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Stefan Römer E-Book

Stefan Römer

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Beschreibung

Mit DeConceptualize – Zur Dekonstruktion des Konzeptuellen in Kunst, Film, Musik legt Stefan Römer nach Strategien des Fake (2001) und Inter-esse (2014) sein drittes Theoriebuch vor, das durch das Berliner Förderprogramm Künstlerische Forschung ermöglicht wurde. Römer belegt, wie dem ehemals selbstdefinierten Konzeptualismus seine emanzipatorische Kraft mittels institutioneller Verwaltung entzogen wird: Unternehmerische Prinzipien und Akademisierung berauben ihn seines epistemischen Potentials – der Vereinigung von Praktiken und Theorien. Demgegenüber praktiziert Römer Selbsterforschung, -verteidigung und -ermächtigung in dekonzeptuellem Schreiben als Notation, Essay, Bild und Material. Seine Dekonzeptualisierung von Kunst entwirft mittels einer vielschichtigen Kritik an den gewohnten Diskursen ein neuartiges artistic REALsearch.  Gefördert durch das Berliner Förderprogramm Künstlerische Forschung und die Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa Stefan Römer (*1960) ist Künstler und Kunsttheoretiker. Er initiierte das politaktivistische Kunstkollektiv »FrischmacherInnen«, wurde im Jahr 2000 mit dem Preis für Kunstkritik des AdKV ausgezeichnet und hatte Professuren an verschiedenen Instituten inne. Zu seinem Essayfilm Conceptual Paradise (2006) besteht ein umfangreiches Webarchiv.

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Seitenzahl: 254

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1 Marc Matter u. Stefan Römer, Deconceptual Voicings – SCREAM, LP, 2019

2 Stefan Römer, Deconstructivist Sound, LP, 2020

3 Stefan Römer, Six Gun Shots, LP, 2021

4 Stefan Römer, ReCoder Sound, LP, 2022

5–8 Stefan Römer, Mixed-Up Images, Fotomontage, 1996

DeConceptualize –

Zur Dekonstruktion des Konzeptuellen in Kunst, Film, Musik

Stefan Römer

Impressum

Autor

Stefan Römer

Projektmanagement

Richard Viktor Hagemann Fabian Reichel

Lektorat

Barbara Hess

Grafische Gestaltung

Neil Holt

Schrift

Arnhem

Verlagsherstellung

Vinzenz Geppert

Reproduktion

Repromayer, Reutlingen

Druck

Graspo CZ, A.S.

Papier

Munken Print White Vol 1,5, 90g/m2

© 2022 Hatje Cantz, Berlin, und Stefan Römer

Das Buch erscheint innerhalb des Forschungsprojekts DeConceptualize von Stefan Römer und wird ermöglicht durch das Berliner Förderprogramm Künstlerische Forschung/gkfd.

Erschienen im

Hatje Cantz Verlag GmbH

Mommsenstraße 27

10629 Berlin

www.hatjecantz.de

Ein Unternehmen der Ganske Verlagsgruppe

isbn 978-3-7757-5023-3

(Printausgabe)

isbn 978-3-7757-5024-0

(ePub)

Printed in the Czech Republic

Inhalt

Dank

Prolog

0.2

Einleitung

Text Practice is Sex Practice (Songtext)

1.1

Minimal verfälscht

1.2

Konzeptuelle Sounds – (nicht-)tanzbar und (nicht-)hörbar?

1.3

Von postkonzeptueller Kunst zum DeConceptualize

2.1

Dekonstruktion der Form der Zeichnung

2.2

Künstlerische Postkarten und Jacques Derridas Die Postkarte

2.3

Inter-esse in Resonanz

2.4

ReCoder of Life – Ein diagrammatischer Film

Reco Song (Songtext)

2.5

Mixed-Up Images, historischer Erläuterungstext

Impressum

Dank

Mein besonderer Dank gilt Kathrin Busch für ihre außerordentlich schlaue Konzeption des Stipendienprogramms für künstlerische Forschung Berlin.

Für die kritische Lektüre einzelner Kapitel danke ich Marie-Luise Angerer, Ilka Becker, Hubertus Butin, Tina Georgi, Clemens Krümmel, Doris Krystof, Eva Meyer-Hermann, Marc Matter, Arno Raffeiner und Ulf Wuggenig.

Für informative Gespräche, Hinweise, technischen Support und inhaltliche Unterstützung sei gedankt: Andreas Bernard, Eva Birkenstock, Anne Breimaier, Thomas Brinkmann, Jakob Claus, Daniel Door, Arnold Dreyblatt, Florian Duffe, Jasmine Guffond, Jörg Händel, Birgit Herbst, Jan Jelinek, Sven-Åke Johansson, Merja Kokkonen, Johannes Kreidler, Felix Kubin, Dirk Lebahn, Sean Lowry, Thomas Meier, Andreas Menn, Heinrich Miess, Alexander Paulick, Zoë Mc Pherson, Claus Pias, Andreas Reihse, Thomas Rieger / Konrad Fischer Galerie, Lisa Marei Schmidt, Ilmar Taimre, Mark Terkessidis, Asmus Tietchens, Rolf Walz, Helmut Weggen, Jan St. Werner und Elena Zanichelli.

Besonderer Dank gilt Nicola von Velsen vom Verlag Hatje Cantz, die dieses Buch ermöglichte. Für die Produktion danke ich Richard Hagemann und Fabian Reichel.

Der Lektorin Barbara Hess danke ich für ihre geduldigen Korrekturen.

Mit der Recherche zu diesem Buch habe ich 2019 begonnen. Sie stand in produktiver Beziehung zu dem Musikalbum Deconceptual Voicings; dieses habe ich gemeinsam mit Marc Matter, dem ich für die gute Zusammenarbeit danke, gemeinsam geplant, komponiert und performt.

Das Buch erscheint innerhalb meines Forschungsprojekts DeConceptualize und wird ermöglicht durch das Berliner Förderprogramm Künstlerische Forschung / gkfd mit den Mitteln der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Mein großer Dank gilt der Geschäftsführerin Rike Frank und ihrem Team.

Dieses Buch wurde während der Corona-Pandemie 2020–2022 verfasst.

Prolog

Für meine Mutter

In meiner Familie ging die Erzählung, dass ich im Alter von etwa zwei Jahren, wenn ich mich mal der Aufsicht entzogen hatte, im Garten regungslos unmittelbar vor den Einfluglöchern der Bienenstöcke meines Vaters stand und mit großen Augen auf sie starrte. Da ich keine Angst hatte und ganz ruhig war, behelligten mich die Bienen nicht.

Die Luft war dort von einem mächtig dröhnenden Summen und Brummen erfüllt. Dieser Ton hat sich meinem Gedächtnis so stark eingeprägt, dass ich eine Biene körperlich spüre. Denn ihr Flügelschlag bewegt die Luft dermaßen, dass ich ihre Anwesenheit auch dann spüre, wenn ich sie nicht sehen kann.

Meine Mutter musste oft lange rufen, ehe ich sie hörte, denn ich war von diesem Bienen-Dröhnen wie hypnotisiert.

Da meine Mutter Waltraut in den letzten drei Jahren in einem Seniorenheim am Bodensee weit entfernt von meinem Wohnort Berlin betreut wohnte, habe ich sie selten besuchen können. Ab Weihnachten 2020 waren Besuche wegen der Ansteckungsgefahr mit dem Corona-Virus sogar grundsätzlich verboten. Deshalb konnten wir uns von da an nur per Telefon austauschen.

Am 30. Dezember wurde die Impfung in ihrem Heim öffentlich in den Medien zelebriert, ein Foto meiner Mutter beim Impfen wurde in der Zeitung gedruckt. Anschließend wurden viele Bewohner*innen positiv auf das Virus getestet. Ähnliche Ausbrüche nach Impfungen haben in den Monaten November und Dezember merkwürdigerweise in Pflegeheimen die Sterberate gegenüber dem Vorjahr bundesweit verdreifacht. Die Gründe sind bisher nicht bekannt.

Anfang Januar wirkte meine Mutter plötzlich am Telefon recht schwach. Nachdem wir sie einige Tage nicht erreichen konnten, erfuhr ich von der Heimleitung, dass sie nachts zuvor gestürzt war. Dieser Sturz scheint ein Zeichen ihrer Entkräftung gewesen zu sein. Trotzdem durften wir sie nicht besuchen, weil das Heim in Quarantäne war.

Einige Tage später erhielt ich den Anruf, dass ihr Ableben nun zu erwarten sei. Der Pfleger hielt ihr den Hörer ans Ohr: Sie konnte nicht mehr antworten, doch hörte ich ihr schwaches Atmen – die letzte Übermittlung ihrer Existenz. Ich sprach noch einige Minuten zu ihr in Dankbarkeit, nahm Abschied. Kurze Zeit später ist sie gegangen.

Mein letztes Gespräch mit meiner Mutter war wie eine letzte Berührung zwischen uns beiden, meine Stimme berührte sie noch einmal zärtlich am Trommelfell. Dieser letzte Anruf ließ mich erleben und verstehen, dass einen Ton zu hören, tatsächlich eine physische Berührung darstellt. In dieser sehr emotionalen Situation des Abschieds und der Trauer verstand ich, dass die Telefonverbindng als beiderseitige akustische Be-Rührung aufgefasst werden kann: Mein Anruf an meine sterbende Mutter war eine »Anrufung«, mit der sich meine »Sendung« der trauernden Berührung verband. Dadurch wurde mir ganz deutlich: Wenn man etwas hört, ist das immer auch eine Berührung durch Schallwellen.

Als die telefonische Verbindung getrennt war, schien ich nur ganz kurz nichts zu hören. Darauf hörte ich sehr viel. Allerdings überhaupt nicht die von John Cage angeblich in einer schalldichten Kammer gehörten Töne des eigenen Nerven- und Blutsystems. Viel mehr hörte ich Knistern und Rauschen. Mein Sprachzentrum ratterte, jagte einen verstörten Satz nach dem anderen durchs Hirn, und mit meinen geschlossenen Augen sah ich eine bildfreie, inhaltsleer erleuchtete Kinoprojektion. Das Rauschen enthielt undeutliche Sprachfetzen wie von einem gestörten Radioempfang. Mein Hörzentrum halluzinierte offenbar ein Radio, während mein Sehzentrum eine kinematografische Leerstelle projizierte.

Wie dafür eine Form finden? Der Schmerz über den Verlust meiner Mutter unter diesen unmenschlichen Bedingungen verstärkt die Trauer, vervielfacht meine Ängste, schürt meine Verzweiflung über meine Hilflosigkeit und gibt mir ein erdrückendes Gefühl der Unzulänglichkeit – in dieser Pandemie.

Das Knistern und Rauschen verbindet sich nun mit dem dröhnenden Summen der Bienen und die Leinwand bleibt leer.

0.2

Einleitung

DeConceptualize – Zur Dekonstruktion von Kunst, Film, Musik

Was ist in diesem Moment erforderlich?1

—Nicholas Mirzoeff

Es genügt nicht, darüber zu reden, oder es zu versprechen, oder es zu erwägen, zu betrachten, zu hören oder es passiv zu empfangen, darüber zu sprechen oder darüber nachzudenken, es muss getan werden, mit anderen Worten, es ›muss Praxis werden‹. Die Theorie reicht nicht aus, es muss auch Praxis geben. Aber Sie sehen bereits die Schwierigkeit des Tuns – eine Schwierigkeit, die durch das Idiom ›faut le faire‹ konnotiert wird, was immer heißt: ›Es ist nicht einfach‹ […] – es muss noch getan werden und das ist schwieriger, das ist das eigentlich Schwierige.2

— Jacques Derrida

Der historische Moment der Corona-Pandemie, während der dieses Buch entstanden ist, verlangte zuallererst eine Decodierung des Virus und eine Recodierung für einen Impfstoff, mit dem das Virus unwirksam gemacht werden sollte. Das musste getan werden. Der zweite wichtige Schritt war, die Bevölkerung dazu zu bewegen, sich mit diesem recodierten Virusstoff impfen zu lassen; dieser Prozess hält noch an. Und es ist schon jetzt in der Pandemie absehbar, dass mit oder nach der Pandemie eine neue Ära, ein neues Zeitalter beginnen wird. Die Kluft zwischen Impf- oder gar Staatsgegner*innen3 gegenüber denjenigen,4 die den Respekt vor dem Leben und vor allem der Gemeinschaft priorisieren, und die ihre Handlungen auf wissenschaftliche Erkenntnisse basieren,5 ist größer geworden. Doch die große Herausforderung für die länderübergreifende Fragestellung der Pandemie ist die zukünftige Umgangsweise mit Fragen der Fürsorge, der Erziehung, der Autonomie und der Verbindung von kulturellem mit sozialem Leben zwischen Süden und Norden. Auch die Dringlichkeit einer nachhaltigen Änderung der Klimapolitik ist nicht von der Hand zu weisen. Dazu kommt die Migrationspolitik, die dafür verantwortlich ist, dass das Mittelmeer zu einem Massengrab wurde.

1 Collage des Autors: Mund-Nasen-Masken 2021

Die unfassbaren Bilder und Nachrichten über die Pandemie lassen mich zeitweilig erstarren. Traurigkeit überwiegt alles. Die Realität schreibt sich in endlosen News fort, die uns in Atem halten. Die Pandemie verlangt uns in dem erlahmten Leben des Lockdowns ein Noch-etwas-tun-Müssen ab, bevor eine Situation eintritt, in der es keine Handlungsmöglichkeit mehr geben könnte. (Abb. 1)

Unter diesen psychosoziokulturellen Bedingungen stelle ich die Frage: Was muss in diesem historischen Moment in der Kunst getan werden? Ich appelliere in der Kunst mit DeConceptualize, konventionalisierte Bedeutungen und Organisationsformen neu zu interpretieren, sie zu recodieren. Eine solche Recodierung des künstlerischen Felds erscheint aus vielerlei Gründen angeraten, die ich im Folgenden im Bereich des Konzeptualismus untersuchen werde. Diese Kunst unterscheidet sich dadurch von anderen Strömungen, dass sie auf besondere Art versteht, Theorien mit Praktiken zu verbinden und umgekehrt.

Dies muss kontextualisiert werden: Von konzeptuellen und postminimalistischen Künstler*innen anfänglich intendierte Präsentations- und Gebrauchsweisen von Bild und Sound werden gegenwärtig in Ausstellungen aus unterschiedlichen Gründen unterdrückt, wie ich im Folgenden zeige. Der Konzeptualismus umfasste künstlerische Verfahrensweisen, die eigenen Produktions- und Präsentationsweisen in der Kunst selbst zu untersuchen. Gegenwärtig scheint er aber in Akademismus und Institutionalismus arretiert. Mein Projekt DeConceptualize praktiziert eine Kunst, die mit einer erneuten kritischen Konzeptualisierung etablierter Repräsentations- und Diskursformen postminimalistischer und konzeptueller Kunst in der Gegenwart neue Strategien testet, Praktiken mit Theorie zu verbinden.

Im künstlerischen Forschungsprojekt DeConceptualize untersuche ich die Diskussion der letzten Dekade über eine Adaption der Conceptual art6 durch die aktuelle Musik, die der US-amerikanische Musiker und Theoretiker Seth Kim-Cohen mit dem Begriff der »conceptual sonic art« angestoßen hat. Gegenwärtig zeigen sich vermehrt räumlich und medial ausgreifende thematische Installationen, die sich praktisch und theoretisch Fragen der Nachhaltigkeit, der Dekolonialisierung, des strukturellen Rassismus, der globalen Migrationsbewegungen7oder der Historisierung eines Eurozentrismus zuwenden. All dies entspricht kulturellen Notwendigkeiten der längst überfälligen Veränderung des künstlerischen Felds.8

2 DeConceptualize

Das Projekt DeConceptualize setzt genau hier an, indem in den einzelnen Kapiteln künstlerische Praktiken und Begriffe in ihrem aktuellen Diskussionszusammenhang analysiert werden. Mit dieser Vorgehensweise intendiere ich, dass meine Tätigkeit nicht a priori entlang der Kategorien Praktik versus Theorie getrennt wird. (Abb. 2)

Mit dem Musiktheoretiker Mark Fisher hört man in den epochalen Verschiebungen ein kritisches »Knistern und Knacken«: »Verschwunden ist eine Tendenz, eine virtuelle Entwicklungslinie. Ein Name dafür wäre Popmoderne. […] Die Popmoderne verteidigt rückblickend das Projekt der Moderne und stellt unmissverständlich klar, dass Popkultur nicht populistisch sein muss.«9 Fisher untersucht das Ende einer Epoche in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts in einer ganz eigenen Verbindung seiner Depression und einer Hauntologie, die er aus Jacques Derridas Buch Marx’ Gespenster synthetisiert. Er bringt ein Motiv des elektronischen »Knisterns und Knackens« hervor, dessen analoger Version ich im ersten Kapitel auf Carl Andres minimalistischen Bodenplatten-Skulpturen wieder begegnen werde.

Das vorliegende Buch versteht sich als eine zeitgemäße mediale Konstellation, in welcher der Text auch die Funktion einer diskontinuierlichen Lese-, Hör- und Sehliste einnimmt. Das Buch folgt im ersten Teil einer genealogischen Linie des Konzeptualismus, die sich im zweiten Teil in vier diskursanalytische Untersuchungen aufspaltet. Das Projekt DeConceptualize umfasst neben diesem Buch drei Musikalben, das dreiteilige Film- und Installationsprojekt ReCoder of Life und das Ausstellungsprojekt DeConceptualize – the project. Mir ist der Akzent wichtig, dass das Buch nicht eine theoretische »Metafunktion« erfüllt, sondern selbst als künstlerischer Teil des Projekts in einer diagrammatischen Konstellation zu verstehen ist.

Die Architektur des vorliegenden Buchs ist in zwei sich ergänzende Bereiche unterteilt: Das erste Kapitel des ersten Teils, »Minimal verfälscht«, untersucht, wie postminimalistische und konzeptuelle Praktiken in zeitgenössischen Ausstellungen in der Hybris von Sammlungsinteressen gegenüber Künstler*innen- und Publikumsinteressen ihrer künstlerischen Intention und Selbstdefinition enteignet werden; hieraus entwickle ich die Forderung, dass die zeitgenössische Kunst dekonzeptualisiert werden muss. Darauf folgt im zweiten Kapitel, »Konzeptuelle Sounds – (nicht)tanzbar und (nicht)hörbar?«, eine kritische Einbeziehung des Konzeptuellen in die zeitgenössische Musik. Dazu werden die Begriffe »conceptronica« und »conceptual sonic art« behandelt, die sich als Fusionen des Musikdiskurses mit dem Kanon der Conceptual art verstehen. Im dritten Kapitel, »Von postkonzeptueller Kunst zum DeConceptualize«, wird dazu die aktuelle Theorie des »postkonzeptuellen zeitgenössischen« Kunstwerks von Peter Osborne in Beziehung gesetzt und der strategische Begriff des DeConceptualize synthetisiert.

Die drei Kapitel des ersten Teils untersuchen aktuelle Fragestellungen zum Konzeptualismus in Kunst und Sound. Der zweite Teil untersucht in drei diskursanalytischen Kapiteln, die epistemologischen Testsonden gleichen, künstlerische Verfahrensweisen und Techniken: die Form der Zeichnung, die künstlerische Sendung am Beispiel der künstlerischen Postkarte und die Resonanz von Sound. Das abschließende vierte Kapitel über das Filmprojekt ReCoder of Life aktualisiert im Rückgriff auf den deutschen Undergroundfilm Decoder (1984) das hackende Collage-Montage-Prinzip als Recoding von Sound, Video und Text; dies wird in einem künstlerischen Dispositivbegriff zusammengeführt. Diese vier Kapitel des zweiten Teils bilden das praktisch-theoretische Diagramm des Buchs:

Die gezeichnete Linie

Das Kapitel »Dekonstruktion der Form der Zeichnung« widmet sich Jean-Luc Nancys Konstruktion der »Zeichnung als Öffnung der Form«. Nancy projiziert mit der Öffnung einen Zwischenbereich des »Ent-Wurfs«, der einem temporär absichtslosen Flug des Wurfs gleicht, bevor das Geworfene angekommen ist. Insofern ist Nancys Interesse, die Zeichnung voraussetzungslos und ergebnisoffen zu denken. So begründet er sie, indem er ihr den Grund im doppelten Sinn entzieht: als Absicht und als physische Oberfläche. In dieser genau bestimmten Offenheit arretiert Nancy jedoch paradoxerweise die zu zeichnende Linie. Dieser Zusammenhang ist beim Zeichnen und Schreiben eines Diagramms zu berücksichtigen.

Die Postkarte als diagrammatische Sendung

Das Kapitel »Künstlerische Postkarten und Jacques Derridas Die Postkarte« exponiert die Interessen in und an den Sendungen einer Postkarte. Sie kann als ein Idealfall diagrammatischer Mitteilung gelten, weil die Adresse, der oder die Absender*in, das Trägermedium und der Inhalt auf einem zweiseitigen Stück Pappe materialisiert werden. Derridas Text-Montage aus fiktiven gesendeten Postkarten an unterschiedliche Adressat*innen über die Themen »Liebe« und »Medien« untersuche ich an seinem häufigen Gebrauch des Wortstamms »inter esse«, um daraus Derridas Definition von »interessant« zu gewinnen.

Die künstlerischen Postkarten Lee Lozanos widersprechen in fast jeder Hinsicht denen von On Kawara; dazu gilt die historische politische Mail Art, wie sie Louis Camnitzer in einer Ausstellung 2021 als Umgehung der Zensur in Lateinamerika präsentiert, als eine weitere, völlig andere künstlerische Form der Sendung. Denn trotz aller Unterschiede der Sendungen trifft auf sie Derridas Dekonstruktion zu. Die komplizierte Relation zwischen Sokrates und Platon, »S und p«, erweist sich als richtungsweisend für die hier diskutierte Medienphilosophie der Sendung als Verführungsstrategie: »Zwischen Wissen und Schicken, der Abgrund.« (Derrida)

Resonanz

Nicht nur musikalische Kunstwerke können im Sinne von Sendungen verstanden werden, die eine bestimmte kulturelle Resonanz intendieren. Im Kapitel »Inter-esse in Resonanz« erscheint der Haupttext bis zur Abstraktion verkürzt, wohingegen die Endnoten einen viel größeren Umfang einnehmen. Diese formale Umkehrung der Textarchitektur reflektiert einen Effekt des erweiterten Resonanzbegriffs, der mit den drei Musikalben in Beziehung steht, die im Rahmen von DeConceptualize veröffentlicht werden.10

Das Album Deconstructivist Sound (Farbabb. 2) basiert auf der Aufnahme eines Live-Konzerts.11 Dazu nahm ich spezifische Zitate von Autor*innen wie Friedrich Kittler über Syd Barrett (Pink Floyd) als Text Scores für zwei Sound-Performances.12 Auch die in den jeweiligen Zitaten beschriebene Einnahme der Substanz LSD wurde nachvollzogen. Die Aufführung von zwei musikalischen Settings entsprach somit einem Versuchsaufbau, zu dem auch eine Diskussionsrunde gehörte, die vor der Performance stattfand.13 Damit verband sich mein konzeptuelles Interesse, das antipodische Verhältnis von exaktem Text Score (als Ausschluss von willkürlicher Handlung) und psychedelischer Improvisation (als Aufgabe rational zielgerichteter und kontrollierter Ausführung) zu erforschen, indem ich diesen Konflikt in einer Live-Situation auf der Bühne aufführte. Mittels dieser dekonstruktiven Performance erzeugte ich zwei sehr unterschiedliche Drones in räumlicher Resonanz. Eine ausführliche Beschreibung und Analyse dieser beiden psychoaktiven Performances nach Theoriezitaten finden sich online.14 Dies als dekonzeptuelle Live-Performance auszuführen, implizierte ein kunstepistemologisches Experiment: »Wenn man in einem Experiment nicht seine Vernunft aufs Spiel setzt, dann ist das Experiment es nicht wert, untersucht zu werden.«15

Das Album Six Gun Shots präsentiert sechs rein maschinische Drones. (Farbabb. 3) Sie werden jeweils durch die Aufnahme eines Pistolenschusses ausgelöst. Dieses Sample wurde aus einer Online-Soundbibliothek angeeignet. Jedes der sechs Stücke beginnt mit einem Schuss, der durch seine differierende digitale Bearbeitung jeweils unterschiedlich sonisch resoniert – ohne Aufnahmen in einem physischen Raum.16

ReCoder of Life

Die ganz anders gelagerte Resonanz des dritten Albums, ReCoder Sound, bezieht sich auf zwei Funktionen. Zum einen stellt es den Soundtrack für das Filmprojekt ReCoder of Life dar, den ich im letzten Kapitel vorstelle, zum anderen handelt es sich um ein Konzeptalbum. (Farbabb. 4)

Darin wird jede LP-Seite mit einem Popsong eröffnet. Diesen Stücken folgen die Soundtracks für die Filmkapitel, die als autonome Noise Pieces fungieren.

Alle Kompositionen der drei Musikalben sind auf den Covers durch Word Scores und in Liner Notes nachvollziehbar.17 Da dies die Frage nach der Wechselbeziehung von Akustik und Visualität aufwirft, ist dafür ein Bezug auf die Diskussion über konzeptuelle Kunst und Musik substanziell. Daher finden sich implizit in den Kompositionen die künstlerischen Techniken der gezeichneten und geschriebenen Linie, der diagrammatischen Sendung und der Resonanz.

Auch die Farbgestaltung der Albumcover ist im Sinne einer angestrebten Reduktion willkürlicher künstlerischer Entscheidungen von den drei erhältlichen, in das CMYK-Spektrum übersetzten Vinylfarben abgeleitet: Rot, Gelb, Türkis. Da für die beste Klangqualität bei farbigem Vinyl die transparenten Farben stehen, wurden diese hier ausgewählt.

Im gleichnamigen letzten Kapitel des vorliegenden Buchs, »ReCoder of Life«, werden die Ideen der vorhergehenden Kapitel in einem künstlerischen Dispositiv18 mittels der Montagemethode des Recoding zusammengebracht: als eine kritisch mediale, soziale Praxis. Die Hauptdarstellerin Reco arbeitet in den sozialen Medien und kann keinen Unterschied mehr feststellen zwischen Arbeit und Freizeit im digitalen Kontrollkapitalismus: Die New Economy versucht, das ehemals avantgardistisch-philosophische Denken, etwa von Deleuze, zu rekuperieren; daraus entsteht das zeitgenössische dunkle Zeitalter, das Andrew Culp konstatiert.19

Ausstellungen

Eine erste Ausstellung dieses Projekts fand unter dem Titel DeConceptualize – the project statt.20 (Abb. 3) An die Raumsituation angepasst, wurden Texte, Diagramme und Filmstills aus dem Gesamtprojekt als Plakate präsentiert. Mit der Wahl des beliebig reproduzierbaren und im Format skalierbaren Mediums Plakat beziehe ich mich auf den Begriff des »transkategorialen Kunstwerks«. Peter Osborne definiert mit diesem komplexen philosophischen Begriff ein den globalen Bedingungen der zeitgenössischen Kunst entsprechendes Modell, das kurz gefasst eine repräsentative Gleichwertigkeit der Dokumentation seines Produktionsprozesses, des Werks in seiner Ausstellung sowie deren Dokumentation als »postkonzeptuelles Kunstwerk« umfassen kann. Dies ergänze ich im dritten Kapitel dieses Buchs mit Lev Manovichs Begriff der »Transcodierung«.

3 Stefan Römer, DeConceptualize– the project, Plakatinstallation, 2021

Für die Soundinstallation DECON SOUND mit dem Haus der Statistik, die im Rahmen dieses Projekts im Ausstellungsraum des Berliner Stipendienprogramms Künstlerische Forschung (gfkd) im ehemaligen Haus der Statistik am Alexanderplatz stattfand, habe ich eine ortsspezifische Soundinstallation realisiert.21 Zu dieser gehörte ein Plakat mit Text, der sich als öffentlicher Bestandteil des Text Scores des Stücks auf den aktuellen gesellschaftlichen Kontext der Pandemie bezog:

Unser Leben und die globale Politik werden in der Corona-Pandemie mehr als jemals zuvor von Statistiken geprägt. Diese Statistiken bilden ab und kontrollieren, was sonst weder sichtbar noch vergleichbar wäre – sie formalisieren das Leben und wollen es so schützen. Die daraus folgenden Hygieneauflagen verbieten uns körperliche Berührung. All dies hallt in den Echo-Kammern der Medien schier endlos nach.

Wie können wir also eine Infizierung mit dem Virus verhindern, aber eine Berührung durch Kunst erreichen? Berühren kann man mit Kunst auch ohne Kontakt. Doch wie können wir unseren Austausch rückkoppeln?

Das Haus der Statistik stand früher für die Verwaltung von Statistiken. Der historisch konkrete Raum wird in diesem Drone-Konzert als gemeinsamer Ort der (Nicht-)Berührung dekonzeptualisiert: touch doesn’t mean necessarily contact.22

Künstlerisches Inter-esse

Rosalind Krauss zitiert in ihrem Essay »The Story of the Eye« Marcel Duchamps berühmte Kritik an einer rein retinal orientierten Kunst.23 Doch was Duchamp hier außerdem definierte, ist die Form des Interesses, welches die von ihm zitierten Mönche der Renaissance der »Farbtube« [sic] entgegenbrachten. Die Farbtube selbst »interessierte« diese Maler nicht sonderlich, so Duchamp. Was sie aber sehr »interessierte«, war, dass sie mit ihrer Hilfe vermochten, »ihre Vorstellung der Göttlichkeit« auszudrücken. Genau diese Verschiebung des Fokus ihres Interesses ist die differenzielle Funktion, die ich geneigt bin, dem konzeptuellen künstlerischen »Interesse« zuzuschreiben, was ich nach Donald Judd als postminimalistisches »Inter-esse« gefasst habe. Das Interesse kann also ganz besonders im ästhetischen, künstlerischen oder kulturellen Bereich als eine entscheidende Differenzproduktion wirken. Das künstlerische Interesse tritt in Duchamps Zitat als neugierig, wissensdurstig und zielorientiert auf – und trifft so eine fein nuancierte Unterscheidung.

Das im Projekt DeConceptualize favorisierte künstlerische »Inter-esse« bezieht sich auf die folgende Differenzierung: Eine erkenntnistheoretische Untersuchung der eigenen künstlerischen Praktiken und einer eigens entwickelten Theorie, bezogen auf den gesellschaftlichen Kontext, wird hier als artistic REALsearch24 bezeichnet. Ich stimme Hito Steyerl zu, dass sich Artistic-Research-Projekte mit der Realität befassen könnten, anstatt miteinander zu konkurrieren.25 Dies verlangt eine Reihe von theoretischen Implikationen, die an dieser Stelle nur kurz skizziert werden: Meine Suche galt einem Begriff, der in der Genealogie der Kunst eine grundlegende Differenz erzeugen kann und möglichst von der Seite konzeptueller Künstler*innen stammt. Das »Interesse« und das »Interessante« in Donald Judds legendärer Aussage26 nahm eine zentrale Funktion ein, denn das Begriffsfeld verweist neben seiner Bedeutung für den Minimalismus auch auf eine Diskussion in der Geschichte der modernen Kunst (Denis Diderot, Frühromantiker, Walter Benjamin).27 Der Interesse-Wortstamm eignet sich auch deshalb, weil sich seine Genealogie von Anfang an mit der liberalen Philosophie der Aufklärung verbindet und auf dem kritikwürdigen liberalistischen Prinzip der gegenseitigen Kontrolle der Leidenschaften basiert.28 Im 19. Jahrhundert tritt dann das »Kalkül« als ökonomischer Aspekt in den Begriff des Interesses ein, womit das früher gültige Prinzip der gegenseitigen Kontrolle der Leidenschaften ergänzt wird.29 Schließlich wird diese Konstellation des Liberalismus in den 1970er Jahren hinsichtlich seiner gouvernementalistischen und biopolitischen Dimensionen einer Kritik unterworfen. Foucault stellt fest, dass das Interesse als ein »Operator der neuen Regierungskunst« fungiert.30

Diese post-/modernistische Genealogie31 des »Interesses« fasse ich als konträr zur modernistischen ästhetischen Theorie des Desinteresses im Kunstverständnis von Immanuel Kant auf. Dabei geht dieses Konzept weit über die Erörterung des Interessanten als einer »ästhetischen Kategorie« hinaus,32 indem es den »Online-Screen« als Kombination eines Interface und eines zeitgenössischen Bildmodells hervorbringt.

Mit der Etablierung des Artistic Research als Buzzword in der Rhetorik von Kunsthochschulen kommt dem Wissensbegriff in der Kunst eine hervorgehobene Stellung zu. Demnach muss zunächst der modernistische Wissensbegriff, der sich auf einer Disziplinierung zur Akkumulation und Reproduktion von Bildungsidealen einer entsprechenden Wissensökonomie gründete,33 auch hinsichtlich anders funktionierender Formen der Wissensaneignung im Internet und unter dem digitalen Imperativ überwunden werden. Deshalb richte ich mit dem Konzept des Inter-esses den Fokus auf das künstlerische Denken, wodurch nun Wissen eher als eine interessengesteuerte prozessuale Wissensaneignung »im Werden« verstanden werden soll (mit Deleuze contra Heidegger).34 Für eine prozessual aufgefasste Epistemologie erscheinen jene treibenden Kräfte (Leidenschaften) und ihre zeitlich-ökonomische Funktion (Kalkül) fundamental, die sich mit dem Wortstamm des Interesses und des Interessanten assoziieren. Das künstlerische Inter-esse birgt im Sinne des artistic REALsearch das kombinierte Potenzial einer Denk- und Arbeitsweise, die ich auch live auf der Bühne in Performances und Vorträgen aufführe. Dementsprechend geht es eher darum, was hier tatsächlich gemacht wird.35

Relevant erscheinen vor allem jene künstlerischen Ansätze des Konzeptualismus, die sich als Artistic Research explizit verbal über ihr Theorie-Praktik-Verhältnis äußern.36 Dabei soll es mit Derrida um eine Dekonstruktion der traditionellen Trennung von Theorie und Praktik gehen. Im dritten Kapitel wird dies auf eine konzeptualistische Genealogie der Kunst bezogen.

4 dekonzeptuelles »Noch-Praxiswerden-Müssen«

Praxiswerden

Das einleitende Zitat stammt aus Jacques Derridas Buch Theory and Practice, nach dem Typoskript seines Seminars von 1976/77. Darin diskutiert er diese wichtige Thematik bei Karl Marx, die auch für so einflussreiche Denker*innen wie Louis Althusser, Judith Butler, Antonio Gramsci, Jürgen Habermas und Pierre Bourdieu eine grundlegende Fragestellung bedeutet. Marx hatte in den »Thesen über Feuerbach« als elfte These formuliert: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; aber es kömmt darauf an, sie zu verändern.«37 Deshalb versteht Derrida die Theorie-Praxis-Opposition als die Grundproblematik in den Thesen zu Feuerbach, die den praktischen Anspruch begründete, der dem Dialektischen Materialismus zugeschrieben wurde. (S. 11)

Wie die eingangs zitierte Passage andeutet, muss Theorie in die Tat umgesetzt werden, was mit großen Mühen verbunden ist und sich auch sprachlich problematisch gestaltet. Dieses komplexe Unterfangen der Gegenüberstellung von Theorie und Tun als »thinking« und »doing« weckt Derridas Widerstand und Ironie,38 denn damit ist auch verknüpft, dass jede (revolutionäre) Veränderung der Welt notwendigerweise auf der Seite der Praktiken angesiedelt wäre. Auch das Gelingen einer gesellschaftlichen Umgestaltung wäre somit immer abhängig von praktischer Arbeit.

Dies kritisiert Derrida, indem er den Begriff der Praktik bis ins Extrem problematisiert, was er mit der populären Wendung faut le faire ausdrückt. Dieses französische Idiom heißt so viel wie »Es muss noch getan werden« oder »Es muss erledigt werden«. Und faut le faire kann nach Derrida nur in einem gegebenen, konkreten Kontext verstanden werden, was dann eher heißt: »Es ist notwendig, das zu tun« oder »Es braucht etwas Zeit, Mühe…«. (S. 2 ff.) Damit führt er eine sehr problematische Zeitebene ein, die er mit dem deutschen Idiom: »Man muss das Eisen schmieden, solange es heiß ist«,39 beschreibt, also, »man muss handeln, solange es möglich ist, denn sonst könnte es zu spät sein«. Damit betont Derrida, dass das Praxiswerden der Theorie mit einer hohen Dringlichkeit versehen ist: Es muss noch getan werden.

Allerdings weist Boaventura de Sousa Santos in seiner Kritik des westlichen Kanons darauf hin, dass sich in den zweihundert Jahren der nordwestlichen kapitalistischen Vorherrschaft seit Marx’ Zitat eine Rückwendung von der »Praxis« zur »Interpretation« ereignet habe: Das Politische sei epistemologisch geworden, da gegenwärtig glaubhaft versichert würde, dass jegliche politische Alternative Fantasie oder Unwahrheit sei. Das würde jedoch letztlich das Ende von kritischem Denken bedeuten, weshalb de Sousa Santos das Hauptproblem in den erkenntnistheoretischen Prämissen der Kritik und des Konservatismus sieht.40 Er fordert eine Veränderung zu einer »Epistemologie des Südens«, wozu er Marx’ Thesen umformuliert und fordert, die Welt müsse dadurch verändert werden, indem sie permanent neu interpretiert wird. Dazu schlägt de Sousa Santos eine wichtige Begriffsunterscheidung vor, wonach die »praxis« als eine Synthese aus »theory and practice« gelten soll.41

Die sogenannte Praxistheorie geht von der kleinsten Einheit der Sozialanalyse aus, indem sie das Soziale in den »Praktiken« untersucht. Dazu ist im Deutschen die Unterscheidung zwischen »Praxis« und »Praktiken« hilfreich, wonach sich »Praktik« als eine routinierte Verhaltensform darstellt, die mehrere miteinander in Beziehung stehende Elemente verbindet: Formen körperlicher Aktivität, Formen mentaler Aktivitäten, Dinge und ihr Gebrauch, ein Backgroundwissen des Verstehens, Know-how, Wissenszustände der Emotion und der Motivation, so Reckwitz.42

Die Differenzierung, dass die Synthese aus Theorie und Praktiken (mit de Sousa Santos) als »Praxis« aufgefasst werden soll, assoziiere ich im Projekt DeConceptualize mit der konzeptuellen Kunst. Bei ihr erscheint die Frage als epistemisch, wie der Entwurf, die Herstellung, die Realisierung und die Sendung (Repräsentation und Übermittlung) sowie deren theoretisch-philosophische Implikationen Bestandteil der konzeptuellen Arbeit werden. Dabei kann der Kunstwerkbegriff nicht als gegeben angenommen werden, sondern ist permanent in der Praxis (als Verbindung von Theorie und Praktiken) neu zu definieren.43

Somit kombiniert die konzeptuelle Kunst die beschriebene Vielzahl von handwerklichen, materialtechnischen Tätigkeiten und intelligiblen Prozessen in einer jeweils konkreten Produktion. Dieser Komplex einer Verfahrensweise wird oft vereinfacht als »Praxis« aufgefasst. Ich setze für das englische »practice« im Deutschen »Praktiken« oder »Machen« (Morris) ein.

Phänomenologie des Machens

An diese Dekonstruktion der Praxis lässt sich der Essay »Einige Bemerkungen zur Phänomenologie des Machens« des amerikanischen Minimal-Künstlers Robert Morris anschließen.44 Darin stellt er die fundamentale Frage, wie die eigene künstlerische Produktion motiviert ist. Dies ergänzt kunsttheoretisch besonders gut die Formulierung seines Kollegen Donald Judd, die dieser einige Jahre zuvor mit dem Begriff »Interesse« vorgelegt hatte (vgl. Anm. 26). Mit Morris’ Feststellung – »Was auch immer sonst Kunst sein mag, auf einer sehr simplen Ebene ist sie eine Art des Machens« – hatte Morris für ein antiformalistisches Verständnis mit einem hohen »Grad an Ordnung im Herstellungsmodus« argumentiert, was er damals in der positiven Spannung zwischen Minimal Art und Jackson Pollock lokalisierte.45 Damit dokumentiert er die intellektuelle Atmosphäre in New York um 1970:

Das Systematische in einer Kunst, der es um die Reduzierung des Willkürlichen geht, ist die Information über die Koppelung von Zweck und Mittel. Mit anderen Worten ist diesen Werken eine besondere Art der Systematisierung von Prozessen eigen. Allen fraglichen Werken gemeinsam ist die Suche nach einem fest definierten System, das zum Teil des Werks wird. Und sobald dieses System aufgedeckt wird, wird es eher als Information denn als Ästhetik entdeckt. Hier sind wir wieder beim Thema, das Duchamp schon vor so langer Zeit ansprach: Das Machen von Kunst muss auf anderen Begriffen aufbauen als denen eines willkürlichen, formalistischen, geschmäcklerischen Arrangements statischer Formen. Dies war auch ein Appell dafür, den Hermetismus der ›bildenden Kunst‹ aufzubrechen und die Welt auf eine andere Weise in sich hinein zu lassen als durch bildliche Darstellung. (S. 85)

Die Realwerdung der so gedachten Kunst befindet sich bei Morris zwischen dem Machen und der – nennen wir es – »Selbstreflexion« als Form mentaler Tätigkeit im Sinne der Moderne. Gesteuert wird dieser Text von Morris’ Inter-esse, das eigene »Kunstmachen« zu definieren. Auf diese Weise argumentiere ich hinsichtlich des artistic REALsearch für einen definitorischen Bezug zur sozialen Realität. Kurz in meinem Inter-esse zusammengefasst: Die dekonstruktivistische Fusion von künstlerischem Interesse (Judd) und von systematisch reflektiertem Machen (Morris) ergibt ein dringliches dekonzeptuelles Praxiswerden (Derrida), auf das ich meine Argumentation des DeConceptualize von Kunst und Sound baue. (Abb. 4)

Die geschriebene und gezeichnete Linie

Nun impliziert dies eine besondere Form des Schreibens und Zeichnens. Die amerikanische Künstlerin Lee Lozano nahm für ihre Postkarten und ihre Arbeiten mit Schrift in Anspruch, dass kein Unterschied zwischen Schreiben und Zeichnen bestehe (vgl. Kap. 2.2). Die scheinbar unvereinbaren Ebenen der Schrift und der Zeichnung bringt diese Aussage in eine spezifisch nachbarschaftliche Konstellation, die ich als eine diagrammatische Operation des Strichs bezeichnet habe: Er markiert, trennt, verbindet, klammert ein oder streicht durch.46 Diese dekonstruktivistische Operation habe ich illegitimerweise Derridas Die Wahrheit in der Malerei entlehnt und auf ihre zeichnerische Qualität in der Schrift verwiesen.47

Dies assoziiert die Techniken der geschriebenen Worte mit den gezeichneten Linien inhaltlich, sodass daraus eine diagrammatische Aussage entsteht. Die Spezifik des dermaßen entstehenden Diagramms ist, dass durch die Assoziation der beiden Praktiken besondere Bedeutungen auftreten, welche sie alleine nicht hervorbringen könnten.48 Genau dies soll auch die Definition für die im vorliegenden Buch (handschriftlich) gezeichneten Diagramme ergeben. Die Linie verbindet in anthropologischer Sichtweise die Techniken des Schreibens, der Zeichnung, des Wanderns und des Webens.49 Das halte ich zwar für eine fragwürdige Annahme,50 entscheide mich jedoch für handgezeichnete und -geschriebene Diagramme, weil ich sie gegenüber schematischen Darstellungen für interessanter halte.

Künstlerisches Schreiben

Schrift dient mir zur Selbsterforschung,