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Der Nachfolger zum Erfolgsroman "Godwie Castle", ein historischer Roman, der ganz besonders den Kampf zwischen dem rein menschlichen Leben und seiner Korruption in den höheren Kreisen zum Gegenstande hat. Der Roman spielt in Frankreich zur Zeit Ludwigs XIV.
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Seitenzahl: 1203
Veröffentlichungsjahr: 2012
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Ste. Roche
Henriette von Paalzow
Inhalt:
Henriette von Paalzow – Biografie und Bibliografie
Ste. Roche
Erster Theil
Zweiter Theil
Dritter Theil
Ste. Roche, H. von Paalzow
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN:9783849638979
www.jazzybee-verlag.de
www.facebook.com/jazzybeeverlag
Henriette
Der junge Marquis d'Anville hatte sich in seine Bibliothek zurückgezogen, und wir finden ihn in einer frühen Morgenstunde, wie es scheint, mit sehr ernsten Angelegenheiten beschäftigt. Bestäubte Aktenstücke, deren vergelbtes Pergament und in Kapseln daran niederhängende Siegel auf wichtige Dokumente schließen lassen, liegen um ihn her auf Stühlen und Tischen, und werden abwechselnd verglichen und geprüft mit Briefen und Papieren, welche einen neueren Ursprung verrathen und zu Notizen veranlassen, die der junge Mann alsdann nachdenkend in ein kleines Buch verzeichnet. Sichtlich sind ernste, fast schwermüthige Gedanken dabei in ihm angeregt, denn die Stirn, die sonst der Wohnsitz der Heiterkeit zu sein scheint, ist umwölkt und trägt die Furchen tiefen Nachdenkens. – Hinter seinem Rücken hat sich indessen die Thür geöffnet, und es naht sich ihm der holdeste Feind trübsinnigen Nachdenkens, seine junge und schöne Gemahlin, deren leichter Schritt sie ihm noch nicht verkündet, während sie selbst mit jugendlicher Schüchternheit zu zagen scheint, und ungewiß, ob sie es wagen darf, ihm zu nahen, sich von dem Ernste seiner Beschäftigungen und dem Ausdruck seiner seitwärts belauschten Züge imponiren läßt. Gern sähe sie sich von ihm bemerkt und herbeigerufen, aber ihre beredten Augen bleiben natürlich, wenn auch auf ihn gerichtet, dennoch geräuschlos, und sie muß sich entschließen, sich selbst anzukündigen. »Ich bin unbescheiden, Dich zu stören,« hebt sie an – »aber ich wußte nicht, daß Du so ernst beschäftigt warst.« Bei dem Klange dieser lieben Stimme richtet der junge Marquis das Antlitz der Redenden entgegen, und als ob ein Sonnenstrahl den Wolkenschleier durchbräche, so leuchtet das entzückte Lächeln der Liebe daraus hervor.
»O, Lücile!« ruft er, ihr die Hand entgegenstreckend, »stets ersehnt, stets erwünscht und zur rechten Stunde, ist nur Deine Entfernung eine Störung für mich.«
»Auch wollte ich mich nur als Botin des Frühlings bei Dir melden,« antwortete nun, in völlig sichere Heiterkeit zurückgekehrt, die junge Marquise. »Diese Veilchen, die ihr sehnsüchtiges Herz, der Sonne entgegen, unter dem leichten Reife des alten Mooses hervordrängen, sie tragen in ihrem süßen Dufte das ganze Paradies des Frühlings, sie erinnern mich an ihre Schwestern in der Provence, an die knospenden Buchengänge von Arconville.«
»Geliebtes Wesen!« rief ihr Gemahl – »es liegt zwischen der schönen Wiege unserer ersten glücklichen Tage ein weit abführender Weg, der hier aus diesem Aktenwuste unabweisbar sich entwickelt. Mahnung an den Frühling kömmt mir aber zur rechten Zeit; er giebt mir Muth, Dir eine Reise vorzuschlagen, die Dich schon jetzt den Freuden des glänzenden Hoflebens entführen wird.«
»Wie!« rief die junge Frau – »verstehe ich Sie recht, Herr Marquis? Sie schlagen mir vor, den Hof inmitten seiner größten Freuden zu verlassen? Haben Sie die Liste übersehen, die man gestern in den Zimmern der Königin herumzeigte, die uns wenigstens noch zwölf Bälle, ein Caroussel und einen Maskenscherz von einigen Tagen verspricht? Haben Sie die prachtvollen Roben und Ballkleider vergessen, mit welchen Sie Ihre Gemahlin beschenkt, und die noch nicht zur Hälfte den Neid meiner schönen Rivalinnen erregt haben? Wollen Sie, daß die Juwelen, um deren Besitz Sie die alte und neue Welt geplündert, die Perlen, nach denen die Wellen des Meeres noch jetzt seufzend am Strande niederstürzen – wollen Sie, daß dieß Alles umsonst für den ersten Debüt Ihrer Gemahlin verwendet ward? Wissen Sie nicht überdies, daß wir das Taubenpaar aus der Provence heißen, und daß ich dem tugendhaften Versailler Hofe das nie gesehne Schauspiel gab, ein Jahr nach der Hochzeit noch von meinem Gemahle geliebt zu sein? Wollen Sie, daß ich all' diesen Triumphen entsage, die mein junges Herz berauschen – und was wollen Sie mir zum Ersatze bieten?«
»Nichts, Lücile,« rief ihr Gemahl mit dem vollen Ausdrucke entzückter Sicherheit – »nichts, als mich – entweder sehr wenig, oder – Alles? Laß Deine Roben und Juwelen zurück – ich schenke Dir einen Strohut und pflücke Dir selbst die Blumen darauf!«
Die Marquise wandte sich leicht von ihm ab – er folgte dem lieblichen Gesichte – ihre Augen standen in Thränen – aller neckende Muthwille war daraus verschwunden. Als sie schüchtern zu ihm aufblickte, sagte sie mit dem frommen Ernst einer Betenden: »Bin ich nicht zu glücklich?«
»Laß uns dankbar sein und Gott ehren durch ein lebendiges Gefühl unseres Glücks,« sagte der Marquis – »es scheint mir ein schöner Gottesdienst, ein glückliches freudiges Herz sich zu erhalten und sich des Geschenks seines Lebens zu erfreun! Ich fürchte nicht, daß mir die Kraft darin erlahmen wird, ihm gehorsam und getrost zu bleiben, wenn trübe Tage kommen; denn ein tugendhaftes Glück läßt die Gaben des Herzens und Geistes unverkümmert empor wachsen.«
»Ich fürchte wenigstens für Dich nicht, mein Armand,« sagte die Marquise mit jenem Lächeln der Bewunderung, das die Blüte des schönsten weiblichen Glücks, nur die höchste Achtung in der hingebensten Liebe, giebt – »doch laß' mich erfahren, wo Du mir die Blumen für meinen Strohhut zu pflücken gedenkst, denn es scheint, in den Wäldern von Arconville wird es nicht sein!« –
»Für die nächste Zeit wenigstens nicht, liebe Lücile! Meine Gegenwart wird unvermeidlich auf unsern neuen Besitzungen in Languedoc verlangt – ich kann die persönliche Uebernahme dieser Güter nicht länger verschieben, denn obwohl sie mir seit drei Jahren gehören, lehnte ich bis jetzt diesen mir widerstrebenden Akt noch immer von mir ab; doch sehe ich ein, daß mein Anwalt Recht hat, der mir die Verwirrungen vorstellt, die nothwendig daraus entstehen müssen.«
»Sind das die Güter, die Du von dem Grafen Crecy, dem alten finstern Bruder Deiner Mutter erbtest?« frug die Marquise.
»Sie sind's,« erwiederte ihr Gemahl – »und selten ist wohl eine Erbschaft, die eine halbe Million betragen mag, mit schwererem Herzen angetreten worden, als diese – ja, ich gestehe Dir, daß ich mich noch nie der Revenüen, die daher kommen, zu einer Erweiterung unseres Etats habe bedienen mögen, daß ich mich mehr als den Verwalter dieser schönen Güter, als den Besitzer ansehe, und ziemlich zu ihrer Verbesserung diese Summen wieder verwendet habe, da die lange trübselige Vernachläßigung derselben dies auch nöthig erscheinen ließ.«
»Ich habe Dich noch nie von diesen Besitzungen sprechen hören,« sagte die junge Frau – »obwohl ich wußte, daß sie Dir gehörten, und ein Umstand mich für sie interessirte, nämlich die Nähe von Ardoise, dem Schlosse meiner geliebten Tante Franciska. Doch sage mir, darf ich erfahren, warum sie diesen seltsamen Eindruck auf Dich machen?«
»Es gehörte viel Zeit dazu, Dir den ganzen Inhalt dieses Gefühls zu erklären,« erwiederte der Marquis. »Ich brachte das letzte Jahr seines Lebens bei diesem alten unglücklichen Oheim zu, und er hat vor mir in seinen langen schlaflosen Nächten die Geschichte seines trüben und schuldigen Lebens mit einer Klarheit der Erinnerung, mit einer Schärfe der Combination entwickelt, die die Fähigkeit hohen Alters zu übersteigen schien, und nur dem krankhaften, stets lebendigen Reize seines gequälten Gewissens zuzuschreiben war. Er sah mich allerdings als seinen nächsten Erben an, und darum wünschte er mich in der letzten Zeit seines Lebens, dessen Ablauf er erkannte, um sich zu haben – aber in diesem Wunsche, dessen Erfüllung die Welt nur als die Pflicht des natürlichen Erben nahm, lag weit mehr die Absicht des Unglücklichen, diesen unbestrittenen Erben empfänglich zu machen für den Gedanken eines möglichen Verlustes dieser Erbschaft; denn der Hauptinhalt dessen, was ich mir vorbehalte, Dir später ausführlich mitzutheilen, ist, daß die Möglichkeit vorhanden, es lebe noch Einer, der nähere Rechte auf diese Besitzungen habe.«
»Mein Gott,« rief die Marquise, »wie seltsam ist das! wie spannst Du meine Neugierde! und sage, hat sich nach dem Tode des alten Herrn keine Entdeckung machen lassen? dauert Deine Ungewißheit ohne alle Muthmaßungen fort?«
»Die letzten Anzeichen verlieren sich an der nördlichen Küste von Frankreich,« erwiderte der Marquis – »aber trotz dem, daß ich nach dem Tode des Unglücklichen die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen ließ, hat bisher keine auf eine Spur leiten wollen, die irgend eine Entdeckung verspräche; dessen ungeachtet begreifst Du, daß ich diese Versuche fortsetzen lasse und bisher kein Eigenthums-Gefühl zu diesen Besitzungen haben konnte. Ueberdies sind noch die Erzählungen von den traurigen und finsteren Dingen, von denen die Hauptbesitzung der Schauplatz war, mir zu gegenwärtig, um es wünschenswerth zu machen, mir dort als anerkanntem Besitzer huldigen zu lassen. Und« – setzte er lächelnd hinzu – »wie findet mich meine junge Gemahlin, daß ich grade dorthin ihr den Weg vorschlagen will, und wahrlich ihr keinen andern Aufenthalt anzubieten weiß, als eben jenes alte verwünschte Schloß von Ste. Roche, von dem mehr Spuck- und Gräuelgeschichten die Gegend durchlaufen, als wir in einem Jahre anzuhören vermöchten.«
»Nun,« rief Lücile – »ich bin nicht abgeneigt, mich ein wenig zu grauen, wenn ich nur recht vollständig dabei in Sicherheit bin und nicht den ganzen Tag daran zu denken brauche.« –
»Auch schreibt mir mein Verwalter, er habe den rechten Flügel des Schlosses, der überhaupt ein neuerer Anbau ist, und eine freiere Aussicht und lichtere Räume gewährt, so viel dies bei der Abneigung der Arbeiter, das Schloß zu betreten, gehn wollte, etwas aufräumen lassen – wogegen Dir zum Grauen jedoch noch genug Veranlassung bleiben wird, da ich aufs Bestimmteste verboten habe, den übrigen Theil des Schlosses anzurühren – bis auf die äußeren Reparaturen der Dächer, Thüren und Fenster. Den linken Flügel mußte ich bis auf Dachbefestigungen auch hiervon ausnehmen, denn dieser steht unter einer besonderen Autorität, die ich zu respektiren habe angeloben müssen in dem ganzen Umfange, wie dies mein Oheim zu thun sich gelobt hatte. Diese Autorität ist eine alte Frau, welche ihr Leben in diesem Schlosse, und seit einigen fünfzig Jahren in diesem Flügel, oder vielmehr in einer kleinen Behausung vor demselben zubringt, welche Niemand den Einlaß gestattet und von Niemand dazu gezwungen werden kann, – so daß von allen, die dort leben, sich Niemand rühmen darf, das Innere dieses geheimnißvollen Ortes betreten zu haben. Bevor ich die Güter übernahm, hauste sie und ein alter Kastellan in diesem Schlosse, und es war die höchste Zeit, daß eine andere Macht dort einschritt, da das alte Schloß, so fest und fast unverwüstbar es auch erbaut ist, doch bei der gänzlichen Vernachläßigung, die es, wie alle übrigen Besitzungen, erleiden mußte, allgemach immer baufälliger zu werden begann.«
»O, wie sehne ich mich nach Ste. Roche!« rief die junge Marquise – »und wie will ich um das Herz der alten Pförtnerin mich bemühen, daß sie mir Einlaß gewährt in diese geheimnißvollen Gemächer. Doch sage mir nur noch mit einem Worte, ob Du die Geschichte derselben kennst?«
»Ich kenne sie,« erwiederte ihr Gemahl – »doch dringe vorerst nicht in mich, sie Dir mitzutheilen; es schmerzt mich, diesen Mißlaut in Deine reine Seele zu spielen! Wie entzückt mich der Gedanke, wenn ich Deinen Zauber empfinde, daß das Böse für Dich nur eine allgemeine inhaltlose Existenz unter den Erscheinungen hat, dessen Dasein Du kennst, ohne daß Dich seine Bedeutung erreichen konnte. Gönne mir das Glück, Dich zu behüten und zu bewahren – laß mich der Engel mit dem feurigen Schwerte sein, der das Paradies Deiner unschuldigen Gedanken bewahrt.«
»O, mein Geliebter,« rief die junge Frau – »welch' ein Wohllaut des Himmels liegt darin, Dir so anzugehören, daß selbst meine Gedanken Deines Schutzes genießen! Glaubst Du, daß es eine Neugierde gäbe, die stärker wäre, als dies Gefühl?«
»Nein,« erwiederte er ernst und gerührt – »ich weiß es, die Deinige wenigstens nicht – auch denke ich daran, Dir den Inhalt dieser unglücklichen Geschichte später auf eine Weise mitzutheilen, die Dich weniger verletzt.« –
»Bis dahin also will ich Gednld haben, die mir leichter noch durch die Aussicht wird, dies schauerliche Geheimniß in seiner Oertlichkeit zu sehen.« –
»Doch sieh' da – Leonce!« rief der Marquis und eilte seinem Bruder entgegen, der mit der freundlichsten Eilfertigkeit in das Zimmer trat. »Willkommen in Paris, Theurer, Lieber! Seit wann bist Du zurück?«
»Erst seit diesem Augenblick,« rief der junge Mann und begrüßte herzlich seine liebenswürdige Schwägerin.
»Nun in Wahrheit,« rief Lücile, – »lieber Leonce, Sie kommen zur rechten Zeit, mich gegen meinen Gemahl in Schutz zu nehmen; denken Sie nur, er verlangt, daß ich Paris verlassen soll, da noch Niemand daran denkt, sich auf seinen Gütern zu langweilen, und Paris in der vollen Blüte seiner auserlesenen Freuden steht. – Haben Sie ein ähnliches Anerbieten schon jemals gehört? und was meinen Sie, daß ich thun oder nur antworten soll?«
»Was Sie bereits gethan oder geantwortet haben,« rief Leonce mit dem Ausdrucke inniger Verehrung; »denn das Rechte war es gewiß, und ich will es blos wissen, um Sie aufs Neue zu bewundern.« –
»Gottlob,« rief die heitere junge Frau – »unser Bruder ist mit vollständig liebenswürdigen Manieren zurückgekehrt! Glaubt mir, ich erkannte Euch nicht, als Ihr damals von Euren Reisen wiederkamet – auch nicht ein Zug von meinem liebenswürdigen Spielkameraden war geblieben – eine düstere, blasse, seufzende Kreatur war zurückgekehrt, und ich ward entmuthigt, froh zu bleiben, wenn Ihr so still und einsylbig an meiner Seite saßet.«
Sichtlich traf die Rede den jungen Mann tiefer, als die sorglose Heiterkeit seiner Schwägerin ahnete – es brach aus den Augen des Jünglings eine so melankolische Glut, er schloß die Lippen so schmerzlich zusammen, daß der Marquis, überrascht von der plötzlichen Veränderung seines Brudes, ihm schnell einige Fragen über die zurückgelegte Reise und den vorgefundenen Zustand seiner Güter that.
Leonce arbeitete sich mit sichtlicher Anstrengung aus der Stimmung heraus, die durch die unschuldigen Worte seiner Schwägerin angeregt war, und versicherte seinem Bruder, er habe Alles wohl arrangirt gefunden, könne nicht anders, als seine Verwalter loben und habe für längere Zeit ihre Vollmachten bestätigt.
»Aha!« fiel die Marquise ein – »für lange bestätigt; das heißt so viel, als: wir haben uns auf lange Zeit von der eigenen Verwaltung losgemacht und sind nicht gesonnen, den alten Ahnenbildern und den Schäferspielen der Gobelin-Tapeten auf dem alten Schlosse Gesellschaft zu leisten.«
Leonce lachte. »Es ist wahr, schöne Spötterin, ich muthete mir eine Einsamkeit in so großartiger, aber dennoch melankolischer Umgebung nicht zu – ich bin noch zu jung, sie suchen zu dürfen, ich muß sie sogar fürchten, da ich ihren Zauber nicht lange genießen dürfte, ohne ihm zu unterliegen. Dagegen hilft nur ein sehr muthiges Erfassen des Lebens – ich denke Dienste zu nehmen, oder noch eine weitere längere Reise zu machen – vielleicht,« setzte er hinzu, »nach England.«
»Nun, dazu gebe ich nimmermehr meine Erlaubniß!« rief die junge Marquise. – »Nach England wollt Ihr? wo die Sonne nie klar, voll und warm Euch bescheint, wo die Stürme des Meeres Euer Gehirn austrocknen, und Eure Empfindungen zum Schweigen verdammt sind vor dem melankolischen Gespräch der Wellen. Niemals,« rief sie mit komischem Pathos, »gebe ich dazu meine Erlaubniß, und diese müßt Ihr doch wohl haben; da ich das einzige weibliche Haupt dieser, Eurer Familie bin?«
Beide Männer lächelten der guten Laune der liebenswürdigen Frau Beifall zu, der Marquis aber umfaßte zärtlich seinen Bruder. »Du siehst, mein Lieber, welcher Herrschaft wir beide dienstbar sind, ergieb Dich und willige in meinen Vorschlag, Dich uns anzuschließen. Sieh', die Reise, die ich vorhabe, wird mir herzlich schwer – ich gehe nach Ste. Roche, und übernehme endlich nach langem Sträuben diese mir fast verhaßten Besitzungen. Lücile hat eingewilligt, mich zu begleiten; ich möchte ihr zum Lohn für so viel Nachgiebigkeit gern ihren alten Spielkameraden mitführen, denn meine Angelegenheiten werden meine Zeit mehr in Anspruch nehmen, als ihr lieb sein wird.«
»Thut das, Leonce,« sagte Lücile – »und ich will schon dafür sorgen, daß Euch die trübseligen Gedanken vergehen, wenn wir uns auch nicht viel auf äußere Hülfsmittel werden verlassen dürfen, da wir in ein wahres altes Gespensterhaus einziehen.«
Leonce schwieg noch immer, und der Ausdruck seiner Züge veränderte sich wieder bis zur Düsterheit; er schien kaum die liebevollen Worte zu verstehen, eigene Gedanken mußten dazwischen getreten sein.
»Gieb es auf, Armand,« sagte die Marquise – »auf diesem Gesichte steht kein Ja! Das ist die Miene, die ich mehr fürchte, als Dein Geisterschloß – und kann er uns nur mit ihr begleiten, so behüte mich Gott, daß ich ihn mitnehme, er zöge die Geister wie mit Magneten an sich, anstatt er mir helfen soll, sie abzuwehren.«
»Leonce,« sagte der Marquis zärtlich besorgt, »Du bist wirklich seltsam!«
»Vergebt mir,« rief Leonce, sich jetzt emporraffend – »ich habe sehr Unrecht! Gewiß, Ihr habt Ursache mir zu zürnen, mich thöricht und undankbar zu schelten – aber glaubt mir, auch für mich ist eine wichtige Zeit gekommen – ich stehe auf dem Punkte, auf welchem man sich fürs folgende Leben eine Richtung geben oder ihrer für immer entbehren muß. Ich bedarf der Thätigkeit, um mich zu zerstreuen – Zerstreuung soll hier nicht Zeit-Tödtung heißen, ich fände sie sonst wohl in Paris – sie soll das Anbauen, Anranken, Durchdringen des Kerns des höheren Lebens bezeichnen, und kann ich dann nicht glücklich, will ich doch eines besseren Schicksals werth sein.« – Er war wieder blaß geworden bei diesen Worten, und von der tiefsten Bewegung ergriffen, drückte er sich einen Augenblick in die Arme des Marquis. »Es scheint mir, ich habe keine Zeit zu verlieren«, fuhr er ruhiger fort; »daher blieb ich bei Eurem Vorschlage zweifelhaft, und das Nachdenken, worin er mich versetzte, ist mir nachtheilig.«
»Und jetzt müßt Ihr mit, Leonce!« rief die Marquise munter dazwischen – »eben habe ich es entschieden. Ueber Lebenspfade, höhere Richtungen und wie Ihr das alles nennt, entscheidet man am besten auf Reisen – nicht auf so hastigen und ungestümen Reisen, als junge Männer machen, wenn sie allein sind, sondern auf solchen, wo man, in bequeme Kutschenkissen gedrückt, an der Seite irgend einer guten, geschwätzigen, launenhaften, lustigen Frau, dahin rollt – außer Thätigkeit gesetzt, doch dem Zwecke gemäß sich verhält, also ohne Gewissensbisse zum müßigen Nachdenken übergehen kann, wenn die Nachbarin sich müde geschwatzt, oder über ihre Reisekleider nachdenkt, oder ihre Sieste hält – da, mein lieber Leonce, tritt der Moment ein, wo uns große Gedanken kommen – Lebensrichtungen sich von selbst offenbaren, und ohne den schwerfälligen Wust, den Stadt- und Zimmerluft umhängen; vielmehr wird da Alles klar, hell und heiter, wie die Luft, die uns umströmt, wir vergessen nicht, daß das Leben, das wir mit mystischer Spekulation ergründen wollen, vor allen Dingen schön ist, und es keine sanftere Wiege giebt, als in den Mutterarmen der Natur – und in diese Wiege sollt Ihr, Leonce, und diese Hand legt Euch hinein, trotz des Mißverhältnisses der Größe – denn Euch fehlt etwas – Gott weiß, was! – das muß erst heil werden, ehe Ihr entscheidende Schritte thut.«
Mit innigem Wohlgefallen betrachtete der Marquis seine holde Gemahlin, die ihm so ganz aus dem eigenen Herzen gesprochen hatte. Freundlich drückte er ihre deklamirenden Hände. – »Ich danke Dir, Lücile, daß Du ihm Alles gesagt, was ich dachte; laß' mich hinzufügen,« fuhr er gegen Leonce fort, »daß Dich jetzt in dieser Stimmung zu verlassen, mir fast unmöglich sein würde, und da ich doch kaum bleiben könnte, es mein einziger Trost ist, Dich mit mir zu führen. Rechne darauf, daß Du mit Deinen direktesten Freunden reisest, die Dir ganz allein überlassen werden, was Du für nöthig halten wirst, ihnen mitzutheilen.«
»Abgerechnet,« lachte Lücile, »was ich ihm gelegentlich ablocke oder ablausche.«
»So bleibt mir denn keine Wahl,« rief Leonce, und sein tragischer Ton verhieß noch wenig Sinn für die heitereren Anklänge seiner jungen Beschützerin. »So will ich denken, Ihr seid mein Schicksal; nehmt mich mit Nachsicht hin, ich will Eurer Liebe ganz vertrauen – ja, ich folge Euch! Aber versprecht mir, daß Ihr mich nicht aufhalten wollt, wenn ich Euch später doch sage, daß ich fort muß.«
»Ich verspreche nichts, als mich jetzt zur Reise zu rüsten,« rief die Marquise, »und Eures Winkes gewärtig zu sein. Richtet jetzt Alles zu meinem Wohlgefallen ein; denn ich will mir einen Vorrath von Einfällen und Capricen sammeln, an denen Ihr beide genug zu thun haben sollt.«
Hold grüßend entschlüpfte sie den Brüdern. Als die Thüre sich hinter ihr schloß, warf sich Leonce stürmisch in die Arme seines Bruders. »Glücklicher, Glücklicher!« rief er – »Dir haben die Engel in der Wiege gelacht, als sie Deiner Zukunft dies Geschenk verhießen! Dich trennten keine Vorurtheile, keine Launen des Zufalls von dem einzigen und höchsten Wunsche Deines Herzens!«
»So ist es, Leonce,« sagte der Marquis fast verlegen über diese Rede – »und ich hoffe, wir sind beide unter guten Zeichen geboren; auch Du wirst glücklich werden.«
Leonce schüttelte leise den Kopf. Beide trennten sich zu den nöthigen Anordnungen der Abreise.
Die Strahlen der Frühlingssonne erhellten die keimende, knospende Erde, und schienen das Geschäft ihrer Entwickelung mit dem Eifer eines Gebers zu betreiben, der sich seines Reichthums bewußt ist und das Glück, womit er den Bedürftigen überschüttet, zu sehen trachtet. Fast hätte man von Stunde zu Stunde die Blätter und Halme zählen können, die sich aus ihren warmen Strahlen zu erschaffen schienen, und ein Tag verhieß schon für den nächsten die süßesten Wunder.
Wir finden ein Auge in dem Bereiche, dem wir uns nahen, das mit besonders theilnehmendem Ausdrucke diesem Naturtreiben zusah, und Geist und Herz daran zu erquicken trachtete.
In einem von der Sonne erwärmten Gartensaale saß in der offenen Thüre Franciska, Gräfin d'Aubaine, in friedlicher Stille und Einsamkeit.
Die breiten Buchen- und Lindenwege, die Ardoise zieren und den Park mit dem kleinen Flecken, der dazu gehört, durchschneiden, gaben mit ihren durchsichtigen hellgrünen Blättchen schon eine feine Schattenlinie auf die dazwischen durchblickenden Wiesen und Rasenplätze, die vom Schlosse aus durch jene phantastisch geschnittenen Hecken unterbrochen waren, welche die Architektur fortzupflanzen trachten, den wirklichen Gestaltungen der Natur entgegen tretend.
Das alte Herrenhaus von Ardoise lehnte seinen Rücken gegen die wildreichen Wälder dieser schönen Besitzungen, und trennte und schützte es gegen die an seinen Grenzen hinlaufende Landstraße. Es hatte daher den doppelten Vorzug einer ungestörten Einsamkeit und einer leicht zu unterhaltenden Kommunikation mit den nahe liegenden Ortschaften und Nachbargütern.
Die Gräfin d'Aubaine wußte jetzt beide Vorzüge wohl zu schätzen, wenn in früheren Jahren eine bestimmte Richtung ihres Innern ihr den ersteren als den vorherrschendsten bei der Wahl ihres Aufenthaltes hatte erscheinen lassen. Bis zum Tode ihrer Aeltern hatte sie abwechselnd hier und auf deren Stammschlosse Mont Réal gelebt. Dies war ihrem Bruder zugefallen, und nachdem sich auch ihre jüngste Schwester, die Mutter der Marquise d'Anville, an den Grafen Maurepas vermählt hatte und dessen Güter bewohnte, zog die Gräfin Franciska vor, in Ardoise ihren Wohnsitz zu nehmen.
Sie war unvermählt geblieben – und ohne, daß über die Erlebnisse ihrer Jugend etwas Bestimmtes bekannt gewesen wäre, genoß sie von Aeltern, Geschwistern und Freunden die stille ehrende Schonung, mit der man das unverschuldete Mißgeschick betrachtet, und die Fügsamkeit in ihren Willen, die man so gern den kleinen Rettungsmitteln widmet, womit ein blutendes, aus dem natürlichen Kreise des Lebens verschlagenes, Herz sich zu schützen sucht. – Auch war die Rücksicht, die sie unaufgefordert ihren Angehörigen auferlegte, keine schwer zu leistende. Ihre Seele war durch das Erlebte den schönen Gang einer wahren Resignation gegangen; losgelöst von eignen Hoffnungen und Wünschen, suchte sie sich in keiner äußeren Erscheinung mehr, und war um so hingebender und theilnehmender für die Zustände um sich her. – Selbst ihr vorherrschendstes Bedürfniß: Ruhe, befriedigte sie nie auf Unkosten einer freundlichen Hingebung an die gelegentlichen Anforderungen, sich gesellig zu erweisen – und die ganze tiefe umfassende Erfahrung des Unglücks, die ihr geworden, diente ihr nur, ähnlichen Zuständen mit Rath und Theilnahme zu begegnen. Sie kannte keine größere Wohlthat, als den Anblick glücklicher Menschen, sie nannte sich scherzend darin eine Epicuräerin, und ließ nicht ahnen, wie sie das Unglück aufsuchte und sich ihm hinzugeben verstand, wenn um sie her in dem weitläufigen Schlosse der Frohsinn zu herrschen schien, den sie sowohl zu wecken und zu unterhalten verstand. Ihre eigene, frühzeitig von Kummer gezeichnete Gestalt konnte nicht mehr das zeigen, was sie gern bei Andern sah. In der Mitte des Lebensalters, trug sie doch das Ansehn einer Matrone; nur ihre hohe Gestalt war fein und schlank und von dem edelsten Anstande getragen. – Die einst so schönen braunen Locken waren schon in Silbergrau verwandelt und bildeten den Uebergang zu dem völlig erblaßten stillen Angesichte, dessen tiefgedrückte Augenbrauen und niedergezogene Mundwinkel die rührenden Züge eines Kummers darstellten, der Zeit gehabt hatte, die reichste Schönheit zu seiner Repräsentantin umzuwandeln. Sie trug immer einfache schwarze Kleidung, und die Mode ging unbeachtet an ihr hin, wie sie es unbeachtet zuließ, daß ihre alte Kammerfrau von Zeit zu Zeit in nicht störenden Anordnungen ihr nachzukommen suchte. Angebetet von ihren Dienstleuten, war sie das Kleinod der Familie, und wie man einen kostbaren Schmuck wohlverwahrt läßt, seinen täglichen Genuß nicht wagend, sich des schönen Besitzes sicher wissend, so unterbrachen alle die heilige Ruhe der Tante nur selten, des erwärmenden Gefühls gewiß, daß sie ihnen lebe, sich ihnen nie zu entziehen strebe.
Diese stille Abgeschiedenheit sollte jedoch eben an dem Tage, wo wir uns in Ardoise einführen, eine kleine Umwandlung erleiden, denn die Gräfin d'Aubaine war in Erwartung einer jungen Gefährtin ihrer künftigen Tage.
Der frühe Abend hatte sie in ihre oberen Gemächer geführt, wo die leichte Glut eines Kaminfeuers und der helle Schein der Kerzen noch die Beschäftigungen des Winters zurückrief.
Einige Stunden später fuhr ein verschlossener Reisewagen mit den Livreen der Gräfin durch die nun völlig in Dunkel gehüllten Wege des Waldes dem Schlosse zu. Die Thorwächter öffneten die eisernen Gitter, die den Hofraum umschlossen, und der Wagen fuhr in den Portikus des Hauses.
»Ist die Frau Gräfin noch zu sprechen?« fragte St. Blace, der alte Kammerdiener derselben, und hob sich langsam aus dem bequemen Bocksitze.
»Sie haben befohlen, sogleich die junge Herrschaft einzuführen,« antwortete Mr. Lorint, der Haushofmeister, »und sind besorgt um ihr langes Ausbleiben.«
»Nicht meine Schuld, nicht meine Schuld, Mr. Lorint!« rief St. Blace, »wir haben keinen Mondschein, und die Wege im Walde sind noch feucht und aufgeweicht von der Regenzeit – wir konnten nur langsam vordringen.«
Indem nahten sich Beide dem Wagenschlage, und ihn öffnend, hob sich ihnen zuerst die alte Kammerfrau der Gräfin, Madame Sulpice, entgegen und ließ sich, in ihre Pelze und Mäntel gewickelt, von ihren beiden Kameraden über den Tritt der Kutsche ziehen.
»Ah, Mr. Lorint!« rief sie freundlich – »ich hoffe, wir finden Alles wohl auf in Ardoise und kommen zur gesegneten Stunde.«
»Ihro Gnaden wenigstens führten ein leidliches Wohlbefinden, und sonst fiel seit zwei Tagen nichts zu vermelden vor.«
»Desto besser, Mr. Lorint – keine Neuigkeiten besser als trübe,« erwiederte Mad. Sulpice. – »Darf man Euer Gnaden ersuchen, auszusteigen?« fuhr sie, gegen den Wagen zurückgewandt, fort.
Voll Neugierde beeilte sich jetzt Mr. Lorint der Angekommenen Hülfe zu leisten. Alle Bewohner Ardoise's sahen auf die Veränderung in dem Leben ihrer Gebieterin, die ihr nach so langer Einsamkeit eine stete Begleitung, eine Lebensgefährtin, wie sie sich selbst darüber ausdrückte, geben sollte, mit einem Erstaunen und einer Erwartung, die man wenigstens durch die Erscheinung des Gegenstandes selbst gerechtfertigt zu sehen hoffte.
Mit der Leichtigkeit der Jugend betrat jetzt den Kutschentritt eine schlanke feine Gestalt, welche den Flor der Haube so über die Stirn gezogen trug, daß nur das blendend weiße Kinn und der schöne Mund sichtbar waren. So getäuscht sich Mr. Lorint hierdurch fand, schloß er doch gleich mit sich ab – hier eine junge Schönheit zu sehen, und als sie den Boden betrat und mit dem reinsten französischen Accent ihn anredete, beschloß er, sie des Vorzugs, den sie eben einzunehmen im Begriff war, würdig zu erklären.
»Und werde ich die Gräfin d'Aubaine diesen Abend noch sehen?« frug die junge Dame mit einem sanften Tone der Sprache.
»Ich eile, Euer Gnaden zu melden,« erwiederte Lorint, »und bitte unterthänigst mir zu folgen.«
Die Fremde nahm mit einigen dankbaren Worten von ihren beiden Reisegefährten Abschied und stieg hinter Lorint die heitere breite Treppe hinan, die, gastlich erhellt, den schönen Marmor der Wände mit seinen kunstreichen Verzierungen zeigte. – Lorint öffnete einen Vorsaal und beurlaubte sich dann, in eine Nebenthüre verschwindend. Kaum sah sich die Fremde allein, als ihr Herz von der tiefen Bewegung überfloß, welche sie zu beherrschen getrachtet hatte. Die heißesten Thränen stürzten aus ihren Augen, und sie verhüllte das Gesicht, dem Schmerze ihres Herzens sich hingebend. Einige Augenblicke hatte sie so den Tribut gezahlt, den eine plötzliche und vollständige Umänderung aller bisher gekannten und lieb gewesenen Verhältnisse dem jungen Herzen abnöthigten, als sie durch den Gedanken, im nächsten Augenblicke derjenigen gegenüber zu stehen, die sich mit allen Beweisen von Liebe und Theilnahme ihr schon in weiter Ferne bis zum gegenwärtigen Tage genaht hatte – ihre Thränen versiegen machte und ein neues Bemühen herauf rief, ihre schmerzliche Aufregung zu beherrschen. Sie trocknete ihre Augen, und ihren Mantel ablegend, gewahrte sie nun erst die Schönheit des Raumes, in dem sie sich befand, der von zwei Kaminen und vielen geschickt vertheilten Kerzen, die ihr Licht von hell polirten Wänden und Fußböden wiedergaben, erleuchtet wurde. Ihre Aufmerksamkeit ward sogleich durch einige lebensgroße Bilder in Anspruch genommen, Personen aus der Familie darstellend, welche die Fremde in den Kreis einzuführen schienen, dem sie künftig angehören sollte. Es waren schöne, edle Gestalten, und ihr Auge blieb mit besonderer Theilnahme an den Zügen einer Dame hängen, welche, im Brautschmucke gemalt, mit so unbeschreiblich anziehenden Mienen auf die junge Beschauerin niedersah, als wolle sie ihr Muth und Lebenshoffnung einreden.
»Ach,« seufzte sie leise, »wären das die Züge der Gräfin d'Aubaine, wenn auch von der Zeit der jugendlichen Schönheit beraubt! – Wie unbeschreiblich wohl wird mir in Deinem Lächeln – als hätte ich Dich längst gekannt, als wüßtest Du Alles, was in meinem Herzen vorgeht!«
Indem öffnete Lorint die Flügelthüren und lud das Fräulein zum Nähertreten ein. Durch mehrere Gemächer, welche alle, erhellt und vom Kaminfeuer belebt, den Hauch des Geistes trugen, der nur im steten Gebrauche ihnen ihr ansprechendes Dasein einflößt – erreichte die Fremde ein Kabinet, das die Zimmerreihe schloß, und, mit grünen, seidenen Vorhängen rings umhängt, wie Waldeinsamkeit und Stille den Wohnenden umfing. An der Schwelle stand plötzlich die hohe Gestalt der Gräfin d'Aubaine. Es waren zwar nicht die Züge, die aus jenem Bilde lächelten, aber wer hätte der sanft verklärten Dulderin in die milden blassen Züge blicken können, ohne zu glauben, er habe gefunden, was er suche.
»O Elmerice,« rief die Gräfin, das schnell zu ihren Füßen gesunkene Mädchen mit beiden Armen umfassend, »suchst Du keinen andern Platz bei Deiner zweiten Mutter?«
Unfähig zu sprechen, sank Elmerice an ihren Busen. Die Gräfin, welche jede allzugroße Erweichung scheute, rang sichtlich mit ihren Gefühlen, das liebe Wesen, welches sie innig an sich gedrückt hielt, in der natürlich großen Bewegung zu stützen.
»Blicke auf, mein Kind, und sei getrost! Du hast eine Mutter, ich die Freundin meiner Seele verloren! Ach, glaube mir: Du bist mir ein heiliges, über Alles theures Vermächtniß, und daß sie mit dieser letzten Gabe ihres Lebens mich noch beglücken und ehren wollte, das ist ein Zeugniß ihrer Liebe, woran ich Dich erinnere, daß Du fühlst, wie sie mich hochhielt, und daran Dein Vertrauen zu mir knüpfest.«
»Ach, Frau Gräfin,« rief Elmerice, »wie könnte ich jetzt erst Gefühle anknüpfen wollen, bei denen ich groß gezogen ward – meine Aeltern, so lang ich sie beide besaß, wetteiferten, Euch zu lieben!«
Elmerice zärtlich umschlingend und sie zu sich in das Ruhebette niederziehend, sagte die Gräfin: »wie rührt mich so viel Liebe, wenn sie, auch unverdient, nur den Geber ziert. Wie rührt es mich, daß Deine Mutter so das Herz Deines Vaters bestimmte, ihm für die nie Gesehene, Ungekannte, eine so warme Theilnahme einzuflößen!«
»Mein Vater kannte Euch nicht?« rief hier Elmerice überrascht, – »wie ist dies möglich? Er muß Euch gekannt haben, denn von ihm erbat ich es oft mir, Euch und Ardoise zu schildern.«
»Und that er das?« frug lächelnd und überrascht die Gräfin.
»O hättet Ihr es gehört! Wie ich die Treppe hinauf stieg, erkannte ich Ardoise nach dieser Beschreibung sogleich wieder – und je länger ich Euch betrachte, jemehr erkenne ich das Bild, das er von Euch entwarf, tragt Ihr freilich auch nicht mehr Eure Lieblingsfarbe, das schöne Himmelblau, die weißen Rosen im Haare, worin Ihr den Engeln glichet.«
»Seltsam!« sagte die Gräfin, leicht erröthend vor sich niederblickend – »doch glaube mir, ich sah ihn nie, aus den Erzählungen Deiner Mutter kannte er dies; sie schmückte mich zuerst bei ihrem Aufenthalte in Ardoise an dem Namenstage meiner Mutter, so wie Dir gesagt ward. Viele Jahre trug ich so am liebsten mich, schwere verhängnißvolle Erinnerungen sind an dies Kleid geknüpft, und da man es oft als zu meinem Leben gehörend erwähnt hat, wird es auch so Dein Vater erfahren haben.«
Elmerice schwieg, aber das gesenkte Angesicht zeigte, wie unbegreiflich ihr diese Annahme schien. – »Mein Vater war aber in Frankreich, er ist in Paris erzogen,« fuhr sie endlich fort, fragend in das Antlitz der Gräfin blickend, denn ihr schien jetzt nichts mehr recht sicher, da dies Eine, woran sie so bestimmt geglaubt, ihr in Abrede gestellt ward.
»So hörte ich von Deiner Mutter, liebste Elmerice. Herr Eton, Dein Großvater, gehörte zu den selten gebildeten englischen Geistlichen, die ihren Kindern keinen größern Vorzug mitzugeben trachten, als eine ausgezeichnete Erziehung. Dein Vater muß eine vollendete Bildung erhalten haben.«
»Wie könnt' ich bestimmen,« rief Elmerice mit Enthusiasmus, »auf welcher Höhe der stand, welcher um sich her die Hoheit und die Würde jeder menschlichen Tugend verbreitete? Er war selten heiter, und ich habe Menschen gekannt, die dies zu tadeln suchten – aber wie hätten wir uns ihn anders denken können, wie glauben, er könne die gewöhnliche Gabe des Frohsinns besitzen, so erhaben wie er vor uns stand! O, er war ja nie finster, nie unfreundlich – und gab es etwas, was sich mit seiner Freundlichkeit hätte vergleichen können? Ich, sein glückliches Kind, an das er seine ernstesten Blicke in Huld und Güte umwandelte, wie war ich bezaubert von diesem Lächeln! – Wenn er plötzlich eintrat, wo ich mich befand, und nur mein Arm, meine Hand nachläßig danieder hing – ich fühlte es als einen Vorwurf und rückte mich beschämt zurecht, und wagte nicht, kühn zu ihm aufzublicken, nicht laut zu sprechen, wenn er still und sinnend in langen, stummen, innern Anschauungen da saß und seine bloße geräuschlose Gegenwart uns beherrschte, als ob ein König unter uns wäre. Man spricht von Menschen wie von Fabeln, die durch die Gewalt ihrer Augen ihre Mitgeschöpfe beherrschten; so war mein Vater! Ich habe ihn, statt Worte zu sagen, anblicken sehn, und die Macht der erschütterndsten Rede hätte nicht siegender wirken können – der ausgelassenste Uebermuth sank vor diesen Augen zusammen. – Zu ihm kamen die ausgezeichnetsten Menschen und forderten Rath; seine Gesellschaft, seine gelegentliche Unterhaltung mit Einem oder dem Andern war eine hohe Ehre, dessen sich die Besten rühmten und stolz darauf waren. Sein Tod brachte die Grafschaft in Bewegung, ein Jeder eilte herbei, ihn noch ein Mal zu sehen.« – Hier schwieg Elmerice plötzlich – ihr kindlicher Enthusiasmus hatte sie so nach Außen gedrängt, daß sie sich selbst ganz aus den Augen verloren; die Erwähnung seines Todes aber weckte ihr eigenes Gefühl; der Schmerz, belebt durch das Bild seiner Vorzüge, das sie in Liebe glühend heraufgerufen, durchzuckte sie jetzt mit dem Gefühle seines Verlustes – große Thränen fielen wie Perlen aus den Augen – sie vermochte nicht weiter zu sprechen.
Die Gräfin d'Aubaine hatte dies fast vorausgesehen – freundlich war sie beeilt, sie zu unterbrechen: »Ich wollte, Du hättest Recht, Elmerice, und ich hätte Deinen Vater gekannt, den Du so lebhaft vor meine Seele führst. Wohl hatte mir Deine Mutter stets seinen hohen Werth gerühmt, und ich hielt ihn so in meinen Gedanken fest; doch hast Du mit Deiner kindlichen Liebe ihn noch schöner, bedeutender gezeichnet, als die stets bescheidene Freundin, die sich eines solchen Glücks kaum zu rühmen wagte und mich über tausend Dinge, die mir wichtig schienen, zu erfahren, und eben Deinen Vater angingen, in Ungewißheit erhielt. Die Liebe eines solchen Mannes gewonnen zu haben, wollte sie nie einräumen, so daß es demjenigen, welcher nicht, wie ich, ihr bescheidenes Herz kannte, fast hätte scheinen können, sie nur sei die Liebende gewesen, unberechtigt, von solchem Mann eine Erwiederung zu erwarten.«
»Ja,« rief Elmerice lebhaft, »Ihr sprecht es aus, wie es auch mir oft, doch nicht so klar ausgedacht, erschien – ich glaube selbst, meine Mutter hielt es für unmöglich, von solchem Manne geliebt zu sein! So wunderbar schön stand sie ihm zur Seite, als wolle sie ihm blos abwehren, was ihn verletzen könne. Ach, Frau Gräfin, Ihr werdet das Alles besser wissen, als ich Euch sagen könnte – aber große Leiden muß mein Vater erlebt haben, bevor er sich in die Einsamkeit begrub, wohin ihm meine Mutter folgte. Oft machte sie Andeutungen, die mich ahnen ließen, daß seltene und ungemein harte Verfolgungen ihn trafen.«
»Nein, mein theures Kind,« antwortete die Gräfin, »ich bin davon nicht unterrichtet. Wie ich Dir sagte, beobachtete Deine Mutter die größte Schüchternheit in Mittheilungen hinsichtlich ihres häuslichen Lebens, so innig auch sonst der Austausch unserer Seelen war. Von ihrer Liebe zu Deinem Vater erfuhr ich nur, als sie ihm bereits ihre Hand zugesagt. Diese Zurückhaltung überstieg fast das Maaß eines liebenden Mädchens, es trug etwas Geheimnißvolles an sich, und ich gestehe Dir aufrichtig, daß sie sich bemüht, mich glauben zu machen, nur sie liebe ihren Gemahl, sie genieße blos seine Achtung, seine Freundschaft. Du weißt, daß Deine Mutter die Cousine Deines Vaters war – er lernte sie bei seinem Vater kennen, sie verließ mit ihm gleich nach ihrer Vermählung Yorkshire, und Herr Eton, Dein Vater, kaufte sich in Schottland an, wo Du geboren und erzogen wurdest. Wenn ich nicht irre, grenzte dies Besitzthum an das Schloß Leithmorin, das dem intimsten Freunde Deines Vaters, dem Lord Duncan, gehörte.« –
»Ja,« sprach Elmerice, sich schnell entfärbend, »der kleine Garten unseres Hauses stieß mit dem Parke des Lord Duncan zusammen; wir haben wie Eine Familie gelebt – nur getrennt, wenn auf dem Schlosse Besuch einkehrte, denn hieran Theil zu nehmen, konnte meinen Vater selbst seine Liebe zu Lord Duncan nicht bewegen; doch sah er es gern, wenn ich unter der Aufsicht der ehrwürdigen Lady Duncan die Freuden der Geselligkeit kennen lernte.«
»Lord Duncan war jedoch bedeutend älter, als Dein Vater,« hob die Gräfin wieder an, der die schnelle Verlegenheit des jungen Mädchens nicht entgangen war; »er mußte erwachsene Kinder haben.«
»Der älteste Sohn von Mylord,« erwiederte Elmerice, »ist bereits seit zwei Jahren vermählt – er hatte noch einen erwachsenen Sohn, Lord Astolf, und Lady Marie, meine liebe Freundin, zwei Jahre älter als ich.«
»Mein armes Kind,« rief die Gräfin, vvn einer plötzlichen Ahnung berührt – »so viel liebe Freunde, eine so glückliche Lage mußtest Du in Deinem Vaterlande verlassen, um zu einer alten melankolischen Frau zu gehen, die keine andere Anziehungskraft für Dich haben kann, als die Liebe Deiner Aeltern? Kaum begreife ich Lady Duncan, daß sie Dich zu mir entließ, kaum das grenzenlose Vertrauen Deiner Mutter, Dich dem gewohnten Kreise zu entziehen, und einem Dir sogar bis auf Land und Sprache fremden hinzugeben.«
Elmerice schwieg – ihr Köpfchen hing bewegt auf ihrer Brust, unverkennbar lag auf diesen weichen jugendlichen Zügen das feine Lineament des ersten Kummers. – Die Gräfin glaubte sich nach diesem stummen Augenblicke in das Geheimniß ihres Schützlings eingeweiht, und von tiefer Theilnahme ergriffen, drückte sie sanft ihre Hand zwischen den ihrigen. – Elmerice blickte auf – und ihr Schweigen mit dem bittenden Lächeln der Unschuld vertretend, drückte sie schnell die lieben Hände an ihre Lippen.
»O, scheltet mich nicht undankbar,« hob sie schüchtern an, »wenn ich nicht schnell Eure Zweifel beantwortete. Nicht verlegen war ich, Euch meine Meinung zu verbergen, nur wie ich sie Euch verständlich ausdrücken sollte, machte mich verstummen. – Nicht unerwartet,« fuhr sie fort, »kam mir diese liebe Bestimmung meiner Aeltern. Mein Vater, der Euch und Ardoise immer im Sinne trug, hatte meiner Mutter das Versprechen abgenommen, mit mir nach Frankreich und in Eure Nähe zurückzukehren, sobald der Tod, den er sich immer nahe glaubte, ihn abgerufen haben würde. Meine ganze Erziehung war darauf eingerichtet, in einem Lande nicht fremd mich zu fühlen, worin er mich später lebend wünschte. Er war der Sprache vollkommen mächtig, die ich durch ihn lernte; seine Erzählungen beabsichtigten, mich mit Sitten und Gebräuchen dieses von ihm so geliebten Frankreichs, wie mit dessen Geschichte mich so vertraut zu machen, als mit der meines Vaterlandes. Meine Mutter, die seinen Willen in allen Dingen heilig hielt, hätte ihm unfehlbar diesen Wunsch erfüllt, hätte sie es vermocht. Ihr wißt es,« fuhr sie mit bebender Stimme fort, »wie schnell sich ihre körperliche Hülle auflöste, der Sehnsucht folgend, die sie meinem Vater nachzog. Da hatte sie nur Einen Gedanken, nur Eine Sorge, die, mich Euch zu übergeben – und auch ich theilte nur das Verlangen, diesen ihren letzten Wunsch erfüllt zu sehen, und fühlte bei Euren günstigen Antworten die Beruhigung, die sie selbst empfand, wenn mich auch der Schmerz ihres nahen Verlustes ziemlich gleichgültig gegen meine Zukunft machte – was Ihr wohl natürlich finden werdet.«
»O mein theures Kind, wie vermöchte ich es anders!« rief die Gräfin – »aber dennoch, selbst so vorbereitet, ward es Dir sicher nur zu schwer, Leithmorin zu verlassen – und Deine arme junge Freundin Marie. – Was habe ich damals gelitten, als ich mich von Deiner Mutter trennen mußte, die über zwei Jahre in unserer Familie lebte, und deren Platz nie mehr in meinem Herzen ersetzt werden konnte! – Aber obwohl sie sich so glücklich bei uns fühlte, sie sehnte sich doch zurück, und außerdem war ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit so groß, daß mein Bruder, der damals in das älterliche Haus zurückgekehrt war, sie nicht sehen konnte, ohne eine Neigung für sie zu fassen, der sie durch Entfernung zu entgehen dachte. Deine Mutter gehörte einer jüngern Linie eines sehr geachteten Hauses in England an – aber mein Bruder durfte sich nur mit einem ebenbürtigen Fräulein vermählen, wenn er Ansprüche auf die Titel des Namens d'Aubaine und auf die damit zusammenhängenden reichen Besitzungen behalten wollte. Seine Leidenschaft beherrschte ihn jedoch so, daß es ihm möglich schien, dem zu entsagen, und er mit allen Ueberredungsmitteln in unsere Aeltern drang, ihm die Bewerbung um Miß Eton zu gestatten. Da erfuhr das edle Mädchen durch meine Mutter selbst die peinliche Lage meiner Aeltern, und ihr Entschluß war sogleich gefaßt. Mein Vater entfernte meinen Bruder auf einige Tage, und unterdessen reiste Deine Mutter unter sicherer Begleitung durch Frankreich bis nach Calais, wo sie von Deinem Oheim, ihrem Bruder, empfangen ward und so nach England zurückkehrte. Ich habe sie nie mehr gesehen, obwohl wir uns nur mit der Hoffnung des Wiedersehens beim Abschiede trösteten; sie aber hatte durch ihre edle Aufopferung eine ganze Familie gegen die traurigsten Verwirrungen geschützt – freilich« – setzte die Gräfin nachdenklich hinzu, »sie liebte meinen Bruder nicht.«
»Ach,« rief Elmerice – »so war ihr das Härteste nicht auferlegt! O, wie beruhigt mich diese Versicherung! Wie könnte es mich noch heute, obwohl alle Leiden der Welt längst hinter ihr liegen, schmerzen, wenn sie die hätte durchkämpfen müssen, die das Herz erleiden mag, so im Gedränge zwischen ernsten Pflichten und einer reinen Liebe, der heiligsten Empfindung des Herzens! – Doch,« fuhr sie nach einer Pause fort, da die Gräfin im Nachdenken verblieb, – »es geschieht wohl oft, daß auf diese Weise Menschen getrennt werden, die von der Natur bestimmt schienen, einander anzugehören, und Frankreich vor Allen scheint mir durch seine alten Familienverträge in dem Falle, so harte Verhältnisse herbei zu führen. Mein Vater sagte mir oft davon – es war während seiner Anwesenheit daselbst, denke ich, Mehreres geschehen, was ihn darauf hinwies.«
»Allerdings;« sagte die Gräfin, – »dies Land hat ganz die Formen behalten, die zu einer Zeit herrschen mußten, wo es nöthig schien, die entstehenden Familien durch solche Verträge gegen Verbindungen mit dem roheren Theile des Volkes zu schützen. Nicht, wie jetzt, war Bildung und Sitte ein Gemeingut der Nation, sie fing erst in den Kreisen sich zu entwickeln an, die durch größeres Grundeigenthum eine gesicherte, ruhigere Existenz gewonnen, und, über die Anstrengungen für den Erwerb des Lebens hinaus, Zeit und Gedanken für eine höhere geistige Entwickelung behielten. Die Geistlichkeit, als Hüter des schon vorhandenen Bildungsschatzes, wußte die Kreise, die so der höhern Sitte empfänglicher wurden, bald zu erkennen, und sie selbst half Verträge erdenken und stiften, welche die nöthige Absicht beförderten, solche Familien unter einander zu verbinden und durch Gesetze von dem roheren Haufen der noch unter dieser Bildung Stehenden abzusondern. Hierdurch ward der erste zarte Keim der Volksentwickelung geschützt und genährt; in diesen Kreisen wuchs sie auf und erstarkte, bis sie, dieselben überschreitend, in einer rechtmäßig organischen Entwickelung sich über die entgegen reifenden niederen Klassen ausbreitete, und die Idee einer Bevorrechtung des Individuums nach gerade in leere Einbildung zerfallen machte.«
»Und dennoch hält man diese Formen fest,« sprach Elmerice, »die ihrer früheren Bedeutung leer geworden sind; und so viel gebrochene Herzen, so viel zerstörtes Lebensglück machte noch Niemand aufmerksam auf den wahren Inhalt dieser alt gewordenen Verträge?«
»Mein theures Kind,« sagte die Gräfin sanft, »wir können hier, wie überall, den Gang beobachten, den in ihrer Entstehung wohlthätige und nöthige Einrichtungen durch den Wechsel der Zeit, den sie mit bewirken halfen, erleiden. Vielleicht sind in diesem Augenblicke nur noch Wenige in Frankreich, die im Stande wären, unsere Unterhaltung nicht mit Staunen, vielleicht mit Unwillen zu hören – ja, es ist noch nicht lange, daß ich selbst mich von diesen Ansichten, mit denen ich auferzogen, beherrscht fühlte und ohne Widerrede geneigt war, ihnen jedes Opfer zu bringen. Erfahrungen, Einsamkeit und Lectüre, gewiß aber und vor Allem, daß ich mit vielen und ausgezeichneten Menschen lebte, die, wenigstens nicht erstarrt in dieser Form, schon die Zeit ahnend herauf dämmern sahen, die sich den gewohnten Ansichten entgegenstämmen wird, machte mich zu einer Entwickelung bereiter, der ich mich jetzt nicht mehr entziehen kann. Je mehr aber ein innerer Verfall, um sich greifend, das lang Bestandene zu bedrohen scheint, je mehr werden wir finden, daß die Form festgehalten und der Irrthum genährt wird; daß sie es ist, um deren Behauptung es sich handelt, das sinkende Ansehn vor der sich auflehnenden Weltordnung zu schützen. Auch gehört sicher eine große Selbstüberwindung dazu, der schwächsten Seite dieser Sache, eben ihres lang behaupteten Rechts, nicht zugleich als eines Vorzugs gedenken zu sollen, da allerdings etwas Schmeichelhaftes darin liegt, sich der Kaste angehörend zu wissen, die am längsten sich des Besitzes geistiger und sittlicher Vorzüge rühmen darf, und auf eine dadurch mit sich geführte Veredlung des Blutes des ganzen Individuums bauen durfte. – Du denkst mit Stolz und Enthusiasmus Deines vortrefflichen Vaters! Das schönste Gefühl der menschlichen Brust, das Gefühl kindlicher Liebe, wird vielleicht, wenn Dich das Leben versuchen sollte, eine Waffe dagegen. Den Namen eines Vaters tragend, den Du so hoch stellst, willst Du sein würdig handeln, Du glaubst von so edlem Ursprunge höhere Anforderungen an Dich – laß' mich hinzusetzen, an die Anerkennung Anderer machen zu können; und so entwickelt sich naturgemäß in jeder edel strebenden Brust ein ähnliches Gefühl, als die Kaste des Adels sich gewöhnt hat zu nähren, jetzt freilich mit dem bedeutenden Unterschiede: ihre Handlungsweise nicht mehr solchen Erinnerungen getreu zu behüten, sondern in den alten Ansprüchen sich zugleich befähigt zu ihrem Besitz haltend. Ludwig der Vierzehnte, der eifrigste Beschützer der alten Adelsvorrechte, hat ihnen doch, vielleicht ahnungslos und in anderer Richtung strebend, durch die geistvolle Weise, wie er Künsten und Wissenschaften einen Platz um seinen Thron einräumte, den Todesstoß gegeben. Die Aufklärung, welche ihre Blüten, Künste und Wissenschaften, gedeihen läßt, ist auf diesen Punkt gestiegen, nicht mehr als Eigenthum höherer Stände, von ihnen ausschließlich fest gehalten, zu denken. – Es sind die Quellen des Nils, die das Flußbett, worin sie eingefangen wurden, in eigner Fülle und Kraft anschwellend überschreiten, und ein ganzes Land befruchtend überziehen; wer einmal die Erndte nach ihrem Säen kennen lernte, blickt Zeit des Lebens aus nach dem seltenen Sämann, der nicht frägt, ob der Boden, den er bestreut, dem bevorrechteten oder belasteten Bürger der Erde gehört.«
»Die Zeit ist also erst im Entstehen,« sagte Elmerice sinnend, »die ein freies Wirken und Schaffen unter Gleichgesinnten herauf führen wird – vorerst hat das reichere geistige Individuum keine Freiheit zu hoffen, als eben die innere, durch edles Streben selbst geschaffene.«
Die Gräfin fühlte mit wehmüthiger Theilnahme, wie dies schöne liebenswürdige Wesen, aus den Wegen allgemeiner Anschauung stets zu sich selbst abzulenken wußte, und das eigene Interesse an diesem Standpunkte prüfte. Da England und Schottland, besonders die alten Familien, zu denen Lord Duncan Leithmorin gehörte, ganz in denselben Vorurtheilen befangen waren, zweifelte sie nicht, daß Lord Astolph die Veranlassung zu den schwermüthigen Betrachtungen war, mit denen ihr holder Schützling den Standpunkt der Zeit beleuchtete.
Diese Gedanken wurden durch das Erscheinen von Lorint unterbrochen, welcher die Abendtafel anmeldete, und die Gräfin d'Aubaine erhob sich, ihre junge Freundin mit sich führend. Die kleine Tafel war in dem Boiseriezimmer bereitet, welches zuerst durch seine interessanten Portraits die Aufmerksamkeit der Miß Eton gefesselt hatte. Auch jetzt – der Dame im Brautschmucke gegenüber sitzend, lächelte diese mit einer Fülle von Liebe und Trost auf sie nieder, daß sie fast die Blicke nicht abzuwenden vermochte und damit die Aufmerksamkeit der Gräfin d'Aubaine auf sich zog.
Nachdem sie sich umgewendet und das Bild erkannt, lobte sie die Schönheit desselben. – »Es war eine Jugendfreundin meiner Mutter,« fügte sie hinzu – »sie ließ sich in dem Brautkleide malen, welches sie bei ihrer Vermählung mit dem Marquis d'Anville trug, und worin meine Mutter sie so schön fand, daß sie so ihr Bild sich zu erhalten wünschte.«
»Die Marquise d'Anville!« rief Elmerice mit einer Ueberraschung, die ihr ganzes Gesicht in Purpur tauchte.
»Hörtest Du von ihr?« fragte die Gräfin.
»Ja, ja,« erwiederte Elmerice, »ich hörte von ihr« – doch plötzlich schwieg sie, und die Gräfin, die ihre sichtliche Bestürzung nicht durch Fragen vermehren wollte, war bemüht, durch ruhig einlenkende Gespräche das heftig erschütterte junge Mädchen aus ihrer peinlichen Stimmung zu ziehen. Elmerice strebte dieser liebreichen Absicht zu begegnen, doch wagte sie nicht wieder die Augen zu dem wunderbar schönen Bilde zu erheben.
Als die Tafel vorüber war, führte die Gräfin d'Aubaine Miß Eton selbst nach ihren Zimmern, die in der freigebigsten Ausstattung Alles enthielten, was dem Reichthume der Gräfin zu geben gebührte und mit den Ansprüchen der Bildung zusammen hing, zu denen sie ihren Schützling berechtigt hielt. Geschickt wußte sie sie zugleich mit den ehrenvollen Verhältnissen, die sie ihr zugestand, bekannt zu machen und ihr die Revenuen ihres elterlichen Vermögens, welche durch ihre, als der Vormünderin, Hände gingen, zur freien Disposition zu stellen.
Beide Frauen trennten sich dann für die Nacht, mit gegenseitig angenehm belebten Hoffnungen für ein ferneres Beisammenleben.
Es zeigte sich bald, wie leicht sich die beiden Frauen neben einander einwohnen sollten. An regelmäßige Zeiteintheilung gewöhnt, trennten sie ihre Beschäftigungen, und führten sie zusammen, in so ungesuchter Ordnung, mit so wachsendem Interesse für einander, daß man die Stirn der Gräfin d'Aubaine nie so unumwölkt gesehen, seit lange das Herz der Miß Eton nicht in so ruhigem Takte geschlagen hatte.
Die vorschreitende Jahreszeit, die geschmackvollen Gärten, noch mehr aber die schönen, daran gränzenden Wälder von Ardoise boten die genußreichsten Spaziergänge, und Miß Eton, die nach Art der Engländerinnen diese zu ihren täglichen Beschäftigungen zählte, fühlte sich ungemein dadurch angezogen und unterhalten.