Voodoo - Klaus Muller - E-Book

Voodoo E-Book

Klaus Müller

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Beschreibung

Lieutenant Lumen Phoenix ist vieles gewohnt – doch der Fund einer ausgebluteten, verstümmelten Frauenleiche am Jachthafen von New Orleans konfrontiert sie mit einem besonders rätselhaften Fall. Eine groteske Stoffpuppe im Brustkorb des Opfers wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Als eine zweite Tote auftaucht – ebenfalls ohne Herz, ebenfalls mit entstelltem Körper – verdichten sich die Hinweise auf einen Serientäter. Doch die Motive bleiben im Dunkeln. Gemeinsam mit dem jungen Officer Tyler Felix beginnt Phoenix in einem Umfeld zu ermitteln, in dem Glaube, Aberglaube und alte Rituale bis heute zum Alltag gehören. Die Spur führt tief in die feucht-heißen Sümpfe Louisianas – dorthin, wo moderne Polizeiarbeit an ihre Grenzen stößt und die Vergangenheit noch immer in den Schatten lebt. Für Lumen Phoenix wird der Fall zur Belastungsprobe, dessen Aufklärung alles von ihr abverlangt.

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EPUB
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Seitenzahl: 652

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Voodoo

von

Klaus Muller

Prolog

Wenn Nächte nicht nur Nächte sind

Und Seelen nicht mehr sind als Wind

Weil alte Egos Ängste schüren

Und selbst Dämonen Furcht verspüren

Wenn durch jedes Licht, das schwindet

Die Hoffnung keinen Halt mehr findet

Weil Schlächter schon die Messer schärfen

Und Schattenwesen Schatten werfen

Wenn nichts mehr bleibt in dieser Zeit

Als Angst vor tiefer Dunkelheit

Weil Hunde Blut vom Boden lecken

Und Mütter nachts ihr Kind verstecken

Wenn sich nichts mehr zum Guten wendet

Und euer Leben endlich endet

Weil ihr vergeblich Hilfe sucht

Dann senkt das Haupt, ihr seid verflucht!

Kapitel 1

Es war die lange Nacht des Fiebers.

Ein Fieber, das wie eine mächtige Welle des Zorns über alles hinwegrollte und jeden, der ihr zu nahe kam, mit sich in einen schwarzen, bodenlosen Abgrund zog.

Rosi Rosas leise Gebete an jeden Gott, der zuhörte, ihr Flehen, endlich sterben zu dürfen, blieben ungehört. Sie war verflucht – verflucht dazu, zu leben!

Ihr schweißbedeckter Körper lag gekrümmt auf einer schmutzigen Matratze, deren zahllose Flecken nicht alle von ihr stammten.

In kurzen Abständen wurde ihre magere Gestalt immer wieder von heftigen Krämpfen geschüttelt. Und obwohl jede Hoffnung auf Linderung der Qualen längst in ihr erloschen war, klammerte sie sich an den letzten, flüchtigen Hauch von Leben, der sich noch tief in ihr dem Unvermeidlichen entgegenstellte.

Trotz allem, was ihr widerfahren war, schien es, als wäre ihr das Leben letztlich doch noch so viel wert, dass es sich lohnte, darum zu kämpfen.

Gleichwohl wusste sie aber auch mit erschreckender Gewissheit, dass ihr Licht noch in dieser Nacht erlöschen würde.

Es war beschlossene Sache.

Kein Medikament der Welt hätte das Brennen in ihrer Seele mildern können.

Kein Kraut wäre stark genug gewesen, um gegen die Wesen der Finsternis anzukommen, die schon mit dürren Fingern nach ihr griffen. Es waren jene Mächte, die sie selbst gerufen hatte, lange bevor sie Gott in einem stillen Gebet um Erlösung und einen schnellen Tod angefleht hatte.

Vergebens, wie es mit jeder verstrichenen Minute deutlicher wurde.

Auch er hatte sie verlassen. Die Sünden ihres kurzen Lebens, das musste sie in dieser Stunde schmerzlich erkennen, waren zu groß, als dass ihre Gebete noch erhört werden konnten – nicht einmal von Göttern.

Für sie bestand keine Hoffnung auf Erlösung.

Offensichtlich gab es selbst im Himmel eine Grenze für das, was verziehen werden konnte.

Langsam öffnete Rosi ihre Augen und blickte auf das kleine Fenster, das hoch über ihr in der Wand glühte.

Es schien ihr, als könne sie die heiße Luft der Nacht spüren, die durch die Öffnung hereinströmte und sich über sie legte wie ein feuchtes Tuch.

Mag sein, dass es nur Einbildung war, oder der Hunger ihr einen Streich spielte, aber sie war sich sicher, den Geruch von Meerwasser und Zimt wahrzunehmen.

»Zimt«, dachte sie und erinnerte sich wehmütig an den geliebten Duft. Wie sie ihn als Kind mit Zucker vermischte und über warmen Reis streute, den ihre Mutter zuvor in Milch gekocht hatte.

Es waren angenehme Gedanken, die sie ein wenig ruhiger werden ließen.

Manchmal ergriff das Mondlicht die Gelegenheit und erzeugte einen schwachen, gelben Fleck auf dem groben Steinboden neben ihr.

Das kleine Fenster in der Wand hoch über ihr war die einzige Abwechslung, die es in diesem Raum für ihre Augen gab. Tagsüber, wenn der Himmel klar war, bildete es ein kleines, blaues Rechteck. Nachts schauten einige matte Sterne hindurch, so als wollten sie sich davon überzeugen, dass sie wirklich noch da war.

Wenn jedoch ein Sturm genügend Wolken vor sich hertrieb, wurde das Fenster so schwarz wie die Wände ihres Gefängnisses.

Und doch war diese Öffnung, so klein sie auch war, etwas, das ihr eine gewisse Hoffnung gab – zumindest für einen kurzen Augenblick. Solange sie erkennen konnte, ob es außerhalb ihrer Mauern Tag oder Nacht war, fühlte sie sich als Teil der Welt – jener Welt, die so nah und dennoch unerreichbar jenseits ihres Gefängnisses lag.

Ihr richtiger Name war Rosalinda. Ro-sa-lin-da! – Doch nicht einmal ihre Mutter hatte sie jemals so gerufen. Sie nannte sie, wie viele Freier später auch, immer nur Rosi.

Das Fieber ließ sie jetzt sogar nach ihrer Mutter rufen. Nach ihr, die sie das erste Mal einem fremden Mann vorgestellt hatte.

Eines Tages, als sie gerade vierzehn geworden war und von der Schule nach Hause kam, saß er mit ihrer Mutter am Küchentisch und betrachtete ihre hagere Gestalt mit einem ungewöhnlichen Blick.

»Rosi, Schätzchen«, hatte ihre Mutter beiläufig gesagt und etwas warmen Reis auf den Teller gefüllt, »Ezio Garrido ist zu Besuch gekommen. Er ist ein sehr freundlicher Mann. Tu mir den Gefallen und sei ein wenig nett zu ihm. Kannst du das für deine liebe Mama machen, meine kleine Rosi?«

Die Frage war nie wirklich eine Frage gewesen, und so blieb es nicht bei Ezio – er war lediglich der Erste in einer langen Reihe von Männern, die sie alle anschauten, wie er es getan hatte.

Bedauerlicherweise stimmte es, was Rosalinda inzwischen schmerzhaft herausgefunden hatte: Eine Frau vergisst ihren ersten Liebhaber nie. Auch sie hatte Ezio Garrido nie vergessen – weder seine Hände noch seine Stimme, und schon gar nicht seinen Geruch nach Tabak und Tequila.

Ihm folgten noch viele andere, zu denen sie ebenfalls nett sein sollte.

Sie lernte schnell, dass es besser war, folgsam zu sein, um möglichst viele Dollar und ein zufriedenes Lächeln ihrer Mutter zu bekommen.

Was wusste sie damals schon vom Leben, wo sie doch selbst noch keines gehabt hatte?

Also tat Rosi das, was von ihr erwartet wurde.

Und weil sie es nicht besser wusste und es vielleicht der Lauf der Dinge war, blieb sie dabei und verkaufte fortan ihren mageren Körper an jeden, der dafür zahlte.

Als ihre Mutter starb und sie aus dem Dorf fortging, war Rosalinda noch jung genug, um schnell genügend Kunden zu finden, die bereitwillig ein paar Geldscheine neben das Bett legten.

Es machte sie nicht reich, war aber genug, um davon leben zu können.

Was wollte sie mehr?

Die ganze Stadt glühte noch immer unter der Hitze des Tages.

Wer in dieser Nacht auf Abkühlung gehofft hatte, wurde enttäuscht.

Es war warm und stickig in der Zelle, und dennoch fror Rosi, während ihr gleichzeitig der Schweiß über den Körper lief.

Immer wieder schüttelte das Fieber ihren Körper und versetzte sie in einen Zustand, der ihr vorkam, als wäre sie in einem endlosen, bedrückenden Traum gefangen. Doch es war nicht die Sorte Traum, der sie oft mit offenen Augen nachhing – wie der, in dem sie in einem kleinen, glänzenden Auto durch das Land fuhr, um all die schönen Orte zu sehen, von denen die Touristen ihr immer berichteten. Dieser Traum, der sie jetzt quälte, war dunkler, ohne greifbare Bilder, die sie lächeln ließen.

Schlaf und Erwachen vermischten sich in ihren Gedanken zu einer neuen, dritten, bisher unbekannten Realität.

Rosalinda hatte sofort gespürt, dass etwas in dem Saft gewesen war, den man ihr gebracht hatte, und wollte ihn aus Furcht nicht trinken – aber sie verspürte solch einen großen Durst, und der Tag war lang und heiß gewesen.

Saft war sehr ungewöhnlich. Sonst gab es immer nur einfaches Wasser.

Wasser und etwas Reis. Manchmal sogar, vielleicht weil es ein Sonntag war, eine Frucht.

Letztlich wurde ihr Durst stärker als die Angst, und sie griff nach dem Glas.

»Mango«, bemerkte sie erfreut, als das Getränk sich angenehm kühl in ihrem Bauch ausbreitete.

Es war ein wohliges Gefühl, das sie seit … wie lange eigentlich nicht mehr? So sehr sie sich auch in den vergangenen Tagen angestrengt hatte, Rosalinda konnte sich nicht erinnern, wie lange sie schon in diesem Verlies zugebracht hatte.

Die Tage waren eintönig und zu unbedeutend, um ihr einen Anhaltspunkt zu bieten. Waren es nur wenige Tage oder schon Wochen, die ereignislos vergangen waren und sich in steter Eintönigkeit aneinander fügten? Alles verschwamm in der Dunkelheit ihres Gefängnisses und hatte nach einer Weile keinen Anfang und kein Ende mehr.

In den ersten Tagen hatte sie noch versucht, die Nächte zu zählen. Doch dann gab sie es einfach auf, weil es ihr nicht wichtig erschien. Denn nach ihr, und da war sie sich ganz sicher, würde ohnehin niemand suchen. Egal, wie lange sie auch verschwunden war, ihre Freier würden sie nicht vermissen.

Rosi konnte sich nur noch schwach an das erinnern, was geschehen war. Wie eines Tages dieser dicke, schwarze Mann mit seinem skurrilen schwarzen Zylinder, an dessen Seite eine auffällige Hahnenfeder steckte, plötzlich auf der Straße am Hafen vor ihr stand.

Während er beide Hände auf einen Gehstock stützte, hatte er sich leicht vorgebeugt und seinen Mund zu einem beängstigenden Grinsen verzogen.

»Wie ist dein Name?«, fragte er sie.

Als Rosi geantwortet hatte, richtete er sich auf, schaute von oben herab in ihr Gesicht und ließ seine auffallend dünnen Finger unter ihr Kinn gleiten.

»Ich bin Mister Grand T. Bone«, flüsterte er und drückte ihren Kopf leicht nach oben. Dann deutete er mit dem silbernen Knauf seines Gehstocks nach vorn. »Ich bin gekommen, um dich zu holen«, bemerkte er und ging voraus, als wüsste er genau, wo ihre Wohnung war.

Rosalinda wunderte sich über die merkwürdige Formulierung, folgte ihm aber – der Kunde ist König, das hatte ihre Mutter ihr schon früh beigebracht.

Wer zahlte, hatte recht. Sonderwünsche kosteten extra – so einfach konnte das Leben sein.

Sie verspürte ein ungutes Gefühl, als er mit fast tänzelnden Schritten vor ihr herging, ohne sich einmal umzudrehen, um zu sehen, ob sie ihm folgte. Er hatte weder versucht zu handeln noch irgendwelche abstrusen Wünsche geäußert – nur schwach genickt, als sie ihren Preis nannte.

Rosis Gespür riet ihr zur Vorsicht, aber das war bei jedem anderen auch so. Angst gehörte zum Geschäft und wurde nicht extra berechnet.

Es lag eine tiefe Leere im Blick des Fremden, eine unerklärliche Bodenlosigkeit. Sie spürte seine taxierenden Augen, als sein Blick, intensiver als gewöhnlich, über ihren Körper glitt.

Mister Grand T. Bone drückte sie mit einer Hand kraftvoll auf den Stuhl, der in der Mitte des Raums stand. Die flackernde Kerze, die Rosi zuvor angezündet hatte, ließ die schwarze Hahnenfeder an seinem Hut schillern. Und obwohl sie im Schatten lagen, hatten seine Augen im Schein der Flamme ein geheimnisvolles Leuchten angenommen, als er mit langsamen Schritten um sie herumging.

Die knochigen Finger seiner linken Hand strichen dabei sanft über ihren Nacken und ließen Rosi schaudern.

Mit seinem Gehstock drückte er ihren Arm bestimmend nach unten, als sie ihr Kleid ausziehen wollte. Sie hätte gerne alles schnell hinter sich gebracht, blieb aber still vor ihm sitzen. Die Spitze seines Stocks glitt langsam über ihren Kopf hinweg, ohne sie dabei zu berühren. Von einer Schulter zur anderen schwang er ihn wie einen unnachgiebigen Taktstock.

Rosalinda spürte, wie etwas, langsam aber stetig, ihren Hals zuschnürte und sie am Sprechen hinderte. Am Sprechen und am Schreien!

Aber warum hätte sie schreien sollen? Er hatte sie noch nicht einmal berührt – nur reglos angestarrt.

War es nur eine Einbildung, oder tat der Rum, den sie vor einer Weile getrunken hatte, jetzt seine Wirkung?

Rosi bemerkte die bunten Ketten, die er trug, und ihr Blick glitt an den Perlen hoch zu seinem Hals, auf dem sie, direkt über dem Kehlkopf, ein kleines, vernarbtes Zeichen entdeckte. Es war ein verschlungener Pfeil, der nach oben auf sein Gesicht deutete.

Ein Gesicht, dessen Züge sich deutlich veränderten, je länger sie es betrachtete und je näher er ihr kam.

Langsam öffneten sich seine auffälligen, vollen Lippen und gaben den Blick auf große, makellose Zähne frei.

Es erschien ihr, als würde er zufrieden grinsen, und sein weißes Gebiss hob sich deutlich von seiner dunklen Haut ab.

Rosalinda hatte das Gefühl, direkt in den gierigen Rachen eines hungrigen Tieres zu blicken.

Er streckte seine Zunge heraus und fuhr sich damit genüsslich über die Zähne und Lippen. Dann schnellte die Zunge nach vorn und glitt feucht über ihre Nase.

Unfähig, sich zu bewegen, reckte Rosi instinktiv ihren Körper so weit wie möglich nach hinten. Sofort spürte sie den Griff seiner festen Hand in ihrem Nacken. Ihr Kopf wurde unmissverständlich wieder dicht vor sein Gesicht gedrückt.

Das beengende Gefühl, das sie schon vorher in ihrer Kehle gespürt hatte und das ihr das Atmen erschwerte, wurde jetzt noch intensiver.

Zu ihrer Verwunderung glaubte sie deutlich Freude zu erkennen, die seine Augen zu engen, feixenden Schlitzen formte.

Auffällig langsam stülpte er, als würde er einen Kuss von ihr erwarten, seine Lippen nach vorn und blies ihr seinen Atem ins Gesicht.

Rosi konnte sich noch genau an den Geruch von frischem Chili erinnern, bevor alles um sie herum schmolz und schwarz wurde.

Wie in einem Traum hörte sie noch seine leise Stimme dicht an ihrem Ohr, aber zugleich aus weiter Entfernung:

»Du bist meine Gabe für ›Marinette Pye Sèch‹1, erweise dich ihrer würdig!«

Rosalinda öffnete die Augen.

Dunkle Schatten huschten über die Wände ihrer Zelle, in der sie die letzten Wochen verbracht hatte.

Während all dieser Zeit hatte sie keinen anderen Menschen zu Gesicht bekommen. Niemals hatte jemand diesen Raum betreten oder nach ihr geschaut.

Essen und Wasser wurden, während sie schlief, in kleinen Metallschüsseln neben dem Bett abgestellt.

Reis und Wasser, Wasser und Reis. Es wiederholte sich immer wieder, tagein, tagaus.

Gleichzeitig wurde der Eimer mit ihrer Notdurft von einem unsichtbaren Geist regelmäßig entleert.

Mehrmals hatte sie versucht, wach zu bleiben, um vielleicht jemanden zu sehen, mit dem sie hätte sprechen können.

Vergeblich. Solange sie wach war, betrat nie eine andere Person ihr Gefängnis. Das konnte nur bedeuten, dass man sie ständig beobachtete, um immer den richtigen Zeitpunkt für ihre Versorgung abzupassen.

Was hätte sie überhaupt eine Person, wenn sie denn jemals eine getroffen hätte, fragen wollen? Sie konnte es nicht sagen.

Würde flehen helfen?

Hätten ihre Tränen womöglich eine gewisse Milde oder gar Mitleid bei Mister Grand T. Bone bewirkt?

»Wohl kaum«, stellte sie niedergeschlagen fest und begrub die Hoffnung auf Gnade. »Sonst wäre ich wohl nicht mehr hier.«

Die Tage machten sie müde, und die Nächte boten wenig Erholung.

Rosi empfand fast ein wenig Dankbarkeit für die Drogen, die man ihr offensichtlich in den Saft gemischt hatte. Sie milderten ihre rastlosen Gedanken ein wenig und ließen sie schlafen, schlafen, schlafen.

Aber auch im Schlaf wurde sie von wilden Träumen gejagt.

Zeit war für sie schon lange kein entscheidender Faktor mehr in ihrem Leben.

Ihre anfängliche, große Angst, das Opfer von abartigen Spielchen zu werden, von denen ihr die anderen Mädchen auf der Straße immer wieder erzählt hatten, war schnell verflogen.

Niemand rührte sie an.

Wasser zum Waschen gab es immer – mehr als Essen. Sogar Seife hatte man ihr gegeben und einen kleinen Lappen. Beides roch intensiv nach unbekannten Gewürzen.

Aber sie benutzte diese Dinge, weil es die einzige sinnvolle Tätigkeit war, der sie nachgehen konnte.

Sie war sehr dünn geworden, spürte aber dennoch keinen Hunger.

Es waren nur ihre Erinnerungen, die sie traurig machten. Erinnerungen an das warme Gefühl, das sie immer empfunden hatte, wenn sie mit anderen zum Essen zusammengesessen hatte.

Immer wieder tauchten dieselben Fragen in ihrem Kopf auf. Es waren Fragen, auf die sie, egal wie sehr sie sich bemühte, nie eine Antwort fand.

»Eine Gabe sei sie«, hatte der schwarze Mann gesagt. Für wen sie bestimmt war, hatte Rosi vergessen – ebenso den Namen, den er ihr ins Ohr geflüstert hatte.

Sie wusste nur noch, dass ein kalter Schauer über ihren Körper lief, als sie ihn hörte.

Doch seitdem war Mister Grand T. Bone, wie er sich genannt hatte, nie wieder aufgetaucht.

Rosi fürchtete sich vor seinem Anblick.

Dass sie ihn seit jenem Tag nicht mehr gesehen hatte, beruhigte sie anfangs, doch dann schwenkte ihre Ruhe schnell ins Gegenteil um, weil es die Sinnhaftigkeit ihrer Gefangenschaft immer obskurer erscheinen ließ.

Auch die unübersehbaren Spuren an den Wänden, die eindeutig nicht von ihr stammten, trugen nicht dazu bei, dass sie sich besser fühlte.

Es waren die dunklen Flecken auf den Steinen, die sie beunruhigten. Sie sahen im Zwielicht aus wie rotbrauner Rost.

Rosalinda wusste, dass es kein Rost war, vermied aber, weiter darüber nachzudenken, da sie sich vor der Wahrheit fürchtete.

War sie nicht die Erste in diesem Verlies? Waren die Spuren nur von denen, die schon vor ihr versucht hatten, sich den Weg nach draußen mit ihren Nägeln freizukratzen?

Deutlich hörte sie, wie Schlüssel im Metallschloss kratzten.

Die Tür sprang auf, und gelbliches Licht strömte in den Raum.

Es blendete sie, und Rosi hielt sich schützend die Hand vor die Augen.

Zwischen ihren gespreizten Fingern sah sie zwei schemenhafte Gestalten hereintreten. Sie stellten sich neben ihre Liege und zerrten sie hoch.

Rosi hatte Mühe, aufrecht zu stehen. Ihre geschwächten Beine waren kraftlos und knickten immer wieder ein.

Unablässig rissen ihr die beiden Gestalten die Arme nach oben, bis sie schließlich, gekrümmt und zitternd, zwischen ihnen in der Mitte des Raumes stand.

Ihr Kopf schmerzte. Er fühlte sich schwer an und kippte immer wieder schlaff zur Seite.

Dann spürte sie den festen Griff einer Hand unter ihrem Kinn und wusste sofort: ›Er war wieder da!‹

Rosi öffnete erschrocken die brennenden Augen.

Wie durch einen wabernden, grauen Schleier aus Tränen erblickte sie das breite Gesicht von Mister Grand T. Bone direkt vor sich.

Er drehte ihren Kopf spielerisch in seiner Hand und zog sie nach vorn, sodass ihr Gesicht nahe vor seinem kam.

Obwohl sie es erwartet hatte, erschrak sie, als er zu ihr sprach. Wieder konnte sie, wie bei ihrer ersten Begegnung, seinen scharfen Atem riechen.

»Die ›Mambo‹2 erwartet dich«, grinste er und stieß ihren Kopf mit einer kleinen Handbewegung von sich weg. »Wascht sie und bereitet sie vor«, rief er den beiden Frauen zu, die Rosalinda immer noch festhielten. »Es muss alles perfekt sein!«, befahl er lauter als zuvor.

Mister Grand T. Bone drehte sich um und verließ mit tänzelnden Schritten den Raum.

Rosi schaute ihm unbeteiligt nach.

Die Drogen hatten ihren Körper, für den Männer sonst bereitwillig zahlten, zu einer leeren Hülle werden lassen. Ein Gefäß, das jetzt verfügbar war, um neu befüllt zu werden.

Sie spürte, wie die beiden Personen sie langsam auf den Boden gleiten ließen.

»Zwei Frauen«, dachte sie und wunderte sich, dass diese Erkenntnis sie überhaupt erstaunte.

Unter ihrem Rücken spürte sie die kühlen, unebenen Steine, während man ihr die schmutzige, stinkende Kleidung auszog.

Sie wuschen sie gründlich mit einem Schwamm, übergossen sie mit kaltem Wasser, ölten ihre Haut mit einem weichen Lappen und kleideten sie schließlich in ein dünnes, fast transparentes weißes Nachthemd, das bis zu ihren Knöcheln reichte.

Danach stützten sie Rosalinda wieder und steckten ihr mehrere schwarze Federn ins Haar.

Zum Abschluss hielt ihr eine der Frauen einen Becher dicht vor das Gesicht.

»Trink!«, forderte sie schroff.

Rosalinda hatte keinen Willen mehr zu kämpfen und trank.

Es war kein süßer Mangosaft wie beim letzten Mal. Dieses Mal war der Geschmack stechend scharf und es brannte bei jedem Schluck auf ihrer Zunge und in ihrer Kehle.

Sie spürte sofort die große Hitze, die sich augenblicklich in ihrem Bauch ausbreitete und von dort aus ihren ganzen Körper erfasste.

Rosi hatte das Gefühl, von innen heraus zu glühen. Es war, als würde etwas in ihr brennen, ohne dabei Wärme zu spenden.

Ihr Blick blieb auf den winzigen Schweißperlen haften, die ihre Haut glänzen ließen. Als sie versuchte, sie mit den Fingern zu berühren, griff ihre Hand ins Leere. Erst nach mehreren Versuchen gelang es ihr, sich die Fingernägel so tief ins eigene Fleisch zu pressen, dass sie die weißen Abdrücke sehen konnte, ohne dabei den geringsten Schmerz zu spüren.

Zeit hatte für sie keine Bedeutung mehr, während sie sich bewegungslos mit der Hand fest in den eigenen Unterarm krallte. Es hätte eine Sekunde oder auch tausend Jahre sein können – es war ohne Belang.

»Es ist so weit«, riss sie die Stimme einer der Frauen zurück in die Realität.

Dann griffen Hände nach ihr, um sie hinauszuführen.

»Endlich«, dachte Rosi erleichtert, als sie mit dem erlösenden fünften Schritt durch die Tür ihres Gefängnisses nach draußen trat. »Endlich darf ich wieder nach Hause.«

Dunkelheit umhüllte sie, als sie durch eine weitere Tür in einen großen Innenhof geführt wurde.

Rosi hatte inständig gehofft, dass es Tag wäre – dass nach dieser langen Zeit ohne Licht die Sonne wieder scheinen würde. Nur ein paar wärmende Strahlen hätten ihr schon genügt. Doch die Nacht war so schwarz, dass selbst die Sterne sich zu fürchten schienen.

Dichte Wolken dämpften das fahle Licht des Mondes. Nur wenn der leichte Wind es schaffte, zwischen ihnen eine kleine Lücke zu reißen, konnte man ihn in seiner ganzen Schönheit sehen.

Wie ein rundes Goldstück auf schwarzem Samt klebte er über ihr am Nachthimmel.

Rosi blieb stehen, schaute hoch und bewunderte ihn, als sähe sie den Mond zum ersten Mal in ihrem Leben.

Der große Garten vor ihr war von einer hohen, weißen Mauer umgeben. Sie schien dazu da zu sein, etwas zu schützen und gleichzeitig Unerwünschtes draußen zu halten. Drohend ragten scharfe Glassplitter auf ihrer oberen Kante empor und unterstrichen eindrucksvoll ihre Funktion.

Rosi nahm es gleichgültig zur Kenntnis. Solche Mauern waren in diesem Land normal. Sie sollten diejenigen fernhalten, die im Leben weniger Glück oder Ehrgeiz gehabt hatten, und erlaubten nicht einmal einen Blick hinein.

Ein Raunen ging durch die Reihen der Menschen, die sich rechts und links, in einem Abstand von fünf Metern, an zwei Tischen gegenübersaßen. Rosi zählte sie nicht, bemerkte aber die erwartungsvollen Gesichter, die sie anschauten.

Doch was folgte, war nicht das freudige Aufspringen einer Überraschungsparty mit dem Ruf: »Überraschung!«.

Ihre Gesichter waren ernst und angespannt.

Wie auf ein geheimes Kommando erhoben sich alle, als sie Rosi sahen. Sie fassten sich an den Händen, murmelten Unverständliches und stimmten einen monotonen Singsang an, der wie ein Gebet in einer gut besetzten Kirche klang. Dumpfe Trommeln begleiteten das Ritual rhythmisch im Hintergrund.

Die großen Feuerschalen am Ende jedes Tisches warfen nur flackerndes Licht, das die Gesichter im Halbdunkel ließ, während die Palmen, die hinter ihnen standen, wie Finger in den Himmel wiesen.

Zwischen den beiden Tischen stand ein massiver, länglicher Altar mit einer Platte aus dickem Holz, in seiner Mitte ruhte ein schmuckloses Trinkgefäß.

Rosi war nicht in der Lage, ihre Gedanken zu ordnen. Sie spürte deutlich die Wirkung des scharfen Getränks, das man ihr kurz zuvor gegeben hatte.

Aber mehr noch als jedes andere Gefühl der Welt spürte sie einen unerträglichen Durst in ihrer trockenen Kehle.

Die Hände ihrer beiden Begleiterinnen drängten sie unnachgiebig vorwärts, bis ihre Schenkel gegen die Holzplatte des Tisches stießen. Beide Frauen lösten ihren Griff, traten zur Seite und stellten sich zu den anderen an die seitlichen Tische, die wie für ein gemeinsames Essen vorbereitet wirkten.

Zum ersten Mal seit Langem spürte Rosalinda wieder Hunger. Sie stützte sich nach vorn gegen die Tischplatte, denn ihre Beine begannen unkontrolliert zu zittern.

Sie konnte die Wärme des Feuers auf ihrer Haut fühlen, gefolgt von dem angenehmen Duft der Blumen und der Gewürze in ihrer Nase.

Rosi schloss die Augen und erinnerte sich plötzlich wieder an den Duft der Blumentöpfe vor ihrem Haus, zwischen denen sie als Kind gespielt hatte. Es war schon früh ihre Aufgabe gewesen, sie jeden Abend nach Sonnenuntergang zu gießen und dafür zu sorgen, dass alle Pflanzen genügend Wasser bekamen. – Wasser! Deutlich erinnerte sie sich auch an den Geruch der Ziege des Nachbarn, der immer dann herüberwehte, wenn der Wind richtig stand.

Dieser unverwechselbare Geruch, den sie nie vergessen hatte, ließ sie die Augen wieder aufschlagen.

Direkt vor ihr, auf der anderen Seite der dicken Holzplatte, erkannte sie Mister Grand T. Bone im flackernden Feuerschein.

Sein schwarzer Ledermantel und der Zylinder mit der schillernden Feder an der Seite waren unverwechselbar. Selbst als bloße Silhouette im Zwielicht reichte sein Anblick aus, um sie erschaudern zu lassen.

Genau wie damals auf der Straße am Hafen, als er mit ihr aufs Zimmer ging, war er auch dieses Mal wie aus dem Nichts aufgetaucht.

Die Flammen der Feuerschalen loderten hell auf, als jemand eine Flüssigkeit hineingoss. Der Geruch von Benzin erfüllte die Luft wie ein erschreckendes Parfüm.

Ein kleiner Schritt nach vorn entfernte die letzten Schatten aus dem Gesicht von Mister Grand T. Bone, die seine schwarze Haut mit der Nacht hatten verschmelzen lassen.

Mit zufriedener Miene ließ er seinen Blick über die Gäste schweifen, die hinter ihren Tischen saßen.

Ein Mann mit einer Schüssel stellte sich neben ihn.

Mister T. Bone griff in das Gefäß und ließ etwas, das wie Salz aussah, prüfend durch seine Finger rieseln, bevor er es mit einer kurzen Bewegung in die Feuerschalen warf.

Das züngelnde gelbe Licht der auflodernden Flammen und sein effektvoller Auftritt unterstrichen die Bedrohung, die von ihm ausging, ohne dass er viel tun musste.

Rosi konnte ihren Blick nicht von ihm abwenden. Sie starrte gebannt auf seine Lippen, die monoton etwas in einer unverständlichen Sprache rezitierten.

Ein Gebet? – Vielleicht.

Rosi hatte nie gebetet und kannte sich mit solchen Dingen nicht aus.

»Hoffe nicht auf Gott, mein Kind«, hatte ihre Mutter immer wieder verbittert gesagt, wenn sie abends ihre ›Medizin‹ trank. »Er ist nicht für die da, die ihn brauchen. Sein Platz ist immer an der Seite der Mächtigen. Wenn du reich bist, dann erhört er dich, wenn nicht, kannst du nur auf deine eigene Kraft vertrauen.«

»Aber Reiche kommen nicht in den Himmel«, hatte Rosalinda stets versucht, einen Widerspruch zu finden. »Das hat Pater Fernando uns während der letzten Sonntagsschule gesagt …«

»Er ist ein Hirte seines Herrn«, unterbrach ihre Mutter. »Seine Aufgabe ist es, die Herde so lange zu beruhigen und zusammenzuhalten, bis die Wölfe kommen.«

»Aber was ist mit Jesus?«, hatte Rosi in ihrer Kindlichkeit hoffnungsvoll nachgefragt und keine Ruhe gegeben. »Er hilft doch den Schwachen.«

»Niemand hilft den Schwachen«, antwortete die Mutter schroff und wischte die aufkommenden Fragen ihrer Tochter mit einer Handbewegung beiseite.

Rosalinda hatte nie verstanden, was ihre Mutter meinte, und damals auch nicht weiter darüber nachgedacht. Da sie sich jedoch nicht sicher war, hatte sie trotz aller Zweifel jedes Jahr am ›Día de los Muertos‹3 auf dem Friedhof eine Kerze für die Toten angezündet und eine kleine Blume daneben gestellt.

»Man kann nie wissen«, hatte sie mit einem Rest Hoffnung gedacht und ihrer spartanischen Gläubigkeit so Genüge getan.

Jetzt, das spürte sie, würde sie einen Gott gut gebrauchen können.

Einen Gott, der an der Seite seiner schwachen Kinder steht – einen Gott an ihrer Seite.

Ein bedeutungsvoller, aber auch bedrohlicher Chor begleitete das Erscheinen von Mister T. Bone.

Verstärkt wurde sein Auftritt zusätzlich durch eine zappelnde, schwarze Ziege, die er an einer kurzen Leine dicht neben sich führte.

Das Tier versuchte vergeblich, sich loszureißen, doch es hatte der massiven Kraft von Mister T. Bone nichts entgegenzusetzen.

Unheilvoll schillerten die Federn an seinem Zylinder wie Öl auf einer Pfütze.

Erst jetzt bemerkte Rosalinda die zerzausten Hühner, die auf sechs hohen Pfählen rings um den Tisch herum aufgespießt waren.

Die leblosen Köpfe und Flügel dieser bedauernswerten Kreaturen hingen schlaff herunter.

Ihr Gefieder war so schwarz wie die Feder am Hut von Mister T. Bone.

Blut tropfte aus ihren Schnäbeln, lief an den Holzstangen hinab, die ihre Körper durchbohrten, und sammelte sich in kleinen Pfützen auf dem Boden.

Ein großer Hund leckte gierig an einem der Pfähle.

»Freunde!«, hörte Rosi Mister T. Bone rufen, während er seine freie Hand mitsamt dem Stock in die Höhe reckte.

Augenblicklich verstummte der Gesang, und alle setzten sich.

»Freunde!«, wiederholte er theatralisch und ließ seinen Blick unheilvoll über seine Gäste schweifen, »in dieser Nacht wollen wir ›Marinette Pye Sèch‹ ehren und ihr ein angemessenes Opfer bringen. Auf dass ihre dürren Knochen uns immer gewogen sind und noch stärker werden!«

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es Rosis Körper, als sie den Namen erkannte, den sie vergessen hatte. Es war genau jener Name, den Mister T. Bone ihr bei ihrer ersten Begegnung ins Ohr geflüstert hatte. Damals, als er in ihrem Zimmer um sie herumschlich, sie das Bewusstsein verlor – und erst im Verlies wieder erwachte.

Sie drehte den Kopf in seine Richtung und bemerkte, dass auch er sie nun ansah – während er weitersprach.

»Ich habe euch zu diesem ›Bizango‹4 geladen, um unsere auserwählte ›Loa‹5 zu stärken – für die Aufgaben, bei denen wir ihre Unterstützung benötigen. Wir wollen sie mit unseren Opfergaben stärken, um die Wünsche unserer mächtigen Mambo zu erfüllen. Sie selbst kann in dieser Nacht nicht bei uns sein, wacht aber im Geiste über uns und hat mir – ihrem treuen Diener – aufgetragen, das Ritual in ihrem Namen durchzuführen.«

»So soll es sein!«, rief ein Mann inbrünstig von der Seite, und alle stimmten in seinen Jubelruf ein.

»Wir sind deine Diener, Mambo!«, skandierten sie, unterstützt durch die wieder einsetzenden Trommeln. »Wir sind deine Diener!«

Mister T. Bone hob erneut seine Hand, und die Rufe verstummten schlagartig.

»Wir haben diese Messe mit Blut begonnen«, rief er und deutete auf die aufgespießten Hühner. »Und wir werden sie auch mit Blut beenden!«

Bei seinen letzten Worten übergab er den Stock an eine Frau, die neben ihn getreten war, und erhielt von ihr im Tausch ein langes Messer. Triumphierend hielt er es unter dem anfeuernden Klatschen der Gäste in die Höhe.

Augenblicklich setzten die Trommeln und der dumpfe, rituelle Gesang wieder ein, dessen Bedeutung nur Eingeweihte verstanden.

Rosi wusste nicht, welchem Zweck er diente, und nahm nur verschwommen wahr, wie sich Mister T. Bone rittlings über die eingeschüchterte Ziege stellte und sie fest zwischen seinen Beinen einklemmte. Er griff mit der Hand, die bisher die Leine gehalten hatte, unter ihren Kopf und ließ ohne weitere Verzögerung die scharfe Klinge des Messers durch die Kehle des Tieres gleiten.

Der Schnitt war präzise und tief. Blut spritzte in alle Richtungen, und das tödlich verwundete Tier bäumte sich ein letztes Mal auf. Es gab einen kläglichen, röchelnden Laut von sich, bevor ihm die Beine versagten und sein Körper kraftlos zusammensackte. Mit festem Griff packte Mister T. Bone den sterbenden Bock bei den Hörnern und zog dessen Kopf in die Höhe.

Es war das wortlose Signal für eine Frau, die bis dahin reglos an seiner Seite gestanden hatte, sich vorzubeugen und das Blut, das aus der Wunde des Tieres lief, in einer Schüssel aufzufangen.

Mit klopfendem Herzen beobachtete Rosi die unfassbare Szene vor ihren Augen – als würde sie durch eine verengende Optik blicken.

Es war nicht das erste Mal, dass sie sah, wie ein Tier geschlachtet wurde – es gehörte zum Leben und war für sie bisher immer eine Notwendigkeit gewesen. Aber das hier war anders. Mit jeder Faser ihres dünnen Körpers spürte sie, dass es hier um mehr ging als nur um Nahrung.

Die bedrohliche Prozedur hatte etwas zutiefst Sakrales und wirkte auf sie abstoßend, wie eine bizarre, real gewordene Szene aus einem Albtraum. Das blutige Geschehen wurde begleitet von erregten, aufmunternden Rufen der Gäste, die entweder an den Tischen saßen oder hinter ihren Stühlen rhythmisch tanzten.

Es schien nicht das erste Mal zu sein, dass sie einem Ritual dieser Art beiwohnten, das offensichtlich einem festgelegten Ablauf folgte.

Die Frau, die das Blut der Ziege in einer Schale aufgefangen hatte, schritt langsam an den aufgespießten Hühnern vorbei und hielt das gefüllte Gefäß für alle sichtbar in die Höhe.

Mister T. Bone folgte ihr mit beschwingten, tänzelnden Schritten.

Jedes Mal, wenn sie an einem der Pfähle anhielten, tauchte er einen breiten Pinsel in das noch warme Blut und bestrich ein totes Huhn, begleitet von unverständlichem Gemurmel.

Als schließlich alle sechs Hühner mit dem Blut der Ziege bestrichen waren, stellte die Frau die Schüssel auf den Holztisch und setzte sich zurück an ihren Platz.

Ihre Arbeit war getan.

Erst jetzt, da die Trommeln immer lauter wurden, nahm Rosi ihren betäubenden, aufdringlichen Rhythmus als stimmungsvollen Bestandteil der Prozedur wahr.

Der dumpfe Klang riss sie aus ihren Gedanken zurück in den Garten.

Sie spürte das nahe Meer, hörte seine Brandung, roch die Blumen – und das Blut.

Ihre Apathie wich tiefer Furcht, als sie den sich rot spiegelnden Mond auf dem Blut in der Schale vor sich tanzen sah.

Hätte sie gekonnt, wäre sie weit davongelaufen – aber sie war unfähig, sich zu bewegen.

Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Tisches, drehte sich Mister T. Bone mehrmals um seine eigene Achse.

Als er stoppte, traf sie sein Blick, und das diabolische Lächeln schnitt durch sie hindurch wie ein brennender Speer.

Rosi spürte, wie heißer Urin an ihren zitternden Beinen hinunterlief.

Angst schnürte ihr den Bauch zusammen und ließ sie schwer atmen. Ihr Herz trommelte ebenso laut wie die Instrumente der Gäste.

Dann hob der schwarze Mann erneut seine Hand, und alle verstummten. Sein Blick war starr auf Rosi gerichtet.

»Bizango!«, rief er ihr entgegen, und die Menge an den Tischen johlte vor Vergnügen.

Wieder die erhobene Hand – wieder Stille.

»Ich möchte unsere Opfergaben brennen sehen«, befahl er. »Der Rauch ihrer dunklen Seelen soll heute Nacht den ›Loas‹ den Weg zu uns weisen!«

Mehrere Männer traten vor und setzten die Hühner in Flammen.

Wie sechs skurrile Fackeln säumten die brennenden Tiere den Holztisch und tauchten ihn in ein gespenstisches Licht.

Der Geruch von Benzin und verbranntem Fleisch vermischte sich in dem Rauch, der durch den Garten schwebte, und Rosi spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte.

Mister Grand T. Bones Blick wanderte zufrieden über die Gäste seiner obskuren Zeremonie.

»Wir wollen jetzt zu Ehren der ›Loa‹ trinken«, sagte er feierlich und umrundete den Tisch, um auf Rosalinda zuzugehen.

Auf dem Weg griff er nach dem Gefäß, das die ganze Zeit über in der Mitte des Tisches gestanden hatte.

Rosi spürte erneut seinen scharfen Atem und vermied es, ihn anzusehen.

Wie bei ihrem ersten Treffen brachte er seine Lippen dicht an ihr Ohr.

»Trink«, befahl er, »und das Tor wird sich für dich öffnen.«

Er presste ihr den Becher an die Lippen und zog mit der anderen Hand ihren Kopf weit nach hinten, während er ihr die Flüssigkeit in den Mund goss.

»So ist es brav«, bemerkte er spöttisch, als er sah, dass Rosi schluckte.

Es schmeckte nach Rum und bitteren Kräutern. Ihr Durst wurde davon nicht gestillt, doch sofort spürte sie, wie sich ihr Gesichtsfeld verengte, die Konturen verschwammen und Geräusche wie aus weiter Ferne zu ihr drangen.

Rosalinda spürte eine tiefe, lähmende Müdigkeit aufsteigen und sehnte sich danach, endlich schlafen zu dürfen.

Nur verschwommen nahm sie noch wahr, wie Mister T. Bone die Schale mit dem restlichen Blut der Ziege über den Holztisch goss.

Dann spürte sie seinen festen Griff, als er sie mühelos hochhob und langsam auf den Tisch legte.

Rosi war froh, endlich liegen zu dürfen – ihre Angst war stetig gewachsen, sodass ihre zitternden Beine sie nicht mehr lange tragen würden.

Jemand drehte sie auf den Rücken und drückte ihre Arme fest an die Seite ihres Körpers.

Vor lauter Ehrfurcht über das, was über ihr geschah, vergaß sie fast zu atmen.

Wie in einem lebendigen Gemälde von Van Gogh wirbelten die verrückten Sterne in leuchtenden Spiralen über den schwarzen Himmel, während die Welt um sie herum in einem unwirklichen Tanz versank.

Kapitel 2

Es war noch früh am Nachmittag, als das Handy von Lieutenant Lumen Phoenix klingelte.

Das aufdringliche Geräusch, das weder zur friedlichen Umgebung noch zu ihrer entspannten Stimmung passen wollte, riss sie aus den Gedanken zurück in die Realität.

Nur widerwillig öffnete Lumen die Augen. Ihr Blick wanderte über die hochgelegten Beine zu den Spitzen ihrer Motorradstiefel und weiter auf das ruhige, türkisfarbene Meer hinaus.

Ein warmer Wind, der nach Salz und Algen roch, strich ihr leicht durch das Haar und über das Gesicht.

Die Lederjacke, aus der das störende Geräusch kam, lag in Griffweite neben ihr auf einem Holzstuhl.

Schon oft hatte sie – wie an diesem Tag auch – die Gelegenheit genutzt, um in einem kleinen Café am Ufer des ›Lake Pontchartrain‹6, die hellen Silhouetten der Boote zu beobachten, die mit geblähten Segeln in Richtung des Golfs von Mexiko glitten.

In der sonst so quirligen Stadt New Orleans fand sie hier, abseits der Touristenströme, die willkommene Ruhe und Gelegenheit, um für eine kurze Zeit durchzuatmen. Es war ein bescheidener Versuch, zwischen den Einsätzen einen begrenzten Augenblick loszulassen, um neue Energie zu tanken.

Den Kopf für ein paar Minuten abzuschalten, einen Kaffee zu genießen und die Batterien neu aufzuladen – das war der Plan.

Die Schönheit der Umgebung und die schier endlose Weite des Meeres halfen ihr dabei, unter den schattigen Palmen an nichts zu denken, was auch nur entfernt an die Arbeit erinnerte.

Sie genoss den Anblick der schieren Endlosigkeit bis zum Horizont.

Ihre Kollegen kannten diese kleine Marotte und versuchten, sie in dieser Zeit möglichst nicht zu behelligen.

Allerdings war sie schon lange genug bei der Mordkommission, um zu wissen, dass es wirklich wichtig sein musste, wenn sich das Revier trotz ihrer heiligen Stunde meldete.

Und dass es nur das Department sein konnte, das nach ihr rief, stand für Lumen außer Zweifel.

Zumal es, zu ihrem Bedauern, momentan niemanden sonst in ihrem Leben gab, der sie tagsüber hätte anrufen wollen.

Der Aufnäher, der direkt unter dem Harley-Davidson-Logo auf ihrer Jacke genäht war, stellte so etwas wie ein unfreiwilliges Lebensmotto dar. Unübersehbar stand ›Lone Rider‹ in gestickten Buchstaben auf ihrem Ärmel.

Es lief zwar auf dasselbe hinaus, doch ›Lone‹ hörte sich für sie einfach besser an als ›Alone‹.

Alle Kollegen kannten und respektierten ihre Angewohnheit, in diesem friedlichen Café, weitab von allem Trubel, sich einfach in die Sonne zu setzen, um in ungestörter Ruhe eine Zigarette und einen Kaffee zu genießen.

Lumen lehnte sich etwas zurück, griff nach der Tasse, nahm einen kleinen Schluck Cappuccino und versuchte, mit der anderen Hand das klingelnde Telefon in der Innentasche ihrer Motorradjacke zu erreichen.

Ein skeptischer Blick auf das Handy bestätigte ihre Vermutung: Der Anruf konnte nur aus dem Revier kommen.

»Ich hoffe, es ist wichtig«, meldete sie sich und stellte die Tasse wieder auf den Untersetzer.

»Entschuldigen Sie bitte die Störung, Lieutenant, aber es ist gerade eine wichtige Meldung hereingekommen …«

»Breakwater Park, sagen Sie? – Ja, ich weiß, wo das ist«, bestätigte Lumen und warf ihr Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten hatte, zurück über die Schulter. »Was ist mit Sergeant Guerra? Warum ist er nicht hingefahren? – Okay, verstehe. Sagen Sie ihm, er soll dort auf mich warten. Ich werde direkt hinkommen.«

Lumen schob einen Geldschein unter die Tasse, stand auf und ging zum Parkplatz vor dem Café.

Sie war nicht in Eile. An diesem Ort war sie nie in Eile; es war ihre kleine Insel der Ruhe. Der Anruf jedoch hatte die Situation verändert. Er wirkte wie der Vorbote eines schweren Sturms, der mehr mit sich bringen würde als nur Wind und Regen.

Einen Toten zu finden, war in New Orleans für einen Polizisten nichts Ungewöhnliches. Schon gar nicht, wenn man im Morddezernat arbeitete. Aber es war auch nicht der Alltag.

Dieses Mal jedoch, ohne dass Lumen den Grund hätte benennen können, meldete sich ihr Bauch mit einem Gefühl, das über die übliche Anspannung hinausging. In der Vergangenheit hatte ihr Bauchgefühl ihr schon oft einen triftigen Grund gegeben und sich selten dabei geirrt.

Sofort schaltete alles bei ihr auf ›Alarm‹.

Einige Kollegen, so wurde ihr mitgeteilt, waren bereits vor Ort, um den Fundort zu sichern und neugierige Passanten fernzuhalten.

Unter ihnen war auch Sergeant Travis Guerra. Ein guter Polizist, von dessen Fähigkeiten Lumen absolut überzeugt war. Sie selbst hatte ihn vor zwei Jahren, trotz einiger Bedenken ihres Captains, auf diesen Posten gesetzt. Travis Guerra war jemand, der ruhig und unaufgeregt an eine Sache heranging, aber dennoch entschlossen genug, um messbare Ergebnisse zu erzielen.

Manchen Kollegen erschien er zu ruhig – zumindest, wenn man ihrem Gerede Glauben schenken wollte. Lumen war nicht dieser Meinung. Denn sobald er eine Witterung aufgenommen hatte, hing er an einem Verdächtigen wie ein Terrier an seiner Beute und ließ erst dann wieder los, wenn alles geklärt war. Er war jemand, dem sie absolut vertraute – ein Umstand, der in diesem Job überlebenswichtig war. Außerdem, so gestand sie sich heimlich ein, war er ein guter Ausgleich zu ihrer oft sehr impulsiven Art.

Es wäre nicht nötig gewesen, dass sie selbst zum Fundort fuhr. Aber Lumen war bekannt dafür, sich selbst ein Bild von den Vorgängen machen zu wollen – ein Bild, das über die Berichte auf ihrem Schreibtisch hinausging.

Außeneinsätze waren schon immer ihre Leidenschaft gewesen, und auf die wollte sie auch als Lieutenant nicht verzichten.

Sie drückte auf den Startknopf ihrer Harley, und die beiden Zylinder der Maschine erwachten mit einem dumpfen Grollen zum Leben.

Lumen liebte ihre ›Fat Boy‹. Mit ihr war sie in der Stadt schneller als jeder Polizeiwagen, und was noch wichtiger war: Es machte auch deutlich mehr Spaß.

Der Captain bezeichnete ihre Maschine stets kopfschüttelnd als den Besen, auf dem sie am Tatort angeflogen kam. Letztlich hatte er aber doch, trotz einiger Bedenken, der Nutzung des Motorrads als Dienstfahrzeug zähneknirschend zugestimmt.

Sie fuhr über den ›Lakeshore Drive‹ in Richtung des ›New Canal Lighthouse‹ und bog kurze Zeit später rechts in die ›Lake Marina Avenue‹ ein.

Vorbei am ›New Orleans Yacht-Club‹ führte ihr Weg zum äußersten Zipfel des ›Breakwater Drive‹.

Schon von Weitem waren die rot und blau blinkenden Lichter der Streifenwagen nicht zu übersehen.

Sie stellte ihr Motorrad ab, hängte den Helm über den Lenker und ging zur Absperrung, wo ihr bereits ein junger Officer entgegenkam.

»Hallo Lieutenant«, grüßte er und hob das Absperrband ein Stück höher. »Wieder den Wind um die Nase wehen lassen?«, bemerkte er neidisch und warf einen Seitenblick auf ihre Harley. »Die Kollegen erwarten Sie schon. Da drüben ist es.« Er deutete auf zwei Personen, die etwas abseits auf einer Mole standen, am Geländer lehnten und hinunter auf das Wasser blickten. Einer von ihnen drehte sich kurz zu ihr um und kam dann direkt auf sie zu.

»Hi, Lumen«, grüßte er knapp und deutete mit einer Kopfbewegung auf den wartenden Mann.

»Scheiße, Travis, ich habe nicht einmal meinen Cappuccino austrinken können.«

»Das tut mir ehrlich leid, Lieutenant«, lächelte er zurück. »Vielleicht sollten wir die Leichen darum bitten, sich vorher zu erkundigen, ob es in unseren Zeitplan passt. – Ich werde bei unserem nächsten Meeting …«

»Klappe, Travis!«

Sie ging mit ihm zusammen auf den anderen Mann zu.

Nach wenigen Schritten erkannte Lumen auch ihn – Jason Renner. Er war der leitende Rechtsmediziner dieses Distrikts.

Zum Glück baumelte sein Dienstausweis zwischen einem glänzenden Peace-Zeichen und einem stilisierten Cannabisblatt – sonst hätte man ihm seine Rolle womöglich nicht abgenommen.

Inzwischen war er im Dezernat bekannt wie ein bunter Hund und wurde nicht mehr – wie anfangs – an jeder Absperrung von den uniformierten Kollegen aufgehalten, weil sie ihn für einen neugierigen Gaffer hielten.

Ein fähiger Mann. Allerdings von seiner eigenwilligen, aber attraktiven Erscheinung her nicht das, was man sich vielleicht unter einem seriösen Forensiker vorstellte. Für einen außenstehenden Betrachter hatte es den Anschein, als wäre er direkt einem Comic von Robert Crumb7 entstiegen. Konsequenterweise kleidete er sich auch so, als hätte seine Zeitreise in Woodstock begonnen und er wäre nur versehentlich, als unbeteiligter Zuschauer am Tatort gelandet. Die bunten Klamotten, die Sandalen, die langen Haare und der kurz geschnittene Vollbar vervollständigten das Bild eines in die Jahre gekommenen Hippies. Viele hatten schon den Fehler gemacht, ihn aufgrund seines gewöhnungsbedürftigen Erscheinungsbildes falsch einzuschätzen.

Lumen bewertete seine Kompetenz als außerordentlich.

Zwar dauerte es bei ihm manchmal etwas länger, bevor man eine verbindliche Auskunft erhielt, aber wenn er sie schließlich abgab, konnte man sicher sein, dass sie auch zu hundert Prozent zutraf.

»Also, Jungs, was haben wir?«, stieg Lumen ohne Umschweife in das Gespräch ein.

Der Gerichtsmediziner sah sie an, lächelte und schob seine runde ›John Lennon‹-Brille auf die Nase zurück.

»Nicht sehr viel«, antwortete er ebenso knapp und deutete auf eine Stelle unterhalb des Holzstegs, auf dem sie gerade standen.

Lumen trat dicht an den Rand und schaute hinab auf eine kleine Böschung, die zum Wasser hin abfiel und in einen nur etwa einen Meter breiten Sandstreifen überging.

Auf dem dunklen Sand unter ihr lag eine nackte, merkwürdig verkrümmte Person. Ihr Körper und das Gesicht waren auf den Bauch gedreht und erschienen grotesk verschlungen. Die Beine des Toten lagen noch bis zu den Knien im Wasser und wurden von den Wellen rhythmisch bewegt.

»Also, Mister Renner, was können Sie mir erzählen?«, fragte Lumen.

Jason schaute sie mit seinen grünen Augen ausdruckslos an.

»Nur, dass sie tot ist«, bemerkte er kurz.

»Wow«, entfuhr es Lumen, als sie sich direkt vor ihn stellte. »Und dafür hat Ihre Mutter Sie studieren lassen?«

Jason Renner grinste frech.

»Im Ernst, Lieutenant, was erwarten Sie?«

»Ein wenig mehr, offen gesagt, dürfte es schon sein.«

»Ich kann im Moment nicht einmal sagen, welche Wunden relevant sind und welche nur von hungrigen Möwen stammen. – Das Salzwasser, die Krokodile und die Fische haben ihr sehr zugesetzt.«

»Ihr?«

»Eine Frau – definitiv.«

»Okay«, erwiderte Lumen nachdenklich und warf einen Blick auf die Tote. »Haben wir schon einen Namen?«

Der Gerichtsmediziner sah sie belustigt über den Rand seiner Brille an.

»Oh ja«, betonte er sarkastisch, »es hing ein kleiner wasserabweisender Zettel mit ihrem Namen, befestigt an einem Bändchen um ihren Hals. Ihre Sozialversicherungsnummer und die Adresse waren leider nur sehr undeutlich zu erkennen …«

Lumen schaute ihn herausfordernd an, nickte leicht und zündete sich ruhig eine Zigarette an.

»Habe ich Ihnen heute schon gesagt, dass ich Sie von allen Personen, die ich kenne, am meisten hasse, Renner?«

Der Angesprochene grinste nur.

»Erstaunlicherweise nicht, Lieutenant«, erwiderte er.

»Dann wird es höchste Zeit, immerhin ist es schon Nachmittag.« Lumen blickte wieder auf die Leiche. »Wieso sagten Sie, die Fische hätten ihr stark …?«

»Na ja, für einen Hai wäre sie ein willkommener Snack.«

»Verstehe«, bestätigte Lumen.

»Dann liegt sie also schon länger im Wasser. Lässt sich schon sagen, wie lange – ungefähr?«, wollte Sergeant Guerra wissen.

»Keine Ahnung – ein bis zwei Tage – höchstens.«

»Und die Todesursache?«

»Keine Ahnung.«

»Scheiße, Renner, gibt es überhaupt etwas, das Sie genauer sagen können?«, fauchte Travis Guerra ihn ungehalten an.

»Ja«, antwortete er, »dass ich die Tote erst auf meinem Tisch haben muss, um mehr sagen zu können.«

»Okay«, warf Lumen beschwichtigend ein, »damit müssen wir wohl leben. Aber Jason, Sie müssen mir bei Gelegenheit mal erklären, warum die Forensiker in den CSI-Serien im Fernsehen alle Details einer Leiche herunterbeten können, sobald sie sie gefunden haben – bis hin zur Schuhgröße«, bemerkte sie scherzhaft. »Und von Ihnen höre ich immer nur: keine Ahnung.«

»Also, die Schuhgröße könnte ich Ihnen auch sagen, Lieutenant, wenn die Dame noch Füße hätte«, konterte der Gerichtsmediziner trocken und machte ein bedauerndes Gesicht.

»Scheiße«, bemerkte Lumen ernüchtert. »Nur eins noch: Meinen Sie, dass es sich hier wirklich um den Tatort handelt, oder wurde sie nur zufällig angeschwemmt?«

Jason Renner schaute von dem toten Körper hinüber zum Jachthafen, der in einiger Entfernung zu sehen war.

»Würde mich wundern, wenn sie hier umgebracht worden ist«, bemerkte er ruhig, »ich nehme eher an, dass die Flut sie angespült hat. Also, bei der Frage nach dem Tatort würde ich sagen: Nein, eher nicht. Und ob sie zufällig hier liegt, weiß ich nicht …«, er zuckte mit den Schultern, ohne seinen Satz zu beenden.

Lumen schaute wieder auf die Leiche, die in diesem Moment von Mitarbeitern auf eine Bahre gehoben wurde, drehte den Kopf und blickte auf Sergeant Guerra.

»Wenn wir den Todeszeitpunkt kennen, werden wir eine Strömungskarte und den Tidenkalender benötigen. – Travis, kümmerst du dich bitte darum?«

»Geht klar, Lieutenant«, sagte er und machte sich eine Notiz.

»Warum ist sie nackt?«, wollte Lumen gedankenverloren wissen und schaute wieder den Gerichtsmediziner an.

»Halten Sie mich für den Mörder, Lieutenant?«, fragte Jason Renner zurück.

»Ich bin mir nicht sicher. Warum fragen Sie?«

»Weil nur der Mörder diese Frage beantworten könnte«, blieb Jason hartnäckig.

»Ich meinte aber eigentlich eher«, ergänzte Lumen, »wurde hier auch Kleidung von ihr gefunden?«

»Nein, haben wir nicht«, sagte der Gerichtsmediziner. »Keine Kleidung, keine Schuhe, keine Handtasche – nichts.«

»Einen Unfall schließen Sie demnach aus?«

»Im Augenblick schließe ich gar nichts aus, Lieutenant. Aber ich halte es eher für einen Unfall, dass wir sie überhaupt gefunden haben. Ich glaube nicht, dass das so beabsichtigt war.«

»Hm«, murmelte Lumen gedankenverloren.

»Aufgrund der Haare und der noch sichtbaren Hautpartien tippe ich allerdings auf eine jüngere Latina. Das ist aber auch schon alles, was ich Ihnen momentan sagen kann. Und selbst diese Annahme ist nur eine Spekulation, tut mir leid. – Wie gesagt, später mehr. – Vielleicht bei einem Kaffee?«, fragte er mit hochgezogenen Augenbrauen und setzte ein provokantes Grinsen auf.

»Vergessen Sie es«, reagierte Lumen und blies ihm eine Tabakwolke ins Gesicht. »In die Kifferhöhlen, in denen Sie sich so herumtreiben, setze ich keinen Fuß.«

»Ja dann …«

»Kann man von ihr noch Fingerabdrücke nehmen?«, brachte Lumen das Gespräch zurück auf die sachliche Ebene.

Jason zuckte mit den Schultern.

»Also gut«, interpretierte Lieutenant Phoenix seine Geste in der Gewissheit, dass sie momentan nicht mehr erfahren würde. »Dann bringt sie jetzt weg. Aber ich möchte sofort benachrichtigt werden, wenn es etwas Neues für uns gibt.«

»Sehr wohl, mein Führer und Lenker«, witzelte Jason und verbeugte sich demonstrativ.

Kapitel 3

Lumen drückte sich den Motorradhelm unbeabsichtigt noch etwas fester gegen die Hüfte, als sie auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch den lauten und unmissverständlichen Ruf: »Lieutenant, in mein Büro!« vernahm.

Diese in ihrer Deutlichkeit kaum zu übertreffende Aufforderung war – und das sicherlich nicht zufällig – schwer zu überhören.

Sie war ebenso schwer zu überhören, wie der Mann, der sie aussprach, schwer zu übersehen war.

Rudolfo Checo!

»Verdammt«, zischte Lumen.

Sie hatte inständig gehofft, wenigstens heute einmal unbehelligt an der Tür ihres Vorgesetzten vorbeizukommen. Nur widerwillig blieb sie stehen, wandte sich um und steuerte auf sein offenes Büro zu.

Das goldene Schild an der Tür machte nur allzu deutlich, wessen Territorium sie jetzt betrat.

›Captain Rudolfo Checo‹ stand in geschwungenen Buchstaben darauf.

Und obwohl seine Tür offen stand, beugte sich Lumen etwas vor und klopfte gegen den Rahmen.

Wie eine dicke Kröte saß ihr Vorgesetzter hinter seinem Schreibtisch und nebelte den ganzen Raum mit dem Rauch seiner obligatorischen Zigarre ein. Seine auffällige, dunkle Hornbrille war ihm auf der Nase nach vorn gerutscht, und er schaute sie über ihren oberen Rand hinweg an.

Für Lumen wäre es nicht unerwartet gewesen, wenn aus seinem breiten Mund plötzlich eine klebrige Zunge hervorschnellen und sie in den Raum hineinziehen würde.

Sie hätte gerne vermieden, schon jetzt zu einem Fall Auskunft geben zu müssen, zu dem sie selbst noch keine relevanten Informationen hatte und sich nicht einmal sicher war, ob er überhaupt in den Zuständigkeitsbereich der Mordkommission fiel.

»Kommen Sie rein, Lieutenant«, empfing Checo sie mit einem verdächtig milden Tonfall und unterstützte seine Worte mit der entsprechenden Geste seiner Hand.

Er lehnte sich hinter einem ausladenden Schreibtisch auf seinem Stuhl zurück. Dabei führte er mit der rechten Hand die halb aufgerauchte Zigarre zwischen seine Lippen, ließ den linken Daumen unter den Hosenträger gleiten, während er Lumen schweigend in die Augen blickte.

»Captain, ich kann zu dem Fall …«, versuchte sie, seinen Fragen zuvorzukommen und trat die Flucht nach vorn an, »– es gibt noch keine …«

Der Captain hob abwehrend seine Hand, blies eine dicke Rauchwolke über den Tisch und unterbrach ihren Redeschwall, indem er sich etwas vorbeugte.

»Geschenkt, Phoenix – geschenkt«, wehrte er ab und ließ sich wieder zurück in seinen Stuhl sinken.

»Geschenkt?«, fragte Lumen verwundert.

»Ja, vergessen Sie mal den Fall, denn ich habe Sie wegen etwas ganz anderem gerufen, Lieutenant.«

Es fiel Lumen schwer, ihren erstaunten Gesichtsausdruck zu verbergen, und sie blickte verunsichert über die Schulter nach hinten.

Erst jetzt nahm sie den jungen Mann wahr, der fast unsichtbar in seiner makellosen, dunklen Uniform in der Ecke des Raumes saß und wie ein Chamäleon mit dem Bücherregal zu verschmelzen schien.

Lediglich sein angespanntes, helles Gesicht hob sich vor dem hinter ihm hängenden, schon leicht vergilbten Bild des Captains mit dem Bürgermeister ab.

Als sie ihn anschaute, erhob er sich, klemmte seine Mütze unter den linken Arm, nahm Haltung an und lächelte ihr stumm zu.

»Lumen«, begann der Captain etwas zu vertraulich, wie sie fand, »bitte setzen Sie sich doch einen Augenblick.«

»Sir, ich habe …«, unternahm sie einen letzten Fluchtversuch.

»Lumen, bitte«, beharrte er und deutete erneut auf einen freien Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand.

Seine einladende Geste erlaubte keinen weiteren Widerspruch.

Ein Alarmsignal, wie der Lieutenant nur allzu gut wusste. Denn Rudolfo Checo pflegte seine Anweisungen schnell, unmissverständlich und im Stehen zu geben. Einmal soll er sogar behauptet haben, dass vor einem Erschießungskommando und vor ihm jeder gefälligst zu stehen hätte.

So war die Aufforderung, Platz zu nehmen, verbunden mit seinem befremdlich sanften Tonfall, beunruhigend und besorgniserregend zugleich, wie Lumen fand.

Erwartungsvoll heftete sich ihr Blick auf ihren rauchenden Vorgesetzten, während sie sich zögerlich auf den Stuhl setzte.

»Captain?«

Checo klopfte nachdenklich und betont langsam die Asche von seiner Zigarre ab.

Lumen war dieses theatralische Rauchverhalten von ihrem Vater vertraut, etwas, das er sich bewahrt hatte, seit er mit ihrer Mutter von Haiti nach Amerika gekommen war. Für ihn war es ein Stück Nostalgie – eine Erinnerung an das Leben auf der Insel. Bei ihm war es Lumen nicht fremd, obwohl sie die Heimat ihrer Eltern selbst nie betreten hatte.

Aber der Captain war kein Haitianer, für ihn war Rauchen, so vermutete sie, nur Rauchen.

»Lieutenant«, begann er bedeutungsvoll und zeigte auf den jungen Mann, der jetzt seitlich neben seinem Schreibtisch Haltung angenommen hatte, »ich möchte Ihnen Officer Tyler Felix vorstellen. Er wird in den nächsten Wochen in unserem Dezernat mitarbeiten – reinschnuppern, sozusagen.«

»Okay«, bemerkte Lumen misstrauisch, als sie den jungen Mann prüfenden aus dem Augenwinkel musterte.

Sie spürte deutlich, dass Checo noch nicht am Ende seiner Mission angekommen war. Er war, wie es schien, erst mitten in der Ouvertüre.

»Er hat den Wunsch«, setzte er seine Erklärung fort, »die Laufbahn zum Detective einzuschlagen. Und da Sie mein bester Lieutenant sind …«

Seine Zigarre glühte unheilvoll auf.

»Oh nein!«, fuhr Lumen dazwischen und vollendete den Satz ihres Vorgesetzten im Kopf, schon bevor er es tat. »Auf keinen Fall, kommt gar nicht infrage!«

Der Rauch, der über den Schreibtisch auf sie zukam, wurde zusehends dichter.

»Lieutenant, ich fürchte …«

»Sir«, versuchte sie, ihren Standpunkt zu verdeutlichen, »ich habe genug zu tun. Da kann ich mich nicht auch noch um einen Anfänger …«, ihr Blick traf den stehenden Mann neben dem Schreibtisch, »– nichts für ungut, Officer – aber ich habe keine Zeit dafür. Gerade eben habe ich einen neuen Fall …«

»Einen neuen Fall?«, fragte der Captain interessiert nach.

»Ja«, bestätigte Lumen, »eine Tote am Jachthafen.«

»Am Jachthafen?«

»So ist es, Sir. Und ich habe wirklich nicht …«

»Aber dann können Sie doch bestimmt jede Hilfe gebrauchen, Lieutenant.«

»Gewiss, aber …«

»Ich weiß, ich weiß, Lumen«, versuchte der Captain jetzt den etwas vertraulicheren Ton anzuschlagen, »aber Sie würden mir damit einen persönlichen Gefallen tun …«

»Einen Gefallen, Sir?«

Lumen blickte auf den jungen Mann in der Uniform.

»Officer, könnten Sie uns bitte für einen Moment alleine lassen?«, bat sie ruhig.

Der Angesprochene schaute verunsichert auf den Captain, bis dieser zustimmend nickte. Dann verließ er wortlos den Raum.

»Einen Gefallen, Sir?«, wiederholte Lumen ungläubig, nachdem sich die Tür geschlossen hatte.

»Nennen Sie es meinetwegen einen Gefallen. Ich wollte es Ihnen nur freundlich vorschlagen. Als Ihr Vorgesetzter könnte ich es auch einfach anordnen, das wissen Sie.«

Lumen legte ihren Helm auf den Schreibtisch.

»Scheiße, Sir. Ich habe wirklich nicht die Zeit, mich auch noch um einen Frischling zu kümmern. Und wieso eigentlich ›Gefallen‹? Wo liegt denn Ihr Interesse bei der ganzen Sache?«

Der Captain sog an seiner Zigarre.

»Na ja …«, stammelte er verhalten, »seine Mutter …«

»Soll das ein Witz sein?«, brauste Lumen auf.

Der Captain hob beschwichtigend die Hände.

»Nun regen Sie sich nicht gleich auf. Ich habe zusammen mit seinem Vater bei der Polizei angefangen – ist schon ein paar Jährchen her. War ein enger Freund«, fügte er hinzu und blickte versonnen auf die Glut seiner Zigarre. »Aber er ist inzwischen verstorben, und seine Mutter bat mich jetzt …«

»Scheiße, Captain!«

»Stellen Sie sich nicht so an, Lieutenant. Er soll wirklich gut sein. Ich habe mich erkundigt. Alle beschreiben ihn als sehr zuverlässig und kompetent.«

»Das ist mein Motorrad auch.«

»Ich scheiß’ auf Ihren Besen, Lumen«, konterte der Captain scharf. »Ich habe der Mutter mein Wort gegeben …«

»Muss ja ’ne tolle Frau sein«, spottete der Lieutenant.

»Ja, ja«, überging der Captain ihre süffisante Bemerkung. »Er hat den Wunsch, Detective zu werden, und muss schließlich irgendwo anfangen.«

»Kann er ja meinetwegen auch, aber warum muss dieses ›irgendwo‹ ausgerechnet bei mir sein?«

»Weil«, grinste Rudolfo Checo, »Sie nun einmal die Beste sind, und er bei Ihnen am meisten lernen kann.«

»Sparen Sie sich Ihren Schleim«, wehrte Lumen ab.

»Dann lassen Sie es mich anders ausdrücken«, betonte der Captain kampfbereit, löschte seine Zigarre im Aschenbecher und richtete sich auf. »Entweder, der Officer rutscht hier rein, oder jemand anderes rutscht hier raus – haben wir uns verstanden, Lieutenant?«

Kapitel 4

»Also gut, Officer Felix. Dass Sie so heißen, habe ich trotz meiner akuten Schockstarre noch mitbekommen. Gibt es sonst noch irgendwas, das ich dringend über Sie wissen sollte?«

»Ähm, ich weiß nicht …«, antwortete er zögerlich.

Als müsse er sich bei der Rektorin seiner Schule zum Nachsitzen melden, schaute Lumen prüfend auf den jungen Mann, der vor ihr stand, und betrachtete skeptisch sein noch recht kindliches Gesicht.

»Großer Gott, sind Sie überhaupt schon volljährig?«, fragte sie trocken und konnte sich ein leichtes Schmunzeln bei ihrer Frage nicht verkneifen.

Tyler Felix richtete sich demonstrativ auf, als müsse er seine Antwort nicht nur verbal, sondern auch körperlich bekräftigen.

»Ich bin achtundzwanzig, Ma'am«, erwiderte er mit einem frechen Grinsen, »und ja, ich rasiere mich sogar schon.«

Lumen trat dicht an ihn heran.

»Haben Sie gerade tatsächlich ›Ma'am‹ zu mir gesagt?«, fragte sie mit einem gefährlichen Unterton.

»Ja, Ma'am«, antwortete Tyler, wobei in seiner Stimme ein wahrnehmbares Unbehagen zu spüren war. »Es schien mir angemessen«, fügte er mit einem unerwarteten Anflug von Selbstbewusstsein hinzu.

Lumen drehte sich abrupt um, hängte ihre Lederjacke am Kleiderständer auf und ließ sich hinter ihrem Schreibtisch nieder, ohne Tyler dabei aus den Augen zu lassen.

»Verdammte Scheiße, hören Sie mit dem ›Ma'am‹ auf«, forderte sie scharf und warf ihren Zopf schwungvoll über die Schulter. »Was glauben Sie eigentlich, wie alt ich bin?«, fragte sie mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen.

Tyler wusste sofort, dass die Antwort auf diese Frage Fingerspitzengefühl von ihm verlangte – besonders bei einer Frau, die älter als fünfzehn war.

»Nun, ähm …«, stammelte er verlegen.

»Für Sie bin ich Lieutenant Phoenix«, stellte Lumen klar. »Und merken Sie sich eins: Ihr Lieutenant hat kein Alter.«

»Wie Sie wünschen, Ma … – ich meinte, Lieutenant«, korrigierte er sich hastig.

»Achtundzwanzig also?«, fragte Lumen beiläufig.

»Ja, Lieutenant, so steht es in meinem Ausweis.«

»Und Sie wollen unbedingt Detective werden?«

»Das ist mein Ziel, Ma …, äh, Sir«, brachte er zögerlich hervor.

Lumens zusammengezogene Augenbrauen brachten ihn augenblicklich zum Schweigen.

»Sir?«

»Entschuldigung, Ma'am, ist mir nur so herausgerutscht – ich meinte natürlich Lieutenant, Sir – nein, Lieutenant … Lieutenant«, stammelte er sichtlich verwirrt.

Lumen schaute amüsiert auf den jungen Mann, der vor ihrem Schreibtisch stand und sich offensichtlich gerade nichts mehr wünschte, als seine Krawatte lockern zu können.

»Schon gut, schon gut«, nickte sie und zündete sich gemächlich eine Zigarette an. »Bin ich noch gar nicht drauf gekommen. Es gefällt mir – ›Sir‹ ist ab sofort genehmigt«, sagte sie mit einem leichten Grinsen.

Tyler Felix atmete hörbar auf, als die Spannung von ihm etwas abfiel.

»Das macht vieles einfacher, Lieutenant«, sagte er hörbar erleichtert.

»Zurück zu meiner Frage«, fuhr Lumen fort, »Sie wollen also Detective werden?«

»Ja, Sir. Das ist mein größter Wunsch. Sobald ich soweit bin, würde ich gern die Prüfung dafür ablegen.«

»Ist es Ihr Wunsch oder der Ihrer Mutter?«

»Meiner, Lieutenant. Ganz allein meiner«, antwortete er, leicht verunsichert, aber überzeugend.

»Ich seh’ schon«, bemerkte Lumen mit einem amüsierten Unterton, »wir haben noch einiges vor uns. – Sagen Sie mal, Officer, sprechen Sie eigentlich Spanisch?«

»Leider nicht, Lieutenant«, antwortete Tyler zögernd und fügte entschuldigend hinzu: »Ich komme aus New York.«

»Ach – New Yorker?«

»Ja, geboren und aufgewachsen.«

»Und in New York spricht man kein Spanisch, oder wie?«, fragte Lumen mit einem leicht sarkastischen Unterton.

»Doch natürlich, aber die Notwendigkeit ergibt sich in Queens nicht so zwangsläufig wie hier.«

»Hier?«

»Ich meinte hier in New Orleans, Lieutenant«, korrigierte er sich hastig.