umwelt greifbar. Typische Konflikte werden herausgearbeitet; zugleich werden Lösungsperspektiven diskutiert.

Vorwort

Stoffe aller Art werden rund um den Globus aus dem Boden, aus Lebewesen oder aus der Luft gewonnen, in Raffinerien und Fabriken gereinigt, zerlegt, wieder verbunden, durch Pipelines gepumpt, auf Containerschiffen verschickt, transformiert und verbraucht. Aber parallel zu all dem machen sie sich, oft unerkannt, selbst auf den Weg, versickern und verdunsten, geraten in Nahrungsketten, verteilen sich in der Atmosphäre und in Gewässern, dringen ein und breiten sich aus. Ihr ungeplantes und ungewolltes Eigenleben führt zu Konflikten. Solche Konflikte decken die Stoffgeschichten auf – indem sie den Lebensweg ausgewählter Substanzen nachzeichnen.
Dabei geht es darum, sich nicht nur auf das Labor zu beschränken, sondern auch das, was außerhalb der Labore passiert, in die Betrachtung einzuschließen. Schon heute besteht der Sandstrand einiger Meeresbuchten zu drei Prozent aus Mikroplastikpartikeln, die Tendenz ist steigend. Auch im Meersalz, einem Stoff, der gerade seiner vermeintlichen Ursprünglichkeit wegen gekauft wird, finden sich inzwischen die vollsynthetischen Partikel, sie gelangen zudem über Muscheln, Fische, Shrimps usw. auf unsere Teller zurück. Der Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre liegt aufgrund der Verbrennung fossiler Energieträger schon heute mehr als 40 Prozent über den vorindustriellen Werten. Hochgiftiges Arsen gelangt in vielen Bergbauregionen ins Grundwasser, und der synthetische Stickstoffdünger, durch großtechnische Synthesen aus der Luft gewonnen, der auf den Felder ausgebracht wird, um Rekordernten zu ermöglichen, löst sich im Regenwasser, versickert und verteilt sich in Bächen, Flüssen, Seen und im Meer, wo er weiterhin für Wachstum sorgt und in der Folge auch ein allgemeines Sterben einleitet, weil verfaulende Algen den Sauerstoff in den Gewässern verbrauchen.
Die angeblich gezähmten und hochpräzisen Produkte der Laboratorien und der Chemiefabriken geraten oftmals auf Abwege. Sie verteilen sich nach eigenem Plan in der Umwelt, schreiben Geschichten, bisweilen gar Geschichte. Sie stehen nicht nur in technischen, sondern auch in politischen und kulturellen Handlungszusammenhängen, und von diesen Handlungszusammenhängen handeln die Stoffgeschichten. Deren Ziel ist: Aufklärung über Stoffe. Sie wollen anregen, über Stoffe und unseren Umgang mit ihnen auf eine neue Art nachzudenken, nicht durch die Optik einer quantitativen Theorie, sondern im Spektrum von Geschichten.
In den Environmental Humanities, in der Ethnologie und der Anthropologie, in der Umweltgeschichte, aber auch in der Humangeographie beobachten wir gegenwärtig einen wahren Boom von Ding- und Stoffbiografien. Auch in der populären Literatur und im Journalismus ist das Erzählmuster präsent. Ein Versuch einer historischen und methodischen Reflexion der stoffgeschichtlichen Methode ist daher an der Zeit. Das ist, was ich hier anbiete, mein Anspruch ist, auf wichtige Fragen eine tragfähige Antwort zu geben: Was ist das Ziel stoffhistorischer Studien? Welche Typen dieser Forschung gibt es? Wie hat sie sich entwickelt? Was sind wesentliche Kritikpunkte an der Methode und wie kann darauf geantwortet werden? Was sind überhaupt Stoffe und weshalb wurden ihre Wege seit den 1930er Jahren verstärkt Gegenstand historischer und auch belletristischer Darstellungen? Mein Konzept betont den integrativen und narrativen Charakter der stoffhistorischen Analysen. Diese können dann ertragreich sein, wenn sie von einem klar und selbstbewusst formulierten geisteswissenschaftlichen Standpunkt aus systematisch naturwissenschaftliche Perspektiven einbeziehen. In der Einleitung möchte ich zunächst die historische Entwicklung, die Kontexte und das wissenschaftliche Potenzial der Stoffgeschichten darstellen.
Darauf folgen Studien zu einzelnen Stoffen, die exemplarisch den Erkenntnisgewinn, den die Methode erzielt, darstellen sollen: Stoffgeschichten ermöglichen es, die Beziehungen einer Gesellschaft zu ihrer materiellen und ökologischen Umgebung zu erforschen. Sie fragen, in welchen Kontexten welche Stoffe erforscht und mobilisiert, wie sie gedeutet wurden und werden, welche Ziele mit bestimmten Stofftransformationen und Stoffinventionen verbunden wurden und welche Folgen und Nebenfolgen sich einstellten. Die Stoffgeschichten eröffnen also einen Weg, um den technisch vermittelten Stoffwechsel bestimmter Gesellschaften mit der Natur1 zu analysieren. Und zwar historisch präzise.
Dies ist die inventive Funktion der Methode; sie entdeckt unbekannte oder wenig bekannte Fakten und Zusammenhänge und stellt sie als Geschichte dar. Daneben hat die Methode eine kritische Funktion, weil sie bereits vorhandene und zirkulierende Geschichten über Stoffe aufgreift, zueinander in Beziehung setzt und kritisch kommentiert. So konfrontiert sie etwa die häufig verwendeten Metaphern des »Siegeszuges« dieses oder jenes Stoffes mit dem aus den Quellen erschließbaren tatsächlichen Geschehen.
Ich habe versucht, in meiner Auswahl solche Stoffe zu berücksichtigen, die für moderne Gesellschaften von hoher Bedeutung sind. Sie alle sind eng mit großen politischen Ereignissen und Zukunftsfragen verbunden. Zeitlich beschäftigen sich die Studien mit dem 19. und 20. Jahrhundert, geographisch liegt der Schwerpunkt auf Mitteleuropa.
Ich beginne mit einer Geschichte vom Stickstoff, die die vielleicht bedeutendste Umstellung im Stoffwechsel moderner Gesellschaften zum Gegenstand hat: Das Haber-Bosch-Verfahren, mit dem aus Luftstickstoff (N2), der in der Atmosphäre überreich vorhanden ist, Ammoniak (NH3), eine Form des in der Natur seltenen reaktiven Stickstoffs gewonnen werden kann. Pflanzen benötigen solchen reaktiven Stickstoff für nahezu alle Lebensprozesse, besonders für die Photosynthese. Weil reaktiver Stickstoff in der Natur knapp ist, kann man das Haber-Bosch-Verfahren als eine Art Bypass ansehen, mit dem eine wichtige ökologische Grenze aufgehoben wird: Ernten konnten nun mithilfe des Kunstdüngers zwar nicht beliebig gesteigert, aber doch vervielfacht werden. Das Haber-Bosch-Verfahren sollte das von dem Chemiker William Crookes so genannte Weizenproblem lösen. Weizen aber war und ist nur für einen Teil der Weltbevölkerung Grundnahrungsmittel. Die Geschichte des Stickstoffs zeigt, dass chemische Synthesen eben nicht »Menschheitsprobleme« lösen, auch nicht »die Macht der Menschen über die Natur« vermehren, wie es die universalistische Rhetorik der Naturwissenschaft will, sondern Macht und Stärke ganz bestimmter historischer Kollektive über andere Kollektive erweitern. Universal, jedenfalls räumlich diffuser, sind jedoch die Folgeprobleme der Problemlösung. Denn nur ein sehr kleiner Teil des auf den Äckern ausgebrachten reaktiven Stickstoffs wird von den Nutzpflanzen aufgenommen und verwertet. Der Rest versickert im Grundwasser und gelangt in Bäche, Flüsse, Seen, ins Meer, wo massive Schäden angerichtet werden. Dies ist das neue Stickstoffproblem, eines der großen und weitgehend ungelösten ökologischen Probleme moderner Gesellschaften.
Nicht nur Kunstdünger enthält reaktiven Stickstoff als wesentlichen Bestandteil, auch in fast allen modernen Explosivstoffen ist er enthalten. Das hat chemische Gründe. Denn so schwer es ist, die Dreifachbindung, die die Stickstoffatome in der Atmosphäre aneinanderbindet, aufzubrechen, so schnell, oft explosiv schnell, kann diese wieder gelöst werden. Das zweite Kapitel widmet sich den Nitrosprengstoffen, die im 19. Jahrhundert erfunden wurden. Diese Bezeichnung umfasst Substanzen wie Nitroglyzerin, Nitrozellulose, Trinitrotoluol (TNT), Pikrinsäure usw., Stoffe, die mindestens eine sogenannte Nitrogruppe, die aus Sauerstoff und Stickstoff gebildet wird, enthalten. Es sind allesamt Substanzen aus den Laboren der Chemiker2, die im 19. Jahrhundert das Schwarzpulver ablösten. Während Schwarzpulver ein mechanisches Gemisch ist, in dem die reagierenden Substanzen lose nebeneinanderliegen, sind diese bei den Nitrosprengstoffen chemisch gebunden. Die grobe Ordnung im Gemisch wird durch die atomar genaue Ordnung und Proportion im Molekül abgelöst. Dadurch wird eine höhere Effizienz der Destruktion erzielt. Die weiträumige Umgestaltung der Natur, die Schaffung großer, transkontinentaler Verkehrswege, insbesondere in Amerika, aber auch in Europa, wurde jetzt erst möglich. Doch die Effizienzsteigerung hatte zugleich unerwartete und ungewollte Effekte, denn mit den neuen, atomar präzisen Feuerwaffen wurden die Kriege nicht, wie man vielfach erwartet hatte, unblutiger und schneller, wie der Erste Weltkrieg zeigte.
Aspirin und Heroin, von denen das dritte Kapitel handelt, sind ungleiche Schwestern, sie entstiegen demselben Erlenmeyer-Kolben in einem Bayer-Labor im heutigen Wuppertal. Beide wurden im Abstand von nur elf Tagen von dem Chemiker Felix Hofmann durch die Methode der Acetylierung hergestellt, lediglich die Ausgangsmaterialien unterschieden sich. Beide Mittel bekämpfen den Schmerz und haben doch höchst unterschiedliche Biografien. Wie stark diese Biografien von politischen Ereignissen und Kulturkämpfen geprägt wurden, und wie fragwürdig unser heutiges Bild von diesen beiden Stoffen ist, soll in dieser vergleichenden Stoffbiografie erzählt werden.
Das vierte und das fünfte Kapitel greifen zwei Bänder aus einer verflochtenen, recht dehnbaren Geschichte heraus. Zunächst geht es um die Erfindung des Gummis durch indigene Völker. Ich möchte zeigen, dass das übliche Bild, wonach indigene Völker zwar eine Art Gummi herstellen konnten, dieser jedoch erst durch eine Erfindung des US-Amerikaners Charles Goodyear entscheidend verbessert wurde, der Korrektur bedarf. Gummi ist eine indigene Erfindung, die vermutlich von Amazonien aus zunächst in ganz Süd- und Mittelamerika bekannt war und die später durch die europäischen Entdecker und Eroberer weltweit bekannt gemacht wurde. Diese Erfindung hat man sich einfach angeeignet; und mehr noch: Bis heute wird auch in professionellen Gummihistorien der Eindruck erweckt, als seien es erst europäische bzw. amerikanische Erfinder gewesen, die aus einem klebrigen Urwaldstoff, mit dem wilde Indianer hantierten, eine nutzbare Substanz gemacht hätten. Ich weise demgegenüber nach, dass ganz im Gegenteil der Gummi der Indianer, der durch eine biologische Vulkanisierung haltbar gemacht wurde, dem mit Schwefel vulkanisierten der Industrie qualitativ fast gleichwertig war. Die Bedeutung der Erfindung Goodyears liegt an anderer Stelle. Sie ermöglichte nämlich den Aufbau einer zunächst US-amerikanischen, dann auch europäischen Gummiindustrie, die vom Wissen und Können indigener Völkern unabhängig war. Diese mussten nunmehr nur noch den Rohstoff liefern, dessen Geheimnis man sich angeeignet hatte. Statt kunstvoll gefertigter Gummischuhe, Gummitaschen und Spielzeuge kamen nun aus Amazonien nur mehr monströs große Kautschukbälle. Entsprechend veränderte sich die Behandlung der Indianer. Hatte man sie bislang als kunstreiche Gummihandwerker, auf deren Können und Wissen man angewiesen war, behandelt, so waren sie nun austauschbare Sammler, die einen Stoff, bei dem es nur auf Menge ankam und der auf weltweiten Märkten nachgefragt wurde, zu beschaffen hatten. So konnte es in Amazonien zu einem grausamen System der Zwangsarbeit kommen.
Im fünften Kapitel gehe ich einem anderen wichtigen Strang der Gummi-Geschichte, nämlich den Anfängen der Kunstgummiindustrie nach. Diese hatte, wie so viele Syntheseindustrien, ihre Ursprünge in Deutschland. Das ist kein Zufall, denn weil Deutschland, die zu spät gekommene Nation, keine tropischen Kolonien besaß, mussten die begehrten Rohstoffe, die die Kolonialmächte aus Übersee einführten, anders beschafft werden, und der Weg hierzu führte über die chemische Synthese. Auch Gummi, eine für nahezu alle modernen Schlüsselindustrien strategisch wichtige Substanz, lernte man auf synthetischem Wege herzustellen, aus Grundstoffen, die in Deutschland reichlich vorhanden waren: Kohle und Kalk. Dabei kam es zu einem für Deutschland typischen Bündnis von Politik und Technik, denn der deutsche Synthesekautschuk, der auf den Namen Buna hörte, wurde im Zuge der nationalsozialistischen Autarkiepolitik entscheidend gefördert. Er sollte eine deutsche Alternative zum »Blutgummi« der Kolonialmächte sein. Entsprechend wurde der Kunstgummi in Romanen und Sachbüchern der 1930er und 1940er Jahre zur nationalen Substanz aufgeschäumt. Nach 1945 gab es dann neue Kunstgummi-Erzählungen, die einen aus der DDR, die anderen aus der BRD. Diese erzählten die Kunstgummi-Geschichte neu und mussten dabei mit einer bedrückenden Tatsache umgehen: Denn der deutsche Kunstgummi hatte die Gummiproduktion keineswegs humanisiert, vielmehr führte ihn sein Weg im NS-Staat geradewegs nach Ausschwitz; das Konzentrationslager Auschwitz sollte die weltgrößte Buna-Fabrik ausbrüten.
Das sechste und längste Kapitel handelt vom Kohlendioxid. Der Chemiker und Schriftsteller Primo Levi nannte diesen Stoff »den letzten Weg allen Fleisches«, und zugleich ist es der Anfang allen Lebens, weil alles, was wir sehen, wenn wir »ins Grüne« schauen, einmal CO2 war: Blüten, Blätter, Zweige und Früchte, Brot, Zucker und Wein sind umgewandeltes Kohlendioxid, denn dieses ist die Hauptnahrung der Pflanzen – und damit mittelbar auch der Tiere. Zunächst nur bekannt als unheimlicher »Geist« in manchen Brunnen, wurde es schließlich in den Ateliers der Alchemisten und dann in den Laboren der Chemiker halbwegs gezähmt, es erhielt einen Namen und wurde eingefügt in das System der chemischen Stoffe. Man lernte, es abzufüllen und Waren daraus zu machen, in erster Linie verwandte man es für künstliche Sprudelwässer, später für Limonaden und andere Softdrinks. Eine ganz normale, harmlose Substanz – und doch wurde Kohlendioxid seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zum umstrittensten Stoff überhaupt. Denn es ist untrennbar mit der Grundlage unserer Industriegesellschaft verbunden. Bei jeglicher Verbrennung fossiler Energieträger wird der Atmosphäre Kohlendioxid zugefügt, und diese Hinzufügungen steigern allmählich den Gesamtgehalt. Weil aber die Gesamtkonzentration von Kohlendioxid in der Atmosphäre sich auf die Globaltemperatur auswirkt, ist der Umgang mit Kohlendioxid und den kohlendioxiderzeugenden Prozessen zu einer Zukunftsfrage unserer Gesellschaft geworden. Auf der Folie dieses Stoffes streitet man heute über die Zukunft unserer Gesellschaft.
Abgeschlossen wird das Buch mit einem »Lob des Erzählens«, in dem ich den erzählenden Charakter der Methode herausarbeite und verteidige. Eine Stoffgeschichte erzählt, und dies ist etwas anderes als aufzählen. Auch wenn Theorie – die Kunst, Dinge systematisch aufzuzählen – für die Stoffgeschichten wichtig ist, bleiben sie ein narrativer Zugang. Erzählungen sind nicht nur Vorstufen zu Theorien, sie haben nicht nur eine propädeutische Bedeutung. Sie sind vielmehr komplementär, denn Geschichten haben andere Schwerpunkte als Theorien. Sie drehen sich nicht um Strukturen, sondern um Konflikte. Denn Konflikte sind es, die aus einer Folge von Ereignissen eine spannende Geschichte machen. In dieser Konfliktorientierung ergänzen sie das strukturbezogene Wissen, das Theorien liefern. Es ist das expansive und invasive Moment von Stoffen, das immer wieder Zusammenstöße herbeiführt.
Stoffgeschichten sind, wie gesagt, die Methode der Wahl, wenn wir den technisch vermittelten »Stoffwechsel« moderner Gesellschaften mit der Natur und dessen politische und ökologische Rückwirkungen besser verstehen wollen. Ein solches Verständnis hat einen hohen wissenschaftlichen Wert, weil wir bisher nur ein geringes und einseitiges Wissen über das Verhältnis von Gesellschaften zu ihrer materiellen und ökologischen Umwelt haben. Aber Stoffgeschichten haben nicht nur theoretische, sondern auch praktische Relevanz. Zwar habe ich nicht die Erwartung, dass Stoffgeschichten uns zeigen können, was in der Vergangenheit alles falsch gemacht wurde und wie wir künftig richtig und nachhaltig mit Stoffen umgehen sollten. Eine solche normative Perspektive überfordert die Methode und gibt Versprechen, die niemand halten kann. Aber: Stoffgeschichten zeigen Zusammenhänge und identifizieren Konflikte und Probleme, die einem rein naturwissenschaftlichen Zugriff entgehen. Sie bieten eine umfassende, empirisch abgesicherte Beschreibung, die Vorhersagen ermöglicht und stellen damit eine unentbehrliche Grundlage für informierte normative und politische Diskussionen bereit.
Für eine umfassende Darstellung des Stoffwechsels moderner Gesellschaften mit der Natur ist die stoffhistorische Forschung noch nicht weit genug vorangeschritten. Mein Ziel in diesem Buch ist deshalb bescheiden. Nur ein Forschungsprogramm soll umrissen und plausibilisiert werden. Die vorgestellten Studien und die methodologische Reflexion sollen zeigen, dass eine Forschung über Substanzen, die geisteswissenschaftlich ansetzt, aber Ergebnisse der Naturwissenschaften einarbeitet und assimiliert, einen wesentlichen Aspekt moderner und auch vormoderner Gesellschaften systematisch aufarbeiten kann, der bislang weder von Historikern noch von Soziologen angemessen beachtet wird: ihre Beziehungen zu ihrer materiellen und ökologischen Umwelt. Bloße Input- und Output-Analysen, wie sie in der Humanökologie oder auch in der Wiener Sozialen Ökologie vorgelegt werden, können eine erste Orientierung bieten, aber sie verkürzen das Thema und naturalisieren es, weil sie die kulturelle und politische Dimension des Umgangs mit Stoffen weglassen oder doch marginalisieren. Um die geht es aber den Stoffgeschichten. Wissenschafts- und Technikgeschichte muss mit der allgemeinen Geschichte verbunden werden.
Bei allen hier vorgestellten Stoffgeschichten ist das chemische Labor als Ort der Erkundung, Erprobung und Erfindung zentraler Bezugspunkt. Es ist eine wohlbekannte These, dass das Verhältnis moderner Gesellschaften zur Natur wesentlich durch die Naturwissenschaft geprägt ist, auf der intellektuellen Ebene ebenso wie auf der öko-technischen. Die Chemie ist deshalb eine Schlüsselindustrie des Anthropozäns.3 Doch wenn man fragt, welche kulturelle oder gar politische Bedeutung denn diese oder jene Synthese gehabt hat, dann findet man meist nur summarische Auskünfte, etwa die, dass die »Herrschaft über die Natur« ausgeweitet worden sei.4 Mit solchen Thesen gewinnt man jedoch keine Erkenntnis, sondern verbreitet eine Ideologie. Der springende Punkt epochaler chemischer Erfindungen ist eben nicht die Herrschaft über die Natur, sondern normalerweise die Herrschaft über andere politische Kollektive. Deshalb lässt sich die Wissenschaftsgeschichte nicht von der allgemeinen politischen Geschichte trennen. Das Labor hängt mit den Märkten, mit der politischen Arena und mit den Schlachtfeldern zusammen, auch mit jenem Schlachtfeld, das man beschönigend »moderne Kulturlandschaft« nennt.
Die Studien sind sehr quellennah5 gearbeitet und verfolgen überall einen wissenschaftlichen Anspruch, gleichwohl hoffe ich, dass das Erzählerische6 nicht zu kurz gekommen ist.
Dieses Buch ist über einige Zwischenstufen aus meiner im August 2014 an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg eingereichten (und 2015 angenommenen) Habilitationsschrift hervorgegangen. Die Habilitationsschrift beruhte auf Studien, die ich im Kontext unseres Augsburger Forschungsschwerpunktes Stoffgeschichten seit 2004 durchgeführt habe.7 In dem vorliegenden Buch sind daher neben bislang unveröffentlichten auch einige schon veröffentlichte Forschungsergebnisse verarbeitet. Wo das der Fall war, sind die Texte jedoch stets – von einer Ausnahme abgesehen8 – umfangreich überarbeitet, erweitert und weitgehend neu geschrieben worden. Neuere Literatur wurde nach Möglichkeit bis etwa Mitte 2018 berücksichtigt.
In meiner 1997 publizierten Dissertation hatte ich mich mit der Frage auseinandergesetzt, was Stoffe eigentlich sind, und worin sie sich von Dingen unterscheiden. Mit phänomenologischer Methode gearbeitet, waren die Ergebnisse ein Beitrag zur Wissenschafts- und Naturphilosophie. In der hier vorliegenden Studie hingegen geht es mir um das geschichtliche Sein der Stoffe, um ihr Leben. Entsprechend ziehe ich hier in erster Linie Ergebnisse und Prinzipien der historischen Forschung, der Geschichtsphilosophie und der Geschichtenphilosophie heran. Zwischen beiden Studien besteht gleichwohl ein enger Zusammenhang, nicht nur deshalb, weil es notwendig ist, zu wissen, was man mit dem Begriff »Stoff« überhaupt meint, ehe man klären kann, was Stoffgeschichten denn eigentlich sind. Eine Verbindung ergibt sich auch aus der Prozessualität von Stoffen: ein Ergebnis meiner Studien war seinerzeit, dass Stoffe nicht nur Eignungen haben, sich nicht nur in spezifische menschliche Handlungspläne einspannen lassen, sondern auch Neigungen, die man zwar für eine Weile stillstellen, aber nie ganz ausschalten kann. Sie werden nicht nur auf den Weg gebracht, sondern bewegen und transformieren sich auch von selbst. Diese Auto-Mobilität der Stoffe ist ein wesentliches Element der modernen Geschichten, weil Stoffe, wenn sie sich auf den Weg machen, Grenzen überschreiten und damit oft Konflikte hervorrufen.
Vielen bin ich zu Dank verpflichtet. Dem Chemiker Armin Reller, weil er vor rund zwanzig Jahren den Keim legte, denn damals schrieb er mir erstmals über seine Ideen zu Stoffgeschichten in jenem erweiterten Sinn, der über die chemiehistorischen und kunsthistorischen Stoffgeschichten hinausgeht. Gemeinsam machten wir die Stoffgeschichten 2002 zum zentralen Forschungsansatz des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg; und das sind sie seither geblieben. Eine Buchreihe, drei große interaktive Ausstellungen, die in über vierzig Museen gezeigt wurden, viele Tagungen, zahlreiche Dissertationen, Masterarbeiten und Veröffentlichungen haben seither die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes unter Beweis gestellt. Mit Armin arbeite ich nun seit über fünfzehn Jahren zusammen, und unsere Gespräche über Stoffe waren immer weiterführend. Mit dem Chemiker und Wissenschaftssoziologen Stefan Böschen bin ich fast ebenso lange in einem für mich höchst lehrreichen Gespräch über Stoffe und ihre Geschichten, mehrere Forschungsprojekte zu Konfliktstoffen haben wir gemeinsam durchgeführt. Dem brasilianischen Archäologen und Historiker Klaus Hilbert, der in Porto Alegre lehrt, danke ich für ungezählte Gespräche und eine unvergessliche Reise auf dem Rio Negro in Amazonien. Das Thema der indigenen Stoffentdeckungen und Stofftransformationen, die Chemie im Urwald gewissermaßen, habe ich erst durch ihn und mit ihm aufschließen können. Er wies mich zudem, wie zuvor bereits der Frankfurter Ethnologe Hans Peter Hahn, dem ich ebenfalls verbunden bin, auf den größeren Kontext der Material Culture Studies hin.
Mein Dank gilt auch den weiteren Vorstandsmitgliedern des Wissenschaftszentrums Umwelt, Marita Krauss und Jucundus Jacobeit, die das Forschungskonzept Stoffgeschichten von Anfang an und maßgeblich gefördert haben. Ebenso danke ich unseren aktiven Mitgliedern und Mitarbeitern, aktuellen wie auch ehemaligen, sowie vielen Kooperationspartnern für Inspiration und Anregung, die aus ganz verschiedenen Bereichen kam: von der Chemie, der Klimaforschung, der Geographie über die Amerikanistik bis hin zur Philosophie, zur Geschichte der Frühen Neuzeit und zur Umweltsoziologie. Sie alle zu nennen, würde eine lange Liste ergeben, deshalb muss es bei einem umfassenden, aber nicht weniger herzlichen Danke! bleiben. Als Ort, der die Produktivkraft des interdiziplinären Dialogs systematisch nutzt, ist das WZU ein idealer Ort für die Entwicklung der Idee der Stoffgeschichten!
Mein Mentorat bei der Habilitation, bestehend aus den Philosophen Uwe Voigt (Augsburg), Thomas Schärtl (Regensburg) und Alfred Nordmann (Darmstadt), hat meine Untersuchungen zur stoffgeschichtlichen Methode angeregt und mit Kritik und Ermutigung unterstützt, eine Unterstützung, für die ich sehr dankbar bin, weil sie mir half, meine Gedanken zusammenzuführen und weiterzuentwickeln. Hubert Zapf und Sean McGrath ermutigten mich, den Ansatz auch in einem internationalen Kontext vorzustellen und zu diskutieren.
Danken möchte ich auch dem Verleger des oekom verlages, Jacob Radloff, Manuel Schneider und ganz besonders dem Leiter des Buchbereichs, Christoph Hirsch, denn sie alle haben die Stoffgeschichten von Verlagsseite ermöglicht und seit 2003 entscheidend gefördert! Speziell für dieses Buch war viel Geduld auf Verlagsseite notwendig. Auch dafür herzlichen Dank! Die Universitätsbibliothek der Universität Augsburg schließlich hat mit dem Anlegen eines Sammlungsschwerpunktes Stoffgeschichten, der inzwischen mehrere Tausend Bände umfasst, mein Arbeiten wesentlich erleichtert, ich danke Frau Bihler, Herrn Biehl, Herrn Zimmermann, Frau Löcherer und ihren Kolleginnen für jahrelange ausgezeichnete Zusammenarbeit! Nadja Hendriks, Jenny Huch, Anna Moser und Stefan Fendt haben bei der redaktionellen Arbeit an dem Manuskript geholfen. Regina Rott, ohne deren Tatkraft das WZU schwerlich funktionieren könnte, ebenso wie Reiner Schwandt unterstützten die Endredaktion des Manuskriptes, indem sie mir manche Aufgaben abnahmen.
Anna Magdalena Ruile hat den Text kritisch gelesen und in seinen verschiedenen Versionen mit mir diskutiert, dadurch konnte ich vieles besser formulieren. Jede Zeile, die ich mit ihr durchging, hat an Klarheit gewonnen. Zudem gab sie mir einen entscheidenden Rat, der es mir ermöglichte, eine sinnvolle Disposition zu finden.
Auch meinen Kindern Henrik und Merle danke ich von Herzen, für ihre Liebe und für vieles, das sie in den letzten Jahren sagten und taten! Gewidmet ist dieses Buch meinen Eltern, meiner Mutter und meinem leider schon verstorbenen Vater. Beide haben meine chemische Passion von Beginn an gefördert. Ohne Angst, und doch nicht leichtfertig oder sorglos trauten sie mir zu, auch mit gefährlichen Substanzen und Prozessen verantwortlich umgehen zu können. Jeden Tag durfte ich mich in mein Kellerlabor zurückziehen, wo mich das Rauschen der blauen Bunsenbrennerflamme bannte, die die Substanzen in den Kolben und Reagenzgläsern zum Leben erweckte. So konnte ich eine tiefe und umfassende Erfahrungsbasis aufbauen, die unsere heutigen jungen Naturforscher leider nur noch ganz selten erwerben können. Es war eine Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens, in der jene Glück bringende Flamme auflodern konnte: die Leidenschaft für das Leben der Substanzen und ihre faszinierenden Verwandlungen, die mich bis heute träumen lässt.

Eine Frage vorweg: Was sind Stoffgeschichten?

Stoffgeschichten erkunden und erzählen den Lebensweg von Stoffen.1 Sie untersuchen und zeigen Stoffe, zum Beispiel das Kohlendioxid, das Erdöl, das Heroin, das Cocain, den Phosphor oder den Zucker nicht nur in Deutungskontroversen, sondern auch in Handlungs- und Wirkungszusammenhängen. Sie beschränken sich nicht auf das Labor. Sie folgen ihren Protagonisten auf ihrem Weg ins Grundwasser, in die Atmosphäre, in Nahrungsketten, auf dem Weg durch Ökosysteme, durch menschliche Körper; sie interessieren sich nicht nur für die Diskussionen über sie in Lehrbüchern und im Hörsaal, sondern auch für den Streit im Gerichtssaal, auf der Straße, in Zeitungen und Romanen. Sie nehmen Stoffe nicht nur als Wissensobjekte ernst, sondern auch als kulturelle und politische Symbole.
Mit dem Wort wird sowohl eine (geisteswissenschaftliche2) Forschungsmethode wie auch die Darstellung der Ergebnisse bezeichnet. Stoffgeschichten, jedenfalls die hier gemeinten, haben einen wissenschaftlichen Anspruch. Der Stoffhistoriker rekonstruiert den Weg einer bestimmten Substanz mit den Mitteln etwa der Feldforschung oder der Archivforschung. Zwar gibt es auch ganz andere Stoffgeschichten, es gibt auch erfundene Geschichten über wirkliche Stoffe, Stoffgeschichten können auch als Sagen oder Märchen daherkommen,3 in denen Stoffe und ihre Eigenschaften meist im Rahmen von Handlungen übernatürlicher Wesen gedeutet werden.4 Es gibt solche Geschichten in der Form eines Gedichts, als Film, als Legende, als Satire, als Werbesendung, ja sogar als Glasbild5; aber alle diese Stoffgeschichten sind eben keine wissenschaftlichen, wenn sie auch selbstverständlich Gegenstand stoffhistorischer Forschung werden können.
Warum kann man überhaupt von Stoffbiografien sprechen, wie gewinnen diese oder jene Stoffe ein »soziales Leben«? Sie gewinnen es in der Regel, indem Menschen etwas mit ihnen tun, indem über sie gesprochen wird bzw. indem sie als Waren getauscht und gehandelt werden.
Und doch müssen wir den Stoffen zugleich ein beträchtliches Maß an Eigenaktivität zusprechen, weil sie zum einen ungeplante und oft ungewollte Wirkungen entfalten, zum anderen aber, weil sie nicht nur bewegt und transformiert werden, sondern sich auch selbst bewegen und umwandeln. Sie dissipieren, verteilen sich nach eigenem Plan oder wandeln sich um. Öl aus geborstenen Tankern oder havarierten Ölplattformen breitet sich auf dem Meer aus, Stickstoffdünger und Pestizide diffundieren ins Grundwasser, Smog entsteht und verteilt sich in Städten, Kohlendioxid aus der Verbrennung fossiler Rohstoffe reichert sich in der globalen Atmosphäre an, Mikroplastik verteilt sich im Meer usw. Diese Eigenaktivität bedingt Konflikte neuen Typs, weil Menschen, die mit der Produktion und dem Handel mit diesem oder jenen Stoff ursprünglich überhaupt nichts zu tun hatten, plötzlich in seine Geschichte verstrickt werden. Doch ehe ich weiter auf diese typisch modernen Konflikte eingehe, sei ein Versuch vorangeschickt, den Begriff des Stoffes zu präzisieren.

Was sind Stoffe?6

Oft wird gesagt, Stoffe seien »Formen der Materie«. Das ist nicht falsch, aber doch ungenau. »Die Materie« ist in erster Linie ein spekulatives Konstrukt in verschiedenen philosophischen und naturwissenschaftlichen Systemen,7 Stoffe hingegen sind alltägliche Phänomene, Beispiele wären Salz, Eisen, Sand, Kohlendioxid, Zucker, Kalk, Seife, Ocker usw. Zwar gibt es seit etwa dreihundert Jahren eine empirisch forschende und institutionell organisierte Naturwissenschaft namens Chemie, die sich mit der Analyse und Synthese von Stoffen befasst, dennoch ist der Stoffbegriff kein reiner Laborbegriff, der außerhalb der Wissenschaft nicht verständlich wäre. Vielmehr sind Stoffe ebenso wie Dinge alltägliche Phänomene, jeder Mensch hat mit ihnen zu tun, jeder Mensch kann Stoffe unterscheiden, kann sie auch bearbeiten und ist gewohnt, Stoffe am Feuer oder auch am modernen Induktionsherd zu transformieren. Deshalb ist es nicht nötig, allererst Chemie zu studieren, um dann sagen zu können, was Stoffe sind, vielmehr kann eine solche Definition auch ausgehend von Alltagserfahrungen vorgenommen werden. Dabei müssen die Ergebnisse moderner chemischer Forschung nicht ignoriert werden, aber sie sind produktive Ergänzung, nicht Ausgangspunkt.
Wichtig für das Verständnis von Stoffen ist die Unterscheidung von Stoffen und Dingen. In unserem Alltag haben wir oft mit Dingen zu tun, zum Beispiel mit Telefonen oder Bleistiften, auch mit Fahrrädern, Stühlen, Tischen. Tatsächlich ist unser Blick im Alltag weitaus häufiger auf Dinge orientiert, als auf den Stoff, aus dem sie sind. Intuitiv ist uns klar, dass die Stoffe, aus denen solche Dinge bestehen, etwas anderes sind, und wir wissen auch, welche Perspektive wir einnehmen müssen, wenn wir auf die Stoffe achten. Wer Stoffe wahrnehmen will, der muss buchstäblich seine Sehweise ändern: Man blickt dann nicht frontal, sondern eher seitlich und möglichst im Streiflicht auf die Oberflächen. Dem seitlichen Blick und dem Streiflicht erschließen sich die Mikrostrukturen, welche für Stoffe typisch sind.
Noch müheloser können wir Stoffe wahrnehmen, wenn wir unsere Augen gänzlich schließen und uns auf die Wahrnehmung unserer Finger oder, was noch feiner ist, der Lippen verlassen. Im Mundraum schließlich sind die Gewichte der Wahrnehmung geradezu umgekehrt: Während das Auge zunächst und zumeist Dinge sieht und für die Wahrnehmung von Stoffen besondere Blickwinkel eingenommen werden müssen, so nimmt der Mund zunächst und zumeist Stoffe wahr.8 Oft nutzen wir Nase oder Mund, um Stoffe zu unterscheiden, die optisch nahezu gleich aussehen, Salz und Zucker, genießbare und sauer gewordene Milch etwa. Die Ärzte und Chemiker früherer Zeiten, noch recht unbesorgt um mögliche Gifte, haben sich sehr häufig auf ihre Zunge und ihre Nase verlassen, um Stoffe zu erkennen; so war es früher etwa üblich, auch die Krankheit Diabetes mit der Zunge zu diagnostizieren, denn man kostete den Urin der Erkrankten: Wenn dieser süß schmeckte, war dies ein Anzeichen von Diabetes. Auch bestimmte Erze wurden am Geschmack erkannt, eine Praxis, von der man später wieder abgekommen ist, als man klarer erkannt hatte, dass nicht wenige Metalle giftig sind. Dass aber Eisen einen charakteristischen Geruch und Geschmack hat, ist auch heute noch eine vielen geläufige Erfahrung; auch, dass Blut nach Eisen schmeckt (und dieses bekanntlich auch enthält).
Wir können also Stoffe von Dingen unterscheiden und sind auch in der Lage, einzelne Stoffarten zu unterscheiden, ja, wir können sogar Stoffe, die in anderen gewissermaßen drinstecken, herausschmecken, wie eben das Eisen im Blut. Aber was genau ist es, das einen Stoff von einem Ding unterscheidet, woran unterscheiden wir die beiden Kategorien? Stoffe werden meist von mechanischen Erfahrungen her gedacht, Stoffe sind etwas, das man berühren, wägen, zerteilen, aufbewahren kann; sie sind »im Raum«, sie sind schwer und träge, sie sind widerständig. In diesen unmittelbar einleuchtenden und richtigen Charakterisierungen spiegelt sich die typische Erfahrung des mit der Hand oder mit Werkzeugen arbeitenden Menschen.
Es zählt zu den zentralen Eigenschaften von Stoffen, dass sie sich zerteilen lassen, ohne ihre Identität zu verlieren. Damit hängt zusammen, dass Stoffe auch meist nicht nur an einem einzigen Ort vorkommen, es gibt fast immer mehrere Proben desselben Stoffes an verschiedenen Orten. Wenn wir einen Würfel Zucker in zwei Hälften teilen, nennen wir das Ergebnis dieser Teilung weiterhin Zucker. Zersägen wir hingegen einen Stuhl, erhalten wir keine zwei Stühle, sondern Brennholz. Genau hieran lassen sich Stoffe und Dinge unterscheiden – denn Dinge behalten ihre Identität üblicherweise nicht, wenn sie zerteilt werden; sie sind dann »kaputt«. Stoffe hingegen sind lediglich portioniert oder auch zerkleinert worden, behalten aber dabei die meisten oder sogar alle ihrer Eigenschaften. Man kann sie innerhalb eines weiten Spielraums immer weiter zerteilen, ohne dass das Ergebnis aufhört, dieser bestimmte Stoff zu sein. Dieser Spielraum ist übrigens bei Alltagsstoffen oft weniger ausgedehnt als in der Chemie, die sich vor allem, wenn auch nicht ausschließlich mit homogenen Stoffen befasst.
Die Portionierbarkeit ist der wichtigste semantische Anker für den Stoffbegriff. Sie ist auch der Grund, weshalb Stoffe typische Waren sind: Man kann sie nämlich gut aufbewahren und man kann sie in beliebigen Portionen veräußern.
Wenn man nur die Portionierbarkeit in den Blick nimmt und diese zum einzigen Kennzeichen für den Stoffbegriff macht, dann erscheinen Stoffe rein passiv, als stummer und stiller Gegenstand, an dem der Mensch werkelt.9 Der einzige Rest eigener Aktivität läge in der Widerständigkeit, die erlischt, sowie die arbeitende Hand sich vom Werkstoff zurückzieht. Erst der Mensch brächte in diesem Verständnis Zeitlichkeit und Werden in das Sein der Stoffe (und der aus diesen bestehenden Dinge), die ansonsten in gleichmütiger Dauer verharren.
Bleibt es bei dieser Charakteristik und wird sie zum expliziten oder impliziten Verständnisrahmen von Stoffgeschichten, dann müssen diese notwendigerweise einseitig bleiben. Doch typische Probleme moderner Gesellschaften mit Stoffen entstehen sehr oft deshalb, weil bestimmte Stoffe und Materialien eben nicht nur still und brav das tun, wofür sie produziert wurden, sondern jede Gelegenheit nutzen, um auf eigene Faust zu handeln. Ölkatastrophen könnte es nicht geben, wenn alles, was über Stoffe gesagt wird, hinreichend mit mechanischen Begriffen gesagt werden könnte; das Öl könnte gar nicht »auf die Idee kommen«, sich auf dem Wasser auszubreiten, Gefieder von Seevögeln zu verkleben, denn dies setzt eigene Aktivität voraus.
Natürlich sind die mechanischen Kennzeichen der Stoffe wichtig, sie sind jedoch nur die eine Hälfte der Aspekte, die einen modernen Stoffbegriff ausmachen.10 Auffallend im Chemielabor wie in der Küche ist zum einen die Pluralität stofflicher Individuen.11 Die Stoffe, mit denen wir es im Alltag zu tun haben, sind keine Varianten, die genetisch aus einer einzigen Urmaterie abgeleitet werden können, sondern individuelle Einheiten mit ganz spezifischen, oft höchst überraschenden Eigenschaften, die sich nicht auf einen Punkt reduzieren lassen, auch wenn diese Idee in der gesamten Geschichte der Philosophie, der Alchemie und der modernen Chemie immer wieder eine enorme Verführungskraft besaß. Doch Wasser und Bergkristall, um ein beliebiges Beispiel herauszugreifen, sind zwei völlig verschiedene Substanzen, auch Salz und Zucker verhalten sich gänzlich verschieden, so sehr sie sich äußerlich zu ähneln scheinen. Sie sind, wie es in der Philosophie heißt, natürliche Arten. Diese Stoffarten haben eine ganz scharf ausgeprägte Identität, wie sie auch Tier- oder Pflanzenarten haben.
Nicht jede Stoffbezeichnung meint eine solche natürliche Art. Spricht man etwa von einem »Füllstoff« (oder, um andere Beispiele zu wählen, von einem »Klebstoff« oder einem »Nichtleiter«), dann können damit ganz verschiedene Substanzen gemeint sein, von Stroh bis hin zu Amalgam. Eine natürlich Art unterscheidet sich nach einem Kriterium, das John Stewart Mill angegeben hat,12 von einer künstlichen dadurch, dass zwei Proben einer solchen natürlichen Art – zwei Zuckerproben etwa, die eine aus Zuckerrüben gewonnen, die andere aus Rohrzucker – unendlich viele Eigenschaften gemein haben, während zwei Proben einer künstlichen Art meist nur endlich viele Eigenschaften gemein haben. Weil es natürliche Stoffarten gibt, kann es auch eine Naturwissenschaft von den Stoffen geben.
Diese natürlichen Stoffarten bilden ein System: Denn zwar leiten sich die Stoffe nicht alle von einer einzigen Urart her, wohl aber hängen sie miteinander durch ein ungeheuer kompliziertes System von Transformationen zusammen, das die Chemie erforscht.
Schon in die alchemistische Praxis war das Bewusstsein der Vielfalt der Stoffe implizit eingelassen; doch in der Theorie dominierte weithin die Idee der einen Materie. Der Abschied von dieser einen Materie der Philosophen und Mechaniker hin zu den vielen, gleichberechtigten Stoffen, aus denen die materiellen Objekte aufgebaut sind, hat sich wissenschaftsgeschichtlich im 17. Jahrhundert vollzogen. Er ist überall dort nachweisbar, wo der Alkahest, das universelle Lösungsmittel, von dem die Alchemisten träumten, als Fiktion abgelehnt wird. Ein solcher Alkahest hängt mit der Lehre von der einen Materie insofern zusammen, weil es einen solchen Alkahest nur dann geben könnte, wenn alle Stoffe Varianten einer Urmaterie sind.13 Die Wissenschaftshistorikerin Hélène Metzger spricht den Fortschritt dem Arzt und Chemiker Georg Ernst Stahl zu, denn dieser bekämpfte die Doktrin von der Einheit der Materie.14 Bei Antoine de Lavoisier, mit dem oft und nicht ohne Grund der Beginn der modernen Chemie angesetzt wird, ist das Bewusstsein der Vielheit der Stoffe bereits sicherer Besitz der naturwissenschaftlichen Theorie.
Diese Stoffe selbst, und dies ist das zweite Kennzeichen, das den mechanistisch halbierten Stoffbegriff ergänzen muss, sind nie völlig passiv, sondern weisen ganz spezifische Neigungen auf; sie werden zum Beispiel leicht ranzig, rosten schnell, können anbraten, werden hart, sind zerbrechlich usw. Alle Stoffe haben zudem einen geteilten inneren Drang, nämlich den, sich über die Welt zu zerstreuen, sich nach eigenem Plan im Raum zu verteilen, zu dissipieren, und zu verwandeln. Pullover flusen, Textilien stauben, aus Plastikverpackungen wird Mikroplastik, das im Meer treibt und sich etwa im Meersalz wiederfindet, radioaktiver Staub, CO2, N2O und andere Treibhausgase verteilen sich in der Atmosphäre usw. Alles dies, ohne dass irgendjemand es absichtlich herbeigeführt oder gewollt hat: Die Stoffe tun das von selbst. Bei Dingen kann dieses Sich-Umverteilen durch Einsammeln wieder in begrenztem Umfang rückgängig gemacht werden, bei Stoffen ist das auch mit größtem Aufwand nicht möglich. Solche spezifische Eigenaktivität nenne ich die Neigungen der Stoffe – im Unterschied zu den von Menschen ihnen zugesprochenen Eignungen.15 Diese Neigungen sind der alchemistischen Erfahrung und auch der alchemistischen Theorie seit dem Altertum bekannt, sie wurden im Laufe der Zeit mit Begriffen wie Affinität, Wahlverwandtschaft usw. systematisiert. In der modernen Thermochemie werden sie dargestellt durch das chemische Potenzial my (µ)16 Sie sind, darauf kommt es uns an, spezifisch für diesen oder jenen Stoff, auch wenn sie von verschiedenen Rahmenbedingungen wie zum Beispiel der Temperatur abhängen. An ihren Neigungen erkennt man die einzelnen Stoffarten, an ihrer Aktivität, weniger an ihrem Aussehen. Stoffe haben also nicht nur ein Sein im Raum, sind nicht nur, wie ihr Name, der vermutlich mit dem Wort »stopfen« verwandt ist, andeutet, etwas, das Raum ausfüllt. Stoffe haben ein ausgedehntes Sein in der Zeit, sie sind die Transformationen und Migrationen, die sie vollziehen und die in ihren chemischen Bezeichnungen auch angezeigt werden.
Die Neigungen der Stoffe sind nicht nur, wie in diesem Buch ausführlich gezeigt werden wird, für die spezifisch modernen Konflikte um Stoffe von Bedeutung. Sie sind zugleich für den produktiven, erfinderischen Umgang mit Stoffen unerlässlich, denn weder die Tätigkeit des Bäckers, noch die des Gerbers, erst recht nicht die Tätigkeit des Chemikers wären denkbar ohne Beachtung der Eigenaktivität der Stoffe. Eine chemische Reaktion, die von einem Stoff zum anderen führt, kann man zwar ansetzen, man kann die Stoffe miteinander mechanisch in Kontakt bringen, aber dann handeln die Stoffe selbst, sie reagieren und bringen das Produkt hervor. 17
Alle oder doch fast alle Stoffe haben eine gewisse innere Verwandlungslust, eine Wanderlust, sie sind eingebunden in vielfältige innere und äußere Transformationen, Teil von kleinen und großen Metamorphosen, auch dann unterwegs, wenn sie in Schliffgefäßen von der Welt isoliert sind. Wandlungen liegen ebenso hinter wie vor ihnen. Denn auch die im chemischen Labor erzeugten, hochreinen Präparate, die in ihren normierten Formen fast der Zeit entrückt zu sein scheinen, tragen die Zeichen ihres Werdens in sich – als minimale Verunreinigungen, aus denen auf die Prozesse, in denen sie entstanden sind, und oft auch auf ihr Alter geschlossen werden kann. Jede noch so reine Probe eines Stoffes ist, weil sie aus dem lebendigen System stofflicher Metamorphosen hervorgegangen ist, eine Mischung, ein Gebilde, das in bestimmten biologischen, geologischen, ökologischen oder technischen Kontexten entstanden ist.18 Stoffe zeigen sich also insgesamt als höchst dynamische und immer historische Gebilde, die allenfalls für den Moment stillstehen.
Diese innere Unruhe bemerken wir auch im Alltag. Zwar sind wir von gezielt stillgestellten Stoffen umgeben, deren Eigendynamik mit raffinierten Mitteln unterdrückt wurde, damit sie ihrer vorgesehenen Funktion möglichst lange treu bleiben. Wir verwenden Werkzeug aus »nichtrostendem Stahl«, das Papier unserer Bücher ist »alterungsbeständig«, unsere Wohnungstextilien enthalten brandhemmende Mittel, unser Glas ist (relativ) bruchsicher, thermisch widerständig und chemisch inert, wir konsumieren ultrafiltrierte Fruchtsäfte und zentrifugierte und ultrahocherhitzte Milch. Und doch findet begleitend zu und anschließend an Produktion und Konsumption, als Neben- und Nachwirkung eine beträchtliche, wenn auch meist unbemerkte Dissipation und Transformation statt.
Dieses »sich Verteilen« von Stoffen und Dingen ist nicht nur ein wirtschaftliches Problem, weil nichterneuerbare Wertstoffe verloren gehen,19 sondern ein ökologisches und oftmals auch ein politisches, weil die Stoffe auf ihren Wegen Grenzen überschreiten und damit Konflikte heraufbeschwören. Die grenzüberschreitende Eigenmotorik, das autonome Sich-Transformieren der Stoffe, ihre Neben- und Abwege jenseits der ihnen von ihren Meistern in den Laboren zugedachten Dienstplänen sind es, was moderne Stoffgeschichten vielfach prägt.

Die Idee der Stoffgeschichten

Das Erzählen von Geschichten, deren Helden nicht Menschen oder Tiere, sondern Sachen, also Stoffe oder Dinge sind, hat eine viel längere Tradition, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Zunächst traten solche Geschichten als paradoxe Lobreden im Kontext der antiken Rhetorik auf. Um die Gabe des Redners, über tatsächlich jedes Thema überzeugend zu reden, sowohl zu üben wie auch zu präsentieren, gab es in der antiken Rhetorik das Genre der Enkomia paradoxa, Redner lobten dann etwa den Staub oder den Rauch (und nicht den Kaiser oder den Herkules). Im Humanismus wurde diese Art der Lobrede weiter gepflegt.20 Stärker als Geschichten gearbeitet waren dann die in der englischen Literaturwissenschaft so genannten it-narratives (auch novels of circulation), Erzählungen, deren Held eine Sache (etwa eine Goldmünze oder ein Mantel) ist, die von Hand zu Hand wandert.21 Sie waren besonders im britischen Empire des 18. Jahrhunderts populär und reflektieren die zunehmende Menge von Waren, die im britischen Weltreich gehandelt wurden.
Als explizites methodisches Konzept jedoch traten »Stoffgeschichten« im hier gemeinten Sinne erstmals im Kontext eines Literaturprogramms auf den Plan, das der russische Futurist Sergej Tretjakow 1929 in polemischer Abgrenzung vom »klassischen Roman«22 formulierte. An Tretjakow möchte ich anknüpfen, weil seine Stoffgeschichten nicht nur unterhalten und erfreuen, sondern auf eigener Recherche beruhen, informieren und kritisieren sollen und daher mit den hier gemeinten wissenschaftlichen Stoffhistorien eng verwandt sind.
Statt um individuelle Romanhelden zu kreisen, um bürgerliche Persönlichkeiten also, empfiehlt Tretjakow den Schriftstellern, »die Erzählung als eine Art ›Biografie des Dings‹ aufzubauen.«23 Mit »Ding« meint Tretjakow vor dem Hintergrund eines materialistischen Weltverständnisses vor allem Stoffe: »Bücher wie Holz, Getreide, Kohle, Eisen, Flachs, Baumwolle, Papier, Lokomotive, Betrieb sind noch nicht geschrieben. Wir brauchen sie, und nur mit den Methoden der ›Biografie des Dings‹ lassen sie sich auf befriedigende Weise herstellen.«24 Unter einem »Ding« versteht Tretjakow offenbar recht Unterschiedliches, wenn er auch einen »Betrieb« so nennt. Im Grunde aber meint er vor allem Stoffe, wie seine weiteren Ausführungen zeigen. Die kompositionelle Struktur der von ihm entworfenen neuen Erzählungen »läßt sich mit einem Fließband vergleichen, auf dem das Rohprodukt entlanggleitet. Durch menschliche Bemühungen verwandelt es sich in ein nützliches Produkt.« Tretjakow verfolgte die Absicht, durch solche Romane »den Klassenkampf in entwickelter Form auf allen Etappen des Produktionsprozesses«25 erlebbar zu machen. Es ist der Konflikt zwischen den Arbeitern und den Kapitalisten, die sie ausbeuten, der ihn interessiert und der im Fokus seines Essays steht.
Mit seinem Literaturkonzept fand er Schüler oder er beschrieb zumindest eine Literaturgattung und ein Beobachtungsschema, die im Trend lagen, wurden und werden doch seither viele nach diesem Muster gearbeitete Romane recherchiert und publiziert.26 Tretjakow selbst bezog sich auf die Romane von Pierre Hamp, der in seiner sozialkritischen Romanserie La peine des hommes in diesem Sinne etwa den Flachs oder auch Meeresfrüchte behandelt hat. Die Methode sollte aufklären, wie Tretjakow meinte: »Die ›Biographie des Dings‹ ist eine sehr nützliche kalte Dusche für die Literaten, ein hervorragendes Mittel, damit der Schriftsteller … sich in einen Menschen mit etwas zeitgemäßerer Bildung verwandele.«27
Der bei Tretjakow dominante marxistische Hintergrund ist auch heute noch relevant, weil die von ihm bezeichneten Phänomene keineswegs verschwunden sind. Eine Gruppe von Menschen beutet, über die Vermittlung eines Produktions- und Tauschprozesses, eine andere aus. Marx illustrierte in seinem Werk Das Kapital bereits seine Thesen über die Produktion des Mehrwerts und über die Ausbeutung der Arbeiter mit einem Stoff – mit der Baumwolle und ihrer Verarbeitung.
Zweifellos hat Tretjakov also einen wichtigen Konflikttyp benannt, der auch für moderne Stoffgeschichten keineswegs irrelevant geworden ist, wenn er sich auch heute oft stärker räumlich zerdehnt, als dies in den 1920er Jahren, auf die sich Tretjakow bezieht, der Fall gewesen sein mag, weil die Ausgebeuteten weit entfernt von den Ausbeutern tätig sind, wie es in der modernen Textilwirtschaft und vielen anderen globalen Industriezweigen üblich ist.
Doch zum einen ist sein Bild recht reduziert. Ein Stoff oder Ding wandert durch die Gesellschaft, in einer weitgehend geradlinigen Bewegung. Ableitungen oder Umleitungen dieser linearen Kette kommen nicht in Betracht, schon gar keine Eigendynamik der Materie. Daher ist der Erzählstoff, den Tretjakow im Sinn hat, recht beschränkt. Das mechanische Bild von einem Förderband, das an den gesellschaftlichen Formationen der Menschen – der in Klassen geteilten Gesellschaft – vorbeizieht, und auf dem sich ein Rohstoff in ein nützliches Ding verwandelt, ist eindrucksvoll, aber simpel. Wie kommt dieses Förderband überhaupt zustande, auf welche Wünsche der Menschen antwortet es? Wie hängt das, was Menschen produzieren und verwenden mit ihrem Selbstverständnis, mit ihrer politischen und kulturellen Identität zusammen?
Es ist interessant, dass es neben diesem betont materialistischen, gezielt antibürgerlichen Konzept für eine Ding- bzw. Stoffbiografie auch einen alternativen Entwurf von einem bürgerlichen Autor gibt, der nur wenige Jahre später veröffentlicht wurde, vermutlich ohne Kenntnis der Arbeit von Tretjakow. Heinrich Eduard Jacobs Roman Sage und Siegeszug des Kaffees – Die Biographie eines weltwirtschaftlichen Stoffes erschien im Oktober 1934 bei Rowohlt.28 Es war formal innovativ, weil Jacob gezielt berichtende Passagen mit fiktiven Dialogen kombinierte und damit jenes hybride Genre prägte, das in Deutschland heute Sachbuchliteratur heißt. Auch der Erzählgegenstand war ungewöhnlich. Programmatisch schreibt Jacob: »Nicht die Vita Napoleons oder Cäsars wird hier erzählt, sondern die Biographie eines Stoffes. […] Wie man die Biographie des Kupfers oder des Weizens erzählen könnte, wird hier das Leben des Kaffees unter und mit den Menschen erzählt. Sein Einfluss auf den Außenbau und den Innenbau der Gesellschaft; seine Verknüpfung mit ihren Geschicken und mit der Ursache dieser Geschicke. Also das Leben einer Materie? Es gibt gar keine Materie! Was einmal den menschlichen Geist betraf und von ihm weitergetragen wurde, das Strombett der Geschichte entlang, das ist selber Geistesgeschichte!«29 Anders als Tretjakow, der mit seinem Literaturkonzept die Ausbeutung und Ungerechtigkeit entlang der Produktion dieses oder jenes Dinges, dieser oder jener Substanz darstellen und anprangern wollte, stehen solche Aspekte bei Jacob nicht im Vordergrund. Auch eine Thematisierung der ökologischen Nebenfolgen des Kaffeeanbaus findet sich nicht.30
Und doch ist sein Blick weiter als der des marxistischen Schrifstellers, denn es findet sich bei ihm eine Dimension, die Tretjakow ausblendet, nämlich die kulturelle, religiöse und politische Bedeutung, die Stoffe und Dinge haben oder doch haben können. Auch in Jacobs zweiter Stoffbiografie, seinem großen Werk über das Brot, wird diese Dimension deutlich und leitet die Darstellung. Die Brotbiografie verfasste der aufgrund seiner jüdischen Herkunft und liberalen Gesinnung im NS-Reich verfolgte Schriftsteller und Journalist im Exil in den USA; in den 1950er Jahren wurde das Buch dann auch, in einer von Jacob selbst besorgten Übersetzung, in Deutschland verlegt. Jacob schreibt: »Es gibt kein Stückchen Brot in der Welt, an dem nicht Religion, Politik und Technik mitgebacken hätten.«31 Gemeint ist unter anderem, dass das Weizenbrot, mit dem sich Jacob in erster Linie befasst, immer auch eine politische Aussage ist, seit der Weizen von den Römern zur nahrhaftesten und edelsten Getreidesorte erklärt worden war. Wer Weizen isst, grenzt sich von denen ab, die Roggen verzehren, diese wiederum blicken auf jene herab, die Hafer verzehren, weil dieser auch eine Tiernahrung ist.
Jacobs Satz, der wie ein Motto über seiner Brotbiografie aufgehängt ist, lässt sich verallgemeinern. Denn was hier vom Brot gesagt wird, lässt sich mutatis mutando auch von vielen anderen Stoffen, und nicht nur von Nahrungsmitteln, sondern auch von Werkstoffen wie Plastik oder Aluminium behaupten. Auch diese stehen nicht nur in technischen, sondern auch in politischen und kulturellen Kontexten. Sie sind nicht nur technisch charakterisierbare Materien, sondern auch kulturelle Symbole, mit denen bestimmte Gruppen von Menschen sich definieren und gegen andere abgrenzen.
Weil Jacob diese kulturellen Kontexte im Blick hat und sie nicht ignoriert, wie Tretjakow, der sich gänzlich auf den Klassenkampf konzentriert, behandelt er sowohl den Weizen wie auch den Kaffee nicht als tote Materien, sondern als handelnde Akteure. Dies ist nicht nur ein rhetorischer Kunstgriff, der die Aufmerksamkeit des Publikums steigern soll. Vielmehr zeigt Jacob, dass bestimmte Stoffe tatsächlich etwas Aktives und Expansives haben, weil die sie verwendenden Menschengruppen expansiv und invasiv sind. Kurz gefasst und vielleicht ein wenig holzschnittartig erläutert er dies in einem 1962 veröffentlichten Text am Beispiel des Kaffees: »Überall, wo der Islam auftrat, riß er die Reben aus, die den Griechen als Göttergeschenk gegolten hatten. Mohammed verbot den Wein. Von Mekka bis nach Spanien war für viele Jahrhunderte jeglicher Weingenuß untersagt. Kaffee, der ›König der Debattierer‹, der ›Bezwinger des Schlafs‹, der ›morgendliche Gedankenfreund‹ wurde zum Triumphator.«32 Er porträtiert den Kaffee als »semitischen Gegengott des Weins«, als »Schwarzen Apollo«.33 Hier geraten religiöse und kulturelle Konflikte in den Fokus, die vermittelt über Stoffe oder bestimmte Nutzpflanzen ausgetragen werden. Solche inner- und interkulturellen Konflikte prägen die Biografien zahlreicher Substanzen, insbesondere von Nahrungs- und Genussmitteln sowie Textilien, sie sind aber auch in den Biografien des Stickstoffs, des Heroins oder des Kohlendioxids deutlich spürbar. Und selbst für die Biografien von Substanzen, die eine vermeintlich rein technische Bedeutung haben, wie der Stickstoff, sind solche kulturellen Aspekte entscheidend. Denn auch hier wird nicht nur über pragmatische und technische Fragen gestritten. Neben den inner- und den intragesellschaftlichen Konflikten werden moderne Stoffgeschichten von entgrenzten Konflikten geprägt, die sich an ungewollten Nebenwirkungen und der Dissipation der Substanzen entzünden.
Wir kommen darauf zurück. Unabhängig von notwendigen Erweiterungen kann man die Grundidee der Stoffgeschichten auch heute noch ähnlich beschreiben, wie es Tretjakow versuchte: Es ist der wandernde Stoff, der die Recherche und auch die Erzählung organisiert. Oder, um eine Formulierung in einer aktuellen stoffhistorischen Studie aufzugreifen: Die Substanz wird »als beweglicher Aussichtspunkt auf die verschiedenen, auf dem Weg des Produkts liegenden Kontexte genutzt.«34 Das klingt verblüffend simpel, trifft aber den Kern der Methode am besten. Der Stoff ist dabei gewissermaßen ein Spion, denn indem man sich an seiner Reise orientiert und betrachtet, was er sieht oder sehen würde, kommen häufig unvermutete und nicht selten auch irritierende Zusammenhänge in den Blick.
Der wissenschaftliche Stoffhistoriker vermeidet in der Regel, seine Erzählung so zu organisieren, dass tatsächlich der Stoff selbst spricht, dass tatsächlich aus seiner Perspektive erzählt wird. Dieses literarische Mittel findet sich gelegentlich in fiktionalen oder jedenfalls literarischen Stoffgeschichten, etwa in Charles Johnstons berühmtem Roman Chrysal35.
Wissenschaftliche Stoffhistorien sind demgegenüber abstrakter. Zum einen wird selten eine ganz konkrete Stoffportion untersucht – dieses Goldstück, dieses Stück Würfelzucker, dieser Salpeterkristall – sondern eine verallgemeinerte, man spricht von »dem Salpeter«, »dem Zucker«, »dem Gold«, fasst also viele einzelne Geschichten zu einer einzigen zusammen, die typische, durchschnittliche Wege, Stationen, Wendepunkte und Konflikte beschreibt. Zum anderen folgen moderne Stoffhistoriker ihrem Stoff stets in einer gewissen Distanz, heften sich ihm auf die Fersen, oft, indem sie die Wege nachrecherchieren, gelegentlich aber auch ganz buchstäblich, wenn sie die Archive und Bibliotheken verlassen und Feldforscher werden und die Wege ihres Stoffes, soweit möglich, tatsächlich nachwandern.
Daher kann man das Motto moderner Stoffhistoriker mit »follow the thing!«36 zusammenfassen (bzw. »follow the substance«, wenn man penibel sein will): »From a methodological point of view it is the things-in-motion that illuminate their human and social context«37 Ziel ist dabei nicht, eine bunte Sammlung von Anekdoten und unverbundenen Episoden zu präsentieren, sondern an einem konkreten Beispiel zu erforschen, welche Beziehungen eine bestimmte Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit zu ihrer materiellen Umwelt hatte, welcher Dynamik und welchen Veränderungen diese Beziehungen unterlagen und wie sie rückwirkten auf Kultur, Wirtschaft und Politik. In einer in der neueren Literatur vielfach als vorbildlich angesehenen stoffgeschichtlichen Studie über den Zucker erklärt der amerikanische Anthropologe Sidney Mintz genau in diesem Sinne: »I hope to explain what sugar reveals about a wider world, entailing as it does a lenghty history of changing relationships among peoples, societies and substances.«38

Die stoffgeschichtliche Methode in der Kunstgeschichte und in der Chemiegeschichte

In der Forschung finden sich vor allem zwei Bereiche, in denen die stoffgeschichtliche Methode eine längere Tradition hat, und das ist die Kunstgeschichte einerseits, die Chemiegeschichte andererseits. Beides sind typische geisteswissenschaftliche Disziplinen. Die Stoffgeschichten, die in diesen weit auseinanderliegenden Forschungsbereichen erarbeitet wurden bzw. werden, sind auf den ersten Blick ganz unterschiedlich und haben doch eine wichtige Gemeinsamkeit.
Kunsthistorische Stoffgeschichten befassen sich mit dem Gebrauch und der (ästhetischen) Bedeutung bestimmter Stoffe in Kunstwerken, in Bildern und Gemälden, in Plastiken und in Bauwerken. Sie knüpfen methodisch an die Ikonologie an, untersuchen also den Zeichencharakter bestimmter Stoffe im Kontext von Kunst- und Bauwerken. Begründet wurde diese vor allem im deutschsprachigen Forschungsraum gepflegte Arbeitsrichtung mit den Aufsätzen des Kunsthistorikers Günter Bandmann39, die Methodik wurde dann in der Augsburger Habilitationsschrift von Thomas Raff40 präzisiert. Spätere Untersuchungen knüpften hieran kritisch an,41 zahlreiche Beiträge zu Stoffen und Materialien in der Kunst haben insbesondere Monika Wagner und ihre Schüler erarbeitet.42 Sie beschränken sich meist auf einen kleinen Bereich, betrachten tatsächlich ausschließlich den Einsatz und die Bedeutung von bestimmten Stoffen in bestimmten (in der Regel nur europäischen) Kunst- und Bauwerken. Es ist also vor allem das Atelier bzw. die Galerie, die die Perspektive bestimmen. Auch größere Kontexte kommen durchaus in den Blick, jedoch nur, soweit sie für die künstlerische bzw. architektonische Verarbeitung relevant sind.
In dieser disziplinären Verengung des Blicks ähneln die kunsthistorischen Stoffgeschichten den chemiehistorischen. So wie es jenen nur um das Atelier bzw. die Galerie geht, interessieren sich die chemiehistorischen Stoffgeschichten nur für das Labor, die Fachzeitschrift, das Lehrbuch und den Hörsaal.
Auf die chemiehistorischen Stoffgeschichten möchte ich ein wenig genauer eingehen, weil die stoffgeschichtliche Methode in der Chemiegeschichte am intensivsten und längsten gepflegt wird. Stoffe und ihre Transformationen sowie deren chemische Interpretation und soziale Bedeutung konstituieren geradezu die Geschichte der Chemie. Am Leitfaden bestimmter Stoffe und stofflicher Prozesse lassen sich ganze Epochen der Entwicklung der Chemie oder ihrer Teildisziplinen rekonstruieren. Der Wissenschaftshistoriker Jost Weyer bezeichnete daher in seiner von Droysens Historik angeregten Analyse chemiehistorischer Methoden den »stoff- und verfahrensgeschichtlichen Aspekt«43 als Besonderheit der Chemiegeschichtsschreibung, die sie von den übrigen naturwissenschaftshistorischen Disziplinen unterscheidet, »da sich die Chemie mit dem Aufbau und der Umwandlung der Stoffe beschäftigt.«44
Weyer stellt die Stoffgeschichte neben biografische Ansätze, Begriffs- und theoriengeschichtliche Ansätze sowie die bibliografisch-literarischen Ansätze. Theoriengeschichtliche Ansätze dominieren in der Außensicht auf die Chemiegeschichte oft das Bild des Faches. Sie werden seit den Arbeiten Thomas Kuhns in der Chemiegeschichte intensiv gepflegt.45
Die Theorien von Thomas Kuhn (oder auch die an ihn und Karl Popper kritisch anschließende Theorie von Imre Lakatos) zur Theoriedynamik liefern einen klaren Orientierungsrahmen für historische Forschungen, der so festgefügt ist, dass man in der Regel von »Fallstudien« spricht, die nach festgelegten Fragestellungen abgeklopft werden.
Der gesellschaftliche Kontext der Naturwissenschaft und insbesondere der Chemie, deren Theoriegeschichte von Kuhn und seinen Nachfolgern mehrfach untersucht wurde, wird in diesen Studien nicht ausgeblendet, bleibt aber doch auf die »scientific community« beschränkt. Es ist nicht unberechtigt, wenn von marxistischer Seite kritisch auf die Enge dieser Konzeption verwiesen wird: »Eine tatsächliche Wechselbeziehung von Wissenschaft und gesellschaftlicher Entwicklung setzt nach marxistischer Auffassung auf einem viel breiteren Spektrum ein (Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse mitsamt einer damit gegebenen Kultur- und Lebensweise).«46 Man könnte in der Tat sagen, dass die strukturgeschichtlichen Studien zu einer epistemologischen Verengung der Wissenschaftsgeschichte und auch der Wissenschaftsphilosophie geführt haben, die der politischen Bedeutung der Chemie, ihrem engen Verhältnis zur Macht nicht gerecht wird. Solche Studien betonen die intellektuelle Seite der Chemie über Gebühr.
Insoweit kann ich mich der marxistischen Kritik anschließen. Leider sind jedoch vonseiten marxistischer Theoretiker keine überzeugenden Gegenmodelle, sondern vorzugsweise Deduktionen vorgelegt worden, in denen die Chemie unter marxistisch-leninistische Dogmen subsumiert wird,47 in denen etwa dargestellt wird, inwieweit sie dem gesellschaftlichen Fortschritt dient; quellennahe Einzelstudien zur Geschichte der Chemie sind selten.48

Laborgeschichten

Chemische Stoffgeschichten, wie man sie in der Chemiegeschichte nahezu ausschließlich findet, beziehen sich meist auf esoterische Forschung an esoterischen Substanzen,49 solche also, die ausschließlich in den Laboren manipuliert und diskutiert werden. Stoffgeschichten dieser Art möchte ich als Laborgeschichten bezeichnen und von den Globalgeschichten, um die es mir geht, unterscheiden. Laborgeschichten konzentrieren sich auf den Laboraspekt, auf die Experimente und deren Deutung in der Fachzeitschrift, im Lehrbuch und im Hörsaal, während die Globalgeschichten die Labortüre aufstoßen und dem Stoff unter freiem Himmel folgen.
Laborgeschichten über bestimmte Stoffarten begleiten die Chemiegeschichte seit ihren Anfängen. Bereits Ferdinand Hoefer schloss in den ersten Band seiner Histoire de la Chimie, die 1842 erstmals erschien, über 60 stoffgeschichtlichen Skizzen ein.50 Anschließend widmete Hermann Kopp den gesamten 3. und 4. Band seiner bedeutenden und aufgrund ihrer Quellenkenntnis auch heute noch unentbehrlichen Geschichte der Chemie stoffhistorischen Studien.51 James Riddick Partington, der vielleicht meistzitierte Chemiehistoriker des 20. Jahrhunderts, hat zwar in seiner monumentalen, vierbändigen History of Chemistry konsequent den einzelnen Alchemisten bzw. Chemiker zum Ausgangspunkt seiner Darstellung gemacht, also einen biografischen Ansatz gewählt;52 er hat aber auch stoffgeschichtlich gearbeitet, insbesondere zum Schwarzpulver.53
Das bislang umfangreichste stoffhistorische Forschungsprojekt im Bereich der Geschichte der Naturwissenschaften wurde im Rahmen der 8. Auflage von Gmelins Handbuch der anorganischen Chemie unternommen, die 1922 begonnen und 1997 eingestellt wurde. In den einzelnen Bänden finden sich historische Darstellungen für alle chemischen Elemente und einige wichtige Verbindungen, wie etwa den Kalk. Manchmal handelt es sich bei diesen Studien, die meist von spezialisierten Chemiehistorikern verfasst wurden, welche beim Gmelin-Institut in Frankfurt am Main beschäftigt waren, nur um kurze chronologische Notizen wie etwa im Falle des Natriums,54 oft aber auch um quellennahe und daher auch heute noch ergiebige monografische Untersuchungen.55
Doch auch für diese umfangreichen Studien gilt: Immer war der Laboraspekt das leitende Thema. Diese Laborgeschichten orientieren über die Interpretationen, die bestimmte Substanzen im Laufe der Geschichte erfahren haben und die sich oft in den Bezeichnungen niederschlagen. Aspekte, die über das Labor hinausführen, werden nur insoweit beachtet, als sie das Vorkommen, wirtschaftliche oder technische Aspekte betreffen. Zwischen solchen Laborgeschichten und der theoriegeschichtlichen Methode der Chemiegeschichtsschreibung besteht eine enge Verbindung insofern, als sich chemische Theorie meist unmittelbar in unterschiedlichen Interpretationen verschiedener Substanzen artikuliert, die entsprechend auch unterschiedlich benannt werden.56 Deutlich werden solche Bedeutungsverschiebungen besonders beim Sauerstoff, beim Chlor oder beim Quecksilber. Auch in vielen neueren stoffgeschichtlichen Studien steht weiterhin die theoretische Deutung im Mittelpunkt und damit wiederum der Laboraspekt.57
Laborgeschichten über Stoffe fragen also: In welchen Prozessen wurden bestimmte Stoffe (erstmals) dargestellt, wem ist die Entdeckung zuzuschreiben, wie wurden sie aus welchen Gründen in verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Laboren gedeutet. Wie ich schon sagte, ähneln diese Geschichten den kunsthistorischen Stoffgeschichten darin, dass ein ganz kleiner, aber zentraler Zusammenhang ausgewählt und ausgeschnitten wird, auf den sich die Arbeit mehr oder weniger ausschließlich konzentriert: Dort das Atelier und die Galerie, hier das Labor und der Hörsaal. Diese Beschränkung ist nicht etwa als Fehler anzusehen, sie ist als methodische Abstraktion durchaus gerechtfertigt und hat viele Vorzüge. Zum einen bleibt das zu bearbeitende Material überschaubar, man kann präzise Fragen stellen und beantworten, die disziplinäre Anschlussfähigkeit der Forschungsergebnisse ist gewährleistet. Zum anderen folgt die Einschränkung des Blicks einer Abgrenzung, die sich im Gegenstand selbst findet – schließlich gibt es tatsächlich das Labor bzw. das Atelier als mehr oder weniger abgeschlossenen und ausdifferenzierten Raum, in dem auch sozial eigene Regeln gelten.
Der gesellschaftliche Kontext bleibt nicht völlig ausgeblendet, wird aber reduziert auf eher periphere »kulturelle Aspekte« und den »technischen Gebrauch«.58 Wie bereits betont: Dies alles ist sinnvoll, wissenschaftlich fruchtbar und hat zu wichtigen Einsichten und weiterführenden Fragestellungen geführt. Es geht aber auch anders. Es ist ebenso wichtig, das Leben der Stoffe jenseits der Labore und außerhalb des Werksgeländes in den Blick zu nehmen und dies wieder in Beziehung zu setzen zum Laborkontext. Nicht nur experimentelle und begriffliche Deutungskontexte werden für den Stoffhistoriker dann relevant, sondern weiter greifende Handlungs- und Wirkungskontexte, in die der Stoff eingebunden ist.
Solche Untersuchungen empfehlen sich als Methode chemiebezogener Wissenschaftsforschung in einer Zeit, in der, wie Jürgen Mittelstraß schreibt, die »Chemie … ins Gerede gekommen« ist,59 das heißt, in einer Zeit, in der sie und die von ihr definierten Substanzen Gegenstand politischer Konflikte geworden sind. Bei diesen Konflikten geht es nicht, wie etwa bei dem Streit um Darwins Evolutionstheorie,60 oder bei der Auseinandersetzung um das heliozentrische Weltbild, um bestimmte Lehrmeinungen, sondern um Stoffe bzw. um Orte, an denen die Kontrolle über chemische Substanzen verloren wurde. Dies ist die Situation, aus der heraus wir nach der Chemie und nach ihren Stoffen fragen, wie Mittelstraß klar hervorhebt: »Dioxin, Asbest, FCKW, desgleichen Bophal (sic!) und Seveso sind Reizworte in einer Umweltdebatte geworden, die die alten Strickmuster von rechts und links längst hinter sich gelassen hat […] Da sitzt dann zwar in erster Linie die chemische Industrie, doch wegen ihres innigen Verhältnisses mit der Universitätschemie auch diese.«61 Ulrich Beck, in dessen epochemachenden Buch Die Risikogesellschaft Chemierisiken durchgehend das zentrale Beispiel sind, spricht das Problem wortreich an: »Die Welt des Sichtbaren muß auf eine gedachte und doch in ihr versteckte zweite Wirklichkeit hin befragt, relativiert, bewertet werden. (…) Überall kichern Schad- und Giftstoffe und treiben wie die Teufel im Mittelalter ihr Unwesen. Die Menschen sind ihnen fast ausweglos ausgeliefert. Atmen, Essen, Wohnen, Kleiden – alles ist von ihnen durchsetzt. Wegreisen hilft letztlich ebensowenig wie Müsli essen. Auch am Ankunftsort warten sie, und in den Körnern stecken sie.«62