Sterben für Kabul - Marco Seliger - E-Book

Sterben für Kabul E-Book

Marco Seliger

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Beschreibung

Dieses Buch handelt vom Kämpfen, Töten und Sterben deutscher Soldaten in Afghanistan. Die Gesellschaft, in deren Auftrag die Soldaten in den Kampf geschickt werden, hat die Tendenz, den Krieg zu verdrängen oder zu verharmlosen. Beides ist inakzeptabel, nicht nur aus Sicht und im Sinne der Soldaten, sondern aus Gründen demokratischer Selbstvergewisserung. Wenn Demokratien Krieg führen, haben ihre Bürger das Recht und die Pflicht, die Gründe, für die Mitbürger Tausende Kilometer entfernt ihre Gesundheit riskieren, für die sie mitunter töten und sterben, regelmäßig neu und kritisch zu überprüfen. Dies ist in über zehn Jahren Afghanistankrieg nicht geschehen. Der Titel erscheint als reflowable ebook.

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MARCO SELIGER

Sterben für Kabul

MARCO SELIGER

Sterben für Kabul

Aufzeichnungen über einen verdrängten Krieg

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8132-0935-8e-ISBN 978-3-8132-1000-2© 2011 by E.S. Mittler & Sohn GmbH, Hamburg, Berlin, BonnEin Unternehmen der Tamm MediaAlle Rechte vorbehalten

Bild Titelseite: Michael Schreiner

Layout und Produktion: Marisa TippeProduktionsmanagement: impress media GmbH, Mönchengladbach

Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Zeittafel

Ein Abriss der Geschichte Afghanistans

Landkarte

Afghanistan

1. Kapitel

Was uns die Geschichte lehrt

2. Kapitel

»Landser-Gedudel«

3. Kapitel

Die Kriegserklärung

4. Kapitel

Ruhig und stabil?

5. Kapitel

Drogenhandel? Nicht unser Problem

6. Kapitel

Der grinsende Mörder

7. Kapitel

Afghanisch-pakistanische Tragödien

8. Kapitel

Ein gefährlicher Sumpf

9. Kapitel

Krieg? Welcher Krieg?

10. Kapitel

»Ums Leben gekommen«

11. Kapitel

Das Leben der anderen

12. Kapitel

Kaninchen vor der Schlange

13. Kapitel

Vorboten eines Desasters

14. Kapitel

Den Bergen zuhören

15. Kapitel

Ein deutsches Desaster

16. Kapitel

Neues Konzept, alte Probleme

17. Kapitel

Tage des Tötens, Tage des Sterbens

18. Kapitel

Im Irrgarten

19. Kapitel

Die Wende?

20. Kapitel

Tage des Zorns

Epilog

Danksagung

Gefallen in Afghanistan

Dieses Buch ist den deutschen Soldaten gewidmet,die in Afghanistan gekämpft haben,die dort verwundet wurden oder gefallen sind.Es soll die Deutschen, ihre Politiker unddie militärische Führung der Bundeswehran ihre Verantwortung für die Soldaten erinnern.

Prolog

Das Beerdigungsunternehmen hat den Sarg in einer kleinen Kapelle aufgebahrt. »Wollen Sie sich das wirklich antun?«, fragt der Bestatter. »Wollen Sie den Leichnam wirklich sehen?« Kathrin Pauli nickt. In dem Sarg liegt ihr Sohn, ihr geliebtes Kind. Sie möchte ihn noch einmal sehen, Abschied nehmen, bevor er für immer verschwindet. Neben ihr steht Kurt Pauli, ihr Ehemann, Florian Paulis Vater. Er hält ihre Hand, sie hält seine. In dieser schweren Zeit stützen sie sich gegenseitig. Sie würden sonst zusammenbrechen. Der Krieg für Deutschland hat von ihnen den höchsten Preis abverlangt, den Eltern zahlen können. Sie haben ihren Sohn verloren, Florian Pauli, Oberfeldwebel, 26 Jahre alt, Vater zweier Kinder. Gefallen in Kotub, Afghanistan, am 7. Oktober 2010. Getötet durch Genickbruch bei einem Selbstmordanschlag vor einem deutschen Außenposten an einer Brücke über den Fluss Baghlan, Gesicht und Oberkörper mit Löchern übersät, gerissen von Hunderten Splittern. Es hat gedauert, bis die Thanatologen den Leichnam einigermaßen erträglich hergerichtet hatten.

Mit einem Ruck schieben die Bestatter den Sargdeckel zur Seite. Kathrin und Kurt Pauli treten an den Sockel heran. Das Licht im Raum ist gedämpft, sie können nicht alles im Inneren des Holzkastens erblicken. Aber eines erkennen sie: Es ist nicht mehr das Gesicht, das sie kannten. Wächsern die Haut, mit auffälligen Flecken dort, wo kosmetische Korrekturen vorgenommen worden sind. Es sind viele Flecken. Florian Paulis Gesicht ist zersiebt worden. Seinen Körper umhüllt weißes Tuch. Doch mehr als das Gesicht wollen die Paulis nicht sehen. Sie stammeln, sie schluchzen, das ganze Elend des ersten deutschen Krieges nach 1945 füllt den Raum. Es ist das unendliche Leid von Eltern, die ihr Kind zu Grabe tragen müssen. Die Bestatter halten respektvoll Abstand, und als Kathrin und Kurt Pauli vom Leichenbett ihres Sohnes zurückgetreten sind, kommen die beiden schwarz gekleideten Männer wieder heran, um den Deckel behutsam auf den Sarg zurückzuheben.

Am Tag darauf trauert die Bundesrepublik Deutschland offiziell um Oberfeldwebel Florian Pauli. Vor der Feier empfängt der Verteidigungsminister die Eltern. Er heißt Karl-Theodor zu Guttenberg und ist deutlich jünger als Kathrin und Kurt Pauli. Im Nebenraum einer Kirche ist ein Tisch gedeckt. Kuchenduft erfüllt den Raum, Kaffee dampft. Gemeinsam mit Volker Wieker, dem ranghöchsten Soldaten des Landes, wartet Guttenberg bereits, als die Paulis die Kirche erreichen. Kameraden und Freunde ihres Sohnes, die mit ihm in Afghanistan gekämpft haben, begleiten sie. Kathrin Pauli möchte, dass sie zu Guttenberg ungeschminkt vom Krieg berichten. Von der mangelhaften Ausrüstung und von ihren Zweifeln, die sie am Sinn ihres Kämpfens überkommen haben. Florian hätte genau das gewollt, glaubt Kathrin Pauli. Er war ein begeisterungsfähiger, aber kritischer Kopf.

Doch vor der Tür zum Minister wachen die Verhinderer, Abwiegler und Bedenkenträger. Offiziere, Ministerielle, denen es nicht um die Anliegen der Trauernden, sondern um das Protokoll geht. Zum Minister dürfen nur Angehörige – keine Freunde, keine Kameraden, erklären sie den Paulis. Es ist die Angst des ministeriellen Apparats, von Generälen und Beamten, die sich in diesem Verhalten zeigt. Die Wahrheit über den Krieg hat der Minister immer noch von ihnen und nicht von irgendeinem Feldwebel erfahren. »Bringen Sie mit, wen Sie wollen«, hatte zu Guttenberg den Paulis vor einigen Tagen ausrichten lassen. Entweder alle oder keiner, sagt Kathrin Pauli vor der Kirche. Schließlich dürfen sie alle hineingehen.

Als Florian Pauli am 7. Oktober 2010 stirbt, beklagt die Bundesrepublik Deutschland den 44. Gefallenen in Afghanistan. Die ersten beiden Toten am Hindukusch hießen Thomas Kochert und Mike Rubel, zerfetzt beim Auseinanderbauen einer Flugabwehrrakete am 6. März 2002 in Kabul. Knapp einhunderttausend deutsche Soldaten haben ihrer Heimat seit Januar 2002 in Afghanistan gedient, Söhne und Töchter, Ehemänner und Ehefrauen, Väter und Mütter. Meist junge Menschen mit Eltern wie Kathrin und Kurt Pauli, die ihr Kind in dieses ferne Land ziehen lassen mussten in der ständigen Angst davor, dass es dort Leute gibt, die ihm nach dem Leben trachten. Eltern, die nicht daran dachten, dass ebenso auch ihr Kind anderen nach dem Leben trachten könnte. Dass ihr eigenes Kind im Krieg dazu gezwungen sein könnte zu töten, um zu überleben. Dass es den Tod als Genossen hat, einen schnellen Spieler, gegen den höchster Einsatz gespielt werden muss. Dass Kinder aus dem Krieg verändert zurückkommen, leer, unruhig, unverstanden. Dass plötzlich eine riesige Kluft klafft zwischen Kind und Eltern, zwischen Kriegsheimkehrer und Daheimgebliebenen, zwischen Armee und Gesellschaft.

Der Krieg am Hindukusch hat das Leben von Kathrin und Kurt Pauli dramatisch verändert. Ihr Leben und das Leben Tausender deutscher Soldaten und ihrer Angehörigen. Der Bundeswehreinsatz in Afghanistan hat tiefe Spuren in Deutschland hinterlassen, was sich zu dem Zeitpunkt, als darüber entschieden wurde, offenbar niemand vorstellen mochte. Peter Struck, in den Jahren 2002 bis 2005 Bundesverteidigungsminister, äußerte kurz nach seinem Ausstieg aus der Politik, mit einer solchen Eskalation der Gewalt in Afghanistan habe er damals nicht gerechnet. Damals, das war am 12. September 2001, die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington lagen einen Tag zurück. Am Nachmittag hatte der NATO-Rat in Brüssel das erste Mal in der Geschichte der Nordatlantischen Allianz den Bündnisfall ausgerufen.

Am späten Abend verlas Bundeskanzler Gerhard Schröder eine Erklärung der rotgrünen Bundesregierung. Schröder sagte: »Die terroristischen Schläge sind nicht nur Anschläge gegen die Menschen in den Vereinigten Staaten, sondern auch Anschläge gegen die gesamte zivilisierte Welt. Also auch Anschläge gegen unsere eigene Freiheit, gegen unsere eigenen Werte. Deshalb leisten wir Beistand in völliger Übereinstimmung mit unseren eigenen moralischen Wertvorstellungen.« Zum Ende der Erklärung sagte Schröder jenen Satz, der bis heute als das Startsignal für den deutschen Afghanistaneinsatz gilt: »Als es um die Verteidigung der Freiheit Berlins ging, hat John F. Kennedy gesagt: ›Ich bin ein Berliner.‹ Das war der Ausdruck seiner unglaublichen Solidarität. Heute haben wir Anlass, gerade wir Deutschen, diese Solidarität zurückzugeben, indem wir sagen: Wir sind solidarisch mit dem amerikanischen Volk.«

Deutschland bekundete den Vereinigten Staaten seine Solidarität – und folgte ihnen bald darauf in den Krieg am Hindukusch. Amerika wollte vor allem die Hintermänner der Terroranschläge in New York und Washington jagen, die Bundesrepublik wollte Afghanistan in einen funktionierenden Staat umwandeln. Die Bundeswehr erhielt den Auftrag, der afghanischen Regierung um den Interimspräsidenten Hamid Karsai zu helfen, die Sicherheit im Land aufrechtzuerhalten. Sicherheit galt als wichtigste Voraussetzung, um das Ziel der Weltgemeinschaft in dem kriegszerstörten Land zu erreichen: Aufbau und Demokratisierung. Doch als die Bundeswehr nach Kabul kam, gab es keine Sicherheit, weder in der Hauptstadt noch im Land. Sie musste erst hergestellt werden. Daran arbeiten die deutschen Soldaten bis heute – und mit ihnen inzwischen 150.000 Soldaten aus fast fünfzig Ländern.

Das Fazit nach zehn Jahren Einsatz fällt ernüchternd und in Anbetracht der vielen Opfer auf allen Seiten geradezu erschütternd aus: Afghanistan ist noch immer kein Staat, allenfalls eine Ständerepublik, ein armes, unterentwickeltes Herrschaftsgebilde ungezählter Lokalfürsten, ein Land im vor sich hin schwelenden Bürgerkrieg. Die NATO, das Militärbündnis der mächtigen westlichen Industrienationen, verkämpft sich bei dem Versuch, an der Seite der Regierung in Kabul eine stark bis fanatisch motivierte Guerillabewegung in Schach zu halten. Deutschland steckt mitten in einem Krieg, den keine Seite gewinnen kann. Ein Krieg, der immer weitergehen wird, wenn ihn nicht eine Seite für beendet erklärt. Die Bundesrepublik zahlt viel Geld dafür und mit dem Leben ihrer Soldaten – und ist sich inzwischen überhaupt nicht mehr im Klaren darüber, was ihre Armee in Afghanistan eigentlich erreichen soll. Klar ist nur, dass deutsche Soldaten töten und sterben, dass Politiker leugnen und verharmlosen, dass Bürger ignorieren und schweigen. Die Haltung der Deutschen zum Krieg in Afghanistan war von Anfang an so widersprüchlich wie abenteuerlich. Sie haben sich für einen Krieg entschieden, von dem sie später nichts mehr hören wollten. Doch Politik, Bundeswehr und Gesellschaft hätten wissen müssen, dass den, der das wilde Land am Hindukusch mit seinen unbezähmbaren Menschen befrieden will, der Kampf erwartet. Sie haben es verdrängt – oder schlicht und einfach die Geschichte Afghanistans nicht gekannt.

Dieses Buch wäre ohne die Bereitschaft vieler Soldaten, über ihre Erlebnisse und Erfahrungen, Gedanken und Gefühle, Ängste und Wünsche zu sprechen, nicht zu realisieren gewesen. Ich habe während meiner Reisen nach Afghanistan und der Gespräche mit Heimkehrern kaum einen Soldaten kennengelernt, der den Krieg geliebt hätte. Es gibt Soldaten, die meinen, sie müssten das, was sie jahrelang trainiert haben, endlich auch einmal anwenden. Denen es einen Kick verschafft, wenn sie unter Feuer liegen und spüren, wie nah Leben und Tod in einem einzigen kurzen Moment beieinander liegen. Doch das ist eine Minderheit. Es sind mitunter diejenigen gewesen, die den Kampf leichtfertig gesucht und dafür teilweise bitter bezahlt haben. Die meisten Soldaten hassen den Krieg. Sie wollen tief im Grunde ihres Herzens nur eines: überleben und gesund nach Hause zurückkehren.

Ihre blutige, schuldbeladene Geschichte hat den Deutschen das Kriegführen ausgetrieben. Vor zehn Jahren aber entschieden ihre politischen Vertreter, die Bundeswehr in einen Konflikt zu schicken, den sie als gerechten Krieg definierten. Ein Großteil der Menschheitsgeschichte ist durch Kriege geprägt, die im Namen der Gerechtigkeit geführt worden sind. Dieser Auffassung sind die deutschen Politiker bis heute: »Unsere Sache ist gerecht!« Von Beginn an ging es ihnen darum, die Gewalt in Afghanistan zu begrenzen. Im Ergebnis ist das Gegenteil eingetreten. Je mehr Soldaten der Westen an den Hindukusch geschickt hat, desto stärker eskalierte die Lage. Die Bundeswehr war darauf nicht vorbereitet. Sie wird inzwischen rund um die Welt eingesetzt, verfügt aber nicht über die Ausrüstung und auch nicht über das mentale Verständnis einer Krieg führenden Nation. Der Leitspruch der deutschen Generationen nach 1945 lautete: »Nie wieder Krieg!« Auch die Bundeswehr ist davon geprägt worden. Umso schwerer fällt es einem Großteil ihrer Soldaten heute, Töten und Sterben als ein Wesensmerkmal ihres Berufes anzuerkennen. Umso schwerer fällt es aber auch den Deutschen zu akzeptieren, dass es zu den Aufgaben von Soldaten gehört, Menschen zu töten.

Ein Staat unterhält eine Armee, damit sie im Falle ihres Einsatzes seine Bürger verteidigt. Verteidigen bedeutet, sich zu wehren. Und konkret auf Soldaten bezogen heißt es, sich mit tödlicher Waffengewalt zu wehren. Das ist es, wofür sich der Deutsche Bundestag und damit die Deutschen im Herbst 2001 entschieden haben. Sie schickten ihre Armee in einen Krieg, damit sie Terroristen von Deutschland und seinen westlichen Verbündeten fern hält, damit sie einem Land, das Terroristen eine Heimstatt war, wieder auf die Beine hilft. Im Laufe der Jahre wurde daraus ein Krieg gegen eine Aufstandsbewegung, der die Bundeswehr verändert hat. Ein Krieg, in dem deutsche Soldaten töten und getötet werden. In dem Menschen zerstört und Familien zerrissen werden. Und in dem das Leben in einer Krieg führenden Nation – Deutschland – weiterläuft, als gehe das, was in 5.500 Kilometer Entfernung den eigenen Mitbürgern geschieht, niemanden etwas an. Als sei es eine private Angelegenheit von Frauen und Männern in Uniform, sich fern der Heimat verwunden oder töten zu lassen.

Dieses Buch soll Soldaten wie Florian Pauli eine Stimme geben. Es soll den Deutschen, ihren politischen Vertretern und der vielfach selbstherrlichen Militärelite auf eindringliche, mitunter schmerzliche Weise vor Augen führen, warum und wie Soldaten in diesem Krieg gestorben sind.

Ich danke allen Soldaten, die mir geholfen haben, dieses Buch zu schreiben. Viele von ihnen sind auf den folgenden Seiten mit ihrem korrekten Namen genannt. Einige aber haben mich gebeten, ein Pseudonym zu verwenden.

Zeittafel – Ein Abriss der Geschichte Afghanistans

Afghanistan

Grafik: Ruwen Kopp

1. Kapitel | Was uns die Geschichte lehrt

Afghanistan, Mitte 19. Jahrhundert

Die Höfe gleichen Festungen: vier bis sechs Meter hohe fensterlose Lehmmauern, an der Ecke ein Wachturm, am Eingang ein eisenbewehrtes Tor. Mehrere dieser Behausungen hinter- und nebeneinander bilden ein Dorf. »Die Afghanen sind ein tapferes, zähes und freiheitsliebendes Volk«, schrieb Friedrich Engels vor mehr als 150 Jahren. »Nur ihr Hass auf jede Herrschaft und ihre Vorliebe für persönliche Unabhängigkeit verhindern, dass sie eine mächtige Nation werden.« Afghanistan ist ein Land im Schatten der Geschichte. 1801 wurde der Name erstmals offiziell erwähnt. Es hat einige Versuche gegeben, das Land aus seiner Isolation zu holen. Die Briten griffen dreimal an. Sie wollten ihre Vormachtstellung in der Region im Kampf mit dem zaristischen Russland sichern. In ihrem »Great Game« lieferten sich das Zarenreich und das Empire einen absurden Wettbewerb um Macht und Einfluss. Die Briten waren überzeugt davon, Russlands Vormarsch nach Indien nur abwehren zu können, wenn sie Afghanistan kontrollierten. Zwischen 1838 und 1919 führten sie dreimal Krieg am Hindukusch. Sie scheiterten verlustreich. Afghanistan wurde zum Friedhof für Tausende britische, später sowjetische und noch später amerikanische und andere westliche Soldaten.

Den ersten Anlauf unternahmen die Briten am 25. April 1839 – und ihr Vorgehen mutet aus heutiger Sicht wohlbekannt an. Etwa 21.000 Soldaten setzten über den Indus. Am 7. August marschierten sie kampflos in Kabul ein und setzten ihren Kandidaten Schah Shudscha anstelle des russlandfreundlichen Emirs Dost Mohammad auf den Thron. Das Volk lehnte die Marionette ab. Die Briten mussten den neuen Emir schon bald stützen und beschützen. Sie besetzten Afghanistan, errichteten eine große Garnison in Kabul und stationierten kleinere Truppenkontingente in anderen Städten. Wie in ihren Kolonien üblich, richteten sie sich in ihrem Überlegenheitsgefühl mit allem Komfort ein. Sie scherten sich nicht um Kultur und Religion und machten sich sogar an die Frauen heran, die in Afghanistan für Fremde unantastbar sind.

In Kabul stiegen die Preise. Breite Schichten der Bevölkerung verarmten und machten die Besatzer dafür verantwortlich. Viele britische und indische Soldaten ließen Frauen und Hausrat kommen, mit denen sie sich in kaum befestigten Kasernen in einer sumpfigen Senke außerhalb der Stadt einrichteten. Munition und Vorräte wurden unter Missachtung elementarster militärtaktischer Grundsätze weit entfernt von ihren Kasernen untergebracht. Ganz wohl schienen sich die Briten jedoch schon damals nicht gefühlt zu haben. Als General John Keane, der Befehlshaber der Truppen, im Oktober 1839 zurück nach Bombay aufbrach, soll er den jungen Leutnant Henry Durand vor der kommenden Katastrophe gewarnt haben. Es war der Vater jenes Mortimer Durand, der 1893 als Außenminister der englischen Verwaltung in Britisch-Indien den bis heute konfliktträchtigen Grenzverlauf zwischen Afghanistan und Pakistan willkürlich durch paschtunisches Stammesgebiet festlegte und es den Briten damit ermöglichte, die paschtunischen Stämme gegeneinander auszuspielen. Mortimer Durand verhalf dem Empire mit diesem diplomatischen Schachzug dazu, den Unruheherd Afghanistan leichter zu kontrollieren. Der einstige Vorteil hat sich jedoch längst als Fluch erwiesen. Entlang der Durand-Linie, der heutigen Grenze zwischen Pakistan und Afghanistan, gibt es keine Staatsgewalt, keine Polizei und keine Armee. Es gibt nur die Ordnung der paschtunischen Stämme. Hier fanden in den 80er-Jahren die Mudschaheddin, später Osama bin Laden und sein Terrorgefolge und heute die Taliban mit ihren fundamentalistischen arabischen Unterstützern Unterschlupf.

General Keane behielt recht. Zunächst schenkten die Briten den zunehmenden Unruhen in den Provinzen nicht die nötige Aufmerksamkeit. Dann wurde der Krone die Expedition am Hindukusch zu teuer. Gespart wurde nicht bei den Truppen, sondern bei den verbündeten afghanischen Milizen. Sie wechselten prompt die Seiten. Am 2. November 1841 brach in Kabul der Aufstand los.

Die Kolonialtruppen wurden von General Elphinstone befehligt, einem unentschlossenen, hilflosen alten Mann, der an Rheuma und Fieber litt und ständig widersprüchliche Befehle gab. Er nahm an, die Aufständischen seien schwach und einfach zu besiegen. Doch schon bald wurden die Soldaten in ihren Kabuler Kasernen von den Stämmen belagert. Von Hunger und Kälte zermürbt, wurden die Kampftruppen aufgerieben und teilweise vernichtet. Schließlich kapitulierten die Briten. Sie handelten freien Abzug aus und sollten zugleich jeglichen Einfluss in Afghanistan verlieren. Am 6. Januar 1842 verließen sie mit 4.500 Kampftruppen und 12.000 Familien- und Trossangehörigen Kabul in Richtung Indien. Sie nahmen die Straße nach Jalalabad. Sie führte in den Tod. Schnee, Frost und Nahrungsmangel hatten eine Wirkung wie bei Napoleons Rückzug aus Moskau. Die Truppen wurden von Kälte und Hunger dahingerafft und von pausenlosen Angriffen wutentbrannter afghanischer Stammeskrieger aus dem Hinterhalt gepeinigt. Der Khurd-Kabul-Pass war von Leichen übersät. Er wurde fast allen Soldaten und ihren Begleitern zum Grab. Es war das größte Militärdebakel der britischen Kolonialgeschichte. Der gängigen Überlieferung zufolge überlebte mit dem Militärarzt Dr. William Brydon nur ein einziger Mann den Todesmarsch. Tatsächlich erreichten einige Verwundete und Versprengte mehr die Garnison in Dschalalabad lebend.

Eine Begebenheit wie eine Metapher, die bis heute für Invasionen in dieser Weltgegend gilt. Doch Imperien lernen offensichtlich nicht. Sie verdrängen ihre Niederlagen. Die Briten schickten umgehend eine Strafexpedition und richteten ein Massaker an der Bevölkerung an. Im Oktober 1942 zogen sie sich vollständig nach Indien zurück. Zwei weitere Male versuchten sie, Afghanistan zu unterwerfen. Alles, was sie erreichten, war ein Schutzvertrag mit Kabul, der die Russen aus dem Land fernhielt. Als die Briten Afghanistan, vom Ersten Weltkrieg geschwächt und vom Ärger mit aufständischen paschtunischen Stämmen genervt, 1919 die volle Unabhängigkeit zugestehen mussten, war die Sowjetunion der erste Staat, der die neue Nation anerkannte. Es war der Beginn einer langen Partnerschaft, vor allem der Militärs. Über Jahrzehnte übte die sowjetische Armee großen Einfluss auf die afghanischen Streitkräfte aus.

Doch eine weitere europäische Macht entwickelte plötzlich ein Interesse an dem Land am Hindukusch. Wie zuvor Russland und das britische Empire war auch sie von reinem machtpolitischen Kalkül getrieben. 1915 sollte der bayerische Artillerieoffizier Oskar von Niedermayer im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. den afghanischen Emir Habibullah auf die Seite der Mittelmächte ziehen und zum »wilden Aufstande« gegen Großbritannien und Russland aufstacheln. Deutschland wollte seine Kriegsgegner in einen Mehrfrontenkrieg verwickeln. Doch der Emir in Kabul entschied sich, neutral zu bleiben. Gleichwohl hinterließ die Niedermayer-Expedition bleibenden Eindruck am Hindukusch. Der 1916 ausgehandelte deutsch-afghanische Vertrag brachte dem Emir die Anerkennung seines Landes durch eine europäische Großmacht ein. Die Afghanen haben das den Deutschen bis heute nicht vergessen.

Afghanistan, Anfang 20. Jahrhundert

Drei Jahre nach dem Auszug Niedermayers aus Kabul im Mai 1916 ertrotzten die Afghanen ihre Unabhängigkeit von Großbritannien – um gleich darauf diplomatische Beziehungen zu Deutschland aufzunehmen. Nach der Ermordung von König Habibullah im Jahr 1919 bestieg sein Sohn Aman Ullah den Thron. Er modernisierte den Staat, schuf eine Verwaltung und führte die Schulpflicht ein. Er orientierte sich an Deutschland. Es entwickelte sich eine enge wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Zunächst waren es Geschäftsleute, Techniker, Ausbilder und Diplomaten, die eine deutsche Präsenz in Afghanistan begründeten. Sie bauten Schulen, Fabriken, Straßen und Krankenhäuser. 1921 begannen die Regierungen beider Staaten mit gegenseitigen Delegationsbesuchen. 1923 wurde die deutsche Gesandtschaft in Kabul eröffnet.

Von nachhaltiger Wirkung blieb das deutsche Engagement im afghanischen Bildungssektor. Junge Afghanen wurden ab 1922 im Rahmen eines staatlich geförderten Programms zur Ausbildung nach Deutschland eingeladen. Zugleich förderte Deutschland den Aufbau des Schulsystems in Afghanistan. Die Eröffnung der deutschsprachigen Amani-Oberrealschule in Kabul im Jahr 1924 ermöglichte auch den bürgerlichen Schichten Afghanistans eine fundierte Ausbildung, die ihnen dabei half, in die Führungselite des Staates und der Gesellschaft aufzusteigen. Deutsche Ingenieure bauten Staudämme, deutsche Architekten und Künstler errichteten den prunkvollen (und im Bürgerkrieg der 90er-Jahre zerstörten) Königspalast im Kabuler Vorort Darulaman. Noch in den 60er-Jahren zahlte Deutschland keinem Land so viel Entwicklungshilfe wie Afghanistan. Doch vor allem auf dem frühen Engagement Deutschlands in Afghanistan gründete die später für viele Bundeswehrsoldaten überraschende, wegen des häufigen Bezugs auf eine »gemeinsame arische Kultur« bisweilen unangenehme, überschwängliche Sympathie, die ihnen viele Afghanen entgegenbrachten.

Oskar von Niedermayer hatte als einer der ersten Deutschen überhaupt das ungestüme Temperament und das sture, trotzige, nach innen gerichtete und oftmals unterschwellig fremdenfeindliche Wesen der Afghanen kennengelernt. Wenige Regionen der Welt waren so vielen Wanderzügen, Invasionen und verschiedenen kulturellen Einflüssen ausgesetzt wie Afghanistan. Fast alle Nationen Asiens waren kolonialisiert. Afghanistan aber konnte nie wirklich erobert werden. Das Land ist ein Korridor der Mächte. Ein Pufferstaat. Hier Indien und China, dort Persien. Hier Zentralasien, dort der Indische Ozean. Mit Hartnäckigkeit haben die Afghanen ihre Identität und Kultur durch die Wirren der Zeit bewahrt. Unterwürfigkeit gegenüber einer fremden Macht ist ihnen unbekannt, auch wenn ihr Land zwischen den Volksgruppen geteilt ist und sie sich selten einig sind.

So wie der Hindukusch das Land geografisch durchschneidet, zerfällt die Bevölkerung ethnisch in die indogermanischen Paschtunen sunnitischen Glaubens südlich des Gebirges und in verschiedene turko-mongolische und tatarische Stämme, die überwiegend nördlich siedeln. Niedermayer war, wie viele westliche Besucher des Landes nach ihm, fasziniert von der Physiognomie des »Völkerkessels« Afghanistan: von den adlernasigen Persern, den schrägäugigen Mongolen und den stolzen, schwarzhaarigen Paschtunen. Die Paschtunen stellten von jeher in Afghanistan den größten Bevölkerungsteil. Ihre Stämme sind herrisch, kriegerisch und lehnen jede zentrale Autorität ab.

Die Loyalität der Paschtunen gehört der Familie, dem Clan, dem Unterstamm, dem Stamm. Und danach vielleicht der Regierung in Kabul. Zwei Stammesverbände ragten stets hervor: die Durani und die Ghilzai. Sie haben sich in ihrer Geschichte fortlaufend bekämpft. Ohne ihre Zustimmung kann sich keine Macht in Kabul lange halten. Der heutige Präsident, Hamid Karsai, entstammt den Durani, die seit mehr als 230 Jahren die Hauptstadt beherrschen. Afghanistan befindet sich noch immer im Übergang von einer feudalen Stammesgesellschaft zu einer Nation. Das erschwert es, eine zentrale Macht, gar einen modernen Zentralstaat, zu errichten. Der Westen verdrängt das seit einem Jahrzehnt geflissentlich.

Es gibt kaum eine Gesellschaft, die so konfliktgeladen ist wie die afghanische. Ein Ehrenkodex, der »Paschtunwali«, schreibt dem Paschtunen vor, wie er sich im Konflikt zu verhalten hat: Er muss Badal üben, Vergeltung. Meist ist dies mit Blutrache verbunden. Wenn er sie zu umgehen versucht, hat er sich entehrt. Zum Ehrenkodex gehört auch die Gastfreundschaft. Es zählt zu den Pflichten eines Paschtunen, selbst seinen Todfeind zu beherbergen, wenn er um Asyl bittet. Die Afghanen, das zeigt ihre Geschichte, sind ein unbeugsames, kriegerisches Volk, hart wie die Natur, in der sie leben. Die Winter sind rau und kalt, die Sommer glühendheiß. Armut und Hunger haben den Menschen im Hochland, in den Steppen und Wüsten immer schwer zugesetzt. Nur die Stärksten überleben. Doch so zerstritten sie meist sind, so einig waren sich die Afghanen immer, wenn es um ihre Unabhängigkeit ging. Die Invasoren haben das über die Jahrhunderte zu spüren bekommen. Auch die Rote Armee, die die sowjetische Regierung von Weihnachten 1979 an in einen verheerenden, brutalen und folgenschweren zehnjährigen Krieg schickte. Der Krieg war hart für die Afghanen. Die Sowjetunion hingegen zerbrach nicht zuletzt auch daran.

Afghanistan, 1979–1989

Die sowjetische Invasion war zunächst auf wenige Monate angelegt. Zuvor hatten junge, in der Sowjetunion ausgebildete afghanische Offiziere ein kommunistisches Regime errichtet, gegen das sich im ganzen Land der Widerstand regte. Die militärische Führung der Roten Armee ahnte, welche Risiken der Einsatz in dem südlichen Nachbarland barg. Sie wusste, dass sie dafür weder geeignete Ausrüstung noch ausreichend Personal hatte. Deshalb wollte sie sich darauf beschränken, die Städte und die wichtigsten Verkehrsverbindungen des Landes zu sichern. Zugleich sollte die afghanische Armee für den Kampf gegen die Rebellen ausgebildet werden, die sich schon bald gegen das kommunistische Regime in Kabul erhoben. Doch dem blutigen Krieg, den ihnen eine immer stärker werdende, aus dem Ausland geförderte Guerilla, die Mudschaheddin, aufzwang, konnten sich die sowjetischen Truppen nicht entziehen. Sie gerieten in den Strudel eines erbittert geführten Partisanenkampfes, in dessen Hochphase beide Seiten mit grausamer Härte gegeneinander vorgingen.

Ab Mitte der 80er-Jahre setzten die Sowjets vor allem Flugzeuge, Hubschrauber und Luftlandetruppen gegen die Aufständischen ein. Dörfer wurden aus der Luft angegriffen und – oft als Kinderspielzeug getarnte – Minen abgeworfen, um die Bevölkerung zu vertreiben und den Mudschaheddin Unterschlupfmöglichkeiten zu nehmen. Millionen Menschen flüchteten nach Pakistan, wo sich immer neue Kämpfer rekrutieren ließen. Zeitweise setzte die Sowjetunion bis zu 110.000 Soldaten ein. Mehr wollte die Regierung in Moskau nie schicken, obwohl die Militärs klagten, dass die Kräfte nicht ausreichten, um erobertes Gebiet zu halten. Am 15. Februar 1989 verließen die letzten Soldaten der Sowjetarmee offiziell Afghanistan. Taktisch waren sie nicht besiegt worden. Strategisch aber hatte ihr Land den Krieg verloren. Der NATO droht heute ein ähnliches Schicksal. Als hätte sie nichts aus der Geschichte gelernt, wiederholt sie wesentliche Fehler der Sowjetunion.

So war das ursprüngliche politische Ziel, Afghanistan in einen demokratischen Staat umzuwandeln, ebenso unrealistisch wie einst das sowjetische Vorhaben, am Hindukusch den Kommunismus einzuführen. Wie die Sowjets übersah auch der Westen lange Zeit die Bedeutung von Kultur und Religion für die Menschen vor allem in den ländlichen Gegenden. Hier sind weder Demokratie noch Kommunismus gewollt. Ein Konflikt mit im Volk verwurzelten Aufständischen muss scheitern – gerade wenn die Besatzungstruppen in weiten Teilen des Landes nicht präsent sind. Damals wie heute sind Luftschläge das taktische Mittel, um diese strategische Schwäche auszugleichen. Sie fordern oft zahlreiche zivile Opfer, was die ausländischen Soldaten in den Augen der Afghanen zu Besatzern macht.

Auch die Unkontrollierbarkeit der afghanisch-pakistanischen Grenze hat heute ähnliche Folgen wie einst. Geld, Waffen, Versorgungsgüter und Kämpfer gelangen ungehindert von einem Land ins andere. Noch entscheidender aber für das drohende Scheitern der Interventionsmächte: Je länger der Krieg dauert, je mehr Opfer er fordert, desto weniger wird der Einsatz im eigenen Land unterstützt. Der sowjetische Krieg hat bis zu 1,5 Millionen Afghanen und 15.000 Sowjetsoldaten das Leben gekostet. Auch wenn die Opferzahlen auf allen Seiten heute bei Weitem nicht so hoch sind – die Koalition hatte bis Herbst 2011 etwa 2.700 Gefallene zu beklagen –, nimmt wie einst in der Sowjetunion die Skepsis und Kriegsmüdigkeit im Westen rapide zu.

Während der Besatzung gab es Tausende von sowjetischen Beratern in Afghanistan. Sie saßen in den Streitkräften, in der Polizei, in der Verwaltung, in der Wirtschaft. Heute kommen diese Berater aus den USA und Europa. Auch die Sowjets verfolgten den Plan, afghanische Streitkräfte aufzubauen, um sie gegen die Aufständischen zu schicken. Er scheiterte. Die Soldaten desertierten zu Tausenden. Ganze Einheiten liefen zu den Mudschaheddin über. In der NATO gilt die von ihr aufgebaute afghanische Armee heute als verhältnismäßig zuverlässig. Doch ob sie tatsächlich dazu taugt, die Aufständischen dauerhaft in Schach zu halten, wird sich erst zeigen, wenn die westlichen Berater und Geldgeber fort sind.

Die einstige taktische Stärke der Guerilla ist auch ihre Waffe von heute: Sie operiert aus dem Hinterhalt und wendet sehr flexibel verschiedene Kampftaktiken an. Die Rebellen versuchen, so nah wie möglich an die Soldaten heranzukommen, um Luftschlägen oder Artilleriefeuer zu entgehen. Sie tauchen in der Bevölkerung ab, die sie mehr oder weniger freiwillig unterstützt. Besonders wirkungsvoll sind die terroristischen Methoden, mit denen die Aufständischen ihren Kampf führen. Sie verstecken Bomben in den Straßen, die unter Militärfahrzeugen explodieren. Im Alltag der Scharmützel, Sprengfallen und Hinterhalte lassen sich für die ausländischen Truppen allenfalls lokal begrenzte Erfolge erzielen. Doch sie sind nicht nachhaltig und können nicht zu einem strategischen Sieg summiert werden. Die Aufständischen weichen in andere Gebiete aus und zwingen die Besatzungstruppen erneut zum Reagieren. Wie in jedem Guerillakrieg leidet besonders die Bevölkerung unter den Auseinandersetzungen. Weite Teile der Einwohner wollen die Taliban nicht zurück. Doch je länger der Krieg dauert, je legitimer die Ziele der Aufständischen werden, desto stärker schlägt sich das Volk auf ihre Seite. Das zeigt die Geschichte von Guerillabewegungen.

Bei ihren Operationen gegen die Mudschaheddin setzte die sowjetische Armee zunächst auf hohe Feuerkraft und schnelle Vorstöße mit gepanzerten Fahrzeugen. Das hatte sie für den Einsatz gegen die NATO in Mitteleuropa trainiert. Doch musste dieses Vorgehen auf die wenigen asphaltierten und befahrbaren Straßen Afghanistans beschränkt bleiben. Das war für die Mudschaheddin ausrechenbar, und sie konnten sich den Angriffen leicht entziehen. Später verlegten sich die Sowjets auf massive Attacken aus der Luft und den Einsatz schneller, beweglicher Luftlandetruppen. Dabei wurden Hunderte Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Doch der Glaube der Mudschaheddin an die überirdische Kraft Allahs war dem Glauben an die sozialistische Weltrevolution deutlich überlegen. Und der »gottlose« Kapitalismus half tatkräftig mit Geld und Waffen nach.

Die USA und Saudi-Arabien bedienten sich des pakistanischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence (ISI), um die Mudschaheddin in Afghanistan zu unterstützen. Geleitet von dem mitunter irreführenden Gedanken »Der Feind meines Feindes ist mein Freund« züchteten die Amerikaner den ISI zu einem einflussreichen und für sie unkontrollierbaren »Player« auf dem afghanischen Schlachtfeld. Der besonderen Rolle im »Heiligen Krieg« gegen die Sowjetunion verdankt der ISI seine bis heute andauernde Dominanz und seine Kontakte in Afghanistan. Der ISI war es auch, der eine größere Anzahl von Arabern ausbildete, in die afghanischen Kampfgebiete schleuste und in Mudschaheddin-Verbände eingliedern ließ. Jahre später tauchten diese fundamentalistischen Kämpfer überall in der Welt auf. Damals kämpften sie ihren »Heiligen Krieg« gegen die »ungläubigen Kommunisten«. Dann schwenkten sie auf den »ungläubigen Westen« um. Ihren Krieg führen sie bis heute. Seinen vorläufigen Höhepunkt hat er am 11. September 2001 gefunden. Die Terroranschläge auf New York und Washington trafen die Vereinigten Staaten ins Herz. Der amerikanische Präsident George W. Bush rief den »Krieg gegen den Terrorismus« aus, dessen Hort schnell ausgemacht war. Das Afghanistan der fundamentalistischen Taliban hatte eine Zeit lang auch jene neunzehn Terroristen beherbergt, die später in den USA vier Passagierflugzeuge entführten, in Bomben verwandelten und zirka 3.000 Menschen töteten.

Afghanistan, Anfang der 1990er-Jahre

Der Abzug der Roten Armee im Februar 1989 führte nicht sofort zum Zusammenbruch des kommunistischen Regimes von Mohammad Najibullah in Kabul. Präsident Najibullah bot den Mudschaheddin mehrfach die Versöhnung an, so wie es zwanzig Jahre später auch Präsident Hamid Karsai gegenüber den Aufständischen tun sollte. Für die Mudschaheddin blieb Najibullah ein Repräsentant des Kommunismus, genauso wie Karsai für die Taliban ein Repräsentant des Westens ist. Moskau, mit den weltpolitischen Umwälzungen und dem Zusammenbruch des sozialistischen Reichs beschäftigt, ließ seinen Statthalter in Kabul mit der Wahl Boris Jelzins zum russischen Präsidenten 1991 im Stich.

Auch die Amerikaner, die zuvor Milliarden Dollar und moderne Waffen nach Afghanistan gepumpt hatten, zeigten, wie die meisten westlichen Länder, kein Interesse mehr an den Entwicklungen am Hindukusch. Private Milizen, die das kommunistische Regime bis dahin unterstützt hatten, liefen auf die Seite der Mudschaheddin über. Den Kriegsgewinnern fiel das Land wie eine reife Frucht in den Schoß. Doch sie hatten keine Strategie zu seiner politischen Neugestaltung.

Stattdessen verschärften sich ihre internen Differenzen, die schon während des »Heiligen Kriegs« gegen die Sowjetunion häufig in heftige Kämpfe ausgeartet waren. Zwischen dem tadschikischen Militärkommandant Ahmed Schah Massud und dem paschtunischen Islamisten Gulbuddin Hekmatyar bestand eine persönliche Rivalität, die in einen brutalen Konflikt um Macht und Vorherrschaft im Land mündete. Als Massud im April 1992 Kabul kampflos einnehmen konnte, stürzte die kommunistische Regierung endgültig. Najibullah flüchtete sich in die UN-Vertretung, deren Immunität die Warlords respektierten. Erst vier Jahre später wurde Najibullah durch die Taliban gehängt.

Die Mudschaheddin errichteten unter dem im Herbst 2011 von einem Selbstmordattentäter in Kabul ermordeten Präsidenten Burhanuddin Rabbani eine von den Tadschiken dominierte Übergangsregierung. Massud als der eigentliche Herrscher wurde Verteidigungsminister und beherrschte mit seinen Milizen Kabul. Für die Paschtunen, die 250 Jahre über Afghanistan geherrscht haben, war das unannehmbar. Zwei Jahre lang belagerte Hekmatyar mit seinen Truppen die Hauptstadt. Die in stetig wechselnden Allianzen ausgetragenen Fehden der Tadschiken, Paschtunen, Usbeken und anderer Volksgruppen mündeten in einem Gemetzel. Kabul, einst als »größter Basar Mittelasiens« umschwärmt, wurde zu zwei Dritteln zerstört. Bis zu 80.000 Einwohner starben in Bombenhagel und Straßenkämpfen, mehr als anderthalb Millionen Menschen flohen aus der Stadt. Innerhalb von zwei Monaten nach der Machtübernahme der Mudschaheddin zerfiel Afghanistan in die Einflussbereiche verschiedener Kommandeure. Überall waren die Menschen auf der Flucht vor den Milizen, die raubend, mordend, plündernd und vergewaltigend durch die Gegend zogen. Söhne, teilweise jünger als zehn Jahre, wurden ihren Eltern entrissen und in die Miliztruppen gezwungen, die ständig Nachwuchs brauchten. Die entfesselte Gewalt zerstörte das innere Gefüge Afghanistans sehr viel stärker, als dies die sowjetische Invasion vermocht hatte. Das Morden und Sterben gehörte zum Alltag der Menschen, sie stumpften ab und entwickelten eine Gefühllosigkeit, die vieles, was deutsche Soldaten zehn Jahre später an Brutalität und Kälte erleben sollten, erklärt. In der afghanischen Gesellschaft ist in den verheerenden Jahren des Bürgerkriegs der grundlegende gesellschaftliche Konsens über die Anwendung von Gewalt zerstört worden. Die Milizkommandeure steckten ihre Gebiete mit Millionen von Spring- und Tretminen ab, die noch in Hunderten Jahren explodieren werden. Sie machten einfach dort weiter, wo die Sowjets aufgehört hatten. Es gibt Gebiete in Afghanistan, in denen die Minen in Schichten übereinander liegen. Die unterste Schicht stammt von den Sowjets, darüber die von den Mudschaheddin, dann die der Taliban, dann die der Nordallianz. Kaum ein Land der Welt ist so minenverseucht wie Afghanistan. Bis heute sterben täglich Menschen durch die tückischen Waffen. Der Staat, der sich seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1919 zaghaft gebildet hatte und die Gesellschaft, die einst funktionierte, zerfielen binnen weniger Jahre.

Auch die traditionellen Strukturen erodierten. Die einigende und führende Kraft der Stammesführer fehlte, da sie in den Kriegen ausgemerzt worden waren. Die nahezu komplette geistige und wirtschaftliche Elite flüchtete aus dem Land. Ein Verlust, den Afghanistan bis heute nicht überwunden hat. Die mächtigen Kommandeure teilten das Land auf und etablierten teilweise autonome, halbstaatliche Strukturen mit eigenen Ordnungssystemen. Im Norden regierte der Usbeke Rashid Dostum, im Nordosten der Tadschike Massud, im Süden und Südosten herrschten paschtunische Koalitionen und im Westen der Tadschike Ismael Khan. Jede Gruppierung erhielt politische, finanzielle und materielle Unterstützung aus dem Ausland. Die Paschtunen wurden aus Pakistan und Saudi-Arabien gefördert, Ismael Khan von Iran, Dostum von Iran und Usbekistan, Präsident Rabbani und Massud von Indien und Russland.

Pakistan hatte kein Interesse an einem Chaos in seinem Nachbarland, das die Regierung in Islamabad im Konflikt mit dem Erzfeind Indien als »strategischen Hinterhof« betrachtet. Im Fall einer indischen Invasion sollen sich die pakistanischen Truppen bis nach Afghanistan hinein zurückziehen können. Islamabad braucht dazu eine gewisse Ordnung im Nachbarland und eine Pakistan gewogene Regierung in Kabul. Pakistan unterstützte anfangs Hekmatyar und seine Hisb-e-Islami, eine islamistische Partei, in der Hoffnung, der paschtunische Fanatiker könne den Bürgerkrieg gewinnen. Doch als sich das Scheitern Hekmatyars abzeichnete, entschieden sich die Herrscher in Islamabad, jenseits der Grenze eine neue Macht aufzubauen. Sie wollten eine Marionette in Kabul installieren. Die Idee war geboren, die Taliban (Talib – Sucher des religiösen Wissens) aufzubauen.

Das »Great Game«, das große Spiel um Afghanistan, einst von Großbritannien und dem Zarenreich im Kampf um Macht und Einfluss in der Region ausgefochten, wurde Mitte der 90er-Jahre neu aufgelegt. Diesmal beteiligten sich einige Parteien mehr. Neben Pakistan verfolgten schon bald die Großmächte USA, Russland und China, die Regionalmächte Iran, Türkei, Indien sowie die zentralasiatischen Länder Usbekistan, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan ihre Interessen in Afghanistan. Im Kern geht es in dem »Spiel« bis heute um die Öl- und Gasvorkommen Zentralasiens, die über eine Pipeline durch Afghanistan zum Indischen Ozean transportiert und von dort nach Europa und Nordamerika verschifft werden sollen.

Afghanistan, Mitte bis Ende der 1990er-Jahre

Pakistan konnte das neue »Great Game« zunächst zu seinen Gunsten lenken. Schon während der sowjetischen Besatzung zwischen 1979 und 1989 und während des anschließenden Bürgerkriegs nahm das Land mehrere Millionen Flüchtlinge aus Afghanistan auf. Die Regierung in Islamabad und der Geheimdienst ISI rekrutierten in den Flüchtlingslagern afghanische Kinder und Jugendliche, die sie in Madrassas (Koranschulen) ausbildeten. Überwiegend waren es paschtunische Jungen und junge Männer, die einerseits den Koran studierten und andererseits das Militärhandwerk erlernten. Es begann mit einigen Hundert Taliban, die, unterstützt von Pakistan, in einem erbarmungslosen Krieg fast ganz Afghanistan eroberten. Mullah Mohammed Omar Akhund, ein ehemaliger Mudschaheddin-Kommandeur, hatte die Taliban-Bewegung mit dem Ziel gegründet, »eine wahre islamische Ordnung« zu errichten. Die mehrheitlich paschtunischen Taliban verpflichteten sich, für Frieden zu sorgen, das Volk zu entwaffnen und die islamische Rechtsordnung (Scharia) durchzusetzen. Zugleich wollten sie die Herrschaft der Paschtunen über Afghanistan wieder herstellen.

Ausgangspunkt ihres Siegeszuges war Kandahar, das Zentrum der Paschtunen. Nachdem die Stadt gefallen war, liefen zahlreiche Mudschaheddin-Einheiten zu den Taliban über. Die Kommandeure erkannten, dass die kriegsmüden Menschen die neuen Herrscher begrüßten und hängten ihr Fähnlein in den Wind. Die Taliban verstanden es, sich der Bevölkerung als neue, unabhängige Ordnungsmacht darzustellen, die in den Bürgerkrieg nicht involviert ist. Die stark religiös inspirierten Milizen traten zwar rigoros und nicht weniger grausam als zuvor ihre Gegner auf, wirkten aber moralisch glaubwürdig. Das Volk erhoffte sich nach den Jahren des staatlichen Zerfalls voller Chaos und Rechtlosigkeit endlich Frieden, Normalität und persönliche Sicherheit.

Vor allem die Scharia in einer extrem rigiden Auslegung wirkte im ländlichen Süden stabilisierend. Die Taliban-Milizen stießen selbst bei der Eroberung Kabuls im September 1996 auf keinerlei Gegenwehr. Erst als sie gegen weitere Städte mit liberaler und moderner Tradition wie Herat und Mazar-i-Sharif antraten, kam es zu Kämpfen. Die gegen die Taliban vereinte Front überwiegend tadschikischer und usbekischer Milizen (Nordallianz) zog sich bis in die nordöstliche Provinz Badachschan zurück und verteidigte sich bis zu dem Tag, an dem die Amerikaner mit ihrer Hilfe begannen, die Taliban zu vertreiben.

Aus religiös verbrämten Gründen verboten die Taliban Musik, Sport, Bilder, Kino und Fernsehen. Der größte Teil der Schulen und Universitäten wurde geschlossen. Männer mussten sich Bärte wachsen lassen, Frauen durften nur mit männlicher Begleitung und von einem Ganzkörperschleier, der Burka, bedeckt das Haus verlassen. Die Taliban traten die Menschenrechte mit Füßen und stießen die Bevölkerung noch tiefer ins Elend. Hunger und Not erreichten während der vier Herrschaftsjahre der Taliban endemische Ausmaße. Eltern verkauften ihre Kinder, um sich Lebensmittel leisten zu können. Das Land war voller Waisenkinder, verlorene Kreaturen in einer Zeit des Wahnsinns. Die Taliban waren unfähig, für das Volk zu sorgen. Stattdessen schwärmten ihre Schergen aus, um ihren Gesetzen gewaltsam Geltung zu verschaffen. Ihre Ideologie orientiert sich bis heute an einer extremen Auslegung des muslimischen Glaubens, dem Deobandismus. Bis heute sehen sich viele Taliban als Krieger für die reine Lehre des Islam.

Ein Großteil der Afghanen jedoch hängt einer gemäßigten islamischen Strömung an. Für sie sind Gebet, Tanz und Musik untrennbar miteinander verbunden. Die Taliban errichteten eine zentralisierte, abgeschottete Diktatur, die nur Paschtunen an der Regierung beteiligte. Die meisten Ministerien in Kabul waren wegen der Inkompetenz des Personals handlungsunfähig. Ein Großteil der Minister und Verwaltungsbeamten konnte weder Lesen noch Schreiben. Die wichtigen Entscheidungen fielen ohnehin in Kandahar. Dort hatte die Talibanführung unter Mullah Omar ihren Sitz. Sie bestand aus zehn Vertretern der Durani-Paschtunen sowie militärischen Befehlshabern, Stammesältesten und Geistlichen. Während ihrer knapp fünfjährigen Diktatur zwischen 1996 und 2001 ahndeten die Taliban Verstöße gegen ihre Gesetze mit drakonischen Strafen. Dieben schlugen sie die Hände ab, Ehebrecher wurden gesteinigt. Die Hinrichtungen wurden öffentlich vollzogen – zur Abschreckung.

Das finstere Geschehen in Afghanistan spielte sich seit dem Abzug der Sowjets im Schatten der weltpolitischen Umwälzungen ab. Doch dass der saudische Millionär Osama bin Laden mit Duldung der Taliban terroristische Ausbildungslager errichten ließ, entging den westlichen Geheimdiensten nicht. Sie beobachteten das Geschehen am Hindukusch mit wachsender Sorge. 1999 beschuldigte die amerikanische Regierung die Taliban, mit Terroristen zu kooperieren. Die Vereinten Nationen (UN) warfen den Taliban im Dezember 2000 vor, den Terrorismus zu unterstützen und mit Drogen zu handeln. Kurz nach dem 11. September 2001 richtete sich der Fokus der USA vollends auf Afghanistan. Als am 7. Oktober 2001 die ersten amerikanischen Marschflugkörper die Stellungen der Taliban treffen, ist das militärische Ungleichgewicht der Konfliktparteien vergleichbar mit der Intervention einer modernen Armee in den 30-jährigen Krieg. Es beginnt eine militärische Kampagne, die als der längste Krieg in die amerikanische Geschichte eingehen sollte. Doch nicht nur in die amerikanische. Auch in die der Bundesrepublik Deutschland.

2. Kapitel | »Landser-Gedudel«

Berlin, Deutschland, 16. November 2001

Bundeskanzler Gerhard Schröder tritt vor den Deutschen Bundestag. »Es gibt Situationen, in denen eine von allen gewollte politische Lösung militärisch vorbereitet, erzwungen und schließlich auch durchgesetzt werden muss«, sagt er. Bis auf einige Abgeordnete der SED-Nachfolgepartei PDS klatschen die Parlamentarier aller Fraktionen Beifall. Schröder fährt fort: »Machen wir uns keine Illusionen: Der Kampf gegen den Terror wird lange dauern, und er wird uns einen langen Atem abverlangen. Schnelle Erfolge sind keineswegs garantiert. Doch ist der Kampf zu gewinnen und wir werden ihn gewinnen.« Jetzt applaudieren nur die sozialdemokratischen und die grünen Abgeordneten. »Erstmals«, so der Kanzler weiter, »zwingt uns die internationale Situation, zwingt uns die Kriegserklärung durch den Terrorismus dazu, Bundeswehreinheiten für einen Kampfeinsatz außerhalb des NATO-Vertragsgebiets bereitzustellen.« Kampfeinsatz, sagt er. Beifall von SPD und Grünen.

Und dann folgt die Begründung dafür, deutsche Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Sie ist bei all den Fragen, die in den kommenden Jahren über den Sinn der Bundeswehrmission gestellt wurden, nie mehr angeführt worden: »Wir erfüllen damit die Erwartungen unserer Partner, und wir leisten das, was uns objektiv möglich ist und was politisch verantwortet werden kann. Aber mehr noch: Durch diesen Beitrag kommt das vereinte und souveräne Deutschland seiner gewachsenen Verantwortung in der Welt nach. Wir müssen erkennen: Nach den epochalen Veränderungen seit dem Herbst 1989 hat Deutschland seine volle Souveränität zurückgewonnen. Es hat damit aber auch neue Pflichten übernommen, an die uns die Verbündeten erinnern. Wir haben kein Recht, darüber Klage zu führen. Wir sollten vielmehr damit zufrieden sein, dass wir seit den epochalen Veränderungen 1989 gleichberechtigte Partner in der Staatengemeinschaft sind.«

Wir können uns dem weltweiten Kampf gegen die Terroristen nicht entziehen. Das ist es, was Schröder mit seinen Sätzen umschrieben hat. Nicht die USA, nicht der Westen ist der Aggressor, sondern der kriegerische Islamismus. Er attackiert die Lebensweise in dem Teil der Welt, in dem sich die Menschen für Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft entschieden haben. Dazu zählt auch Deutschland. Das ist der eine Kriegsgrund. Es gibt noch einen zweiten. Er lässt Bundeskanzler Schröder ohnehin keine echte Alternative zu seinem Bekenntnis der »uneingeschränkten Solidarität« mit den Vereinigten Staaten: US-Präsident George W. Bush teilt die Welt kurz nach »9/11« in Gut und Böse ein. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, sagte Bush. Deutschland als Teil der »freien Welt« will, ja muss für Amerika sein. Das ist nicht zuletzt der Preis für die Solidarität der Amerikaner mit Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und während des Kalten Krieges. »Uneingeschränkte Solidarität« – schon bald ist Schröder gefangen in dieser, seiner eigenen Diktion. »Hätte er mal besser die Schnauze gehalten«, sollte drei Monate später ein Feldwebel der Bundeswehr in Kabul fluchen. »Hätte er mal besser die Schnauze gehalten«, fluchen Soldaten in Kundus, Mazar-i-Sharif, Kabul, Taloqan und Faizabad bis heute.

Im November und Dezember 2001 beschließen die Abgeordneten des Bundestages, deutsche Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Unter Führung der USA sollen die Soldaten islamistische Terroristen jagen. Das ist eine Aufgabe für den Eliteverband der Bundeswehr, das Kommando Spezialkräfte (KSK). Die Mission »Enduring Freedom« in Afghanistan ist wegen ihres offensiven und auf das Töten von Menschen ausgerichteten, zugleich geheimen Charakters von Anfang an umstritten in der deutschen Politik. Die deutschen Politiker wollen keinen Krieg führen. Im Krieg geht es um das Sterben und Verstümmeln von Menschen. Daran sollten Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg nie wieder beteiligt sein. Bundeskanzler Schröder sieht sich in seiner rot-grünen Regierungskoalition gezwungen, mit dem Bundestagsbeschluss am 14. November 2001 die Vertrauensfrage zu stellen. Hätte er mit den Stimmen seiner Koalition keine eigene Mehrheit bekommen, wäre das aus seiner Sicht einem Misstrauensvotum gleichgekommen. Schröder wäre zurückgetreten. Das Parlament segnet das Mandat für die Operation »Enduring Freedom« mit knapper Mehrheit ab.

Das Mandat für die zweite Bundeswehr-Mission in Afghanistan ist unstrittig. Die Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) hat den Segen der Vereinten Nationen. Die UNO hat eine Gemeinschaft westlicher Staaten beauftragt, »die afghanischen Behörden dabei zu unterstützen, Sicherheit zu gewährleisten, damit andere den Wiederaufbau des Landes organisieren können«. Seitdem die Vereinten Nationen dieses Ziel im Dezember 2001 das erste Mal formuliert haben, hat sich an der Beschreibung des ISAF-Auftrags nichts geändert. Es geht darum, der Regierung in Kabul dabei zu helfen, Stabilität und Sicherheit im Land zu schaffen. Aufbauarbeit sollen »andere« leisten.

Mit »andere« ist die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) gemeint. Ihre Aufgabe und nicht die der Soldaten ist es, Menschenrechte, Demokratie oder Schulbildung für Mädchen im Land durchzusetzen. Das ISAF-Mandat lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass sich die Bundeswehr nicht in Afghanistan befindet, um Brunnen zu bohren und Schulen zu bauen. Sie soll »mit allen militärischen Mitteln« Sicherheit schaffen. Das beinhaltet auch den Waffeneinsatz. In den kommenden zehn Jahren wird die politische Debatte in Deutschland den Inhalt des Mandats nur selten reflektieren. Viele Politiker wollen, dass die Soldaten Brunnen bohren und Schulen bauen. Dafür haben ihnen die Vereinten Nationen aber kein Mandat erteilt.

Kabul, Afghanistan, 15. Februar 2002

Im Stadion von Kabul steigen Luftballons und Friedenstauben in den Himmel. 50.000 Menschen jubeln. Sie haben sich auf Ränge gequetscht, die für 30.000 Zuschauer gebaut worden sind. Bis vor vier Monaten schauten aus der Loge die örtlichen Talibanführer den öffentlichen Hinrichtungen zu. Nun hat hier Hamid Karsai mit den Mitgliedern seiner Übergangsregierung Platz genommen. Die Mannschaften betreten den Rasenplatz. Die Fußball-Partie lautet: »Kabul United« gegen ISAF. Afghanistan gegen den Westen. Einheimische Amateure gegen Soldaten aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Ein solches Spektakel hat es schon lange nicht mehr in Kabul gegeben. In Massen strömen die Menschen zum Stadion.

Afghanische Polizisten und ausländische Soldaten sollen das Spiel absichern. Sie haben einen Schutzring um das Stadion gezogen. Schon bald sehen sie sich einer riesigen Menschenmenge gegenüber. Die Massen begehren energisch Einlass und sind nicht zu kontrollieren. Es kommt zu Tumulten. Die Polizisten prügeln drauflos, während die Soldaten zurückweichen. Als sie mit dem Rücken zur Wand stehen, feuern sie Warnschüsse in die Luft. Steine fliegen, Soldaten sacken zusammen. Die euphorisierten Afghanen stürmen das Stadion. Für sie ist es ein Fest – und für die Deutschen ein Albtraum. An diesem Tag wird ihnen zum ersten Mal bewusst, dass sie eine unmögliche Aufgabe erfüllen sollen. Sie sollen Sicherheit garantieren, wo es keine geben kann. In Afghanistan genügt der sprichwörtliche Funken, und die Gewalt eskaliert. An diesem kalten Wintertag in Kabul bekamen die Deutschen zum ersten Mal eine Vorahnung von dem, was in den nächsten Jahren kommen sollte. Mannschaften und Unteroffiziere, einfache Soldaten, die die »Drecksarbeit« machen, fassen ihre Zweifel am Sinn ihrer Mission schon bald mit den Worten zusammen: »Ich traue hier niemandem.« Sie beklagen, dass sie zu wenige und noch dazu schlecht bewaffnet sind. Politiker und militärische Führung tun diese Empfindungen als »Landser-Gedudel« ab.

Am Abend nach dem Fußballspiel kehren die Soldaten ins Feldlager zurück. Sie haben das Spiel gewonnen, doch darüber spricht schon bald niemand mehr. Die täglichen Entbehrungen, Gefahren und Erlebnisse belasten die Gemüter. Es sind vor allem Fallschirmjäger aus Varel, die auf einem ehemaligen Bauhof leben. Im Bürgerkrieg zwischen 1994 und 1996 verlief dort die Front. Als die ersten Bundeswehrsoldaten im Januar 2002 das Gelände erreichten, stand von dem dreistöckigen Verwaltungsgebäude nur noch das Betonskelett. Sie klebten Folien in die Löcher und richteten ihr Hauptquartier ein. Sie schafften die schrottreifen Baumaschinen beiseite und kiesten den Boden. Dann stellten sie Zelte und Container auf und tauften das Provisorium »Camp Warehouse«. Es wurde zur vorübergehenden Heimstatt von bald mehr als tausend deutschen Soldaten.

Kabul, Afghanistan, 16. Februar 2002

Auf dem Mittelstreifen der »Chicken Street«, der Straße entlang des Kabuler Basars, gibt Patrouillenführer Enrico Jonas das Haltesignal. Die Händler haben ihre Stände vor Seecontainern aufgebaut, die die Ruinenlandschaft der Stadt verdecken. Ab und an ragt ein windschiefes Haus aus der Schutthalde, wankende Überlebende einer Katastrophe. Die Luft vibriert von den Stimmen der Verkäufer, die lautstark ihre Waren anpreisen. Aus Lautsprecherboxen dröhnt indische Musik. In den Regalen stapeln sich gefälschte CDs und DVDs der aktuellen Kinofilme Bolly- und Hollywoods. Vor wenigen Monaten noch konnten die Kabulis von diesem Angebot nur träumen. Die Taliban hatten dem Volk jegliche künstlerische Unterhaltung und Zerstreuung verboten. »Die Anwesenheit der ISAF ist ein Geschenk«, sagt Mir Sultan Ahmadi, der Musik-CDs verkauft. »Unserem Land wird damit die Chance gegeben, neu anzufangen.«

Ahmadi gehört jener Generation an, die bisher nur den Krieg erlebt hat. Er wurde geboren, als die Sowjets in Kabul einmarschierten: an Weihnachten 1979. Sein Vater ging in den Widerstand und kämpfte mit den Mudschaheddin gegen die Besatzer. Er schickte die Familie nach Pakistan, wo Mir Sultan Ahmadi eine der vielen Koranschulen besuchte, die in den Flüchtlingslagern jener Jahre errichtet worden waren. Er kehrte zurück, als Kabul von den Mudschaheddin eingenommen worden ist. Während der Taliban-Herrschaft verbrachte er seine Jugendjahre in Kabul – und versteckte sich mit seinen Freunden, um Musik aus einem batteriebetriebenen Transistorradio hören zu können.

Von der Ladefläche eines olivgrünen Unimog der Bundeswehr springen zwei afghanische Polizisten. Sie sind schwarz uniformiert und halten die Kalaschnikow betont lässig in der Hand. Es sind zwei ehemalige Kämpfer der Nordallianz, die im November 2001 Kabul eingenommen hat. Die Nordallianz, so wurde es auf der Petersberg-Konferenz in Bonn vereinbart, sollte ihre Truppen längst aus der Hauptstadt abgezogen haben. Doch die Kriegsgewinner haben sich in Politik und Verwaltung, in der neuen Nationalarmee und der Polizei festgesetzt. Die beiden Tadschiken sind Analphabeten. Sie wissen nichts von Polizeiarbeit. Sie können den Verkehr nicht regeln und sie haben keine Ahnung, was sie an einer Unfallstelle zu tun haben, um Opfer und Täter zu ermitteln. Sie wissen nicht, wie sie jemanden durchsuchen müssen, und sie wissen nicht, wie sie sich gegenseitig Schutz geben. Dafür wissen sie, wie sie Menschen töten können. Das ist das Einzige, was sie in ihrem Leben bisher gelernt haben.

Nun sollen sie Polizist werden, angelernt von Soldaten, mit denen sie jetzt in der Stadt patrouillieren. Die Fallschirmjäger tragen die zwölf Kilogramm schwere Schutzweste und haben ihr Gewehr umgehängt. Die Mündung zeigt zum Boden. Nur keine Drohgebärden, soll diese Haltung ausdrücken. »Wir sind Freunde, Friedenssoldaten, uns könnt ihr vertrauen!« An einem Geländewagen vom Typ »Wolf« besprechen die Infanteristen mit den Polizisten die Streife. Oberfeldwebel Jonas betont noch einmal, was seinen Soldaten ohnehin längst in Fleisch und Blut übergegangen ist: »Wir winken und lächeln!« Seit Wochen gleichen die Patrouillen durch die Stadt kleinen Triumphzügen. Die meisten Afghanen sehen die Bundeswehrsoldaten als Befreier, die das Regime des Taliban beseitigt haben. Die Deutschen hatten damit nur am Rande zu tun. Doch die Einheimischen bejubeln sie trotzdem.

Die Soldaten gehen über den Markt und schütteln Hände. Männer hinter Verkaufsständen lächeln ihnen zu und legen die rechte Hand aufs Herz. Sie erweisen den Fremden damit ihre Ehrerbietung. Die Soldaten lächeln zurück, bemüht, ihre Anspannung zu überspielen. In dem engen Gewirr aus Marktständen, Fahrzeugen und Menschen beschleicht sie ein Gefühl der Beklemmung. Fallschirmjäger nähern sich dem Gegner gewöhnlich in unbebautem Gelände. Sie landen hinter den feindlichen Linien, agieren überraschend. Hier werden sie von Horden begeisterter Kinder in abgerissenen Klamotten und mit dreckverschmierten Gesichtern angekündigt. Kinder, die ihnen, außer Rand und Band, lachend und lärmend hinterherlaufen, die unaufhörlich »Mister, Mister« rufen und sie manchmal dazu bringen, hilfesuchend die afghanischen Polizisten anzuschauen, um aus der Umzingelung befreit zu werden.

Die Polizisten lösen das Problem mit zwei, drei wahllosen Stockschlägen in die Kinderschar. Ein Kreischen und die Jungen stieben davon, um kurz darauf grinsend wiederzukommen. »Wenn uns in diesem Getümmel jemand angreift, haben wir keine Chance«, sagt Oberfeldwebel Jonas. Doch die Taliban scheinen wie vom Erdboden verschluckt. In Wahrheit sind sie längst wieder im Land. Das ahnen die deutschen Soldaten. Doch sie können nicht erkennen, wer Freund und wer Feind ist. Sie müssen warten, bis sie angegriffen werden. Sie trauen dem Frieden nicht, der in dieser vollkommen chaotischen Stadt nun angeblich herrscht.

Die Patrouille macht sich auf den Rückmarsch. Neben üppig beladenen Ständen mit Obst, Gemüse, betörend duftenden Gewürzen und bunten Stoffen sitzen bettelnde Frauen und Kinder im Straßenschmutz. Sie sind die verlorenen Kreaturen einer Katastrophe, in der sie Ehemann, Vater und Ernährer zugleich verloren haben. Kabul ist überfüllt von Witwen und Waisen, von Kriegskrüppeln und zerstörten Seelen. Die Luft ist von Autoabgasen und vom Qualm der Feuerstellen verpestet. Über der Stadt liegt die im Winter typische Wolkenschicht, die den giftigen Dunst in die Straßen drückt und die Menschen am Smog erkranken lässt. Der Zweitonner der deutschen Soldaten auf dem Mittelstreifen wirkt aus der Ferne wie eine Showbühne. Dutzende Einheimische versuchen, mit den auf der Ladefläche stehenden Fallschirmjägern zu sprechen. Der Patrouillenführer ist besorgt. »Kabul«, sagt er, »können wir noch überschauen. Was aber außerhalb der Stadt geschieht, wissen wir nicht.« Illusionen von einem Frieden nach westlichem Verständnis, bemerkt er, als er den Beifahrersitz des Unimog erklimmt, habe er nicht. Dann schlägt er die Tür zu, wendet sich zum Fahrer und sagt: »Abmarsch!« In eine Staubwolke gehüllt, verschwindet der Zweitonner im Gewimmel der Straße. Nur der höchste Punkt des Lastwagens ist noch zu sehen: das Maschinengewehr.

Kabul, Afghanistan, 17. Februar 2002

Wieder ein Morgen der Ungewissheit. Mal Sonne, mal Wolken, so haben es die Meteorologen vorhergesagt. Es ist der typische Wettermix des Kabuler Winters. Dann entspannt sich die Miene des Fluglotsen. Eine »Transall« kommt »herein«. Hauptfeldwebel Mike Schubert macht ein zufriedenes Gesicht. »Die hätten wir«, sagt er. Seine Kameraden im Tower des Kabuler Flughafens nicken zustimmend. Das Flugzeug kommt aus Termez, einer usbekischen Grenzstadt, in der die Bundeswehr einen Stützpunkt unterhält. Zweimal pro Woche landet ein Airbus aus Deutschland in Termez. Die Passagiere steigen dort in die »Transall« um, die militärische Version einer mittelgroßen Propellermaschine. Im Gegensatz zum Airbus ist sie gegen Flugabwehrraketen geschützt. Jeder Flug von Termez nach Kabul gleicht einem Lotteriespiel: Wenn sich der Hindukusch in Wolken hüllt, kehren die Maschinen um. Die Piloten würden das Flugzeug ansonsten wie blind durch die Wolken fliegen. Die »Transall« haben kein Kollisionswarngerät.

Während in Kabul die Ankömmlinge in Busse steigen, heulen die Triebwerke der »Transall« wieder auf. Rückflug. Schubert gibt die Starterlaubnis: »Cleared for Take off!« Die beiden Motoren beschleunigen das Flugzeug auf Höchstgeschwindigkeit, damit es schnell außerhalb der Reichweite von Raketen gerät. Ein Abschuss wäre ein Horrorszenario und ist auch nach dem Ende des Taliban-Regimes nicht auszuschließen. Aus der Zeit des Krieges gegen die Sowjets gibt es Hunderte schultergestützte Luftabwehrraketen im Land, die einst die Amerikaner geliefert hatten. Mit ihrer Hilfe holten die Mudschaheddin sowjetische Jets und Hubschrauber vom Himmel. Die Raketen sind unter der Bezeichnung »Stinger« berühmt geworden. Auch die Amerikaner wissen bisher nicht, wo die restlichen »Stinger« verblieben sind. Es bleibt nur die vage Hoffnung, dass die Waffen im Laufe der zwei Jahrzehnte seit dem Rückzug der Sowjets unbrauchbar geworden sind.

Kabul, Afghanistan, 18. Februar 2002

Deutschlands Krieg in Afghanistan beginnt harmlos und gutwillig. In freundlichem Grün schimmert die Fassade der Kabuler Thahey-Maskan-Schule in der afghanischen Wintersonne. Die Fenster sind neu, die Wände frisch verputzt. Hier hat die Zukunft begonnen. Lehrerinnen mit unverhüllten Gesichtern unterrichten 6.000 Mädchen. Der Andrang ist so riesig, dass der Unterricht in mehreren Schichten von morgens bis abends gehalten werden muss. Vor kaum mehr als vier Monaten war das noch unvorstellbar. In der Talibanzeit blieb Mädchen jede staatliche Bildung verwehrt. Major Rainer Lechleitner wohnt der Mathematikstunde einer sechsten Klasse bei. Er hat geholfen, die Schule zu renovieren. Jetzt verteilt er Schreibhefte, Stifte und Plüschtiere. »Diese Kinder sind die Zukunft des Landes«, sagt er und lächelt.