Katharina Woellert M. A., wiss. Mitarbeiterin, und Prof. Dr. Heinz-Peter Schmiedebach, Direktor, beide am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Hamburg
Lektorat/Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlags: Vera Rahner, Freiburg/Br.
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eISBN 978-3-8463-3006-7
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Einführung
Sterben und Tod sind Themen, denen die meisten Menschen mit Ambivalenz begegnen. Einerseits
meidet man das Thema. Vielen fällt es schwer, die Endlichkeit des Lebens zu begreifen.
Oft wird zudem befürchtet, dass das Sterben mit großer Qual verbunden sein könnte.
Auch die Vorstellung, den Verlust einer nahe stehenden Person zu erleiden, bereitet
den meisten Unbehagen. Sterben und Tod sind deswegen oftmals unansprechbare Themen.
Andererseits wird in Deutschland derzeit in Medien und Politik intensiv über das Sterben
debattiert, und zwar im Zusammenhang mit einer selbstbestimmten Gestaltung des Sterbeprozesses
und der dabei erforderlichen Unterstützung durch Ärzte, Pflegende und Angehörige:
Man diskutiert über die Gültigkeit eines im Vorhinein verfügten Behandlungswillens,
über die Rechtmäßigkeit des Behandlungsabbruchs angesichts schwerer Erkrankung und
darüber, ob die Tötung von sterbenskranken Menschen auf deren Willen hin nicht ein
ethisches Erfordernis sei. Die Auseinandersetzung um Tod und Sterben wird also paradoxerweise
gleichzeitig gemieden wie auch geführt.
Die Gründe für dieses eigenartige Phänomen sind vielgestaltig. Sie liegen teilweise
in der seit gut zweihundert Jahren voranschreitenden Säkularisierung und dem Verbreiten
naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die den christlichen Glauben an das Jenseits
brüchig gemacht haben. Damit kann die Vorstellung von einem Leben nach dem Tod, was
im Zusammenhang von Tod und Sterben auch Trost und Angstfreiheit bedeuten kann, nicht
mehr unhinterfragt aufrechterhalten werden. Doch dies allein erklärt nicht die spezifische
Befindlichkeit unserer Tage.
Jüngeren Datums sind dagegen Neuerungen innerhalb der Medizin, wie die in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte künstliche Beatmung, die Herz-Lungen-Maschine
und andere für eine Intensivmedizin typische Errungenschaften (Schellong 1990). Diese
technischen und medizinischen Veränderungen verwischten die Grenzen zwischen Tod und
Leben und führten dazu, dass Menschen in Situationen am Leben erhalten werden können,
die vorher unweigerlich zum Tode geführt hätten. Allerdings werden dabei mitunter
Zustände erreicht,
in denen bestimmte Eigenschaften, die wir unweigerlich mit dem Leben verbinden, nicht
mehr oder nur in sehr rudimentärer Form gegeben sind. Die Medizintechnik verlängert
einerseits also Leben, provoziert aber auf der anderen Seite Überlegungen, ob „ein
solches Leben noch lebenswert sei“ – und schafft so eine neue Konfliktsituation.
Die letzte Lebensphase wird seither anders betrachtet. Aus ethischer Perspektive stellt
sich eine neue Problemlage: Es scheint so, als erzeuge die Intensivmedizin in manchen
Fällen am Lebensende, anstatt zu helfen, eher weiteres Leid, was eigentlich mit medizinethischen
und anderen moralischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Heute muss oftmals entschieden
werden, ob und wann eine medizinische Maßnahme nicht mehr durchgeführt wird. Aber
daraus ergibt sich eine Reihe neuer Fragen:
• Wer soll dies entscheiden?
• Welche Kriterien sollen bei einer solchen Entscheidung angewandt werden?
• Wer kann beurteilen, was Lebensqualität im ganz konkreten Fall für die betreffende
Person bedeutet?
• Wer von den möglicherweise in die Entscheidungsfindung einbezogenen Personen bringt
welche eigenen, mitunter moralisch umstrittenen, Interessen in diese Findungsversuche
mit ein?
• Welche sonstigen Gemeinschaftsinteressen, wie z. B. eine kostenintensive Behandlung
am Lebensende eines 80-jährigen Patienten, werden hier aktuell?
• Ist eine solche Behandlung zu rechtfertigen, wenn dadurch Ressourcen, die sonst
jemanden mit größeren Heilungschancen zur Verfügung stünden, gebunden werden?
Diese und andere Fragen werden derzeitig in der Debatte über Rechtmäßigkeit und Stellenwert
von Sterbehilfe und Patientenverfügungen thematisiert. Die Notwendigkeit dieser Debatte
wird häufig auf die heutige, pluralistische Wertegesellschaft zurückgeführt (Neitzke
/ Frewer 2005), in der der Orientierungsrahmen für das sittlich Gute sehr weit gefasst
ist. Für Entscheidungen über richtiges oder falsches Handeln angesichts Sterben und
Tod gibt es scheinbar keine allgemein verbindlichen und eindeutigen Kriterien mehr.
Gleichzeitig gewann aber in den letzten dreißig Jahren die Wertschätzung der individuellen
Autonomie zunehmend an Bedeutung, während die paternalistische ärztliche Fürsorge
ihre Berechtigung weitestgehend einbüßte. Parallel zum Bedeutungsverlust
der traditionellen – und vor allem christlich geprägten – Werte wurde das Kriterium
der Selbstbestimmheit somit zu einem wesentlichen Orientierungspunkt und zu einer
wichtigen Entscheidungshilfe.
Aber auch das Bewusstsein für ethisch komplexe und konfliktträchtige Situationen in
der medizinischen und pflegerischen Versorgung nahm sowohl auf Seiten der Patienten
wie auch auf Seiten von Ärzten und Pflegenden zu. Die Veränderungen im Gesundheitswesen,
die Umstrukturierungen in den Krankenhäusern verbunden mit neuen Aufgaben und Arbeitsintensivierungen
und damit die Konfrontation mit bislang vernachlässigten Fragen werden von vielen
Beschäftigten als Belastungen empfunden, mit erheblichen körperlichen und seelischen
Folgen – bis hin zum Burnout. Ähnliches gilt für Angehörige sowie für ehrenamtliche
Sterbe- und Trauerbegleiter. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei neue Entwicklungen
im Bereich der medizinischen Berufe erklären: das wachsende Bedürfnis nach professioneller
Entscheidungshilfe in medizinisch-klinischen Konfliktsituationen und die vor allem
von Ärzten empfundene Rechtsunsicherheit in den angesprochenen Situationen, die u.
a. Ursache für die Forderungen nach einer gesetzlichen Regelung der Sterbhilfe ist.
Ebenfalls neu ist, dass Medizin- und Pflegeethik zunehmend Gegenstand von Studium
und Ausbildung im Bereich der medizinischen Berufe werden. Der gewachsene Stellenwert
der Ethik kommt dadurch zum Ausdruck, doch befindet sich diese Entwicklung meistenteils
erst am Anfang.
Mit der Vermittlung von ethischen Inhalten möchte man die Kompetenz im Umgang mit
den aufgeworfenen Fragen erhöhen. Was aber ist Ethik, was kann sie leisten? Der Begriff
Ethik stammt von dem griechischen Wort „ethos“ ab, welches Gewohnheit, Sitte oder
Brauch bedeutet. Darin ähnelt es dem von dem lateinischen Ausdruck „mos“ abgeleiteten
Wort Moral. Beide – Ethos und Moral – beziehen sich also auf die in einer Gesellschaft als richtig
anerkannten Regeln, Normen und Werte. Beide Begriffe werden deshalb auch oft synonym
gebraucht. Ethik aber ist mehr. Sie setzt sich kritisch mit der Herleitung und Legitimation sittlicher
Leitsätze auseinander, sie versucht, Lösungen aufzuzeigen, wenn zwei als gut anerkannte
Prinzipien in einen Widerspruch geraten. Es handelt sich dabei um eine ureigene philosophische
oder auch wissenschaftliche Herangehensweise. Im Gegensatz dazu weicht das Adjektiv
ethisch von dieser Unterscheidung im allgemeinen Sprachgebrauch ab und bezeichnet das, was
gemeinhin als gut und sittlich gilt.
Sittlichkeit wiederum ist ein anderer Ausdruck für das moralisch Richtige.
Die grundsätzliche Frage, wie Sittlichkeit zu begründen ist, lässt sich auf zweierlei
Weise beantworten. Man kann von Werten ausgehen, die, ähnlich den Naturgesetzen, der
Welt innewohnen und für alle Menschen und Lebewesen absolute Gültigkeit haben; im
religiösen Sinne kann man diese als gottgegeben auffassen. Oder man begreift sie als
Ergebnis einer mehr oder weniger bewussten Übereinkunft innerhalb einer Gesellschaft.
Wir gehen davon aus, dass die Vorstellungen vom sittlich richtigen Handeln z. B. im
Zusammenhang mit Sterben und Tod Ergebnis einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung
um Werte sind.
Darüber hinaus ist zu fragen, woran sich das Urteil über moralisch richtig der falsch
orientiert. So kann man z. B. die Folgen einer Handlung (teleologischer Ansatz) oder die ihr zu Grunde liegenden Moralprinzipien (deontologischer Ansatz) als Anhaltspunkte für die Beurteilung einer Tat bemühen. Das kann im konkreten Fall
einen großen Unterschied ausmachen. Bei Anerkennung von Würde und Selbstbestimmung
als hohe moralische Güter ließe sich im teleologischen Sinne abwägen, ob die Tötung
eines schwerst kranken Menschen auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin das Ziel erreicht,
seine Würde und Selbstbestimmung zu wahren; wenn ja, wäre die Tötung dieses Menschen
entsprechend zu rechtfertigen. – Aus deontologischer Perspektive kann sich dieser
Fall ganz anders darstellen. Ein weithin anerkannter Grundsatz, der ganz besonders
für die Personen, die in der Versorgung von Kranken beschäftigten sind, Gültigkeit
hat, lautet: „Du sollst nicht töten. “ Im deontologischen Sinne ist damit eine Tötung
nicht zu rechtfertigen. Es ist also möglich, dass zwei anerkannte sittliche Prinzipien
in einen Widerspruch geraten und die Beurteilung einer Handlung, je nach Auswahl des
Prinzips, sehr unterschiedlich ausfällt.
Das vorliegende Buch bietet eine erste Orientierungshilfe zum großen Themenkomplex
der ethischen und rechtlichen Aspekte der Sterbebegleitung und Sterbehilfe. Die mittlerweile
kaum mehr überschaubare Fülle an Literatur zu diesem Thema richtet sich teils an Laien
und teils an medizinische bzw. ethische Fachleute. Sie behandelt sowohl einzelne Aspekte
als auch den gesamten Komplex Sterbehilfe. Im Unterschied zu diesen Publikationen
informiert die vorliegende Schrift überblicksartig über Fakten und skizziert die verschiedenen
in der aktuellen Diskussion geäußerten Positionen.
In der Darstellung gehen wir folgendermaßen vor: Einleitend werden wir den Stellenwert
von Sterben und Tod in der heutigen Gesellschaft thematisieren (Kapitel 1). Im Anschluss
geht es um die Definitionen und Erörterung der wichtigsten Begriffe zum Thema sowie
um Vorschläge zu einer alternativen Terminologie (Kapitel 2). Es folgt ein Überblick
über die Rechtslage zur Sterbehilfe – in Deutschland sowie im europäischen Ausland
(Kapitel 3). Sodann thematisieren wir die Bedeutung von Würde und Selbstbestimmung,
derjenigen Werte also, denen im Kontext von Sterbesituationen eine herausragende Bedeutung
zukommt (Kapitel 4). Im Anschluss stellen wir verschiedene Instrumente vor, die die
Patientenautonomie in der ärztlichen und pflegerischen Praxis sichern sollen (Kapitel
5). Das nächste Kapitel erörtert den Zusammenhang zwischen öffentlicher Debatte und
individueller Betroffenheit im Bereich Sterbehilfe. Hier werden wir zudem Instrumente
vorstellen, die dabei helfen sollen, mögliche Konflikte im Entscheidungsprozess zu
regeln (Kapitel 6). Abschließend gehen wir auf Palliativmedizin und Hospize ein, die
zu einem Sterben in Würde beitragen sollen (Kapitel 7).
Wir richten uns an einen breiten Leserkreis: an Studierende unterschiedlicher Fachrichtungen,
an Auszubildende der verschiedenen Pflegeberufe, an Ärzte und Pflegende, an die Ehrenamtlichen
in der Palliativversorgung und Sterbebegleitung sowie an allgemein am Thema Interessierte.
Vor allem aber soll diese Einführung Betroffene und deren Angehörige erreichen.
Mit dem Ziel einer besseren Verständlichkeit verwenden wir im Folgenden nur die männliche
Form als verallgemeinernden Oberbegriff.
Literatur
Pöltner 2002