Sternendunkel - Eisiger Verrat - Izzy Maxen - E-Book
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Sternendunkel - Eisiger Verrat E-Book

Izzy Maxen

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Beschreibung

»Als die Dunkelheit über die Erde kam, holten wir uns die Sterne vom Himmel. Ihr Leuchten schenkt uns Hoffnung – jede Nacht und jeden Tag.« Seit einem verheerenden Meteoriteneinschlag regieren Dunkelheit und Kälte auf der Erde. Um das Überleben der Menschheit zu sichern, werden die wenigen noch fruchtbar geborenen Mädchen in einer spektakulären Show, dem Dandalon, meistbietend an Männer verkauft. Die 19-jährige Liah kämpft gegen die Regierung und dieses Vorgehen an, bis sie auf den undurchschaubaren Admiral Orion del Roe trifft. Dieser rettet sie vor einem Piratenangriff und kommt dabei nicht nur ihrem Geheimnis, sondern auch ihrem Herzen gefährlich nahe.

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Seitenzahl: 445

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-66-3

Alle Rechte vorbehalten

Für Jakob, Jonas, Levin und Lukas.

Und die zwei Kinder, die ich im Herzen trage.

Dieses Buch ist für euch.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Triggerwarnung

Triggerwarnung

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine genaue Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

Kapitel 1

Als die Dunkelheit über die Erde kam, holten wir uns die Sterne vom Himmel. Ihr Leuchten schenkt uns Hoffnung – jede Nacht und jeden Tag.«

Mit zusammengebissenen Zähnen schaue ich in die stark geschminkte Visage von London Tailor, die in Großaufnahme über den Bildschirm flimmert, und merke, wie jedes seiner Worte meine Wut noch weiter schürt.

Die Männer um mich herum nicken andächtig, einige wiederholen die beiden Sätze sogar. Die Worte, die jedes Kind in Stellaris eingetrichtert bekommt, bis wir davon träumen. Die Sterne, das Leuchten, die Hoffnung – das ist alles, was uns geblieben ist.

»Dieser Leitsatz, meine lieben Zuschauer und Zuschauerinnen, steht für die Stärke unseres Landes, für die Hoffnung, dass wir gemeinsam der Dunkelheit trotzen werden.« London betont das gemeinsam, als könnte er uns dadurch das Gefühl vermitteln, dass wir zusammengehören. Ein Land, ein Volk. Dass ich nicht lache.

»Und um die nächste Generation Evas in Stellaris zu sichern, hat die Regierung heute den Zeitpunkt des nächsten Dandalons festgelegt. In nicht einmal vier Wochen treffen sich alle fruchtbaren Mädchen zwischen vierzehn und siebzehn Jahren in Cordis Mundi, um ehrbare Männer zu finden, mit denen sie eine Familie gründen werden.«

Mein Magen rumort. Kalter Schweiß bricht mir aus.

»Freuen Sie sich mit mir auf das spektakulärste Dandalon, das Stellaris je erlebt hat.«

Wenn er noch ein Wort sagt, kotze ich mitten in die Schiffskantine.

»Alles okay, Captain?« Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Erschrocken fahre ich herum, ich habe niemanden kommen gehört.

Darren macht einen Schritt zurück und unterbricht damit unseren Körperkontakt. In seinem Gesicht spiegelt sich Überraschung, gemischt mit Sorge und Unsicherheit. Er weiß nicht, ob er zu weit gegangen ist, indem er mich berührt hat. Es steht ihm eigentlich nicht zu, ich bin sein Captain, er ist nur ein einfacher Matrose.

»Ja. Alles in Ordnung.« Als jemand hinter mir in die Hände klatscht, blicke ich automatisch in die Richtung des Geräuschs. Jace sitzt neben zwei anderen Männern vor dem Fernseher. Er schlägt einem von ihnen gegen den Arm und lacht erneut laut auf. Seine Begeisterung ist förmlich greifbar. Mein bester Freund liebt das Dandalon und alles, was dazugehört. Die größte, medienwirksamste Show, die es in Stellaris gibt. Die Show, in der fruchtbare Mädchen verkauft werden. Mit jeder Menge Brimborium wird sie eine Woche lang in Cordis Mundi, unserer Hauptstadt, zelebriert und bietet neben der eigentlichen Versteigerung jede Menge Vergnügen für alle Sinne. Während der sieben Tage schauen sich die teilnehmenden Männer die Evas an, sprechen mit ihnen, lernen sie kennen, erfahren alles über sie und ihren Gesundheitszustand, bevor sie eine von ihnen am letzten Tag ersteigern können. Selbstverständlich wird die Veranstaltung live in das ganze Land übertragen, es laufen Wetten in der Bevölkerung, wer wen kaufen wird und welche Eva wohl das höchste Gebot erhält. Denn wie bei allem in Stellaris geht es auch beim Dandalon vor allem ums Geld. Allein ein Ticket, um als Käufer teilzunehmen, kostet über zehntausend Ruby, daher steht der Zugang nur den wohlhabenden Männern in Stellaris offen. Von der Summe, die am Ende für eine Eva gezahlt wird, ganz zu schweigen.

Erneut schwappt eine Welle Übelkeit über mich hinweg. Es war eine beschissene Idee, mit den Männern einen zu trinken. Aber ich wollte mit ihnen sprechen, mir ihre Probleme und Sorgen anhören. Nahbar sein, was so viele andere Kapitäne der Sternenflotte nicht sind.

»Liah?« Darrens Stimme erklingt nahe an meinem Ohr.

Ich wende mich wieder zu ihm um. Ich muss hier raus. Und Darren ist vermutlich die beste Option, die sich mir bietet, um den Kopf freizubekommen. Schnell greife ich nach seiner Hand, die fest und warm in meiner liegt. »Komm!«

Er fragt nicht, wohin ich ihn ziehe, er läuft mir hinterher. Ein Matrose, der seinem Captain folgt. Wie alle Männer auf diesem Schiff.

Doch kaum fällt die Tür zu meiner Kajüte ins Schloss, ändern sich die Verhältnisse. Darren presst mich mit seinem Körper an die Wand, sein Mund liebkost meinen Hals, während ich meine Beine um seine Hüfte schlinge. Mit den Händen reiße ich an seiner Jacke. Ich will nicht nachdenken, will Londons Worte aus meinem Kopf verbannen. Will die verdammte Erinnerung tilgen und kann die Angst und die Wut, die jede Sekunde durch meinen Körper hämmern, doch nicht unterdrücken.

Ein Fluch verlässt meine Lippen, als Darren mich ohne Vorwarnung auf das Bett wirft. Sofort ist er über mir, grinst mich schelmisch an und zieht dann den Overall von meinen Schultern. Seine Küsse folgen einer unsichtbaren Spur meinen Körper hinab. Dabei streifen seine Lippen das kleine Muttermal über meiner linken Brust. Die dunkle Linie erinnert mit etwas Fantasie an ein L, Grund genug für meine Mutter, mich Liah zu nennen. Darren liebkost meinen Bauch und als er seine Zunge endlich in meiner Mitte versenkt und ich aufkeuche, wird mein Kopf leer.

Die Bilder verschwinden, Londons Worte sind nur ein leiser Nachhall. Aber die Angst bleibt.

***

Meine Finger zittern, als ich nach der kleinen Metallschachtel greife. Mein Körper fühlt sich matt an, zufrieden. Darren weiß verflucht genau, wie er mich glücklich machen kann, und in den letzten fünfundvierzig Minuten hat er sein Können mehr als einmal unter Beweis gestellt.

Mein Blick streift den Badezimmerspiegel über dem Waschbecken, ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht. Meine dunkelblonden Haare sind zerzaust, die Wangen gerötet, meine wasserblauen Augen glänzen. Man muss kein Genie sein, um auf einen Blick zu durchschauen, was ich die letzte Stunde getrieben habe. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Energisch reibe ich mir mit einer Hand übers Gesicht. Es ist Zeit, wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren. Meine Männer warten auf Befehle, auch wenn die Nacht verspricht ruhig zu werden.

Mit einem Handgriff öffne ich die Metallschachtel – und erstarre. Sie ist leer. Keine einzige blaue Pille befindet sich darin. Schlagartig fange ich an zu zittern. Eine Gänsehaut jagt über meine nackte Haut und ich fühle, wie sich etwas in meinem Bauch verkrampft.

Nein. Das ist unmöglich. Ich habe die Pillen gezählt. Es waren noch drei übrig, als wir das letzte Mal … vorgestern … gestern … Verflucht!

Das Klack-Geräusch der sich schließenden Schachtel dröhnt in meinen Ohren. Mit weit aufgerissenen Augen schaue ich mich im Spiegel an. Offene Angst starrt mir entgegen, jeder Atemzug wird hektischer als der davor.

Beruhige dich, Liah!, ermahne ich mich selbst. Ich presse die Lider zusammen und lege die Schachtel am Waschbeckenrand ab. Danach drehe ich den Hahn auf und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Es wird schon nichts passiert sein. Es war nur ein Mal. Von nur einem Mal werde ich nicht – Stopp! Ich verbiete mir, weiter zu denken. Weiter zu spinnen, was passieren könnte, welche Konsequenzen auf mich zukämen.

Nein, es wird schon nichts passiert sein. Die Angst bleibt trotzdem. Mein treuer Begleiter an jedem verfluchten Tag.

Gerade als ich mich umwende, fährt eine leichte Vibration durch meinen linken Arm und der Pager an meinem Handgelenk blinkt auf. Ich will einen Blick auf die eingehende Nachricht werfen, da reißt mich ein Ruck zu Boden. Was zur Hölle? Ein hässliches Knirschen dröhnt durch den Raum. Mit einem Satz bin ich wieder auf den Beinen. Ich ignoriere das dumpfe Pochen an meiner rechten Hand und reiße endlich die Tür zu meiner Kabine auf. Der Boden wankt erneut, doch diesmal schaffe ich es, stehen zu bleiben.

Darren sitzt mit weit aufgerissenen Augen auf meinem Bett. »Was ist los?« Seine tiefe Stimme klingt rau von der letzten Stunde.

»Ich weiß es nicht!« Mit wenigen Schritten bin ich bei ihm, fische meine Unterwäsche vom Boden und ziehe sie hektisch über.

Wieder wankt die Kabine. Mit einem lauten Klirren fällt meine Nachttischlampe herunter und zerbricht, Stifte und Papier fliegt durch den kleinen Raum. Irgendwo knackt es bedenklich, ich spüre ein Beben unter meinen Fußsohlen.

»Fuck! Was ist das?« Auch Darren kommt auf die Beine. Endlich.

Die Alarmanlage schrillt plötzlich los, gleichzeitig geht das Licht aus. Mit einem Schlag ist es stockfinster. Mein linker Arm vibriert erneut. Ich brauche nicht hinzusehen, ich weiß auch so, was hier gerade passiert.

»Wir werden angegriffen!« Ich bezweifle, dass mich Darren über den Alarm hinweg versteht.

»Was? Von wem?«, brüllt er ebenso laut wie ich. So gut Darren im Bett ist, der Klügste ist er nicht. Es gibt nicht viele Möglichkeiten, wer uns so weit draußen im Eismeer angreifen könnte. Und wenn ich nicht völlig daneben liege, sind es die verfluchten Novae. Gesetzlose, Piraten, die nichts anderes im Sinn haben, als zu plündern und zu zerstören. In unserem Fall wollen sie vermutlich die Lebensmittel und das Solex stehlen, das wir dringend nach Wega bringen müssen.

Ich antworte Darren nicht, sondern greife nach meinem Pager. Mit einem Fingerdruck aktiviere ich das Kommunikationsmodul. »Jace? Wie ist die Lage?«

Mein erster Offizier bleibt mir die Antwort schuldig. Stattdessen wird die Kabinentür aufgerissen und ein heller Lichtstrahl fällt ins Zimmer. Überrascht blinzle ich gegen die gleißende Helligkeit. »Verdammte Scheiße, mach dein beknacktes Licht aus!«

Der Lichtkegel wandert zu Boden. »Captain! Die Novae greifen uns an! Wir haben Backbord ein Leck!« Jace brüllt so laut, dass er die Alarmanlage übertönt.

»Das ganze Schiff in Gefechtsbereitschaft!«, befehle ich, während ich gleichzeitig über den Pager die anderen Offiziere informiere.

Die Notbeleuchtung springt an und taucht die Kabine in ein diffuses rötliches Licht. Die Alarmanlage verstummt. Mit einem Ruck ziehe ich den Reißverschluss meines schwarzen Overalls zu, den ich mir in der Zwischenzeit übergestreift habe, und schließe den Gürtel. Jace sieht von mir zu Darren. Dann schaltet er die Taschenlampe in seiner Hand aus.

»Spar dir einen Kommentar«, zische ich, als ich an ihm vorbei in den Gang hechte.

Ein süffisantes Grinsen umspielt seine Lippen, bevor sein Gesichtsausdruck wieder ernst wird. »Aye, Ma’am. Würde ich doch nie wagen.«

Ich unterdrücke ein Augenrollen. »Wie viele sind es?«

»Ich weiß es nicht genau. Aber da die Novae nie allein angreifen, sind es mindestens zwei Schiffe.«

»Wie konnten wir sie übersehen?« Ich versuche, ihm keinen Vorwurf zu machen, ebenso wenig mir selbst. Wir waren aufmerksam, hatten alle Überwachungssysteme laufen; die Piraten müssen sich getarnt haben.

Jace wirft mir einen kurzen Blick zu, während wir weiter durch den schmalen Gang in Richtung Kommandobrücke rennen. In seinen graublauen Augen steht eindeutig Angst. »Sie haben sich getarnt, unser Radar hat sie nicht erfasst«, bestätigt er meinen Verdacht.

Noch ein Fluch, bevor erneut ein lautes Krachen die Luft zerreißt. Ich werde gegen meinen Freund geschleudert und reiße ihn mit zu Boden. Meine Stirn schlägt auf das harte Metall auf, ich schmecke Blut auf meiner Zunge. Schwarze Schlieren tanzen vor meinen Augen, als ich den Kopf hebe und wieder auf die Beine komme. Jace rappelt sich neben mir auf. Ich renne los, sehe nicht mehr nach links oder rechts. Schneller, immer schneller, ansonsten haben wir verloren, bevor wir überhaupt einen Gegenangriff gestartet haben. Jace’ Schritte donnern direkt hinter mir durch den Gang. Weitere Besatzungsmitglieder kommen uns entgegen. Einige von ihnen sind verletzt, doch soweit ich auf die Schnelle erkennen kann niemand ernsthaft. Was ein Glück! Es ist mitten in der Nacht, die meisten Männer und Frauen meiner Crew haben geschlafen.

Eine Minute später erreichen wir die Brücke. Alle Offiziere sind anwesend, Jace und ich sind die Letzten.

»Lagebericht!« Meine Stimme schallt hart durch den kleinen Raum mit der Glasfront. Niemand wagt es, meine Autorität in Zweifel zu ziehen, auch wenn die meisten Offiziere meine Freunde sind. Flynn, Jace, Kaya, Amber und Devon. Aber es ist mein Schiff, mein Auftrag, den wir hier alle ausführen. Meine Verantwortung und mein verdammter Fehler, dass ich mich zu sicher gefühlt habe.

»Wir haben zwei Treffer Backbord, Ma’am. Die Bereiche B und C sind isoliert, der Schaden ist unter Kontrolle. Zwei Verletzte, keine Toten. Unser Radar erfasst sie immer noch nicht. Wir wissen nicht, wo sie sind.« Flynn, mein zweiter nautischer Offizier, berichtet sachlich ohne den Hauch einer Emotion. Aber ich kenne ihn zu gut, als dass mir der leise Unterton in seiner Stimme verborgen bliebe. Wir kämpfen blind gegen einen übermächtigen Feind.

»Der Tarnmodus ist aktiviert?«

»Aye, Ma’am. Aber durch die Einschläge werden sie uns trotzdem auf dem Radar sehen.«

»Das ist mir bewusst.« Wir liegen mitten auf dem Präsentierteller, bereit zum Verzehr.

Starr schaue ich durch die Glasfront hinaus in die schwarze Nacht. Wir haben unsere Scheinwerfer ausgeschaltet, sodass man mit bloßem Auge nichts erkennen kann. Ich sehe weder das Wasser noch die Eisberge um uns herum und schon gar keine feindlichen Schiffe. Meine Fingernägel bohren sich in meine Handflächen, aber ich ignoriere das leichte Brennen. Wie konnte mir so ein Fehler unterlaufen? Wie konnte ich mich so sicher fühlen? Nur weil wir morgen Wega erreicht hätten und so weit draußen im Eismeer normalerweise niemand freiwillig unterwegs ist?

Verfluchter Hochmut!

Plötzlich flammt direkt vor uns ein helles Licht auf, das mit rasender Geschwindigkeit auf uns zukommt.

»Runter!« Ich werfe mich der Länge nach auf den kalten Boden und presse die Hände schützend über meinem Kopf zusammen. In der nächsten Sekunde explodiert die Kommandobrücke. Glassplitter bohren sich in meine Haut, hinterlassen blutige Striemen, Hitze schießt meine linke Seite entlang. Es riecht verbrannt. Amber beginnt zu schreien.

Atmen! Ein, aus, weiter.

Ich spucke Blut, fahre mir mit der rechten Hand über den Mund und stehe wankend auf. Um mich herum erstreckt sich ein Trümmerfeld. Ambers linke Gesichtshälfte ist verbrannt. Sie kniet neben Flynn, der regungslos auf dem Boden liegt. Ein Blick genügt, um zu wissen, dass er nie wieder aufstehen wird.

»Jace?« Ich muss husten, würge, spucke erneut Blut. Mein Blick wandert hektisch umher.

»Aye, ich bin hier, Ma’am.« Jace kommt humpelnd auf mich zu. Seine braunen Haare sind angesengt, er hat Ruß im Gesicht. Aber außer einer Verletzung am Bein scheint es ihm gut zu gehen.

Ein kurzes Nicken, dann haste ich nach rechts zu dem Steuerpult. Schneidend kalter Wind peitscht durch die zerstörte Glasfront, Eis und Schnee stechen wie kleine Nadeln auf meinem Gesicht. Die Temperaturen auf der Brücke fallen innerhalb von Sekunden unter den Gefrierpunkt. Mit wenigen Handgriffen überprüfe ich das Steuerpult, aktiviere die Geschütze und halte inne. Vor uns ist immer noch nichts als Schwärze, aber das Schiff der Novae muss da sein. Sonst hätten sie uns nicht so zielgenau getroffen. Ohne weiter zu zögern, fährt meine Hand nach unten und gibt den Befehl.

Mehrere Schüsse dröhnen durch die pechschwarze Nacht, ich halte den Atem an. Nur einen Wimpernschlag später explodiert ein Feuerwerk vor meine Augen. Treffer. Gleißendes Licht sprengt sich durch die Außenwand des Piratenschiffes, das für einen kurzen Augenblick in voller Gänze in der Dunkelheit aufflackert. Ein Eisbrecher. Scheiße! Diese Schiffe werden meistens von drei bis vier Beibooten begleitet.

Ich brauche eine Sekunde, dann habe ich meinen Plan gefasst. Die Piraten wollen uns nicht vernichten. Sinken wir, verlieren sie das Solex. Und nur deshalb greifen sie uns an.

»Jace, du übernimmst die Brücke. Feuer frei, wir müssen sie auf Abstand halten!« Ich fahre herum, ignoriere die Kälte, die mir bei jedem Atemzug in die Lunge sticht. »Amber? Bist du okay?«

Mein zweiter Offizier schaut mich aus rotgeränderten Augen an. Lange schwarze Strähnen umrahmen ihr schmales Gesicht, die linke verbrannte Seite glänzt dunkelrot. Amber presst ihre vollen Lippen zusammen, sieht ein letztes Mal zu Flynn. Ich weiß, dass sie mehr für ihn empfunden hat, aber jetzt ist nicht die Zeit um zu trauern. Jetzt müssen wir alle erst einmal unseren Arsch retten.

»Ja, Ma’am!«

Wenige Minuten später rasen Amber und ich mit einem Beiboot hinaus auf das offene Eismeer. Dunkelheit empfängt uns, Kälte und ein Sturm aus Eis und Schnee. Es war eine ganz beschissene Idee, sich allein hinauszuwagen, doch jetzt gibt es kein Zurück mehr.

Eingepackt in dicke Handschuhe krallen sich meine Hände um das Steuerrad. Ein schwerer Mantel liegt auf meinen Schultern, eine Maske schützt mein Gesicht. Dennoch zwingt mich die Kälte beinahe in die Knie. Es dauert nur wenige Augenblicke, dann haben wir unser Schiff hinter uns gelassen. Vor uns tobt das Meer. Immer wieder reiße ich das kleine Schlauchboot herum, um in letzter Sekunde einer Eisscholle auszuweichen. Es ist Wahnsinn, was ich vorhabe. Aber für irrwitzige Pläne bin ich bekannt, nicht umsonst bin ich der jüngste Captain, den es in Stellaris gibt.

»Sehen Sie etwas, Ma’am?«, schreit Amber über das Tosen des Motors hinweg.

Frustriert schüttele ich den Kopf. »Nur den verdammten Eisbrecher! Vorsicht!« Mit einem Ruck reiße ich das Boot nach rechts. Knapp hinter uns platscht eine Rakete ins Wasser. Eine Sekunde später explodiert das Meer und eiskalte Wellen spülen über uns hinweg. Fluchend fahre ich mir über die Augen. Nur hundert Meter entfernt nehme ich einen Schatten wahr. Er bewegt sich schnell, direkt auf unser Schiff zu. Das muss ein Beiboot der Piraten sein.

Schnell wende ich, gebe Amber Anweisung, das Steuer zu übernehmen. Sie drosselt das Tempo, fährt langsamer in die Richtung, die ich ihr genannt habe. Breitbeinig stehe ich in unserem Schlauchboot, eine Bazooka auf der Schulter. Eine mächtige Welle und ich liege im Wasser. Ein ungenauer Schuss und ich treffe mein eigenes Schiff. Mit zusammengekniffenen Augen starre ich in die Dunkelheit vor mir, korrigiere noch einmal meine Haltung und drücke ab. Der Rückstoß wirft mich um, die Bazooka fällt scheppernd zu Boden. Ein Atemzug lang geschieht gar nichts, dann gräbt sich das Geschütz tief in den Bauch des Beiboots der Piraten. Jemand beginnt zu schreien, eine Stichflamme schießt in den Himmel. Treffer!

Amber jubelt begeistert. Ich kann mein Glück kaum fassen. Das hätte ins Auge gehen können!

»Los, wir fahren hin! Ich will mir ein paar Novae schnappen, bevor sie untergehen!«, befehle ich, während ich das Beiboot im Blick behalte.

»Eine irre Aktion, Ma’am!«, stellt meine Freundin nüchtern fest, aber ich höre die Begeisterung heraus. Gefangene Novae bringen bis zu einhundert Ruby, ein netter Nebenverdienst.

Mit voller Fahrt hält Amber auf das Boot zu, das mittlerweile lichterloh in Flammen steht. Drei, nein, vier Personen versuchen hektisch, das Feuer zu löschen – ein sinnloses Unterfangen. Die Piraten erkennen in dem Moment ihr Dilemma, als wir bei ihnen ankommen. Ein Maschinengewehr im Anschlag eröffne ich das Feuer. Ein Pirat springt ins Wasser und verschwindet sofort in den dunklen Fluten. Bei den Temperaturen überlebt das niemand.

Kurz bevor wir das feindliche Beiboot erreichen, dreht Amber ab. Mit aller Kraft klammere ich mich an den Haltegriffen unseres Schlauchbootes fest, die Piraten genau im Blick. Mit der Breitseite rammen wir sie. Die Piraten haben keine Chance, sie wehren sich nicht einmal. Ihr Boot ist dabei zu versinken, bis der Eisbrecher auftaucht, um sie zu retten, ist es zu spät. Auch von den anderen Beibooten, die ich um uns herum vermute, ist nichts zu sehen. Mit erhobenen Händen rappeln sich zwei Piraten auf. Blut läuft ihnen übers Gesicht. Dennoch halte ich mein Gewehr oben, den Novae traue ich keine Sekunde.

»Los, rüber!« Ich muss nicht erklären, was ich von ihnen will. Gefangennahme ist immer noch besser als der Tod, selbst für einen Piraten.

Ein lautes Donnern lässt uns herumfahren. Kurz darauf explodiert die gesamte rechte Seite unseres Schiffes. Wie paralysiert starre ich auf das brennende Loch. Ein Jahr bin ich schon Captain. Ein Jahr, in dem ich mit meiner Crew über das Eismeer gefahren bin, in dem wir Eis und Stürmen getrotzt haben, unzählige Kämpfe gegen die Novae für uns entscheiden konnten und sogar der verdammten Dunkelheit davongefahren sind.

»Captain?« Es knackt leise in meinem Pager.

»Ja, Jace, ich sehe es. Wir kommen zurück.«

Wieder kracht ein Schuss durch die Dunkelheit, wieder trifft er den Rumpf. Lange wird es nicht mehr dauern, bis unser Schiff im Meer versinkt. In diesem Moment wirft uns eine heftige Welle nach vorne. Erschrocken reiße ich den Kopf herum. Ein riesiges Schiff schält sich hinter uns aus der Dunkelheit, drei silbrig leuchtende Sterne zieren den Bug. Eine Reihe Schüsse peitscht an uns vorbei, dann geht der Eisbrecher in Flammen auf.

Ungläubig schaue ich auf das Piratenschiff, sehe den Rauch und die Flammen, die sich in Windeseile durch den Bug des Schiffes fressen. Griechisches Feuer, grausame Geschütze, die sich selbst entzünden und immer weiter wachsen, je mehr sie entflammen. Wieder zischen Schüsse an uns vorbei, einer nur einen Meter von unserem Beiboot entfernt. Das Wasser rund um den Eisbrecher beginnt zu brennen, ein scharf beißender Geruch mischt sich mit dem Qualm und Feuer. Das griechische Feuer hat die Außenwand des Schiffes zum Schmelzen gebracht, der Eisbrecher wird zum brennenden Sarg. Nichts und niemand wird ihn mehr retten. In weniger als einer Stunde wird ihn das Eis verschluckt haben.

Mein Blick fällt auf die zwei gefangenen Novae. Mit weit aufgerissenen Augen schauen die Männer auf ihr Schiff, Angst und Entsetzen steht in ihren Augen.

»Sofort zurück«, befehle ich Amber knapp, dann gibt sie Vollgas. Wir lassen den Eisbrecher links liegen und halten auf unser Schiff zu. Warum auch immer der Sternenkreuzer hier aufgetaucht ist, er hat uns gerettet. Allerdings habe ich keine Lust herauszufinden, was ein verdammtes Regierungsschiff hier will, daher sollten wir so schnell wie möglich verschwinden.

Doch als Amber und ich von unserem Beiboot zurück auf das Deck klettern, erwartet mich mein erster Offizier bereits, die Hände verkrampft, seine Haltung angespannt. Dafür, dass wir gerade mit einem blauen Auge davon gekommen sind, wirkt er wenig glücklich.

Schnell springe ich aus dem Beiboot, Amber kümmert sich um die Gefangenen. Mit einem mulmigen Gefühl eile ich auf meinen Freund zu. »Wie hoch ist der Schaden, können wir weiterfahren?«

Jace nickt und schüttelt gleichzeitig den Kopf. Sein Gesicht hat diesen bestimmten Ausdruck, den er immer dann trägt, wenn er wirklich beschissene Neuigkeiten für mich hat. »Wir haben die betroffenen Bereiche so gut es ging gesichert, Ma’am. Die Männer sind bereits dabei, die Schäden zu beheben. Es gab vier Tote, zwei Matrosen, ein Techniker und Flynn.«

Mein Hals wird eng, ich presse die Lippen zusammen. Ein knappes Nicken, mehr ist im Moment nicht drin.

»Wir werden dennoch nicht sofort weiterfahren können, Ma’am.« Jace’ rechtes Augenlid zuckt, ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt. »Der Captain des Sternenkreuzers will Sie sprechen. Er kommt in einer halben Stunde an Bord.«

Kapitel 2

Seit ich klein war, suche ich nach den Sternen am Himmel. Stundenlang habe ich von unserer Wohnung in Cordis Mundi aus mit meinem Vater in den Nachthimmel geschaut, doch die einzigen Lichter, die in die Dunkelheit strahlten, kamen aus den unzähligen Fenstern der Häuser unter mir. Selbst heute verliere ich mich ab und zu im schwarzen Firmament, starre in das dunkle Nichts, bis mir die Augen tränen. Sternendunkel nennen wir Stellaren die lichterlose Finsternis, die uns jede Nacht und jeden Tag einhüllt. Einen echten Stern habe ich nie gesehen.

Seit dem Meteoriteneinschlag vor rund siebzig Jahren ist unsere Welt dunkel und kalt. Nachts, aber auch tagsüber. Mit dem Aufprall stürzte die Welt ins Chaos - Erdbeben, Flächenbrände, Vulkanausbrüche und riesige Flutwellen folgten, die alles Leben unter sich begruben. Einige Wenige konnten sich retten und hofften, in Höhlen und Bunkern überleben zu können. Doch entgegen allen Erwartungen blieb der Himmel nach dem Einschlag dunkel. Eine neue Eiszeit brach an. Die Meere froren zu, ein Großteil der Tier- und Pflanzenwelt verendete. Durch das fehlende Sonnenlicht sowie die Mangelernährung und das lebensfeindliche Klima wurden die Menschen schwach und starben. Wissenschaftler der Meteor Company erfanden ein Präparat, einen Cocktail aus Vitaminen, Mikronährstoffen und einigem mehr, durch dessen regelmäßige Einnahme die Menschen kräftiger und resistenter wurden: das Solex. Es folgten erste stabile Jahre, das Land Stellaris wurde gegründet, Städte wieder aufgebaut. Bis sich eine fatale Nebenwirkung des lebenswichtigen Solex zeigte, die unumkehrbar war: Beinahe jedes neugeborene Mädchen war unfruchtbar.

Ich interessiere mich nicht sonderlich für die Vergangenheit, sie lässt sich nicht ändern. Die Zukunft allerdings haben wir selbst in der Hand. Und ich habe mein Leben lang dafür gekämpft, das Beste aus meiner zu machen.

Mit verschränkten Armen, einem nichtssagenden Lächeln auf den Lippen und stolz gerecktem Kinn stehe ich an Deck und warte auf den Captain des Sternenkreuzers. Die kleinen Verletzungen in meinem Gesicht brennen wie Feuer, nachdem Jace mir eine heilende Paste darauf geschmiert hat. Um mein rechtes Handgelenk spannt sich eine stützende Bandage. Der Captain kommt zu spät, ich mag ihn schon jetzt nicht.

Gerade will ich umkehren und in das Innere meines Schiffes verschwinden, da höre ich ein Geräusch. Ein einzelnes Motorboot schießt aus der Dunkelheit auf unser Schiff zu.

Und plötzlich ist die Angst wieder da. Mein treuer Begleiter erinnert mich an etwas, das ich von mir schiebe, verdränge und so weit ausblende, wie es mir möglich ist. Nur leider klappt das nicht immer und die fehlenden Pillen haben mich daran erinnert, dass ich anders bin.

Sie kommen nicht wegen dir auf das Schiff, sondern wegen der Novae, erinnere ich mich und beiße mir auf die Unterlippe, bis es schmerzt. Der metallische Geschmack beruhigt mich, das Zittern verschwindet. Die Angst bleibt.

Kurze Zeit später klettern drei Männer mithilfe einer Leiter über die Reling auf das Deck, das in warmes, gelbes Licht getaucht ist. Es gibt keinen Grund mehr sich zu verstecken, daher habe ich angewiesen, sämtliche Lichter anzuschalten.

Unsere Gäste tragen dunkelblaue Overalls, feste Stiefel und Mützen. Auch ohne die drei silbernen Sterne auf der rechten Brusttasche erkenne ich den Captain sofort. Seine Haltung ist gerade, seine Bewegungen geschmeidig, jeder einzelne Schritt strotzt vor Selbstvertrauen. Mein Blick wandert von den drei Sternen über breite Schultern nach oben, folgt der kantigen Linie eines markanten, aber unrasierten Kinns, über volle Lippen, in deren Winkel der Spott spielt, und bleibt an einer schwarzen Augenklappe hängen. Oh, verdammt!

Admiral Orion del Roe ist eine Legende. Ein Geist, den ich noch nie zu Gesicht bekommen habe, von dem aber jeder, vom höchsten Regierungsbeamten bis hin zum ärmsten Bettler, in Stellaris gehört hat. Vor drei Jahren hatte er das Kommando im Kampf gegen die Novae im Süden bei Sirius. Während eines Gefechts geriet die Flotte in einen Hinterhalt. Die Dunkelheit verschluckte die Kämpfenden, nur ein einziges Schiff erreichte eine Woche später den Hafen von Cordis Mundi. Was genau geschah, ist nicht bekannt. Del Roe schweigt darüber und auch keiner seiner Männer hat geplaudert. Fest steht aber, dass er, der damals noch Captain war, mit Geld und Titeln überschüttet wurde und seitdem die Piraten erbarmungslos jagt. Und die Spuren des Kampfes bis heute trägt.

Eine mentale Ohrfeige später habe ich mich aus meiner Starre gelöst. Selbstbewusst trete ich vor meine Crew. Nur weil er eine Legende ist, ist del Roe immer noch ein Mann. Und damit werde ich fertig.

»Admiral!«

Mit wenigen Schritten überwindet del Roe den Abstand zu mir. Er bleibt so dicht vor mir stehen, dass ich gezwungen bin, meinen Kopf zu heben, um ihm ins Gesicht zu schauen. Er ist ein gutes Stück größer als ich und ich gehe jede Wette ein, dass dieses Auftreten volle Absicht ist. Ein amüsierter Ausdruck glänzt in seinem Auge, das im Licht der Lampen wie flüssiges Gold funkelt. O ja, er weiß genau, was er tut.

»Captain!«

Ich widerstehe dem Drang, einen Schritt zurückzuweichen. »Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung gegen die Novae, Sir. Ohne Ihr Eingreifen wäre unser Schiff verloren gewesen.«

Es vergeht ein Moment, ohne dass irgendjemand etwas sagt. Die Anspannung knistert förmlich in der Luft. Es ist offensichtlich, dass der Admiral nicht willkommen ist.

»Ich muss gestehen, ich bin beeindruckt. Und das schaffen nur wenige«, antwortet del Roe schließlich. »Es ist eine beachtliche Leistung, bei diesem Wetter mit einem Beiboot ohne Besatzung aufs offene Eismeer hinaus zu fahren, um die Piraten mit einer Bazooka anzugreifen.« Trotz der Kälte fährt ein warmer Hauch meinen Rücken hinunter. »Aber dass Sie völlig durchgeknallt sind, habe ich gehört, Liah Jay Sullivan.« Der Hauch verpufft.

Er weiß, wer ich bin. Ich kann noch nicht sagen, wie ich das finde.

»Und Sie sind genauso von sich eingenommen, wie die Leute sagen, Sir.«

Er quittiert meine Bemerkung mit einem Grinsen. Die Beleidigung scheint ihn in keinerlei Weise zu beeindrucken. »Ich gebe mir Mühe.«

Wieder vergeht ein Augenblick, dann tritt er an mir vorbei und lässt mich einfach stehen. Das Kräftemessen ist beendet. Offensichtlich geht er davon aus, dass ich ihm folge. Da ich immer noch keine Ahnung habe, was genau er hier will, tue ich ihm den Gefallen. Außerdem wäre es unklug, zu sehr aufzubegehren. Nicht, dass er zu viele Fragen stellt. Und misstrauisch wird.

Im Laufen zieht er sich die schwarze Mütze vom Kopf und entblößt einen Schopf rotbrauner Haare. Die Seiten sind kürzer geschnitten, einzelne Strähnen fallen ihm wirr in die Stirn. Zusammen mit seinem bernsteinfarbenen Auge, der schwarzen Augenklappe und dem Dreitagebart hat Orion del Roe etwas ungemein Düsteres an sich. Etwas ungemein Attraktives, Verbotenes, das umso reizvoller ist, je länger ich es betrachte. Etwas, das mir gefallen könnte – in einem anderen Leben. Er kann nur wenige Jahre älter sein als ich, dennoch trennen uns Welten.

»Wie viele Männer und Frauen haben Sie an Bord, Captain?« Er beachtet mich nicht, sondern schaut an mir vorbei über das Deck. Immer noch tritt Qualm aus dem Einschussloch auf der rechten Seite, der als wirrer Nebel in der Nacht verschwindet.

»Zwanzig, Sir. Abzüglich der vier Toten während des Gefechts.«

»Lebensmittel?«

»Fünf Kisten Getreide, zwanzig Kilo Fleisch. Dazu kommen mehrere Kisten Obst und Gemüse.«

»Und wie viel Silverspeen transportieren Sie, um es in Wega auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen?«

Ich zucke nicht einmal mit der Wimper, als ich ihm glatt ins Gesicht lüge. »Keins, Sir. Wofür halten Sie uns? Wir sind im Auftrag der Meteor Company unterwegs, wir verschiffen Lebensmittel und Solex.« Silverspeen ist eine Rauschdroge, der Konsum sowie der Besitz sind illegal, auf den Verkauf steht eine horrende Geldstrafe. Allerdings ist das Geschäft damit ein äußerst lukrativer Nebenverdienst.

Del Roe schenkt mir einen abschätzigen Blick. »Daran sollten Sie arbeiten, Sie lügen miserabel.« Zielsicher steuert er auf den Eingang ins Innere des Schiffes zu. Kurz vor der Eingangstür bleibt er stehen. Eine dünne Eisschicht überzieht das schwere Metall. »Aber deshalb bin ich nicht hier. Sie haben zwei Piraten gefangenen genommen, bevor das Boot gesunken ist. Ich will sie haben.«

Del Roe arbeitet für die Regierung, in deren Auftrag er Novae jagt. Wenn ich seinem Befehl nicht folge, laufe ich Gefahr, dass mir mangelnde Bereitschaft zur Aufklärung nationaler Sicherheitsfragen vorgeworfen wird. Und wenn es ganz schlecht läuft, nehmen sie mich genauer unter die Lupe. Beides Dinge, auf die ich gut verzichten kann. Allerdings kann ich ihm die Novae nicht einfach überlassen, ich brauche dringend Geld, um neue Pillen zu kaufen. Sonst habe ich bald ein viel größeres Problem.

»Zweihundert Ruby, dann gehören sie Ihnen, Sir.«

Jace tritt hinter mich. Ein vertrautes Murmeln dringt an mein Ohr, er steht zu mir, egal, wie die Diskussion weitergeht.

»Die Piraten sind Eigentum der Regierung, Captain. Ohne mein Eingreifen würden wir diese Diskussion hier gar nicht mehr führen«, stellt del Roe nüchtern fest.

Natürlich hat er recht, aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich klein beigeben muss. »Ich habe sie gefangen, sie gehören mir, Sir.«

»Hundert Ruby, für beide.«

»Sie wissen, dass die Regierung viel mehr für sie bezahlt.«

Sein Auge fixiert mich, funkelt amüsiert, anzüglich. Ihm scheint die Idee zu gefallen, die sich gerade in seinem Kopf abspielt. »Ich bin mir sicher, dass wir uns auch anders einigen könnten.« Sein diabolisches Grinsen verspricht Abgründe, aber meine Miene bleibt starr.

Sex ist keine unübliche Bezahlung in Stellaris. Ganz im Gegenteil ist das Vergnügen oft Teil eines Handels. Seit das verfluchte Solex fast jede Frau unfruchtbar gemacht hat, hat Sex einen völlig anderen Stellenwert bekommen. Heutzutage kann man in der Welt herumvögeln, ohne sich Sorgen darüber zu machen, dass unerwünschte Konsequenzen daraus folgen. Kaum jemand bindet sich mehr langfristig, Ehen werden nur noch selten geschlossen, Liebe wird belächelt. Und obwohl ich del Roes Angebot unter anderen Umständen vielleicht angenommen hätte, bin ich nicht interessiert.

»Hundert Ruby und ich will die Novae verhören, bevor ich sie Ihnen übergebe.«

Eine dunkle Augenbraue wandert nach oben. Wir stehen immer noch vor der Eingangstür, zusammen mit meiner Crew, die unsere Diskussion gespannt verfolgt. Und offensichtlich darauf wartet, wer gewinnt.

»Die Piraten wollten uns nicht kapern, sie wollten uns versenken, Sir. Ich will wissen warum«, schiebe ich hinterher.

»In Ordnung.« Del Roe macht eine offene Geste in Richtung Tür. Dabei fällt mir auf, dass er zwei Ringe an seiner rechten Hand trägt, einen schmalen silbernen am Mittelfinger und einen breiten schwarzen am Ringfinger. Vermutlich Abzeichen seiner Familie, ein durchaus übliches Erkennungsmerkmal. »Nach Ihnen, Captain.«

Ich wundere mich ein wenig, dass er widerspruchslos auf meine Forderung eingeht, frage aber nicht weiter nach. Einen besseren Handel werde ich nicht bekommen. Daher öffne ich – endlich – die Tür und gehe schnellen Schrittes voran.

Warme, rauchige Luft schlägt uns entgegen. Es riecht nach Metall, Schmieröl und Feuer. Auch wenn meine Mannschaft die beschädigten Bereiche abgeriegelt hat, dringt der Qualm durch jede Ritze. Über meinen Pager erkundige ich mich bei Amber, wohin die Männer gebracht wurden, und führe del Roe und seine zwei Begleiter anschließend quer durch das Schiff zu einem unserer Lagerräume. Jace habe ich angewiesen, die Brücke zu übernehmen, sodass wir nur zu viert unterwegs sind.

»Wussten Sie, Sir, dass Novae sich hier in der Gegend herumtreiben?«, frage ich den Admiral, während wir durch die schmalen Gänge des Schiffes gehen. Obwohl er direkt neben mir läuft, verursachen seine Schritte auf dem Metallflur keine Geräusche. Der Mann ist mir unheimlich, und das liegt nicht nur an seiner Augenklappe. Vielmehr haftet del Roe etwas Zwielichtiges an, etwas Undurchschaubares, das es schwer macht, ihn einzuschätzen.

»Wir haben die Piraten die Küste nach Norden hoch verfolgt, bis wir sie vor ein paar Tagen verloren haben. Dass sie heute so prompt vor uns aufgetaucht sind, war Zufall.«

Seit ich sechs Jahre alt war, glaube ich nicht mehr an Zufälle. Er lügt. »Haben Sie eine Idee, was die Piraten so kurz vor Wega wollen?«

»Nein. Aus diesem Grund will ich sie verhören.« Del Roe streicht sich mit der Hand eine Strähne aus der Stirn. Dabei fährt er über die schwarze Augenklappe, die sein linkes Auge verbirgt. Unwillkürlich frage ich mich, wie die Verletzung darunter wohl aussieht. Ob er sein Auge noch hat?

»Haben Sie auf Ihrem Weg nach Norden noch weitere Novae getroffen? Die Piraten, die uns angriffen, waren die ersten, auf die wir auf dieser Reise gestoßen sind.« Auch diese Tatsache ist seltsam. Normalerweise tummeln sich Novae vor der Küste und warten nur darauf, einzelne Frachtschiffe zu kapern.

»Haben Sie das Verhör bereits begonnen, Captain?«, erwidert der Admiral mit gespielter Ernsthaftigkeit. Beinahe hätte ich ihm die Leichtigkeit in seiner Frage abgekauft, wäre da nicht das leise Zögern gewesen. Er will mir die Antwort nicht geben. Es steckt mehr hinter seinem Auftauchen, als er mich glauben lassen will.

Ich ignoriere seine Provokation, auf die er sowieso keine Antwort erwartet. Schweigend gehen wir weiter, bis am Ende des Ganges eine unscheinbare Tür auftaucht, vor der ausgerechnet Darren Wache hält.

»Öffnen!«, befehle ich knapp.

Einen kurzen Augenblick sieht Darren mich an, tausend Fragen schimmern in seinen Augen, doch dann dreht er sich wortlos herum und schließt die Tür auf. Als ich an ihm vorbei in den Lagerraum gehen will, greift er nach meinem Arm. »Geht es dir gut, Liah? Ist alles in Ordnung?«

Darren hat mein harsches Auftreten nicht verdient. Daher halte ich inne, zwinge mich zu einem Lächeln, obwohl mir ganz und gar nicht danach ist. »Ja. Mir geht es gut. Danke!« Er runzelt die Stirn, doch ich beachte ihn nicht weiter und trete ein.

Grelles Licht strahlt von einer Neonröhre an der Decke in den fast leeren Raum. Ein chemischer Geruch nach Putzmittel liegt in der Luft, außerdem die feine Note nach Salzwasser, Dreck und Rauch. Direkt gegenüber der Tür sitzen die zwei Novae an der Wand auf dem Boden, an Händen und Füßen gefesselt. Sie tragen saubere, schwarze Overalls, aber allein ein Blick in ihre hasserfüllten Gesichter genügt, um sie eindeutig als Piraten zu identifizieren. Sie verachten uns, unseren Reichtum, unser Leben, unsere Gesetze und Regeln, ohne die das System in Stellaris nicht funktionieren würde. In gewisser Weise sind wir gar nicht so verschieden, nur dass ich nicht töten würde, um die Regierung zu stürzen. Dafür gibt es subtilere Wege.

»Du vögelst mit dem Waschlappen vor der Tür, aber mein Angebot lehnst du ab? Wir hätten viel Spaß miteinander haben können.« Überrascht schrecke ich zusammen, als del Roes tiefe Stimme an meinem Ohr ertönt. Es kribbelt kalt in meinem Nacken, dann streicht sein Atem sanft über meine Haut. Er steht direkt hinter mir, viel zu nah, als dass es noch anständig wäre.

Schnell mache ich einen Schritt nach vorne. »Das bezweifle ich doch sehr.« Ein süßlicher Geruch kitzelt in meiner Nase, den ich nicht zuordnen kann.

Del Roe ist mir allein in den Lagerraum gefolgt, seine zwei Männer warten vor der Tür. Beklemmung steigt in mir auf, es behagt mir nicht, nur mit dem Admiral hier zu sein. Aber den Teufel werde ich tun, ihn das wissen zu lassen.

Kalte, fast schwarze Augen sehen zu mir hoch, als ich mich vor den beiden Novae aufbaue. Sie haben dunkle Haare und leicht schräg stehende Augen, außerdem auffällig gleiche Gesichtszüge. Vermutlich sind sie Brüder. Ich habe die beiden von einem brennenden Boot gerettet, ohne mich wären sie ertrunken. Dennoch ist etwas an der ganzen Sache faul.

»Warum habt ihr uns angegriffen?«, stelle ich meine erste Frage. Wie erwartet bleiben sie stumm.

Seufzend ziehe ich eine Pistole hervor, die in einer Seitentasche meines Overalls verborgen war, und ziele damit auf den rechten Novae. Er sieht jünger aus, vielleicht wecke ich bei seinem älteren Bruder den Beschützerinstinkt. Überraschung flackert in den Augen des jungen Mannes auf, sein Körper verkrampft, aber er schweigt weiterhin.

»Rede, oder ich werde dich erschießen.« Mit geübten Griffen entsichere ich die Pistole. Del Roe flucht leise, schreitet aber nicht ein.

»Du hättest uns nicht gerettet, wenn du uns jetzt einfach abknallen wolltest.« Die Stimme des Novae ist fest, keine Spur von Furcht schwingt darin mit. Die Piraten sind sich ihrer Sache sehr sicher. Ich allerdings auch.

»Tja, das war, bevor mir die Regierung nur hundert Ruby bezahlt hat. So viel ist maximal einer von euch wert, daher genügt es auch, wenn ich nur einen übergebe.« Entschuldigend zucke ich mit den Schultern. Das Gesicht des Mannes friert ein. Er versucht mich einzuschätzen, ob ich wirklich so kaltblütig bin, ihn neben seinem Bruder zu erschießen. Mit aller Kraft unterdrücke ich meine Gefühle, sperre mein Gewissen weg, das mir zuflüstert, dass ich es nicht bin. Dass ich noch nie einen Menschen erschossen habe. Jetzt zählt nur, dass die Novae genau das glauben.

Als der Pirat den Kopf ganz leicht zu seinem Bruder dreht, weiß ich, dass ich gewonnen habe. Er wird mir sagen, was ich wissen will. Denn die Novae mögen grausam und gewalttätig sein, vor allem aber kämpft jeder für sich.

»Wir haben einen Tipp bekommen, dass ihr Solex an Bord habt«, gibt der Jüngere zu.

Eine steile Falte bildet sich zwischen meinen Augenbrauen. »Ihr habt auf uns gefeuert, damit wir sinken. Ihr wolltet uns nicht kapern, ihr wolltet uns vernichten. Warum?«, präzisiere ich meine Frage und fahre mir mit der freien Hand über die verschwitzte Stirn. Die andere klammert sich immer noch um die Pistole, den Lauf direkt auf den Kopf des Novae gerichtet. Es ist warm in dem Lagerraum, außerdem ist die Luft nicht besonders gut.

Del Roe hat sich bisher auffällig still verhalten, jetzt tritt er neben mich. Wieder rieche ich etwas Süßliches, mein Blick zuckt irritiert zum Admiral. Geht der Geruch etwa von ihm aus?

»Antwortet. Das vorhin war ein gezielter Angriff auf ein Frachtschiff! Ihr wisst, was mit euch geschieht, wenn ihr erst in Cordis Mundi seid.« In jedem Fall werden sie sterben. Nur über die Art und Weise wird noch entschieden.

Der jüngere Pirat presst die Lippen zusammen und schweigt. Wut kommt in mir auf, mir reicht es. Mein Schädel dröhnt und ich spüre die Verletzungen im Gesicht mit einem Mal wieder in aller Deutlichkeit. Eine zähe Übelkeit breitet sich in meinem Magen aus, die mich hart schlucken lässt. Dieses Verhör wird noch ewig dauern, wenn sie nicht bald reden.

Ein lauter Knall dröhnt durch den Lagerraum, als die Kugel dicht neben dem Kopf des Piraten in die Metallwand dringt. Er schreit erschrocken auf, seine Augen weiten sich panisch. Dass ich noch nie einen Menschen erschossen habe, bedeutet nicht, dass ich es nicht kann.

»Wir hatten den Auftrag, das Solex zu vernichten.« Die Worte kommen in einem Schwall aus seinem Mund.

»Warum?«, fahre ich ihn an und unterdrücke einen Würgereiz. Mir ist speiübel und ein leichter Schwindel erfasst mich. Was zur Hölle ist hier los?

Der ältere Pirat runzelt die Stirn, sein Blick wandert von mir zum Admiral und zurück. »Es geht das Gerücht um, dass die Meteor Company Produktionsprobleme hat. Wir wollten das Solex vernichten, damit es Wega nicht erreicht.«

Neben mir zischt es. »Woher habt ihr diese Information?«

Gedankenfetzen wirbeln wild in meinem Kopf herum, keinen kann ich halten. Meine Sicht verengt sich, schwarze Punkte flirren vor meinen Augen hin und her. Orcus del Vara, der Besitzer der Meteor Company, ist vor wenigen Wochen verstorben, sein Tod hat die Firma stark erschüttert. Sein Sohn Ceres hat die Geschäfte übernommen, soweit ich gehört habe, problemlos. Doch jetzt soll es Produktionsprobleme bei der Solex-Herstellung geben? Das käme einer Katastrophe gleich. Schlimmer als das. Das Solex ist für unsere Existenz essentiell. Gibt es nicht genug, bedeutet das das Ende der Menschheit. Wir alle brauchen das Präparat zum Überleben. Nehmen wir es nicht einmal im Monat ein, wird unser Körper immer schwächer, bis er schließlich stirbt. Und die Meteor Company ist die einzige Firma, die das Solex produziert.

Aber warum zerstören die Novae dann unser Schiff? Wo ist der Zusammenhang? Die Pistole in meiner Hand zittert merklich, es fällt mir immer schwerer, den Arm ausgestreckt zu halten.

»Ihr …« Wieder muss ich schlucken. Die Übelkeit wird übermächtig. »Und dafür zerstört ihr mein Schiff? Um zu verhindern, dass Wega genug Solex erhält?« Ein keuchender Atemzug. Ein Gedanke zuckt durch meinen Kopf, eine Idee, viel zu schnell, als dass ich sie tatsächlich greifen könnte. Es ging nie um das Solex, es ging um Wega. Sie wollen verhindern, dass wir die Stadt erreichen. Sie wollen Wega vernichten. Wieder ein Atemzug, der Gedanke ist fort. Mittlerweile dreht sich um mich herum alles. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. »Scheiße!«

Ein starker Arm schlingt sich um meine Taille, als meine Knie nachgeben. Die Pistole wird aus meiner Hand entwendet, meine Lider flattern. Mein Kopf fällt einfach nach hinten, ich habe keine Kraft mehr.

»Was hast du mit mir gemacht?« Meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern. Del Roes Gesicht erscheint in meinem Blickfeld, als er mich vorsichtig auf den Boden legt.

»Bleib ruhig, Liah. Atme, gleich wird es besser. Deine Verletzungen müssen schlimmer sein als gedacht.«

Ein sanftes Murmeln, Finger, die sanft über mein Gesicht streifen. Wieder dieser süße, ekelhafte Geruch. Dann fühle ich nichts mehr. Nur noch eine dunkle Wärme, die wohlig durch meinen Körper strömt. Ich lasse mich fallen, hinein in das Gefühl entspannter Zufriedenheit. Es ist nicht mehr wichtig, was hier gerade passiert. Wer mich hält, wer ich bin. Ich gebe mich der Wärme hin, versinke in der Dunkelheit und will nie wieder fort.

Doch als sich mein Verstand langsam wieder lichtet, als ich zu mir komme und in Jace’ besorgte graublaue Augen schaue, werde ich das dumpfe Gefühl nicht los, im Lagerraum mehr verloren zu haben als nur mein Bewusstsein.

Kapitel 3

Das gleichmäßige Brummen des Schiffmotors hat etwas Tröstliches. Es suggeriert, dass alles in Ordnung ist, dass unser Schiff fährt, dass meine Welt im Gleichgewicht ist. Aber seit dem Angriff der Novae gestern ist sie das nicht mehr. Unser Schiff hat erheblichen Schaden genommen, wir können froh sein, wenn wir Wega morgen ohne weitere Zwischenfälle erreichen. Vier meiner Leute sind tot. Es sind nicht die Ersten, die ich bei einem Gefecht verloren habe, aber jeder einzelne Verlust tut weh. Und für all diese Männer hatte ich die Verantwortung.

Noch einmal atme ich tief durch, sortiere meine Gedanken. Ich muss stark sein, für meine Crew, für meine Freunde, aber vor allem für mich. Ich wäre nicht so weit gekommen, wenn ich mir erlauben würde, dass meine Gefühle mein Leben bestimmen. Nie und nimmer hätte ich mich sonst gegen überwiegend männliche Bewerber bei der Meteor Company durchgesetzt, nie wäre ich der jüngste – weibliche – Captain geworden, der einen verdammten Frachter durch das Eismeer fährt. Stark, pragmatisch und rational – auch wenn mein Herz mich manchmal daran erinnert, dass es noch schlägt. So wie jetzt.

Sachte klopfe ich an die graue Kabinentür. »Amber? Ich bin es, Liah.« Einen Moment später öffne ich und trete ein. Amber sitzt auf ihrem schmalen Bett, das Gesicht starr, die Hände in die Decke gekrallt. Sie versucht sich an einem Lächeln, das gnadenlos misslingt.

»Wie geht es dir?«, frage ich und setze mich neben sie auf das Bett. Auch Amber hat Schrammen im Gesicht, aber deshalb geht es ihr nicht so beschissen. Sie trauert um Flynn.

»Es ging mir schon besser, Ma’am.« Sie verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen, versucht, Stärke zu zeigen, ebenso wie ich. Wir sind uns sehr ähnlich, Amber und ich. Wir waren zusammen auf der Akademie, haben uns beide um die Stelle als Captain bemüht. Dass ich sie bekommen habe, hat sie mir nie verziehen.

»Es tut mir sehr leid! Flynn war ein guter Kerl.« Meine Hände fahren unruhig über meine Oberschenkel, wollen beschäftigt sein.

»Das war er.« Sie holt tief Luft, atmet aus, reißt sich ganz offensichtlich zusammen. »Aber immerhin haben wir es den Schweinen gezeigt, Ma’am.« Das Lächeln, das jetzt über ihr Gesicht huscht, ist echt.

Ich erwidere es. »Das haben wir. Und deshalb bin ich hier.« Behutsam lege ich ein Bündel Scheine neben ihr auf das Bett. »Das sind fünfzig Ruby, dein Anteil am Verkauf der beiden Novae.«

Überrascht schaut sie auf das Geld. »Danke, Ma’am!«

Andere Kapitäne hätten das Geld nicht geteilt. Es ist kein Versuch Amber für mich zu gewinnen, es ist kein Geheimnis, dass sie mich nicht besonders mag. Dennoch war die Gefangennahme der Piraten genauso ihr Verdienst, wie es meiner war. Es ist nur gerecht.

»Nicht dafür. Es steht dir zu!«, erkläre ich mit Nachdruck.

Amber nickt zustimmend, Respekt blitzt in ihren Augen auf. Mehr erwarte ich nicht.

»Morgen erreichen wir Wega. Kann ich dann wieder mit dir rechnen?«, frage ich, während ich aufstehe und einen Schritt auf die Tür zugehe.

»Aye, Ma’am!« Sie erhebt sich ebenfalls, wirkt aufgeräumter, gefasster. Dann zögert sie kurz. »Danke, Liah. Für alles.«

Ich nicke knapp und ziehe die Tür hinter mir ins Schloss. Langsam gehe ich zurück zur Brücke. Wir haben das Schiff gereinigt und repariert, was möglich war. Zum Glück ist kein wichtiges Steuerelement beschädigt, sodass wir weiterfahren können. Aber wir werden mindestens eine Woche in Wega bleiben müssen, damit das Schiff so weit in Stand gesetzt werden kann, damit es die Rückfahrt nach Cordis Mundi gefahrlos übersteht.

Ich bin immer noch in Gedanken, als ich an Darrens Kabine vorbeikomme. Er hat mich über meinen Pager bereits mehrfach gefragt, wie es mir geht, aber mehr als ein »Alles okay« hat er nicht von mir erhalten. Und dabei war er es, der direkt nach meinem Zusammenbruch Jace informiert hat. Mein schlechtes Gewissen meldet sich und sagt mir, dass ich Darren unrecht tue. Wieder einmal. Er ist ein guter Kerl, das nutze ich viel zu oft aus.

Ich klopfe, bevor ich meinen Kopf in seine kleine Kabine strecke. Er sitzt mit dem Rücken zu mir vor einem Monitor und studiert irgendwelche Zahlen. Als ich mich leise räuspere, dreht er sich um. Er ist blass im Gesicht, seine Bewegung sind eine Spur zu langsam und seine sonst so strahlenden Augen schimmern matt. Auch er ist abgekämpft, kaputt.

»Hey«, beginne ich verhalten und schließe die Tür in meinem Rücken. »Ich wollte mich noch einmal bei dir bedanken. Für gestern.«

Darren steht auf und sieht mich sorgenvoll an. Er ist einer der wenigen, der von meinem Zusammenbruch weiß. Dem Großteil der Mannschaft habe ich es verschwiegen. »Selbstverständlich, Ma’am. Geht es Ihnen besser?«

»Ja, mir geht es gut. Vermutlich lag es an der schlechten Luft im Lagerraum.« Auch wenn ich das selbst bezweifle, ist das die logischste Erklärung. Meine Verletzungen sind nicht so schwerwiegend, als dass sie mir dermaßen zugesetzt hätten, und auch die Ereignisse in der Nacht haben mich nicht so aus der Bahn geworfen. Zumindest gestehe ich mir diese Schwäche nicht zu. Daher ist es leichter, meine Indisponiertheit auf den Sauerstoffmangel zu schieben.

»Vermutlich«, stimmt mir Darren zu, aber ein leiser Zweifel bleibt zwischen uns hängen. Wie dieser süßliche Geruch, der mir einfach nicht mehr aus der Nase will. Woher kam er? Hatte er etwas mit meiner Ohnmacht zu tun? Aber warum haben dann weder die Novae noch del Roe das Bewusstsein verloren? Oder steckt der Admiral selbst dahinter? Aber was hat er davon, dass ich in Ohnmacht falle? Ich drehe mich im Kreis.

»Wollen Sie … willst du …« Darren räuspert sich. Er wirkt unsicher. »Sehen wir uns heute Abend?«

Ein Stich schießt durch meine Brust, erinnert mich schmerzlich daran, warum ich Darren besser auf Abstand halten sollte. Er will mehr von mir als einfach nur ein bisschen Ablenkung zwischendurch. Ich vermute sogar, dass er aufrichtige Gefühle für mich hat. Doch dieses Mehr kann ich ihm nicht geben.

»Nein. Ich muss noch Vorbereitungen für morgen treffen.« Ein entschuldigendes Lächeln liegt auf meinen Lippen.

»Natürlich.« Darren erwidert mein Lächeln matt und in meinem Bauch zieht sich etwas krampfhaft zusammen.

Wieder fühle ich mich schuldig, doch meine fehlenden Gefühle für ihn sind nicht der einzige Grund, warum ich ihn anlüge. Ich habe keine Verhütungspillen mehr und das Risiko, für ein bisschen Spaß mit Darren schwanger zu werden, ist mir zu hoch. Die Konsequenzen wären nicht überschaubar, denn ich würde jedem offensichtlich mein Geheimnis verraten: Ich bin eine der wenigen Frauen in Stellaris, die noch Kinder bekommen kann.

Durch einen Bluttest direkt nach der Geburt wird die Fruchtbarkeit eines Mädchens festgestellt. Wenn er positiv ausfällt, erwarten sie grandiose Jahre. Sie wird verehrt, erhält Anerkennung und Respekt und wird als echte Heldin des Landes gefeiert. Bis sie zwischen ihrem vierzehnten und siebzehnten Lebensjahr in einer spektakulären Auktion, dem Dandalon, an den Meistbietenden verkauft wird. Ab diesem Zeitpunkt fungiert sie nur noch als Gebärmaschine. Zehn oder auch fünfzehn Kinder sind in unserem Land keine Seltenheit, immer in der Hoffnung, dass ein fruchtbares Mädchen dabei ist. Der Rest der Kinder wird ausgebildet, um Geld für die Familie zu erwirtschaften, zur Adoption freigegeben oder sich selbst überlassen. Nicht selten verschwinden Neugeborene einfach. Diejenigen, die es allein auf der Straße schaffen, kämpfen jeden Tag aufs Neue ums Überleben und um Geld. Denn noch dringender als Lebensmittel brauchen wir das Solex und das ist teuer. Doch ohne eine regelmäßige Dosis stirbt man, wenn einen die Kälte, der Hunger oder das streitlustige Messer eines anderen Stellaren nicht vorher erwischt.

Ich danke dem Unbekannten, der ganz offensichtlich meinen Bluttest verfälscht hat, jeden Tag aufs Neue. Das Leben als Eva, als Fruchtbare, wäre für mich die absolute Hölle gewesen.

***

Wir erreichen Wega im Morgengrauen. Es tut gut, nach einer so langen Fahrt durch die Dunkelheit des Eismeeres endlich wieder die Lichter einer Stadt zu sehen.

Wega ist eine der ersten Städte, die nach dem Meteoriteneinschlag entstanden sind. Sie ist verhältnismäßig klein, aber so weit im Norden ist das auch kein Wunder. Durch die Dunkelheit und die Kälte gibt es keine Vegetation mehr, die Versorgung funktioniert rein über den Handel. Weiter im Süden haben die Bewohner von Stellaris riesige beheizte Gewächshäuser gebaut, um die Menschen mit Getreide, Gemüse und Fleisch zu versorgen.

Wega hatte von Beginn an mit der Dunkelheit zu kämpfen, die alles, was sich außerhalb des befestigten Stadtrings befindet, zerstört. Dass Wega immer noch existiert und trotz der geringen Größe aus allen Nähten platzt, hat einen anderen Grund.

Neben mir seufzt es wohlig und ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seit Jace erfahren hat, dass unsere Reise nach Wega geht, klebt ein verstecktes Grinsen in seinem Gesicht. So bitter der Angriff der Novae war, für ihn ist es ein Geschenk, dass wir länger bleiben müssen. Denn Wega lockt mit dunkler Verführung, mit verruchtem Vergnügen, mit magischen Nächten und süßem Vergessen. Es gibt ein Sprichwort aus längst vergangener Zeit, das auf Wega noch immer zutrifft: Was hier passiert, bleibt hier. Jeder kann sich in dieser Stadt seinen geheimsten Wünschen hingeben, findet Ablenkung und Amüsement, ohne dass er sich Gedanken über Konsequenzen machen müsste.

»Könntest du bitte warten, bis wir angelegt haben, bevor du vor Verlangen explodierst?«

Jace zieht eine Grimasse. Wir stehen auf der Brücke unseres Schiffes, den Blick auf die leuchtende Stadt gerichtet. Die zerstörte Glasscheibe wurde notdürftig repariert, dennoch ist es bitterkalt und der beißende Wind tut sein Übriges. Direkt vor uns liegt der Hafen. Entlang der schier endlosen Promenade lockt ein Laden neben dem anderen mit Leuchtreklame die Kunden an. Schrill und bunt strahlen die Schriftzüge in die Nacht, der Kontrast zur Dunkelheit um uns herum könnte kaum größer sein.

»Aye. Nur weil du so prüde bist, musst du mir meinen Spaß nicht verderben.« Er knufft mich in die Seite. Jace weiß, dass ich alles andere als prüde bin. Er will mich nur aufziehen.