Sterben dürfen - Wolfgang Putz - E-Book

Sterben dürfen E-Book

Wolfgang Pütz

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Würde des Menschen ist unantastbar … und endet nicht an der Schwelle des Pflegeheims. "Jetzt fühle ich, dass meine Mutter nicht umsonst gelitten hat." - Lange Zeit hat Elke Gloor für das würdige Sterben ihrer Mutter, einer Wachkomapatientin, gekämpft. Dieser schwierige Weg führte sie bis vor den Bundesgerichtshof und Deutschland schließlich zu einem vielbeachteten Grundsatzurteil. Jeder Mensch hat das Recht, würdig behandelt zu werden. Das ist im Grundgesetz verankert. Was aber passiert, wenn ein Mensch nicht mehr in der Lage ist, dieses Recht selbst einzufordern? Dann ist es an den Angehörigen, die Würde des Menschen zu bewahren, für seine Rechte einzutreten und seinen letzten Willen zu erfüllen. Dass das deutsche Rechtssystem der Befolgung des Patientenwillens aber oft im Weg steht, musste Elke Gloor am Beispiel ihrer Mutter erfahren. Zusammen mit dem auf Medizinrecht spezialisierten Anwalt Wolfgang Putz nahm sie den verzweifelten Kampf um die Durchsetzung des mütterlichen Wunsches, würdig sterben zu dürfen, auf. Ihr gemeinsames Engagement mündete in einem für die Bundesrepublik bisher beispiellosen Strafverfahren.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 279

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Putz | Elke Gloor

Sterben dürfen

Hoffmann und Campe Verlag

Meiner Mutter Erika Küllmer und meinem Bruder Peter Küllmer gewidmet

Elke Gloor

Prolog:Über künstliche Lebenserhaltung und das Sterben

Wie kommt man eigentlich dazu, sich ein ganzes Berufsleben lang mit Patientenrechten am Ende des Lebens zu befassen? Für mich gab es ein Schlüsselerlebnis: 1984 hatte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter dem Vorsitzenden Richter Klaus Kutzer das so genannte »Wittig«- oder »Peterle«-Urteil gesprochen, durch das der Krefelder Hausarzt Dr. Wittig vom Vorwurf der Tötung durch Unterlassen freigesprochen wurde. Dieser Arzt hatte eine 76-jährige krebskranke Patientin betreut und kannte ihren Willen, nach dem Krebstod ihres geliebten Mannes »Peterle« sterben zu wollen, um wieder mit ihm zusammen sein zu können. Dr. Wittig versuchte immer wieder, die Frau von ihrem Vorhaben abzubringen. Schließlich begab er sich zu einem verabredeten Hausbesuch in die Wohnung der Patientin. Als er eintraf, stellte er fest, dass sie mit Tabletten einen Suizidversuch unternommen hatte, aber noch am Leben war. Bewusst verzichtete er auf lebensrettende Maßnahmen, weil er alle Umstände des Falles und den Willen der Patientin kannte. Zudem hatte die Patientin mehrere Mitteilungen an den Arzt, eine Art Patientenverfügung, verfasst, in der sie einen Rettungsversuch im Sterbeprozess ablehnte. Diese Mitteilungen hatte sie quasi für den eintreffenden Hausarzt bereitgelegt. Dr. Wittig respektierte ihren Willen, rettete sie nicht und blieb bei ihr, bis sie gestorben war. Für mich war es der Einstieg in das Thema Sterbehilfe, und es hat mich seitdem nicht mehr losgelassen. Am Anfang stand die rein theoretische Beschäftigung mit den rechtlichen und ethischen Fragen am Ende des Lebens. Das »Wittig-Urteil« hatte die Öffentlichkeit aufgewühlt. Die Volkshochschule München bat mich damals, an einer Ringvorlesung zum Thema Patientenverfügung und Sterbehilfe teilzunehmen. Mit mir referierten Ärzte, Theologen und Ethiker. Schon damals fiel auf, dass das Hauptinteresse der Zuhörer rechtlichen Fragen galt. Die Angst der Ärzte und Angehörigen vor dem Strafrecht schien unüberbrückbar. Einen Menschen sterben zu lassen, der weiterleben konnte, das war 1984 noch kaum vorstellbar.

Auch den Bundesrichter Klaus Kutzer hat das Thema seit dem »Wittig«-Urteil nicht mehr losgelassen, es beschäftigte ihn sein ganzes weiteres Berufsleben lang und noch bis weit in seine Pensionierung hinein. Er war Vorsitzender der nach ihm benannten »Kutzer-Kommission« des Bundesjustizministeriums, die einen ersten Vorschlag für ein Patientenverfügungsgesetz erarbeitete. Mit ihm und anderen ausgewiesenen Fachleuten aus Recht und Medizin konnte ich 2006 den Juristentag zum Thema Sterbehilfe aus rechtlicher Sicht vorbereiten und durchführen. In der »Kutzer-Kommission« und in unserer Arbeitsgruppe zum Deutschen Juristentag arbeitete auch mein langjähriger Wegbegleiter und Freund Prof. Dr. Gian Domenico Borasio mit, sodass ich auf diesem gemeinsamen Weg viel von ihm über Palliativmedizin und Palliativpflege lernen durfte.

Ganz wesentlich für die anwaltlichen Mandate rund um das Sterben von Menschen, die meine Sozia Beate Steldinger und ich gemeinsam durchlebt haben, waren aber auch die vielen Freunde und Fachleute aus den Hospizvereinen und Hospizakademien, die vielen Ärzte, Theologen und Pflegekräfte, die uns als Juristen und Theoretiker davor bewahrten, den Kontakt zur und den Blick für die tägliche Praxis der Sterbebegleitung und den Alltag des Sterbens zu verlieren.

Heute blicken Beate Steldinger und ich auf über 290 anwaltliche Mandate zurück, die uns das selbstbestimmte Sterben von Menschen zum Auftrag machten. Wenn sich Juristen mit dem Sterben befassen, dann denken sie in der Regel als Strafrechtler, als Betreuungsrechtler oder als Spezialisten für Sozialversicherungsrecht darüber nach, ob das Zulassen des Sterbens eines Menschen strafbar ist, ob man hierzu eine richterliche Erlaubnis braucht oder wie der Betreuungsaufwand in der Sterbephase finanziell geregelt werden kann. Viel leichter tut man sich als Medizinrechtler. Medizinrecht ist dadurch bestimmt, dass jede Behandlung eines Patienten zwei Säulen der Rechtfertigung benötigt: die Indikation und den Patientenwillen. Die Indikation ist das Know-how des Arztes. Seine Behandlungsentscheidung muss dem Facharztstandard entsprechen. Das allein rechtfertigt jedoch noch keine Behandlung. Der Patient muss mit der Behandlung auch einverstanden sein. Verweigert er die Zustimmung, kann der Arzt die Behandlung nicht durchführen. Für Ärzte ist das immer wieder ein großes Problem. Nicht umsonst gibt es den boshaften, aber im Kern so wahren Ausspruch: »Medizin könnte so schön sein, wenn es den Patienten nicht gäbe!« Zur Verdeutlichung des Sachverhalts vergleiche ich den Beruf des Arztes gern mit dem eines Kaminkehrermeisters: Der Arzt erklärt dem Patienten, dass er ihm den Bauch aufschneiden müsse, um eine Operation vorzunehmen. Der Patient sagt aber: »Mein Bauch gehört mir!« Solange der Patient einer Operation nicht zustimmt, darf sie der Arzt auch nicht durchführen. Ganz anders ist das bei einem Kaminkehrer, der erklärt, dass er den Kamin eines Hauses kehren muss. Sagt der Hauseigentümer dann »Mein Haus gehört aber mir!« und verweigert dem Kaminkehrer den Zutritt, kann der Kaminkehrer sich den Zutritt sogar mit polizeilicher Hilfe verschaffen und die Reinigung des Kamins erzwingen. Der Kaminkehrer hat ein Kehrrecht, aber der Arzt hat kein Behandlungsrecht. Das Recht zur Behandlung kann ihm nur der Patient erteilen.

Als Medizinrechtler gehe ich also bis heute ganz emotionslos von der BGH-Rechtsprechung aus (BGHSt 11, 111 oder BGHZ90, 103), wonach nichts gegen den Willen des Patienten geschehen darf und der Arzt auch die ihm unsinnig erscheinende Ablehnung einer Behandlung respektieren muss. Dass uns das Grundgesetz diese Selbstbestimmung und diesen Schutz unserer körperlichen Integrität auch am Lebensende garantiert, war für mich immer selbstverständlich, und ich hätte mir die heutige emotional-kontroverse Diskussion früher nicht vorstellen können.

Inzwischen betreffen unsere Mandate fast nur noch die Einstellung der Substitution, meistens die Beendigung künstlicher Ernährung oder Beatmung, um das Sterben an der Erkrankung zuzulassen. Auf Behandlerseite können wir die Fälle in aller Regel durch Beratung lösen. Auf Patientenseite lassen wir uns bei Bedarf als Vertreter der betroffenen Patienten mandatieren. Wir übernehmen strafrechtliche Verantwortung, was schon zu diversen Ermittlungsverfahren gegen mich persönlich geführt hat. Man muss diese sehr spezielle Materie also nicht nur mögen, man muss sie auch in jeder Hinsicht aushalten.

Die Patienten sind fast ausnahmslos irreversibel, das heißt unumkehrbar und infaust, also zum Tode führend, geschädigt und würden ohne künstliche Niere, Beatmung, Ernährung usw. bald sterben. Die Fälle teilen sich in zwei Hauptgruppen: jene, die aus heiterem Himmel und aus einem gesunden Leben heraus von diesem Schicksal betroffen, und jene, die durch Erkrankungen des Gehirns, meist bei Demenz, allmählich in eine solche Situation gekommen sind. Dann geht es immer um das Zulassen des Sterbens.

Immer wieder suchen Angehörige heute auch schon Rat, wenn es um die Frage geht, ob bei einem Patienten mit einer Substitution, also z.B. Dialyse, Beatmung, oder – am häufigsten – mit der künstlichen Ernährung durch eine PEG-Magensonde begonnen werden soll. Die Angehörigen werden von den behandelnden Ärzten immer wieder ebenso polemisch wie medizinisch unhaltbar mit der Begründung zur Zustimmung gedrängt, der Patient müsse sonst verhungern und verdursten. Umgekehrt verweigern Angehörige häufig die Zustimmung zur Erstanlage einer Magensonde in der falschen Vorstellung, eine Magensonde sei ein Weg ohne Umkehr. Prompt bekommen sie dann Schwierigkeiten mit Ärzten, Einrichtungen und dem Betreuungsgericht. Sie argumentieren, dass der Patient so niemals leben wollte, übersehen aber, dass es zu früh ist, zu beurteilen, ob eine Besserung nicht mehr zu erwarten ist.

In diesen Fällen raten wir zu einer anwaltlich vorformulierten Zustimmung unter Vorbehalt: Zum einen signalisieren wir damit, dass eine vernünftige Kooperation möglich ist, zum anderen bereiten wir die später ggf. durchzusetzende Beendigung der künstlichen Lebensverlängerung nach dem Willen des Patienten vor, wenn sich die medizinische Situation als unverändert und irreversibel darstellt.

Besonders bewegend sind Mandate, wenn uns Menschen ganz konkret beauftragen, ihr eigenes absehbar bevorstehendes Sterben rechtlich zu organisieren und abzusichern.

So war es auch in einem unserer ersten Fälle: Dorothea K., eine fröhliche und hochbetagte Berlinerin, die in einem Münchener Altenwohnheim lebte, hatte sich 16-mal wegen Gefäßverschlüssen an den Beinen operieren lassen müssen. Doch nun drohte die Amputation der Beine. Sie aber sagte ganz entschieden, sie wolle lieber mit zwei Beinen im Sarg als ohne Beine im Bett liegen. Wir halfen ihr bei der Abfassung einer fallspezifischen Patientenverfügung und organisierten die ärztliche und pflegerische Begleitung. Kurze Zeit später starb Frau F. beim nächsten Gefäßverschluss unter extremer Schmerzmedikation. Sie hätte sich auch für die Amputation entscheiden können und dann vielleicht, jedoch ohne Beine, noch ein paar Jahre leben können.

Ein weiteres Beispiel: Martin F., ein langzeitbeatmeter ALS-Patient, konnte nur noch über Augenbewegungen und Mimik kommunizieren und wollte sterben. Der Hausarzt hatte das Abstellen der Beatmung als Mord bezeichnet. Ich hielt den Willen von Martin F. auf Video fest: Wenige Tage vor der geplanten Einstellung der Beatmung unter Symptomkontrolle starb er.

Nicht selten erleben wir, dass uns Angehörige mit der Durchsetzung der Patientenverfügung beauftragen, obwohl der Patient sehr wohl noch selbst entscheidungsfähig ist: Helmut W., 67, hatte eine sehr rigide Patientenverfügung einer Sterbehilfeorganisation. Nach einem Kreislaufkollaps und Nierenversagen mumifizierten im künstlichen Koma beide Füße, beide Hände, Ohren und Nase. Seine Frau bestand als Vorsorgebevollmächtigte auf dem Zulassen des Sterbens nach der Patientenverfügung. Wir befürworteten ein Erwecken aus dem Koma, das in diesem Fall möglich war, um den Patienten selbst zu befragen. Nach fachärztlicher Feststellung seiner Freiverantwortlichkeit und umfassender Aufklärung entschied sich der Patient gegen die weitere Dialyse, trübte ein, wurde tief bewusstlos und verstarb symptomfrei an Urämie.

In einem anderen Fall übermittelte der Sohn den Wunsch seiner Mutter, sterben zu dürfen: Ingrid K., 70, aktive Firmenchefin eines großen Unternehmens, hatte eine gültige Patientenverfügung. Bei einem sehr schweren Verkehrsunfall wurde ihr oberster Halswirbel durchtrennt. Das Rückenmark, alle Nerven, Bänder und Muskeln waren zerstört, nicht aber die Blutgefäße. Sofort nach dem Unfall leitete eine zufällig anwesende Ärztin die Reanimation ein, konnte aber eine Halbseitenlähmung nicht mehr verhindern. Für Ingrid K. bedeutete das, dass sie nur noch ihr linkes Auge bewegen konnte. Nach einem Jahr, in dem sie sich ausschließlich über Augenbewegungen mitgeteilt hatte, übermittelte uns ihr Sohn den von seiner Mutter klar geäußerten Sterbewunsch. Ein universitäres Gutachten bewies, dass Frau K. geistig vollkommen klar war, es gab keine Anhaltspunkte für eine Depression, sie wollte einfach nur sterben. Die Palliativstation eines Krankenhauses war zur Übernahme der Patientin und zur Umsetzung ihres Wunsches bereit. Nachdem wir Frau K. die unmittelbare Möglichkeit, sterben zu können, eröffnet hatten, bat sie um Bedenkzeit. Sie gab schließlich ihren Sterbewunsch ganz auf, akzeptierte das Leben mit einer extremen Behinderung und starb 2010.

Seinen Wunsch zu sterben konnte auch Joachim A., 45, selbst übermitteln. Er war jahrelang weitgehend gelähmt und musste – bei geistig bester Gesundheit – beatmet werden. In diesen Zustand versetzt hatte ihn schon früh die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Er lebte mit seiner Frau in einer perfekt für seine Bedürfnisse eingerichteten Wohnung. Joachim A. wusste, dass die allgemeine Lähmung bei ihm fortschreiten und er irgendwann am sogenannten »Locked-In-Syndrom« leiden würde. Dann wäre er bei völliger geistiger Klarheit bewegungslos in seinem Körper eingeschlossen gewesen, ohne sich mitteilen zu können, obgleich er alles in seiner Umgebung mitbekommen hätte. In diesem Zustand können Patienten bei künstlicher Ernährung und künstlicher Beatmung bis zum Alterstod am Leben erhalten werden. Dagegen hatte Joachim A. mit einer Patientenverfügung vorgesorgt. Er wollte selbstbestimmt sterben, solange er noch kommunizieren und sich somit auch verabschieden konnte, und er hatte panische Angst davor, das »Locked-In-Syndrom« erleben zu müssen.

Im August 2010 trat dann eine rapide Verschlechterung ein. Joachim A. wusste, dass es jetzt schnell gehen musste. Er wollte so bald wie möglich und bei klarem Bewusstsein Abschied von seiner Frau und seinen Freunden nehmen und dann sterben dürfen. Ein Notar sollte diesen Wunsch, den er mit klarer Augen- und Gesichtsmimik vermittelte, beurkunden. Doch der Notar verweigerte ihm die Beurkundung mit der ebenso aberwitzigen wie rechtlich falschen Argumentation, er mache sich damit der Beihilfe zur Tötung schuldig. Daraufhin zeigte sich die Hausärztin dazu bereit, das Behandlungsverbot zu befolgen. Am 11. 8. 2010, so wurde es vereinbart, sollte die Beatmung unter Sedierung abgestellt werden. Joachim A. stellte sich nun auf seinen Todestag ein. Doch einen Tag vor dem vereinbarten Termin ließ die Ärztin durch ihre Sprechstundenhilfe ausrichten, dass sie auf Grund rechtlicher Bedenken nun doch nicht bereit wäre, diesen Schritt zu gehen. In dieser Situation schalteten die Angehörigen und der sehr gute Heimpflegedienst dann unsere Kanzlei ein. Zwei Tage später war es so weit: Zusammen mit einem Palliativmediziner begab ich mich vor Ort. Juristisch und medizinisch begleitet, konnte der Patient nach einem berührenden Abschied von seiner Frau und allen Pflegekräften sterben. Der Arzt hatte ihm eine tiefe Narkose gegeben und dann die Beatmungsmaschine abgestellt.

Die meisten Mandate betreffen jedoch die Vertretung von Patienten, die selbst über ihr Schicksal nicht mehr entscheiden können. Zuerst ermitteln wir dann, ob es noch eine Indikation für die Weiterbehandlung gibt. Ganz häufig kann der behandelnde Arzt die Weiterbehandlung schon gar nicht mehr begründen, sodass jede lebens- und damit sterbensverlängernde Behandlung allein nach dem ärztlichen Stand beendet werden müsste. Nur wenn die Weiterbehandlung aus ärztlicher Sicht noch vertretbar, also indiziert ist, ermitteln wir den aktuellen Willen des Patienten zur anstehenden Therapieentscheidung. Dazu fragen wir zuerst einmal nach einer schriftlichen Patientenverfügung, hilfsweise einer mündlichen Vorausverfügung, wobei die Praxis zeigt, dass die Schriftlichkeit selbst keine Bedeutung hat. Nachrangig, wenn keine Patientenverfügung vorliegt oder glaubwürdig dargelegt werden kann, gilt es, den mutmaßlichen Willen des Patienten zu ermitteln. Das war von der Rechtsprechung schon vor dem 1. 9. 2009 so vorgegeben und ist seitdem Gesetz.

Der Unterschied zwischen einer schriftlichen oder mündlichen Vorausverfügung und einem ermittelten mutmaßlichen Willen ist folgender: Mit einer Vorausverfügung hat der Patient verfügt, dass er für bestimmte Situationen bestimmte Behandlungen verbietet, kurz: »Lieber tot als mit dieser Krankheit weiterleben!« Ob diese Vorausverfügung schriftlich oder mündlich vorliegt, hat in unserer Praxis keine Bedeutung. Für den Juristen ist es selbstverständlich, dass man Erklärungen oder Verfügungen eines Menschen sowohl durch Urkunden als auch durch Zeugen beweisen oder widerlegen kann. Der Wille des Menschen ist formfrei! Man muss also den Patientenwillen sicher ermitteln. In einer solchen ergebnisoffenen Beweiserhebung kann sich auch herausstellen, dass getäuscht, gedroht, gefälscht oder sonst manipuliert oder zwischenzeitlich widerrufen wurde.

Bei der Beweiserhebung über den Willen eines Patienten gerät immer wieder in Vergessenheit, dass der ärztliche Eingriff, der das Leben erhalten und das Sterben hinausschieben soll, gerechtfertigt werden muss. Der Arzt ist beweispflichtig, er muss eine Indikation und den entsprechenden Patientenwillen für seine Behandlung nachweisen. Nicht der Patient muss beweisen, dass er einen Eingriff ablehnt. Auch wenn am Ende das Motto »Im Zweifel für das Leben!« gilt, wie kann sich die Diskussion allein auf Gegenbeweismittel von Patienten fokussieren und dabei auch noch die Schriftform oder andere formale Hürden verlangen? Das neue Patientenverfügungsgesetz erkennt in § 1901 a Absatz 2BGB ausdrücklich auch mündliche Behandlungswünsche als verbindliche Vorausäußerung an.

Ein Beispiel: Katharina D. hatte mit 65 Jahren einen Schlaganfall. Danach nahm sie – sprach- und gehbehindert – der Familie das Versprechen ab, dass sie im Fall einer weiteren Verschlimmerung, vor allem als bewusstloser Pflegefall, nicht künstlich lebensverlängernd behandelt wird. Ein Jahr später bekam sie einen zweiten Schlaganfall und fiel ins Koma. Sechs Jahre lag sie regungslos im Bett und magerte bis auf das Skelett ab. Als die Familie dann von der Erklärung der Mutter berichtete und vom Hausarzt forderte, sie sterben zu lassen, lehnte er dies als Mord ab. Nach Aufklärung aller Beteiligten über die Rechtslage bei einer Besprechung im Pflegeheim erfolgte die Einstellung der Substitution. Die Patientin starb wenige Tage darauf.

Als Praktiker können wir den Perfektionswahn rund um die Patientenverfügung nicht verstehen, denn in unserem Berufsalltag bildet sich die Überzeugung über den Willen des Patienten meist aus der Gesamtheit schriftlicher und mündlich referierter Vorausverfügungen und allen darüber hinaus zusätzlich vorliegenden Anhaltspunkten. Dabei können durchaus einfachste Formulierungen einer Patientenverfügung gültig sein, wie der Fall von Anna P., 90 Jahre alt, zeigt. Sie hatte eine kurze handschriftliche Notiz für ihre Familie verfasst: »Hiermit bestimme ich, dass ich bei ernsten Erkrankungen keine lebensverlängernden Maßnahmen wünsche.« Diese Patientenverfügung bekräftigte sie noch zweimal, bevor sie mit 90 Jahren einen Schlaganfall mit Halbseitenlähmung, Entscheidungsunfähigkeit und Schluckstörungen erlitt. Da die Entwicklung anfangs nicht abzusehen war, stimmten ihre Kinder der künstlichen Ernährung durch eine PEG-Magensonde zu. Als keine Besserungsaussichten mehr bestanden, wurde die künstliche Ernährung auf Grund der Patientenverfügung eingestellt, sodass sie nach wenigen Tagen verstarb.

Schriftliche Patientenverfügungen, auch wenn sie perfekt verfasst sind, werden jedoch selbst in Kombination mit einer optimalen Organisation der Vorsorge immer wieder nicht anerkannt, wie der Fall von Elisabeth G., 86, zeigt. Sie hatte eine in jeder Hinsicht medizinisch und rechtlich perfekte Patientenverfügung nach Muster und mit Hilfe des Humanistischen Verbandes in Berlin gefertigt und wiederholt bekräftigt. Nach einer Oberschenkelfraktur im 86. Lebensjahr bei fortgeschrittenem Darmkrebs geriet sie in einen multimorbiden Zustand mit dauerhaft notwendiger künstlicher Beatmung. Über die weitere Therapie konnte sie nicht mehr entscheiden. Die Patientenverfügung erfasste diese Situation genau, wurde aber von den Klinikärzten missachtet. Erst in einem Spezialheim für beatmete Patienten konnten wir den Patientenwunsch erfüllen: Hier wurde die Beatmung bei palliativer Begleitung so reduziert, dass die Patientin nach zwei Tagen verstarb.

Liegt eine mündliche oder eine schriftliche Vorausverfügung nicht vor, muss der individuelle mutmaßliche Wille nach § 1901 a Absatz 2BGB erforscht werden. Das heißt konkret: Was würde der Patient aktuell entscheiden? Die Angehörigen erhalten von uns eine umfassende schriftliche Anleitung, welche Fragestellungen im Rahmen der erforderlichen Wertanamnese hilfreich sind. So entstehen umfangreiche, beeindruckende schriftliche Darstellungen. Selbstverständlich überzeugen auch Eheleute, die Jahrzehnte zusammengelebt haben, wenn sie glaubhaft vortragen, sie seien sich sicher, dass der Lebenspartner in einer solchen Situation eine künstliche Lebenserhaltung ablehnen würde, um sterben zu können. Weder wird man engsten Beziehungspersonen ein Tötungsmotiv unterstellen, noch wird man die Anforderungen an eine detaillierte Darstellung des Behandlungswunsches ihres Angehörigen überziehen dürfen.

Als die Idee aufkam, der Gesetzgeber müsse die Schriftform der Patientenverfügung vorschreiben, war schnell klar, dass dann mündliche Patientenverfügungen, die nach bisherigem Recht wirksam und bindend waren, unter die mündlichen Behandlungswünsche des Patienten fallen und dort die gleiche Wirkung entfalten müssten. Genau das wurde auch Gesetz: Zwar wurde die Schriftform für die Patientenverfügung zum 1. 9. 2009 gesetzlich vorgeschrieben, mündliche Behandlungswünsche haben aber die gleiche Verbindlichkeit. Nachdem viele Ärzte und Pflegeheime gerne und rechtsirrig alles Mündliche als unverbindlich ablehnten, hat die Einführung der Schrifterfordernis für eine Patientenverfügung diese Haltung zuweilen noch verstärkt. So bewirkt das neue Gesetz nicht selten die Missachtung des mündlich vorausgeäußerten Patientenwillens, der ebenso verbindlich ist wie eine schriftliche Patientenverfügung. Was soll eine Willenserklärung in Schriftform, wenn die gleiche Erklärung in mündlicher Form und der – ohnehin niemals schriftliche – mutmaßliche Wille in gleicher Weise handlungsleitend sein müssen? Der Wille eines Menschen kann nicht unter Formzwang gestellt werden!

Der Ruf nach der Patientenverfügung in Schriftform suggeriert nicht nur die Unbeachtlichkeit des mutmaßlichen Willens, er wurde tatsächlich vielfach offen damit begründet. Gerade in der politischen Diskussion zum Patientenverfügungsgesetz wollten viele Verfechter der Schriftform von Patientenverfügungen erreichen, dass ausschließlich schriftlich vorliegende Verfügungen zu beachten seien. Natürlich sollte der Widerruf dann auch mündlich möglich sein, denn es sollte alles zulässig und wirksam sein, was zum Weiterleben führt, umgekehrt alles erschwert werden, was das Zulassen des Sterbens befördert. Das ging bis zu dem Postulat, dass das ersichtliche Wohlempfinden von Dementen als rechtswirksamer Widerruf einer Patientenverfügung gewertet werden müsse.

Im sogenannten Patientenverfügungsgesetz vom September 2009 wurde dann eine schriftliche Patientenverfügung als eine von drei gesetzlichen Möglichkeiten dafür verankert, den Willen des nicht entscheidungsfähigen Patienten zu ermitteln. Aufgenommen wurde auch die Regelung, dass auch die schriftliche Patientenverfügung formlos – und das heißt eben in vielen Fällen mündlich – widerrufen werden kann (§ 1901 a Absatz 1BGB). Natürlich muss ein solcher Widerruf auf einer entsprechenden Einsichtsfähigkeit beruhen.

 

Hat der Patient eine Patientenverfügung gemacht, um gerade zu verhindern, dass man über seinen Willen mutmaßt, wenn er selbst krankheitsbedingt nicht mehr entscheiden kann, dann liegt es in der Natur einer solchen Patientenverfügung, dass damit z.B. letzte Chancen der Verbesserung und die Möglichkeit einer Willensänderung gezielt vergeben werden. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn künftig viel mehr über Patientenverfügungen aufgeklärt würde. Aber es wird in unserem Rechtsstaat immer dabei bleiben, dass das Risiko für seine Entscheidung der Patient selbst trägt. Das Grundgesetz gibt uns auch das Recht, unaufgeklärt Entscheidungen zu treffen, selbst wenn wir uns im Zweifel damit schaden. Keine Norm zwingt uns zu leben!

Zeichen von Wohlbefinden in der letzten Lebensphase als Wunsch nach lebensverlängernder Behandlung auszulegen, ist schlicht unvertretbar. Sonne und Wärme empfinden auch all jene Alzheimerpatienten als wohltuend, die sich einen natürlichen Todeszeitpunkt ohne künstliche Lebensverlängerung wünschen. Man kann folglich auch Wohlbefinden nicht als Wunsch nach künstlicher Lebensverlängerung deuten. Hiermit wird nicht nur die Idee der Patientenverfügung ad absurdum geführt, sondern gleich die gesamte Hospizidee und Palliativmedizin auf den Kopf gestellt, die sich an der englischen Ärztin und Gründerin der Hospizbewegung Cicely Saunders orientiert, wenn sie sagt: »It’s not to give days to the life, but life to the days!«

Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den verbleibenden Tagen mehr Leben.

 

Jede ungewollte Lebensverlängerung verletzt unsere Selbstbestimmung und Menschenwürde. Das Grundgesetz schützt uns davor, Opfer einer staatlich normierten Menschenwürdedefinition zu werden. Menschenwürde ist ein in hohem Maße individuelles Rechtsgut. Das zeigt prägnant der folgende Fall, in dem eine extrem von allgemeinen Wertvorstellungen abweichende Lebenseinstellung eine sichere Aussage über den mutmaßlichen Willen zuließ: Walter R., 69, hatte keine Patientenverfügung, gehörte aber seit 40 Jahren einer Sekte an, die jede ärztliche Behandlung ablehnte. Er hatte konsequent nach dieser Überzeugung gelebt und sich bei mehreren schweren Erkrankungen nicht behandeln lassen. Als er eines Tages alle Anzeichen eines Herzinfarkts verspürte, rief er mit letzter Kraft seinen Bruder an, um sich zu verabschieden, und er informierte Glaubensbrüder, die für ihn aus religiösen Büchern lesen sollten. Der schockierte Bruder aber rief einen Notarzt, Walter R. wurde mit dem Hubschrauber in das Deutsche Herzzentrum in München transportiert, wo eine Notoperation vorgenommen wurde. Vorher begegnete noch der Sohn dem Vater, der sich empörte: »Ich will keine Behandlung, und deshalb werde ich auch den Hubschrauber nicht bezahlen!«

Infolge eines Narkosezwischenfalls verblieb Walter R. im irreversiblen Wachkoma. Dass er jetzt sterben wollte, stand für alle Beteiligten angesichts seiner vielfach geäußerten und »gelebten« Überzeugung zweifelsfrei fest. Nachdem sich das Pflegeheim weigerte, das Sterben zu begleiten, wurde er in sein eigenes Haus verlegt. Dort betreuten ihn die Familie und ein Pfleger, bis er an der Einstellung der Magensondenversorgung starb.

In diesem Zusammenhang sei an die Zeugen Jehovas erinnert, deren Glaube Bluttransfusionen verbietet, und zwar mit tödlicher Konsequenz, auch wenn man nicht schwer erkrankt, geschweige denn todesnah ist. Diese weitestreichende Selbstbestimmung wurde vom Bundesverfassungsgericht (NJW2002, 206) bestätigt. Eine Reichweitenbegrenzung der Patientenverfügung hinsichtlich der Art, des Stadiums oder der Prognose einer Erkrankung ist verfassungswidrig. So kam es auch zur gegenwärtigen gesetzlichen Regelung, wonach ein Patientenwille, der eine Behandlung verbietet, verbindlich ist, »unabhängig von Art und Stadium der Erkrankung« des Patienten (§ 1901 a Absatz 3BGB).

Es ist nichts Neues, dass nach ärztlicher Indikation behandelt werden muss, wenn, trotz aller Bemühungen, kein Patientenwille zu ermitteln ist. Die von Theoretikern so sehr kritisierte Vorgabe der sogenannten Kemptener Entscheidung des BGH (NJW1995, 204) ist ärztlicher Alltag: Lässt sich auch bei sorgfältigster Prüfung kein mutmaßlicher Wille des Patienten feststellen, muss die Behandlung oder Nichtbehandlung mit Kriterien gerechtfertigt werden, die allgemeinen Wertvorstellungen über die konkrete Situation des Patienten entsprechen. Ärzte sind dann also angehalten, das zu tun, was ihnen sinnvoll erscheint und in vergleichbaren Fällen getan wird (BGH vom 17. 3. 2003, NJW2003, 1588). Die Indikation steht als Voraussetzung für das ärztliche Handeln also immer vor der Ermittlung des Patientenwillens und wird zum alleinigen Entscheidungskriterium, wenn sich bei sorgfältigster Prüfung weder eine Vorausverfügung noch ein individuell-mutmaßlicher Wille ermitteln lassen. Steht am Ende aller Überlegungen nur Ratlosigkeit über die Therapiewahl, gilt der Grundsatz »in dubio pro vita« – im Zweifel für das Leben. Nach heutigem standesrechtlichem Verständnis besteht eine Lebenserhaltungspflicht des Arztes jedoch nur, wenn man von einem Lebenswillen der Mehrzahl von Patienten mit dem gleichen Krankheitsbild ausgehen kann. Allein die Möglichkeit der Lebenserhaltung ist kein hinreichender Grund für eine ärztliche Behandlung. Wir würden uns sonst allein dem Diktat des Machbaren beugen. Und nur wer das Diktat des Machbaren vertritt, kann auf die Idee kommen, der Patient müsse sich dagegen vorsorgend zur Wehr setzen!

Heute beschäftigen uns immer mehr Mandate, bei denen das Fehlen einer ärztlichen Indikation zur weiteren lebenserhaltenden Therapie den Behandlungsabbruch erzwingt. Ein Beispiel dafür ist das Schicksal von Heinrich L., 91. Er war vor sechs Jahren an Alzheimer erkrankt und lag seit drei Jahren mit einer PEG-Magensonde im Pflegebett – ohne Regungen, ohne Mimik, ohne Sprache, ohne Kommunikationsmöglichkeiten und trotz extremer Kalorienzufuhr bis auf 30 Kilo abgemagert. Es gab keine Patientenverfügung, und die Ermittlung des mutmaßlichen Willens gestaltete sich bei sehr einfachen Familienverhältnissen und einem wortkargen Sohn äußerst zäh und wenig ergiebig. Die von uns verneinte Indikation für die Lebensverlängerung wollten die Ärzte nicht anerkennen. Über ein Jahr dauerten die Bemühungen um Herrn L., bis schließlich der ehemalige Chefarzt des örtlichen Kreiskrankenhauses und leitende Arzt des Hospizes den Patienten besuchte und sich entsetzt fragte, wo hier noch eine Indikation zur Lebensverlängerung vorliegen könne. Am nächsten Tag erfolgte die Verlegung ins Hospiz. Dort konnte der Patient nach Einstellung der Versorgung über die PEG-Magensonde sterben.

Parallel betreuten wir einen Fall, der ähnlich gelagert war. Auch hier führte die Suche nach einem mutmaßlichen Willen zu keinem brauchbaren Ergebnis. Der Fall gelangte zu uns, als ein betreuungsgerichtliches Beschwerdeverfahren lief. Der behandelnde Arzt war schließlich mit uns der Meinung, dass es kein Therapieziel und damit keine Indikation für eine künstliche Lebensverlängerung gab. Damit war der Konflikt beendet, das Landgericht schloss das Verfahren, und die Patientin konnte im Pflegeheim nach Einstellung der künstlichen Zufuhr von Flüssigkeit und Nährlösung sterben.

Viele Wachkomapatienten nehmen, wie auch Heinrich L., die zugeführte kalorische Nahrung nach jahrelangem Koma nicht mehr auf. Manche Patienten werden zur Pflegeerleichterung knapp ernährt, wenige andere hingegen wirken normal oder überernährt. Die meisten unserer Mandanten sehen nach jahrelangem Muskelabbau jedoch extrem ausgezehrt aus. So war es auch bei Maria P. aus Oberbayern, 74, deren Angehörige uns im Juli 2006 um Hilfe baten. Maria P., seit Jahren zuckerkrank, lag nach einem Schlaganfall im Koma, und es war medizinisch bald klar, dass sie nie mehr aufwachen können würde. Nach einem Jahr stellten sich bei der dann 75-Jährigen erste Anzeichen einer Mumifizierung am rechten Fuß ein, das Gewebe wurde schwarz und steinhart. Als die Patientin zur Amputation des Fußes ins örtliche Kreiskrankenhaus kam, waren die Ärzte nicht mehr bereit, die Frau zu operieren. Es wäre auch nicht bei nur einer Amputation geblieben. In einem Konsensgespräch zwischen den Ärzten des Krankenhauses, dem Arzt aus dem Pflegeheim und dem dortigen Pflegedienstleiter wurde im Einvernehmen mit den Söhnen beschlossen, dass die Patientin sterben durfte. Dazu wurde sie in das Heim zurückverlegt, und der dort verantwortliche Arzt verfügte die Einstellung der künstlichen Ernährung. Doch kurze Zeit später begab sich die zuständige Pastoralreferentin des kirchlichen Trägers des Pflegeheims vor Ort und ordnete die weitere künstliche Ernährung an. Die Söhne hatten von dem Vorgang anfangs nichts mitbekommen, sie glaubten, die Mutter würde eben langsam sterben, und der Hausarzt brachte wegen seiner Abhängigkeit vom Pflegeheim nicht den Mut auf, die Einhaltung seiner ärztlichen Anordnung durchzusetzen. So schritt die Mumifizierung der Beine von Maria P. fort. Da die Pflegekräfte die beiden Beine immer in Verbände gewickelt hatten, bekamen die Söhne von Maria P. anfangs davon nichts mit. Schließlich kam es zur Einschaltung unserer Kanzlei. Beim Besuch am Krankenbett bot sich uns ein Bild des Grauens, das ich nie vergessen werde. Als die Schwester die Verbände entfernte, zeigte sich das rechte Bein dünn, rabenschwarz und steinhart mumifiziert bis zum Knie, wo man die Kniescheibe und Sehne sehen konnte. Am linken Fuß begann die Mumifizierung ebenfalls. Beim Betten mussten die Pflegekräfte aufpassen, dass das rechte Bein nicht abbrach. Der Heimleiter meinte lapidar, man könne nichts machen. Die Patientin habe ja keine Patientenverfügung, und man könne sie schließlich nicht verhungern und verdursten lassen. Die Pflegekräfte begründeten ihr Verhalten mit der Liebe zu ihrer Patientin, die Kinder sagten, sie seien es ihrer Mutter aus Liebe schuldig, sie endlich sterben zu lassen. Frau P. wurde nach unserer Einschaltung unverzüglich in das örtliche Kreiskrankenhaus verlegt, wo sie nach Einstellung der künstlichen Ernährung verstarb.

Wem käme hier die Frage nach dem Willen der Patientin über die Lippen? »Das kann niemand wollen!«, urteilte völlig korrekt der Chefarzt des Krankenhauses, was nichts anderes bedeutet als das Fehlen der Indikation sowohl für eine Amputation als auch für eine lebenserhaltende Therapie.

Caritas und Humanitas (Liebe und Menschlichkeit) als Leitlinien der Altenpflege waren hier einer Abstumpfung und Verrohung der Gefühle der Pflegekräfte gewichen. Kann man sich vorstellen, täglich ein schwarzes mumifiziertes Bein einer komatösen 75-jährigen Patientin zu verbinden?

Diese erschütternden Beispiele aus unserer anwaltlichen Praxis sind keine Extremfälle oder Ausnahmen in der Versorgung alter oder kranker Menschen in Deutschland. Im Gegenteil wurden mir in Gesprächen mit Pflegekräften, auf Kongressen, bei Schulungen und in meiner langjährigen Tätigkeit in Palliativ-Care-Fortbildungen für Pflegekräfte die Denk- und Verhaltensweisen, die solche Fälle überhaupt erst schaffen, anhand vieler Beispiele belegt. In deutschen Pflegeheimen ist Zwangsernährung über viele Jahre bis zur Lungenentzündung oder zum Alterstod verbreiteter Alltag. Erst in den letzten Jahren können wir einen beginnenden Wandel im Umgang mit den Patienten beobachten. Aber auch nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs, das den Fall dieses Buches betrifft, haben wir eine ganze Reihe ähnlich extremer Fälle übertragen bekommen.

Mit Substitution kann die Medizin Leben erhalten, ohne zu heilen. Das gibt uns aber kein Recht, Lebenserhaltung um der bloßen Lebenserhaltung willen zu einem Regelfall zu machen, gegen den sich der Patient vorsorgend zur Wehr setzen muss – womöglich noch schriftlich oder mit weiteren Formerfordernissen. Nicht der Patient muss rechtfertigen, dass er sterben will, wenn seine Zeit gekommen ist. Rechtfertigen muss sich, wer Leben künstlich erhält oder verlängert.

Der Gesetzgeber sollte die formalen Voraussetzungen für die Vornahme lebenserhaltender Maßnahmen in solchen Fällen am Ende des Lebens verschärfen, um die Selbstbestimmung und ein Sterben in Würde effektiv zu schützen. So könnte man zum Beispiel das Unterlassen oder die Nichtdokumentation einer Wertanamnese, eines definierten Therapiezieles bzw. einer Indikationsstellung vor Beginn einer lebenserhaltenden Therapie mit Bußgeld bedrohen. Das würde die Kirche wieder ins Dorf und die Kunst des Zulassens des Sterbens als moderne Form der Ars moriendi, also der Kunst des Sterbens, auf den Stoffplan der Mediziner bringen.

Die tragischen Geschehnisse, von denen ich zusammen mit Elke Gloor in diesem Buch berichte, machen die gesamte Problematik der Patientenrechte am Lebensende an einem konkreten Fall deutlich. Auf Wertungen haben wir dabei weitgehend verzichtet, die in vielen Anwalts- und Gerichtsordnern dokumentierten Fakten sprechen für sich.

Elke Gloor über das Leiden ihrer Eltern

Meine Mutter Erika Küllmer wurde am 19. 7. 1931 als älteste von zwei Töchtern hessischer Geschäftsleute geboren. Ihr Vater war Tischlermeister mit einer eigenen Firma, und da meine Mutter viel im Betrieb mithelfen musste, hat sie sehr früh gelernt, selbstständig zu sein. Im März 1954 heirateten meine Eltern. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Meine Mutter versorgte den Haushalt und kümmerte sich um unsere Erziehung. Mein Vater arbeitete beim Bundesgrenzschutz. Wir sind deshalb häufiger umgezogen, was immer wieder zu neuen Freunden und Bekannten führte. Meine Mutter habe ich als sehr lebenszugewandte und kontaktfreudige Frau in Erinnerung, die leidenschaftlich gerne tanzte und bei großen Festen und Feierlichkeiten immer die Erste auf der Tanzfläche war.

Eine Tragödie brach über unsere Familie 1991 herein. Meine Schwester nahm sich das Leben. Über ihren Tod hat meine Mutter nie gesprochen, sie zog sich zurück und wurde sehr depressiv. Ich habe ihr in dieser schweren Zeit immer wieder meine Hilfe angeboten und meine Eltern häufig besucht. Meine Mutter hat es dann irgendwie aus eigenen Kräften geschafft, aus diesem seelischen Tief herauszukommen. Gemeinsam mit meinem Vater wollte sie einen schönen Lebensabend verbringen, doch erneut prüfte das Schicksal meine Eltern schwer: Im Frühjahr 2002 erhielt ich einen verzweifelten Anruf meiner Mutter. Mein Vater hatte eine Hirnblutung erlitten und meine Mutter furchtbare Angst davor, dass er sterben würde. Zuerst wurde er im Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld behandelt. Mitte März kam er zur Rehabilitation nach Bad Sooden-Allendorf, Anfang April wurde er wegen erneuter Beschwerden in das Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld verlegt und auf Grund einer Verschlechterung seines Zustandes am 10. 4. 2002 zur Operation eines Subduralhämatoms rechts im Klinikum Kassel aufgenommen. Er litt unter einer Halbseitenlähmung und Wortfindungsstörungen. Nachdem er mehrere Tage auf der Intensivstation verbracht hatte und die Blutung durch eine Operation zum Stillstand gebracht werden konnte, klagte er während des stationären Aufenthaltes plötzlich über starke Schmerzen im Unterbauch. Ein ausgeheilt geglaubtes Krebsleiden war wieder ausgebrochen.

Mein Bruder Peter Küllmer hat sich in dieser Zeit sehr um unsere Mutter gekümmert, er hat sie mehrmals nach Kassel gefahren, damit sie unseren Vater besuchen konnte, und bei dieser Gelegenheit sind sie auch bei mir vorbeigekommen. Ich habe meine Mutter in dieser Zeit als sehr hilflos, angstbesetzt und nachdenklich erlebt.

Meine Eltern waren damals seit fast 50 Jahren verheiratet. Da meine Mutter keinen Führerschein besaß, war sie schon in alltäglichen Lebenssituationen von meinem Vater abhängig. Mir wurde bewusst, dass meine Eltern immer gebrechlicher geworden waren und es wichtig sein würde, für den Notfall vorzusorgen. Die plötzliche Erkrankung meines Vaters hatte die ganze Familie erschüttert.

Am Tag seiner Entlassung aus dem Krankenhaus habe ich meinen Vater abgeholt und mit seinem Auto nach Hause bei Bad Hersfeld gefahren. Meine Mutter war sehr erleichtert und glücklich, dass er wieder bei ihr sein konnte. Wir waren alle froh über den glimpflichen Verlauf der Hirnblutung bei meinem Vater, und er selbst war besonders glücklich. Dennoch beschäftigten mich die Ereignisse in der Folgezeit sehr. Ich machte mir Gedanken über die Zukunft und das Alter meiner Eltern. Mein Bruder und ich würden uns ja kümmern müssen, wenn ihnen irgendetwas passieren sollte, wenn sie krank oder pflegebedürftig werden würden.

Ein besonders einschneidendes Erlebnis für meine Mutter war der Tod ihrer Mutter, die sie sehr geliebt hatte. Sie war an einem schönen Sommertag im August 1976