Stiefelschritt und süßes Leben - Klaus Müller - E-Book

Stiefelschritt und süßes Leben E-Book

Klaus Müller

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Beschreibung

Müllers zweiter Band seiner in Atem haltenden Autobiografie erzählt von den Mannesjahren des Autors in der DDR, von seiner Liebe zu Penelope und den Amouren zwischen Rostock und Dresden, aber auch von den Zumutungen in der NVA, der »Friedensarmee« des kleinen Lands, sowie den vielen Unternehmungen, sich das Leben so lebenswert wie nur möglich zu gestalten. So hält sich Ernstes und Skurriles die Waage, wird gezeigt, wie es bisweilen möglich war, die Verdikte der »alten Männer« in Berlin zu unterwandern …

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Klaus Müller

Stiefelschritt und süßes Leben

Ein Intermezzo

mitteldeutscher verlag

INHALT

Cover

Titel

Erstes Kapitel „Tiefpunkt NVA“

(Mai 1964 bis Oktober 1965)

„Zwangsrekrutiert“

Herbstmanöver

Ernteeinsatz

Regimentsbibliothekar

Frühjahrsmanöver

Im Verteidigungsministerium

Letzter Sommer bei der NVA

Im Knast mit Lenin

Fazit meiner NVA-Zeit

Zweites Kapitel „Bei Künstlers“

(November 1965 bis Januar 1968)

„Secundogenitur“

Fast eine Familie

Irrtum Fiat Topolino

Stadtführer

„Wahlsonntag“

Bulgarien

Drittes Kapitel „Die Basis“

(Februar 1968 bis Februar 1971)

Kulturschock

Das „Trocadero“

Die Künstler

Weitere Höhepunkte

Meine Goldgrube

Politicals

Lebenspläne

Viertes Kapitel „Der Bruch“

(Februar 1971 bis Mai 1972)

Wohnraumfrage

Intermezzo Russlandreise

Endlich eine eigene Wohnung

Priebsch, der Restaurator

Fünftes Kapitel „Der sanfte Weg“

(Juni 1972 bis September 1977)

„Bambusbar“ (Sommer 1972)

Intermezzo: Erste Pragreise (Herbst 1972)

„Dolce far niente“ (Winter 1972/73)

Intermezzo: Erste Polenreise (Herbst 1973)

Das „Dolce far niente“ währt weiter (Winterhalbjahr 1973/74)

Die Fischerklause

Noch ein Intermezzo: Große Reise durch die ČSSR (Herbst 1974)

Rosenthal

Gefahren und Chancen (Winterhalbjahr 1974 /1975)

„Seeblick“ (Sommer 1975)

Ein aufschlussreiches Winterhalbjahr (1975/76)

„Ostseetanzbar“ (Sommer 1976)

Der Beton zeigt erste Risse (Herbst 1976 bis September 1977)

Sechstes Kapitel „Das Leben zeigt wieder die ernste Seite“

(Oktober 1977 bis Dezember 1979)

Parkhotel „Dresden Weißer Hirsch“

Ein verregneter Sommer (1978)

Wichtige Entscheidungen stehen an

Siebentes Kapitel „Die Burg“

(Dezember 1978 bis Januar 1981)

Die Eroberung der „Burg“

Ausbau der „Burg“

Wie nun weiter?

Weitere Bücher

Impressum

ERSTES KAPITEL: „TIEFPUNKT NVA“

(Mai 1964 bis Oktober 1965)

„Zwangsrekrutiert“

An jenem 4. Mai war der Mittelpavillon des Postplatzes, der als Treffpunkt der Einberufenen ausersehen war, von jungen Männern mit verschieden großen Gepäckstücken umringt. Es waren auch bekannte Gesichter darunter. Wir nickten uns nur missgestimmt zu, wenn wir mal Blickkontakt hatten. Meine Stimmung sank und sank, bereitete fast körperliche Übelkeit. Ich überlegte, ob ich vielleicht doch wieder nach Hause gehen sollte und lieber den, in meinen Augen, ehrenvolleren Knast wählen, als die Demütigung der Zwangsrekrutierung zu ertragen. Doch dazu war es nun wohl zu spät, das Dreieck, auf dem der besagte Pavillon steht, war unbemerkt von einer Postenkette umstellt worden.

Dann dröhnte aus dem Lautsprecher, der ursprünglich für die Durchsagen der Dresdner Verkehrsbetriebe diente, martialischer Lärm. Eine schnarrende Stimme gebot: Bereitmachen, Gepäck aufnehmen und in Kolonnenformation zum Hauptbahnhof marschieren. Auch erschien ein Litzenträger, der kommandierte: „Im Gleichschritt Marsch!“

Noch wurde das mit lachendem Gejohle quittiert.

Auf dem Weg zum Bahnhof fand sich viel Publikum ein. Familienangehörige mit meist traurigen Gesichtern, aber auch höhnische Typen, wie der alte Friedrich, der wohl seine Vorhersage mit dem nächsten Krieg („Wenn die dann soweit sind …“) in Erfüllung gehen sah. Ich hatte den alten Friedrich nie für eine Geistesleuchte gehalten; dass ordinäre Dummheit aber zu solch gehässiger Niedertracht führen kann, erstaunte mich anfangs doch.

Am Hauptbahnhof stand für uns ein Sonderzug bereit, mit dem wir um Berlin herum über Angermünde, durch die Uckermark in 14 Stunden nach Torgelow fuhren.

Die Fahrt endete an einer Rampe in der Nähe eines Kasernenkomplexes, fern aller Zivilisation. Mit Gebrüll und unter Beschimpfungen wurden wir, ich schätze 1.000 Mann, wie Feinde, derer man endlich habhaft geworden ist, in eine riesige Halle getrieben. Dort hielt ein mit glitzernden Raupen auf den Schulterstücken versehener Psychopath eine brüllende Ansprache, die von Drohungen und Beschimpfungen nur so strotzte.

Dieser Mensch litt gewiss noch aus der Zeit vor dem Mauerbau unter seinen erfolglosen Werbeversuchen. Erfolglosigkeit bei Werbungen, sei’s Liebe oder Militär, kann zu bösen Missstimmungen führen, wie man weiß. Soweit ist diese Haltung zu den Zwangsrekrutierten verständlich, doch militärisch ist sie unlogisch. Jeder selbstbewusste junge Mann, der noch kein Feind des DDR-Systems war, musste es hier werden.

*

In dieser Gegend war eine ganze Division stationiert, und wir wurden nun durch Namensaufruf auf die einzelnen Regimenter verteilt. Ich kam zum Artillerieregiment 9 in Eggesin-Karpin, kurz AR 9. Auf der mit Seitensitzen versehenen Ladefläche eines H5 (LKW-Horch, der fünfte Versuch) brachte man mich und die anderen Artilleristen in spe in die Kaserne, die nach dem Willen von Partei und Staatsführung für 18 Monate mein Zuhause sein sollte.

Was die Klamotten betraf: Die Einberufenen hatten alle Kleidungsstücke abzulegen, wurden dann mit Armeeklamotten eingekleidet. Alle Zivilsachen mussten sofort an die Heimatadresse geschickt werden, wir hatten nun Anstaltskleidung, um jeden Gedanken an das Zivilleben auszulöschen. Die Langhaarigen, aber auch die Rundschnittträger, mussten zum Kasernenfriseur, der ihnen einen „militärischen Haarschnitt“ verpasste. Die Demütigungen sollten kein Ende nehmen.

Die Innendienst-Vorschrift der NVA: DV 08-15, die seit Kaisers Zeiten die gleiche Ordnungszahl hatte, wurde verlesen, regelte solche einfachen Tätigkeiten wie Grüßen, Exerzieren, Marschieren, Diensträume betreten, sich überhaupt auf dem Kasernenhof bewegen.

Die höheren Chargen des Unteroffizierscorps und einige Feldoffiziere waren fast alle übriggebliebene Wehrmachtsoldaten, die außer Krieg und Kasernenhof in ihrem Leben nichts kannten. Viele waren um die und über 40 Jahre alt. So wie ihr trauriges Leben war auch ihre Geisteshaltung.

Dann begann die militärische Grundausbildung, über deren Stupidität schon viel geschrieben worden ist; ich erspare es dem Leser. Es ist ja auch relativ leicht, einem stupiden, brüllenden Unteroffizier, der einen „schleifen“ will, stehen und brüllen zu lassen, wenn man selbst liegt. Es ist wiederum nur eine Demütigung.

Bei Subordination wurde aber immer mit dem Militärstaatsanwalt und dessen höllischer Militärstrafanstalt in Torgelow gedroht, hauptsächlich nach der Vereidigung. Zu dieser wurden wir Rekruten nach circa zwei Wochen zusammengetrieben, mussten in unserer Ausgehuniform ein Karree bilden, dann plärrte ein in der Mitte aufgestellter Lautsprecher die Eidesformel, mit der wir jederzeit unter Einsatz unseres Lebens und an der Seite der Sowjetarmee dieses System verteidigen sollten. Dann wurden wir aufgefordert, die Formel zu wiederholen. Da das kaum einer tat, manche nur stumm die Lippen bewegten, plärrte der Lautsprecher mit. Vor mir kreuzte einer Zeige- und Mittelfinger.

Die Gefechtsausbildung an einer russischen Haubitze war noch öder, dazu auch gefährlich, denn das Monstrum, Jahrgang 1938, konnte einen Menschen schon zerquetschen, wenn er einen ungeschickten Schritt tat. Der Felddienst an veralteten Kriegsgerät brachte Napoleons Wort vom „Kanonenfutter“ in Erinnerung.

Einer besonderen militärischen Niedertracht bin ich aber nicht zum Opfer gefallen, da mich schon als Halbstarken Arbeitskollegen meines Vaters davor gewarnt hatten.

NVA-Soldaten wurden wöchentlich in einen Duschraum geführt. Aus zirka 30–40 Duschköpfen kam dann heißes Wasser, ohne dass der Einzelne Stärke, Temperatur und Dauer der Dusche bestimmen konnte. Ich stellte mich unter diesen Duschstrahl, wusch, mit der Seife in der Hand, schnell Hals, Achseln und Genitalien und legte die Seife weg. Dann blieb ich noch unter der Dusche und entspannte mich im heißen Wasser. Und tatsächlich, die Niedertracht nahm ihren Lauf.

Urplötzlich wurde das Wasser abgedreht und der Hauptfeldwebel (Spieß) stand in der Tür, brüllte „Alaaaarm!“ Die noch Eingeseiften, viele mit Waschschaum in Haaren und Augen, mussten, so wie sie waren, in die Klamotten springen. Ich hatte mir noch einige Sekunden Zeit genommen, mit dem Handtuch, das auf einem Hocker zwischen den Duschreihen lag, kurz über den Körper zu wischen und in den Schritt zu fahren, der in der Landsersprache „Kimme“ heißt.

Dann ging’s im Laufschritt in die Unterkunft; hier wurde das Käppi mit dem Stahlhelm vertauscht und die Gasmaske aufgesetzt. Für die Eingeseiften war das eine Tortur, da sich der Schweiß mit den Seifenresten mischte und in die Augen und Nasenlöcher drang. In diesem Zustand trieb man uns über die Sturmbahn.

Ich legte mich prinzipiell nach wenigen Schritten hin, wenn ich die Gasmaske überstülpen musste; hier nutzten weder Gebrüll noch Drohungen. Jetzt merkte ich, dass auch andere diese Schikane an sich nicht duldeten, stattdessen die Schutzmaske, so der offizielle Begriff, hochstreiften und liegenblieben. Andere hingegen erlebten qualvolle Stunden.

Militärisch gesehen hat die beschriebene Duschtechnik natürlich Sinn; der Soldat soll sich unter der Dusche nicht entspannen wie ein Badegast, er soll immer gefechtsbereit sein. Man könnte zügiges Duschen ja ganz einfach bei der Instruktion anweisen.

Viele kamen aber auch mit den Barras-Weisheiten ihrer Väter aus der alten Wehrmachtzeit. Die meisten in der „Arbeiter- und Bauern-Armee“ kamen tatsächlich aus der Landwirtschaft oder der Industrie. In meiner Batterie (46 Mann an 6 Haubitzen) hatten nur zwei Soldaten einen Hochschulabschluss, ein Apothekersohn war diplomierter Meteorologe, und ein Fischwirt nannte sich zu Recht Diplom-Ichthyologe.

Es wurde natürlich auch regelmäßig von meist unqualifizierten Leuten Politunterricht abgehalten; diese „brillierten“ durch außerordentliche Blödheit, manchmal aber auch durch reine Mordhetze gegen die Bundeswehrsoldaten, die für mich damals achtenswerte deutsche Landsleute waren.

Eine dieser Veranstaltungen im Kultursaal einer Ueckermünder Gießerei ist mir noch deutlich in Erinnerung geblieben. Nach einer langweiligen Ansprache des Regimentskommandeurs wurde der Parteisekretär der Gießerei ans Rednerpult geführt. Er war ein völlig ungebildeter Arbeiter, dem man, um ihm seine Sprachhemmungen vor diesem großen Auditorium zu nehmen, reichlich Schnaps eingeflößt hatte. Dann setzte dieser Mensch zu einer Tirade an, die von „NATO-Schweinen“, „diesen Hunden“, „Kapitalistenschweinen“, „umlegen“ und „abknallen“ nur so strotzte.

Der Regimentskommandeur, der dem Grundtenor der Rede gewiss zustimmte, erkannte aber, dass es ein Fehler war, dem Mann so viel Schnaps gegeben zu haben. Er schritt persönlich an das Rednerpult heran, an dem der Mensch ungebremst weiter geiferte, und führte ihn nach hinten in die letzte Reihe des Präsidiums, nachdem er sein Regiment durch demonstratives Händeklatschen zum allgemeinen Applaus animiert hatte.

Wie sollte ich diesen hasstriefenden Stumpfsinn anderthalb Jahre lang überstehen, ohne psychischen Schaden zu nehmen?

Ich legte für mich fest, dass diese Zeit die Strafe für alle meine Torheiten sei, die ich bisher begangen hatte, nahm mir vor, im Rahmen der Möglichkeiten eine Waffenkenntnis und -beherrschung zu erlangen, die mich in einer späteren Auseinandersetzung mit dem System nicht hilf- und nutzlos herumstehen lassen sollte, etwa wie die ungarischen Aufständischen angesichts der Russenpanzer in den Straßen von Budapest. Pazifismus war für mich schon früher eher eine ästhetische als politische Haltung gewesen. Jetzt hatten sie’s geschafft; aus ästhetischer Distanz war, über furchtsame Abneigung, Feindschaft geworden. Dieses System musste bekämpft werden.

Mich verwunderte es nicht, dass diese Haltung zum SED-System auch bei anderen, Vertrauteren, anklang. Besonders deutlich wurde das, als nach dem Tonking-Zwischenfall echte Kriegsgefahr drohte und Leute, die sich nun besser kannten, mehr von ihrem wahren Denken preisgaben.

Der Abscheu vor diesem Kasernenhofdasein und die völlige Unmöglichkeit, davon wegzukommen, ließen bei mir große Sehnsucht nach Bruni aufkommen, die ja nun schon einige Monate mit unserem gemeinsamen Kind schwanger ging. Ich schrieb ihr auch fast täglich einen Brief.

Die Gefahr, potenzielle Gegner in den eigenen Reihen auch noch gut auszubilden, hatte die Militärführung der DDR erkannt. Besondere Kenntnisse und Eigenschaften, die über die Kasperei mit unserer Haubitze hinausgingen, wurden im AR 9 nicht vermittelt. Dennoch sollte jeder Artillerist einmal in seiner Dienstzeit eine scharfe Handgranate geworfen und sechs Schuss mit der Pistole Makarow abgegeben haben. Eines Tages stand gerade dieses an. Der Spieß ließ die Batterie antreten, verkündete die bevorstehende Ausbildung und ließ sofort die Kanoniere Müller und Spröter heraustreten, die sich umgehend zum Kartoffelschälen in der Regimentsküche melden sollten. Die restliche Batterie rückte ab, zum Handgranatenwerfen und Pistolenschießen.

*

Die Verpflegung der NVA-Soldaten war in den 60er Jahren entsprechend karg; draußen auf dem flachen Land herrschte ebenfalls noch Mangel an Lebensmitteln. Deshalb will ich nicht weiter darauf eingehen, will nur noch erwähnen, dass an drei oder vier Tagen der Woche das Mittagessen aus einem Eintopf bestand. Dieser enthielt Dörrgemüse und Kartoffeln, die pro Regimentskessel mit zwei Dutzend Dosen Schmalzfleisch à 500 Gramm abgeschmeckt waren. So betrug der Anteil von hochkalorischem Fett an einer Mahlzeit tatsächlich 15 Gramm.

Das Schälen – von immerhin zweieinhalb Zentnern Kartoffeln pro Tag – bestand darin, nur die „Augen“ aus den Kartoffeln zu polken, da sie von einer Raspelmaschine vorbehandelt waren. Bei diesem Dienst wurde ich einmal Zeuge einer kaum glaubhaften Unappetitlichkeit: Der Küchenchef, ein Oberfeldwebel (bei der Artillerie Oberwachtmeister) hatte ja täglich Ausgang, wohnte vielleicht sogar im Ort, kam eines Vormittags völlig betrunken in die Küche. Er rührte in dem zum Verzehr fast fertiggestellten Kessel mit Dörrgemüseeintopf herum. Dabei verlor er die Kontrolle über seinen Magen, übergab sich und spie seinen gesamten Mageninhalt in den Kessel und rührte weiter. Das nahm mir nicht nur den Appetit; diese Schweinerei betäubte sogar den Hunger. Die Soldaten, die bald darauf zum Mittagessen erschienen, haben aber klaglos den Kesselinhalt vertilgt.

Durfte ich an der Ausbildung an der Straßenkampf-Waffe auch nicht teilnehmen, so war ich doch bei Schießübungen mit der MP Kalaschnikow dabei. Da ich eine sichere Hand und ein gutes Auge besaß, hatte ich auch hervorragende Schießergebnisse, die mir die Schützenschnur einbrachten. Das Peinliche war allerdings, dass ich dieses Gebammel nun stets an der Ausgehuniform tragen und für 16,50 Mark von meinem Wehrsold, der 58 Mark im Monat betrug, selbst kaufen musste. Verweigern ging nicht, da diese „Auszeichnung“ im Wehrpass oder Soldbuch eingetragen wurde.

*

Wochen später führte das Misstrauen gegen mich sogar zu Unruhe in der Batterieleitung. Ich wurde nämlich kurzerhand einem Kommando zugeteilt, das, mit 30 Schuss scharfer Munition in der Kalaschnikow, nahe am Todesstreifen aus einem Depot bei Potsdam alte sowjetische Trommel-MPs einsammeln sollte. Es ging wirklich weniger als zehn Meter an den äußeren Sperranlagen entlang – und ich trug eine scharfe Waffe. Ich erfuhr von dem „Anschiss“, den der Sicherheitsoffizier des Regiments unserem Batteriechef verpasste, von Spröter, der gerade GUvD (Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst) war. Das Depot befand sich auf dem Gelände einer Grenztruppeneinheit bei Potsdam. Die alten sowjetischen Trommel-MPs, die beim unvorsichtigen Aufsetzen schon manchem Soldaten das Gehirn durch die Schädeldecke geblasen haben, aber als unverwüstlich galten, waren noch fabrikneu und in Ölpapier eingewickelt. Angeblich sollten sie nach Ghana gehen. In dieser Grenzeinheit war natürlich auch die Verpflegung der Soldaten weit besser als in unserem „Kanonenfutter-Regiment“ AR 9 in Eggesin. In der Kantine der Grenztruppe servierte man an einem ganz gewöhnlichen Wochentag zum Mittagessen Eisbein mit Erbsenpüree und Weinsauerkraut dazu, als Dessert Vanillepudding mit Heidelbeersauce, aus einer modernen Küche, in einem sauberen Speiseraum, an gedeckten Tischen. Das Besondere dieses Menüs versteht nur der, welcher die Versorgungslage der DDR-Bevölkerung, draußen im Lande, in der Mitte der 60er Jahre noch kennt.

Krieg stand nicht bevor – NVA-Soldaten waren für die Existenz der DDR nicht nötig, anders die Grenztruppen, viele DDR-Bürger schauten noch immer lauernden Blicks auf die Grenzanlagen. So erklärt sich dem Betrachter die unterschiedliche Verpflegung dieser beiden militärischen Einheiten.

In dieser Grenzeinheit wurde ich aber auch Zeuge, wie ein Zivilist mit einem hohen Grenzoffizier über die Effektivität einer gerade angelieferten sperrigen Grenzschutzanlage debattierte, seine Arbeit lobte und in ihrer Wirkung pries. Der Mann war ein ansässiger Handwerker oder ein zivil angestellter Techniker, der seine handwerklich-technische Innovationskraft in den Dienst der Unfreiheit stellte, den eigenen Vorteil im Auge. Er stellte seinem Auftraggeber Grenztruppe beredt die schweren Verletzungen dar, die seine Anlage einem aus dem Gebiet der DDR kommenden Grenzverletzer zufügen würde. Und das nicht im Tone bedauernder Notwendigkeit, sondern freudiger Täterschaft.

*

Im Hochsommer 1964 rückten wir zu einer „Russenjagd“ aus, jeder mit zwei Magazinen, ergo 60 Schuss. Ein sowjetischer Soldat hatte die viehische Behandlung und die Sehnsucht nach der Heimat nicht mehr ausgehalten, war voll aufmunitioniert ausgerückt und in den uckermärkischen Wäldern untergetaucht.

Der Spieß warnte vor der Aggressivität des Russen, der hätte nichts mehr zu verlieren und würde sich den Weg gnadenlos freischießen. Wir sollten also keine Schießerei anfangen, nur wenn wir angegriffen würden, mit Dauerfeuer antworten. Noch besser wäre es, falls wir den Schlupfwinkel des Russen gefunden hätten, Meldung zu machen. Die Sowjetarmee habe dazu eigene Einheiten, weil es dort oft zu derartigen „Vorkommnissen“ käme.

Da ist also einer in der gleichen Lage wie ich, nur noch verzweifelter, aber auch couragierter, weil naiver. Den sollte ich nun helfen, ums Leben zu bringen. Noch immer die Unbesiegbarkeit der Sowjetarmee im Hinterkopf, fragte ich mich nun, wie dieses System funktionierte. Denn die einzigen realen Feinde, die ein Sowjetsoldat (oder einer der NVA) in seinem bisherigen Leben kennengelernt hatte, waren die eigenen Vorgesetzten. Imperialisten, Kapitalisten, Faschisten oder gar NATO-Soldaten waren hingegen leere Worte.

Der Mensch entwickelte im Lauf der Zeit bedeutende Neuerungen; Nutzung des Feuers, das Rad, die Polis und die Gesetze, bis hin zur Relativitätstheorie und der Kernspaltung. In dem Vierteljahrtausend zwischen der Aufklärungsepoche, in der FriedrichII. „der Große“ forderte, daß der „Kerl“ (der Soldat) seinen Offizier mehr fürchten solle als den Feind, und dem Ende des „Kalten Krieges“ legte die Evolution des menschlichen Gehirns eine Pause ein, die dann zu jenem Irrsinn, wie man ihn bei den Massenheeren des 20. Jahrhunderts erlebte, führte.

Zwei Tage später kam Entwarnung; die sowjetischen Menschenjäger hatten den Deserteur liquidiert.

Herbstmanöver

Im September fand das alljährliche Herbstmanöver statt. Das AR 9 war jetzt mit seinem veralteten Kriegsgerät mehrere Wochen lang im Militärbezirk 5 der Warschauer Vertragsstaaten auf allen dortigen Truppenübungsplätzen unterwegs. Dieser Militärbezirk 5 umfasste die heutigen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin und den Norden des Bezirkes Magdeburg mit der Altmark und der Letzlinger Heide.

In den ersten Tagen fuhr auf unserem LKW, der auch die Haubitze zog, ein Reserveoffizier mit; ich habe ihn sofort als Stasi-Spitzel erkannt, obwohl er sich als Oberschullehrer ausgab. Er versuchte ständig, mit banalsten Fragen die Soldaten über Lebensumstände und -haltungen auszuhorchen. Irgendwie kam die Rede auf hohe Lottogewinne und deren Verwendung. Ich saß bisher schweigend dabei, nun platzte ich aber heraus: „Ich würde die 300.000 Mark dem Staat schenken und mir die Freiheit erkaufen!“ – „Wie meinen Sie das, Genosse!?“ – „Mit Freiheit, meine ich nur, weg von der NVA!“, sagte ich in festem Ton. Der Mann war völlig verdattert, sagte kein Wort mehr. Er wechselte beim nächsten Halt auf einen anderen LKW unserer Batterie.

Es erschienen im Manövergelände in der Letzlinger Heide auch einige Zivilisten, offensichtlich SED-Bonzen von der Bezirksleitung Magdeburg, die sich martialisch angehost hatten. Sie trugen Schaftstiefel und Reithosen zu Ziviljackets, die allerdings mit Orden behängt waren. Diese Leute gaben in der Tat ein kurioses Bild ab … Bei dem Manöver wurde möglichst realistisch Krieg gespielt. Andernorts drohte der Kalte Krieg heiß zu werden. – Der Vietnam-Krieg eskalierte nach dem Tonking-Zwischenfall, was im Feldoffizierscourps des AR 9 zu freudiger Aufregung führte. Noch höre ich die aufgeregte Stimme von Unterleutnant Karpow, der es kaum noch erwarten konnte: „Genossen, jede Menge Karl-Heinze (damit waren die Sowjetsoldaten gemeint) haben sich freiwillig gemeldet. Vielleicht können wir uns auch bald in die Freiwilligenlisten eintragen lassen!“

In der Letzlinger Heide, dem größten und westlichsten Truppenübungsplatz der DDR, lagen plötzlich Flugblätter herum: bunte Reklamebilder aus der Konsumwelt des Westens, primitive Elogen von Deserteuren der Grenztruppen über ihre Mallorca-Aufenthalte, Pin-up-Girls, aber auch seriöse Auflistungen vom Statistischen Bundesamt, den hohen Lebensstandard der Arbeiterklasse in der BRD betreffend.

Sofort brüllten die Batterieoffiziere: „Feindliche Flugblätter, liegen lassen, nicht lesen!“ Jeder nahm sie natürlich in die Hand und überflog sie, mancher steckte sich auch eines ein. Nach einem eiligen Stellungswechsel trat der Batteriechef vor seine Truppe und sprach: „Wer trotz des Verbots ein Flugblatt eingesteckt hat, bekommt nun die Möglichkeit, es straflos abzugeben. Wer danach noch mit einem dieser Flugblätter erwischt wird, kommt wegen Wehrkraftzersetzung vor den Militärstaatsanwalt!“

Der Unterleutnant Mölschareck, genannt „Mölli“, schmierte sich dann an mich heran und sagte: „Die Weiber in den Casinos waren toll, was?“ – „Habe ich übersehen“, war meine Antwort. „Aber ich habe eine hochinteressante Publikation vom Statistischen Bundesamt gefunden, natürlich sofort wieder weggeschmissen. Die Zahlen sind aber nun leider in meinem Kellnergehirn gespeichert.“

Es gab aber auch hoffnungsvolle Erlebnisse bei diesem Herbstmanöver. Wir waren nicht nur per LKW unterwegs, es wurden auch die Verladung und der Transport per Schiene geübt. Beim Entladen in der märkischen Kleinstadt Rathenow machte ein Ehepaar mit seinen zwei Söhnen einen Abendspaziergang. Von den Knaben war der eine etwa fünf, der andere um die 14 Jahre alt. Der kleinere, am Straßenrand gehend, winkte den Soldaten fröhlich zu, wie er es im Kindergarten gelernt hatte, doch der größere Junge drückte die Hand seines kleinen Bruders nach unten und zog ihn zwischen sich und die Eltern. Eine harmlose Widerstandsgeste gegen den Militarismus, die mir aber durch die Geistesverbundenheit, die sie ausdrückte, ein Gefühl der Zuversicht und des Trostes gab.

*

Nach dem Herbstmanöver, in den ersten Oktobertagen, kamen ein paar Neue in das AR 9, einer auch in unsere Batterie. Sie alle hatten die ersten Monate ihrer Dienstzeit bei den Grenztruppen absolviert und waren bei der Überprüfung zum eigentlichen Grenzstreifendienst als unzuverlässig eingestuft und zu den Feldtruppen versetzt worden, wo sie nun das letzte Jahr des Grundwehrdienstes vertrödeln mussten. Unser Neuer hatte einfach seinen Dienst leger und ohne Engagement ausgeführt, ja in harmlosen Gesten und Worten Unlust durchblicken lassen. Er ließ sich durch Drohungen auch nicht zu einer lustvolleren Dienstdurchführung drängen. Hierbei war allerdings auch Vorsicht geboten, denn wer in dem, was er sagte, Feindschaft gegenüber den bewaffneten Organen erkennen ließ, wurde auch als Feind behandelt. Um ihn kümmerte sich der Militärstaatsanwalt. Es war aber, wie ich bald merkte, relativ einfach, von den Grenztruppen wegzukommen.

Ernteeinsatz

Wenige Tage später begann für unsere Batterie der Ernteeinsatz; „Ernteschlacht“ hieß es im SED-Jargon. Auf den Ladeflächen unserer H5 fuhren wir in Richtung Westen, nach Bodin, zu einer alten Junkerklitsche mit verrottetem Herrenhaus, Katenreihen und zahlreichen Vorwerken. Die Gemeinde nahm fast die gesamte Fläche zwischen den mecklenburgischen Kleinstädten Gnoien und Teterow ein.

Wir wurden alle in einer Schulbaracke einquartiert. Das Dorf machte einen äußerst traurigen Eindruck, war aber erstaunlicherweise von einer Vielzahl hübscher Mädchen bevölkert, während die jungen Männer ziemlich dumpfe Typen waren. Das Dorf hatte also eine Blutauffrischung dringend nötig.

Die Feldarbeit machte wenig Mühe, wurde von uns auch nicht mit sonderlicher Vehemenz betrieben, da die Vergütung geradezu lächerlich war. Die Verpflegung war aber gut, so dass für die Abende mit den jungen Frauen viel Zeit, Kraft und Muße vorhanden war.

Ich hatte in dieser galanten Frage besonders Glück, traf in Groß Lunow, einem der vielen Vorwerke der Gemeinde, auf Gisela, die bei ihren Eltern eine Auszeit von ihrer unglücklichen Ehe im brandenburgischen Havelberg nahm und besonderer Tröstung bedurfte. Wir beide erkannten uns sofort als passende Partner, hatten jeweils geraume Zeit Abstinenz in der Liebe geübt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Gisela gehörte nicht nur zu den Hübschesten im Dorfe, sie war mit Abstand die Erfahrenste in der Liebe hier. Wir hatten zwar die NVA-Ausgehuniform bei uns, mussten sie aber nach der Feldarbeit nicht tragen, waren vielmehr in dem eher martialischen, an Arbeitskleidung erinnernden Drillich unterwegs, was unser Wohlgefühl, jedenfalls meines, erheblich steigerte.

*

Die richtig widerlichen Unteroffiziere, die man oft in Nazi- und Antikriegsfilmen sieht und die es, wie ich erfahren habe, auch in anderen NVA-Einheiten gab, hatten wir in unserer Batterie nicht. Von den drei Offizieren der Batterie waren zwei jedoch ausgesprochene Widerlinge. Der eine, der Mecklenburger Ultn. Karpow, war das geringere Problem wegen seiner Dummheit. Eine zackige Meldung unter lautem Gebrüll, ganz gleich, was man brüllte, konnte seiner Bosheit relativ leicht die Spitze nehmen. Anders der Ultn. „Mölli“, der eine pfiffige Dresdner Vorstadtpflanze war, den einige Dresdner Rekruten aus anderen Batterien, noch von früher als „Rummelplatz-Stenz“ kannten. Diesem Widerling war mein Techtelmechtel in den Heuschobern des Vorwerks Groß Lunow selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Neid und Niedertracht veranlassten diesen Menschen, an Wochenenden und bei Dorffesten mit Vorliebe, ja eigentlich ausschließlich, mich zum Wachdienst einzuteilen. Ich musste dann mit zwei anderen im Vier-Stunden-Rhythmus das Kriegsgerät mit den Fahrzeugen und die Baracke, mit 30 Schuss in meiner Kalaschnikow, bewachen.

Ich hatte von 0.00 Uhr bis 4.00 Uhr Wachdienst. Die Oktobernacht war lau, der Wind säuselte im Laub der Bäume. In der Ferne lärmten die Zecher vorm Dorfkrug und kreischten die Mädchen.

Wer kam gegen 1.00 Uhr, als der Lärm schon etwas abgeebbt war, von Bier und Schnaps schwankend, mit einer Dörflerin im Arm, heran? Es war der Ultn. „Mölli“. Ich hatte die Kalaschnikow in der Hüfte in Anschlag, der Trageriemen spannte sich straff über der Schulter. Mölli steuerte auf den ersten unserer LKWs zu. Ich sagte laut: „Halt, wer da?!“

„Kanonier Müller, machen Sie sich aus dem Weg!“, schnauzte Mölli. „Sie sind betrunken, Genosse Unterleutnant“, sagte ich in moderatem Ton und blieb stehen. „Aus dem Weg, sag’ ich!“, geiferte Mölli mit einem Griff zur Pistolentasche. Ich hatte bei der Eskalation des Dialogs mit Mölli die Knarre schon entsichert, nun rasselte ich mit dem Ladehebel. Das wiederum ist ein so bedrohliches Geräusch, dass selbst kühne Revolutionäre schon zur Besinnung gekommen sind.

Mölli nahm sofort die Hand von der Pistole, wurde ganz klein und verhandlungsbereit, stotterte Unverständliches. Ich ging bis auf Flüsterdistanz auf ihn zu und sagte leise: „Genosse Unterleutnant, von mir aus fahren Sie los, ich will Ihnen den Abend nicht verderben, aber Sie wissen ja, Befehl ist Befehl, und ein Wachtvergehen führt schnell nach Torgelow, Sie drohen ja ständig damit.“ Sodann ging ich beiseite. Mölli und seine verängstigte Braut kletterten in das Führerhaus des H5 (Vorläufer des sowjetischen Militär-LKWs Ural); er fand mühselig das Zündschloss, dann fuhr er los.

Nach kurzer Zeit, kaum eine halbe Stunde war vergangen, da war Mölli mit dem H5 wieder da. Der Suff, oder der Schreck, den ich ihm eingejagt hatte, ließen bei ihm ein intensives Schäferstündchen wohl nicht zu. Mölli kam ängstlich auf mich zu, fragte furchtsam: „Haben Sie die Waffe schon wieder entladen? Wenn das Magazin beim Wachwechsel nicht vollzählig ist, haben wir ein Vorkommnis in der Batterie, da wird vielleicht sogar der Einsatz in Bodin abgebrochen.“ Das aber wollten wir beide nicht. Ich sagte leutselig: „Genosse Unterleutnant, ich bin doch ein Virtuose auf dieser Balalaika, hatte nicht ganz durchgezogen, als Sie zur Pistole griffen und gleich wieder losließen.“

Mölli salutierte und sprach: „Na dann ist es ja gut. Gute Nacht, und vergessen Sie’s!“ Er verschwand, kaum noch torkelnd, in seiner Barackenunterkunft.

*

Wieder auf dem Feld, ereilte uns wenige Tage später die Nachricht vom Sturz Chrustschows. Wir waren sehr erstaunt, begriffen jedoch nicht die Dramatik der Ereignisse im Kreml, hatten auch anderes zu tun. Die Mädels waren uns zugetan, und Gisela freute sich ganz besonders, als ich, mit einem Abend Unterbrechung, wieder zum Tête-à-tête in unserem vertrauten Heuschober eintraf.

Da mir Bruni, die nun schon im siebten Monat schwanger war, auf meine sehnsuchtsvollen Liebesbeteuerungen nichts Besseres mitzuteilen wusste, als dass sie sich mit einem Jugendfreund, den sie wiedergetroffen hatte, zusammengetan habe und ich sie nicht mehr besuchen solle, betrachtete ich Gisela in Groß Lunow in noch günstigerem Lichte. Sie war in meinem tristen Zwangsrekrutendasein ein strahlender Stern der Sinnlichkeit. Aber Gisela war wie alle Weiber, treibt sich mit mir 14 Tage lang in der Fremde im Heu herum, wälzt sich von einem Orgasmus in den nächsten, teilt mir Wochen auf meine Rendezvousgesuche lapidar mit, sie habe sich wieder mit ihrem Mann versöhnt.

*

Bei der NVA gab es damals 21 Tage Urlaub während der ersten 18 Monate Grundwehrdienst. Diese sollten alle sechs Monate zu je sieben Tagen genommen werden. Für brave Soldaten gab es noch jede Menge Sonderurlaube und Ausgänge über Nacht und Wochenendurlaube, jedoch immer in dieser schrecklichen Ausgehuniform. In der dritten Oktoberdekade bekam ich meinen Halbjahresurlaub von sieben Tagen.

Ich nahm am ersten Urlaubstag den Mittagszug (die anderen Urlauber waren schon am Vortag nach Dienstschluss gegen 20.00 Uhr gefahren), weil der um 22.06 Uhr in Dresden ankommen würde und ich mich dann, ungesehen von den Dresdnern, durch den Großen Garten in die Winterbergstraße schleichen konnte.

Zu Hause – sofort die Uniform vom Leibe gerissen und zivile Klamotten aus dem Schrank geholt. Das war zwar verboten, da es aber alle so taten, war es kaum zu kontrollieren und ergo auch nicht zu verfolgen.

Natürlich besuchte ich am nächsten Tag sofort Bruni auf ihrer Arbeitsstelle, wo sie die letzten Tage noch im Büro tätig war. Sie hatte aber eine Lebensentscheidung getroffen; alle meine Beteuerungen verfehlten ihre Wirkung. Ich brachte sie noch nach Hause, in das bescheidene Häuschen ihrer Eltern. Viele Frauen werden in der Schwangerschaft unförmig, anders Bruni, sie wurde immer schöner – wie eine Madonna.

Letztmalig umarmten wir uns und vergossen zwei oder drei Tränen.

Um nicht in Gruna gesehen zu werden, trieb ich mich in den nächsten fünf Tagen in der Umgebung Dresdens herum oder ging an der Peripherie der Stadt ins Kino. Vater hatte nämlich jedem, der nach mir fragte, gesagt: „Der sitzt.“ Im Knast sitzen galt bei vielen Arbeitern, von denen einige schon zwei Kriege miterlebt hatten, als ehrenvoller denn in dieser Armee zu dienen.

Am Sonntagmorgen vor 4.00 Uhr schlich ich mich wieder in meiner NVA-Uniform aus dem Haus, die Winterbergstraße entlang, durch den Großen Garten und nahm den ersten Zug in Richtung Norden. Als ich am späten Nachmittag in der Kaserne eintraf, herrschte Staunen am Kontrollpunkt; die anderen erschienen erst am nächsten Tag gegen 7.00 Uhr zum Dienstantritt.

Regimentsbibliothekar

Der trübe November war nun da, die Neuen, „Spritzer“ genannt, trafen in der Kaserne ein. Der Stumpfsinn sollte für mich noch ein ganzes Jahr währen. Ich besuchte daher oft die Regimentsbibliothek, die neben Agitationsliteratur in Sachbuch- und belletristischer Form auch eine Fülle von Klassikern, in- und ausländische Autoren in ihren Regalen stehen hatte. Ebenfalls standen Lexika und Sachbücher militärischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Inhalts dort zur Einsicht und Ausleihe bereit.

Eines Tages, Anfang November, sprach mich der Politoffizier des AR 9 ebendort an: „Genosse Kanonier, ich sehe Sie oft hier, trauen Sie sich zu, die Bibliothek zu leiten?“ – „Natürlich kann ich das!“ Er griff ins Regal und holte ein Buch heraus mit dem Titel „Der Tod heißt Engelchen.“ Er fragte: „Haben Sie das gelesen?“ Ich sagte: „Ja, natürlich!“ „Es heißt: Ja, Genosse Oberstleutnant!“, verbesserte er mich. Ich hatte das Machwerk freilich nicht gelesen, aber die Verfilmung gesehen. Dann ließ er mich eine knappe Inhaltsangabe machen und sprach: „Gut, ich werde mit Ihrem Batteriechef reden, wenn der nichts dagegen hat, sind Sie ab übermorgen hier Regimentsbibliothekar!“

Die meisten Soldaten hielten es nicht für möglich, doch der Stabschef, Major Kaspar, hatte sich mit seiner unförmigen Gattin, die sonst hier Bibliothekarin war, geschlechtlich vereinigt und sie dabei geschwängert, so dass sie für die nächste Zeit pausieren musste.

Zwei Tage später schritt ich nach Frühsport und Frühstück in die Regimentsbibliothek. Hier übergab mir die Gattin des Stabschefs die Schlüssel für die Räume; ich übernahm die Leser- und die Bücherkartei sowie eine Kiste mit den geheimen Gefechts-Dienstvorschriften, die ich bei jedem Gefechtsalarm zum Führungsfahrzeug des Regiments zu tragen hatte. Deren Verwahrung und Übergabe bei Alarm war nun meine einzige militärische Aufgabe.

Vergeblich versuchte ich an der Frau des Majors die Schwangerschaft zu entdecken, musste einfach glauben, was mir gesagt worden war. Den gesegneten Leib, mit dem Bruni mein Kind unter dem Herzen trug, vermisste ich bei der Stabschefsgattin gänzlich.

Nachdem ich die Leser-Karteikästen in eine alphabetische Ordnung gebracht hatte, worüber der Vormittag vergangen war, kamen zur Mittagspause die ersten Leser, brachten Bücher zurück und wählten neue aus. Hin und wieder holte ein Leser meinen Rat ein. Nach Dienstschluss füllte sich der Raum, so dass ich richtig zu tun bekam.

Zwischendurch machte ich mich daran, die zahllosen noch nicht erfassten Bücher, die meine Vorgängerin noch nicht einmal ausgepackt hatte, und die in hohen Stapeln in einem Nebenraum lagerten, aufzunehmen und in die Bücherkartei einzutragen. Nachdem ich den Ausleihzettel in den Vorsatz geklebt hatte, ordnete ich die Bücher in die Regale ein. Es war eine angenehme und leichte Arbeit, die ich durch meine pfiffige Antwort an den Politnik ergattert hatte. Zudem interessant – viele Karten der Leserkartei gingen zurück bis ins Gründungsjahr der Schule der Kasernierten Volkspolizei in Eggesin im Jahre 1951. Auf den Karten waren Name, Geburtsdatum, Dienstgrad, Einheit und Beruf angegeben. Es erstaunte mich schon sehr, dass bei den meisten Offizieren als Bezeichnung des Berufs „ohne“ stand. Erst die jüngeren Offiziere waren angehalten worden, „Offizier der NVA“ als Berufsbezeichnung anzugeben.

Bis kurz vor Weihnachten benötigte ich, um die druckfrisch gelieferten Bücher zu erfassen und Ordnung in die Bibliothek zu bringen.

Es war Anweisung, die Hauptwerke des Marxismus-Leninismus alle zehn Jahre zu erneuern, also die Exemplare auszuwechseln. Das waren: Marx/Engels „Gesammelte Werke in 18 Bänden“ und W. I. Lenin „Werke in 24 Bänden“. Die neuen Exemplare auszupacken, hatte meine Vorgängerin mir überlassen, aber auch, die alten zu entsorgen.

Alt? Laut eingeklebter Leihzettel hatte seit 1951 noch nicht einer diese herrlichen, in blauem und braunem Leder gebundenen und mit Goldschrift versehenen Bände in der Hand gehabt, die sollten nun ins Altpapier!

Heute sind diese Bände ein Vermögen wert, mancher Bourgeois schmückte gern für viel Geld damit sein Arbeitszimmer, quasi als Trophäe. Allerdings wiegen alle 42 Bände knapp zwei Zentner; solche Lasten kann man nicht einfach mit der Feldpost nach Hause schicken.

Ich schaute aber doch in meinen Mußestunden in die Marx-Engels-Bände, besonders das Frühwerk, intensiv hinein. Hochinteressant waren vor allem Marxens Gedanken zum Krimkrieg und zur Olmützer Vereinbarung, die für den historisch Interessierten eine wahre Fundgrube darstellten.

Die alten Bände wanderten ins Altpapier, und die neue Ausgabe von 1962 stand in den Regalen; ich verwaltete nun tatsächlich eine ordentliche Bücherei.

Nach wie vor aber sah ich meinen Dienst bei der NVA als Strafe des Schicksals an. Vor Weihnachten fragte mich der Spieß, ob ich über die Feiertage oder über den Jahreswechsel in Urlaub fahren wolle. „Ich fahre nicht in Urlaub!“, entgegnete ich.

Irgendwann hat der Spieß das wohl dem Batteriechef erzählt, und der sprach mich eines Tages unter vier Augen darauf an. Ich muss nochmal erwähnen, dass von den drei Offizieren der Batterie nur die beiden Unterleutnants Widerlinge waren; Oberleutnant Strohbusch war ein 28-jähriger, stuckiger Mann, der auf seine Art um Gerechtigkeit und Harmonie bemüht war. Er ertränkte aber die Tristesse seines Daseins oft im Alkohol, wie man sagte und wie ich nach meiner heutigen Kenntnis, wenn ich mir seine Physiognomie ins Gedächtnis rufe, auch sagen würde.

Er fragte mich nun, fast sanft, warum ich nicht mal raus wolle. Ich dachte: ‚Dem sagst du’s.‘ – „Ich schäme mich, Genosse Oberleutnant; wir sind eine alte Arbeiterfamilie, waren immer gegen’s Militär. Mein Vater erzählt jedem, der nach mir fragt, ich wäre im Knast. Da kann ich nicht einfach in Uniform aufkreuzen.“

Der Batteriechef hätte nun mit der „Armee der bewaffneten Arbeiter und Bauern“, die die NVA ja sein sollte, argumentieren können. Er sagte aber nur: „Ja, wenn das so ist, dann bleiben Sie eben da!“

Es wurde ein trauriges Weihnachten, so richtig für einen gemacht, der seine Feindschaft gegen das System schärfen will. Obendrein war es gesund: Ohne fettes Geflügel und ohne Alkohol, der für mich immer Genuss bedeutete, kein Mittel war, um Tiefpunkte zu verdrängen. Allerdings habe ich in dieser Zeit meine erste Zigarette geraucht.

An diesen Weihnachtstagen sah ich natürlich oft im Gemeinschaftsraum der Kaserne, in Traurigkeit und Vereinsamung, das DDR-Fernsehen. Die Programmgestalter aus Adlershof hatten sich am Nachmittag des Heiligabends etwas besonders Weihnachtliches ausgedacht. Man strahlte einen sowjetischen Propagandafilm aus, der die Stärke und Zerstörungskraft der Nuklearwaffen der Sowjetarmee zeigte. Hier verbrannten angepflockte Tiere in Sekundenschnelle zu Asche, und Nuklearstürme fegten ganze Landstriche mit Bäumen, Gebäuden und Fahrzeugen hinweg. Nie wieder in der Zeit des „Kalten Krieges“ zeigte man solche schrecklichen Bilder wie an diesem Weihnachten des Jahres 1964.

In den ersten Januartagen des Jahres 1965 teilte mir das Dresdner Jugendamt mit, dass Bruni am 21. Dezember 1964 mit einem Knaben niedergekommen war. Nebenbei hatte sich die NVA verpflichtet, die fälligen Alimente von 40 Mark monatlich für den wehrpflichtigen Vater des Kindes zu übernehmen.

Frühjahrsmanöver

Der Winter war noch nicht vorüber, da begann im März 1965 das große Frühjahrsmanöver. Nach dem ersten Ton des Regimentsalarms schnappte ich meine Kiste mit den geheimen Gefechts-DVs und schleppte sie zum Führungsfahrzeug des Regiments. Anschließend musste ich um eine andere Kiste bemüht sein, die Spirituosen und Kaffee enthielt, aber genauso geheimnisumwittert war.

In einem weiteren Fahrzeug der Führungsgruppe fuhr ich dann, quasi als Stabsordonnanz, durch den Militärbezirk 5 und besuchte alle Feldherrnhügel daselbst.

Besonders martialisch ging es auf dem Feldherrenhügel zu, auf dem Generaloberst Stechbarth sein Zelt hatte aufstellen lassen. Unser Regimentskommandeur, Oberstleutnant Meyer in Eggesin, ein Gott, stand hier stumm wie ein Lakai herum, durfte erst seine Meldung brüllen, wenn er gefragt wurde. Unaufgefordert huschten immer mal Kuriere durch das Zelt, trugen Papierstreifen in der Hand, auf denen zweifellos wichtige Meldungen standen.

Plötzlich brüllte der Oberkommandierende los wie Agamemnon, als der von der Weissagung des Kalchas betreffs seiner Tochter Iphigenie hörte: „Man muss sich ja regelrecht schämen als deutscher Soldat; da gehen die Amis in sechs Stunden über die eisführende Donau, und diese Lahmärsche“ – er meinte die Pioniertruppen der NVA – „brauchen fast einen ganzen Tag für die pisswarme Elbe!“ Als wolle er den Zorn seines Herrn beschwichtigen, kam ein Hauptmann an mich heran und zischte mir zu: „Sofort Tee für den Generaloberst und eine Runde Wodka für die Genossen Stabsoffiziere!“

Ich warf sofort den Teesieder an, der wohl durch einen Feldgenerator mit Strom versorgt wurde, stellte die Tasse mit Teebeutel und acht Gläser auf ein Aluminiumtablett, wie es bis zum Ende der DDR auch in den HO-Gaststätten verwendet wurde, steckte den Spirituosenausgießer auf die 500ml fassende Wodkaflasche und wartete kurze Zeit, bis das Teewasser kochte. Dann goss ich den Tee auf, balancierte das Tablett mit Tasse und den acht Wodkagläsern auf drei Fingern der linken Hand nach oben, fasste die Wodkaflasche zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten, schritt auf den Feldherrntisch zu und riss die Wodkaflasche, wie ich es oft bei Monsieur Vernon im „Berghof Zschertnitz“ gesehen hatte, zwischen den beiden Fingern nach oben, wobei der Wodkastrahl genau ein einzelnes Glas traf und es mit abgemessenen 60ml füllte. Spitze der Servierkunst: Nun setzte ich die Flasche nicht etwa ab, um das nächste Glas zu füllen, sondern führte die ausgestreckte Hand mit der Flasche ruckartig nach unten und führte sie gleichzeitig, wenn sich der Wodka in der Schwerelosigkeit befand und daher nicht mehr austrat, über das nächste Wodkaglas, wo die Schankprozedur aufs Neue begann.

Als alle Gläser gefüllt waren, klemmte ich die fast leere Wodkaflasche – sie enthielt einen Rest von 20ml – zwischen die freien Mittel- und Ringfinger der linken Hand unter dem Tablett und servierte dem staunenden Feldherrn mit der nun wieder freien rechten Hand seinen Tee. Dann reichte ich das Tablett mit dem Wodka in die Runde der Stabsoffiziere. In dem Feldherrnzelt herrschte während meiner Prozedur mit der Wodkaflasche gespannte Aufmerksamkeit; solche Eleganz und Perfektion waren diese Leute in ihren Trinkstuben bisher nicht gewohnt.

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Zum Militärbezirk 5 gehörten auch die ausschließlich von den Sowjettruppen genutzten Übungsplätze im Norden der DDR. Die Stäbe und Führungszüge der NVA-Regimenter waren jedoch mitunter dort auch präsent. Wir besuchten in der Nähe von Wittenberge einen solchen Truppenübungsplatz, wo ich ein höchst unappetitliches Erlebnis hatte, das ich, der Vollkommenheit meiner Erinnerungen halber, erzählen will, obwohl ich in meinen Kindheitserinnerungen, aus den desolaten Jahren nach dem Krieg, versprochen hatte, keine Fäkalienepisoden mehr zu Papier zu bringen. Das große Interesse an meinen Lebenserinnerungen, die ja nun zeitlich die Kindheit weit hinter sich gelassen haben, zwingt mich aber, das Folgende zu erzählen.

Die Führungsabteilung des Regiments hatte auch ein Küchenzelt für die Beköstigung des Stabes errichtet. Hier trieb ich mich herum, weil von deren Fahrzeug meine Schnapskiste und meine Person transportiert wurden. Wo gekocht und gegessen wird, müssen auch die durch die Verdauung entstehenden, mit Kolibakterien versetzten Stoffwechselprodukte möglichst hygienisch ausgeschieden werden.

Das geschah auf deutschen Truppenübungsplätzen und in Feldstellungen des Heeres auf zu diesem Zweck errichteten Latrinen, deren Aufstellung und Betrieb in der Dienstvorschrift DVA052/1/005 genauestens geregelt war. In diesen Einrichtungen, manche sogar überdacht, hatte, wenn schon nicht Häuslichkeit, so doch Hygiene zu herrschen, um die Gefahren des Krieges nicht auch noch durch Sepsis zu erhöhen. Im Trommelfeuer und beim Sturmangriff beherrschen viele Soldaten ihren Schließmuskel nicht mehr, so dass bei Verletzungen, die im Kampf ja nicht ausbleiben, leicht Darminhalt aus dem Hoseninneren in offene Wunden gelangen kann, was Feldärzten und Armeeführung schon seit Generationen große Sorgen bereitete. Deshalb war der Latrinengang vor dem Kampfeinsatz obligatorisch im deutschen Kriegswesen.

Russische Kriegsführung, überhaupt russisches oder sowjetisches Militär, kennt solche Vorsorge um das Menschenmaterial nicht. Latrinen im oben beschriebenen Sinne gab es hier also nicht, aber eines ihrer Scheißhäuser stand einsam im Walde.