Stille Nacht, heilige Nacht - André Uzulis - E-Book

Stille Nacht, heilige Nacht E-Book

André Uzulis

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Beschreibung

»Stille Nacht, heilige Nacht« wurde am Heiligabend 1818 zum ersten Mal gesungen, in einer Zeit des Hungers und der Not im Salzburger Land. Als Gelegenheitsdichtung eines Priesters und schnell hingeschriebene Komposition eines Kirchenmusikers sollte das Lied eigentlich keinen Bestand haben. Dennoch trat es dann einen Siegeszug um die ganze Welt an und machte auch seine Schöpfer Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber berühmt.

Heute ist »Stille Nacht« das weltweit populärste Weihnachtslied – in seiner Ergriffenheit unübertroffen und in seinem textlichen wie musikalischen Ausdruck Inbegriff alpenländischer Weihnacht, Harmonie und Innerlichkeit. Spannend geschrieben und auf Basis von Quellen und neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammengetragen, zeichnet André Uzulis die Entstehung und Verbreitung dieses Liedes nach.

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Seitenzahl: 203

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STILLE NACHT, HEILIGE NACHT

200 JAHRE EWIGES LIED

ANDRÉ UZULIS

IMPRESSUM

André Uzulis

Stille Nacht, heilige Nacht

200 Jahre ewiges Lied

1. Auflage 2023

Überarbeitete Neuauflage der im Bonifatius Verlag

erschienenen Erstauflage

Regionalia Verlag,

ein Imprint der Kraterleuchten GmbH,

Gartenstraße 3, 54550 Daun

Verlagsleitung: Sven Nieder

Alle Rechte vorbehalten

Fotos: siehe Anhang

Lektorat + Korrektorat: Tim Becker

Umschlag: Björn Pollmeyer

ISBN E-Book 978-3-95540-514-4

ISBN Print 978-3-95540-387-4

www.regionalia-verlag.de

INHALT

Vorwort

Ein Vulkanausbruch, ein Kriegsende und die Not der Zeit: Joseph Mohr schreibt Stille Nacht

Ein Gedicht wird zum Lied: Uraufführung 1818

Exkurs: Die Entstehung des bürgerlichen Weihnachtsfestes

Zwei Lebenswege, eine Männerfreundschaft: Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber

Der erste Welthit der Musikgeschichte

Textliche und musikalische Analyse

„Stille Nacht“ heute

Dokumente

Stille-Nacht-Text

Authentische Veranlassung von Franz Xaver Gruber

Die „Stille Nacht“-Autographen

Stille-Nacht-Orte

Zeittafel

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

Einzeldarstellungen

Periodika

Links

Bildnachweis

VORWORT

Seit 2005 fahre ich regelmäßig ins Berchtesgadener Land. 2009 habe ich dort Wurzeln geschlagen. Auf meinen Wanderungen und kulturellen Streifzügen durch die Region und das benachbarte Salzburger Land bin ich schon früh auf das Stille-Nacht-Museum in Hallein gestoßen. Schöne Erinnerungen an das Weihnachten meiner Kindheit wurden bei diesen Museumsbesuchen wach, denn Weihnachten war und ist für mich ohne „Stille Nacht“ nicht zu denken. Mir geht es da nicht anders als Millionen von Menschen und sicher auch den Leserinnen und Lesern dieses Buchs. Stunden des Übens am Klavier mit meiner aus Rumänien stammenden ebenso strengen wie einfühlsamen Klavierlehrerin, aber auch das folgende fröhliche Musizieren und Singen im Familienkreis an den Weihnachtstagen: „Stille Nacht“ gehörte und gehört für mich zu Weihnachten wie Plätzchen und der Tannenbaum. Ich fühle mich tief berührt von dieser simplen Melodie und dem ergreifenden Text.

Das Lied ist zum Inbegriff abendländischer Weihnacht geworden, geliebt und geschätzt auf allen Kontinenten – der erste Welthit der Musikgeschichte lange bevor es Tonträger, Hitparaden und eine kommerzielle Unterhaltungsindustrie gab. Heute ist es das beliebteste deutschsprachige Lied überhaupt, noch vor Johannes Brahms’ „Wiegenlied“ und Franz Schuberts „Am Brunnen vor dem Tore“.1 Geplant war das alles nicht und konnte es auch gar nicht sein. „Stille Nacht“ ist eine Gebrauchs- und Gelegenheitsdichtung, schnell hingeworfen von Dichter und Komponist in jeweils einem luziden Moment ihres Lebens. In der Kulturgeschichte gibt es nur noch ein einziges weiteres Beispiel eines derart beiläufig erschaffenes Lieds, das eine ähnliche bis heute andauernde inhaltliche und emotionale Aufladung erfuhr: die Komposition eines bis dato völlig unbekannten französischen Hauptmanns namens Claude Joseph Rouget, genannt de Lisle, der in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1792 in Straßburg über sich hinauswuchs und in nur zwei Stunden ein Lied komponierte, das auf seine ganz eigene Art und Weise die Welt prägen würde, geradezu eine Sternstunde der Menschheit: den „Chant de guerre pour l’armée du Rhin“ – besser bekannt als „Marseillaise“, die Mutter aller Nationalhymnen.

Ausgelöst durch die Besuche in Hallein, in Oberndorf und anderen Stille-Nacht-Orten in Österreich wuchs in mir der Wunsch, mehr zu erfahren von der Entstehung und Verbreitung von „Stille Nacht“, dieses Seelen-Liedes. Und so begann ich zu lesen, Archive zu besuchen, mit Wissenschaftlern zu sprechen. Ich bin dabei auf die faszinierende und durch und durch menschliche Geschichte zweier Männer gestoßen, die in schwerer Zeit in unverbrüchlicher Freundschaft zueinander fanden und sich gegenseitig in ihrer Kreativität bereicherten: die Geschichte des Hilfspriesters Joseph Mohr als Textdichter und des Lehrers Franz Xaver Gruber als Komponist.

Schon dem Direktor der Regensburger Kirchenmusikschule Prof. Dr. Karl Weinmann führte „Liebe und Freude zur Sache“2 die Feder, als er 1918 eine systematische Geschichte zum 100. Geburtstag von „Stille Nacht“ vorlegte. Genau wie ihm ging es mir: Das Thema ist so erquicklich, dass es immer wieder eine Bereicherung war, darüber schreiben zu können. Insofern hat mir „Stille Nacht“ mit der Arbeit an diesem Buch Freude weit über Weihnachten hinaus geschenkt, obwohl es in den drückenden 30-Grad-Ferien des Sommers 2017 schon bizarr anmutete, sich mit einem Weihnachtslied zu beschäftigen. Aber das kann auch sein Gutes haben, wie mir in den heißen letzten Augusttagen 2017 eine Bibliothekarin des Deutschen Liturgischen Instituts in Trier sagte, als sie mir freundlicherweise Literatur zum Thema aus dem Magazin heraussuchte: „Fünf Titel ‚Stille Nacht‘, und schon fühlt man sich erfrischt.“

Nun sind seit Weinmanns Buch weitere 100 Jahre vergangen. Ich hatte keine „Paßschwierigkeiten“3 wie mein Vorgänger beim Besuch der Stille-Nacht-Stätten in Österreich. Weinmann hatte die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Österreich erst nach etlichen Formalitäten überschreiten können. Erst recht lebe ich nicht in einer Zeit des Krieges wie Weinmann, als er 1917/18 am Manuskript zu seinem Buch arbeitete. Die Teilung der Stadt Laufen, in deren früheren Ortsteil Oberndorf das Lied am Heiligen Abend 1818 zum ersten Mal gesungen wurde, ist durch die europäische Einigung längst überwunden. Die Menschen reisen heute ungehindert von einer Seite der Salzach zur anderen, bezahlen hüben wie drüben mit derselben Währung und stehen in der Stille-Nacht-Kapelle einträchtig vor den Porträts der beiden Schöpfer des Liedes. Die Stille-Nacht-Stätten sind fein herausgeputzt und ziehen heute täglich Touristen aus aller Welt an. „Stille Nacht“ ist zu einem Faktor in der Marketing-Strategie des Landes Salzburg geworden. In dieser glücklichen Zeit in Mitteleuropa, in der die meisten von uns leben dürfen, die aber andernorts immer noch von Krieg und Leid geprägt ist, wird das Lied nun 200 Jahre alt und bringt nach wie vor seine Sehnsucht nach einer heilen und besseren Welt zum Ausdruck. Doch auch in unserer Zeit ist nicht alles gut. Deshalb spricht das Lied in einer zeitlosen Aktualität zu uns, auch wenn es inzwischen ein „merkwürdiges Gebilde aus Dichtung, Musik, Frömmigkeit, Volkstum, politischen und wirtschaftlichen Interessen“4 geworden ist. Zu seinem 200. Geburtstag war es an der Zeit, den neuesten Forschungsstand zu sichten, mit alten, sich hartnäckig haltenden Legenden aufzuräumen und in einer aktuellen Gesamtdarstellung Vorgeschichte, Entstehung, Wirkung und heutige Bedeutung von „Stille Nacht“ darzulegen. Neue Quellen sind in den vergangenen Jahrzehnten aufgetaucht, am wichtigsten wohl das Autograph Joseph Mohrs mit der ältesten Abschrift des Liedes. Historiker, Musik- und Kulturwissenschaftler konnten viele Einzelaspekte zur Verbreitungsgeschichte ausleuchten und offene Fragen beantworten.

Die Literatur zu „Stille Nacht“ ist inzwischen recht umfänglich, wenn auch nicht unüberschaubar. Neben dicken Forschungsbänden gibt es beschauliche Büchlein, die die alten Legenden fortspinnen, und auch hervorragende Monographien. Die vielleicht beste wurde 2002 von dem aus Chemnitz stammenden früheren Rektor der Hochschule für Kirchenmusik in Heidelberg, Professor Wolfgang Herbst, vorgelegt. Auf den Schultern seiner faktenreichen, nüchternen und gut lesbaren Untersuchung steht dieses Buch.

Vieles, was in der Geschichte des Liedes bislang die Aura des Geheimnisvollen oder des Legendenhaften hatte, ist inzwischen auf seinen wahren Kern reduziert worden. Die 1972 gegründete Stille-Nacht-Gesellschaft in Oberndorf fördert mit ihren Publikationen auf segensreiche Weise die weitere Erforschung des Liedes und seines Umfelds. Das zum Keltenmuseum in Hallein gehörende Stille-Nacht-Museum wurde 2017 umfangreich saniert und präsentiert heute in der ehemaligen Wohnung des Komponisten Gruber wertvolle Exponate. Dass es überhaupt dieses und andere Museen gibt, ist einmalig in der Musikgeschichte. Keinem anderen einzelnen Lied sind eigene Museen und Gedenkstätten, keinem anderen Lied ist eine eigene wissenschaftliche Gesellschaft gewidmet.

Mehrere interdisziplinäre Symposien haben der Stille-Nacht-Forschung Impulse verliehen, so etwa eine Tagung 1993 aus Anlass des 175-jährigen Jubiläums des Liedes. Nicht zuletzt die Aufnahme der UNESCO von „Stille Nacht“ in das immaterielle Welterbe der Menschheit 2011 unterstreicht seine Bedeutung.

Dieses Buch hätte nicht ohne die Mithilfe vieler Experten und unermüdlicher Helfer entstehen können. Mein besonderer Dank gilt Dr. Anna Holzner vom Kelten-Museum in Hallein, die dafür sorgte, dass meine Recherchen von Anfang an die richtige Richtung nahmen. Auch Renate Ebeling-Winkler bin ich zu großem Dank verpflichtet. Sie war bereit, sich mit mir im Café Tomaselli in Salzburg zu einem tiefgehenden Gespräch über ihre Forschungen zu treffen. Unvergessen bleibt mir ihr handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift „Stille Nacht“ vor sich auf dem Kaffeehaustischchen, durch das ich sie unbekannterweise problemlos identifizieren konnte. Ohne die Informationen der Entdeckerin der Mohr’schen Urfassung 1995 könnte dieses Buch nicht auskommen.

Der Theologe und Musikwissenschaftler Prof. Dr. Eckhard Jaschinski SVD (Sankt Augustin) hat den Text mit einer dreistelligen Zahl von Anmerkungen versehen und damit deutlich verbessert. Seine Einschätzungen zu etlichen Punkten haben mich ermutigt. Bei den Liturgiewissenschaftlern Prof. Dr. Klaus Peter Dannecker (Trier) und Prof. Dr. Benedikt Kranemann (Erfurt) sowie bei Albert Urban vom Deutschen Liturgischen Institut in Trier bedanke ich mich für die Vermittlung wichtiger Kontakte. Weitere Hilfestellungen kamen von der Joseph-Mohr-Biografin Dietlinde Hlavac aus Grödig, Michael Neureiter von der Stille-Nacht-Gesellschaft, Pater Winfried Bachler OSB vom Österreichischen Liturgischen Institut und Winfried Vogel vom Erzbistum Köln. Antje Diefenbach hat den Text frühzeitig durchgesehen und verbessert. Die umsichtige Korrektur des Manuskripts durch meine Frau Amalia Uzulis bewahrte mich vor grammatikalischen Sünden. Nicht zuletzt möchte ich meine Lektorin Gisela Appelbaum vom Bonifatius Verlag nennen, die mich umsichtig bei der Entstehung dieses Buches begleitet hat. Auf Karin Cordes geht die entsprechende Gestaltung zurück, in der der Text seine Form fand. Der Geschäftsführer des Bonifatius Verlags, Rolf Pitsch, hatte den Mut, sich auf das Projekt einzulassen; ohne ihn wäre es nicht zustande gekommen. Ihnen allen gebührt mein Dank für die Unterstützung, die vielen Hinweise und die stets gut gemeinte Kritik.

André Uzulis [Heiligabend 2017]

1Meldung der Nachrichtenagentur dpa von Dezember 1987, zit. nach: Linder-Beroud, Waltraud: „O Tante Baum …“ und „Stille Macht“. Themen und Typen der Weihnachtsliedparodie, in: Hochradner, Thomas / Walterskirchen, Gerhard: 175 Jahre „Stille Nacht! Heilige Nacht!“ (Veröffentlichungen zur Salzburger Musikgeschichte, Bd. 5), Salzburg 1994, S. 121.

2Weinmann, Karl, „Stille Nacht, heilige Nacht“. Die Geschichte des Liedes zu seinem 100. Geburtstag, Regensburg/Rom/Wien 1918, S. 8.

3Ebda.

4Herbst, Wolfgang: Stille Nacht! Heilige Nacht! Die Erfolgsgeschichte eines Weihnachtsliedes, Zürich/Mainz 2002, S. 9.

EIN VULKANAUSBRUCH, EIN KRIEGSENDE UND DIE NOT DER ZEIT: JOSEPH MOHR SCHREIBT STILLE NACHT

Das berühmteste Weihnachtslied der Welt entstand in trostloser Zeit. Im Jahr 1816 schrieb der katholische Hilfspriester der Gemeinde Mariapfarr im Lungau im Südosten des Landes Salzburg ein sechsstrophiges Gedicht nieder. Dem 24 Jahre alten Joseph Mohr floss es aus der Feder, in ergreifender Sprache, kunstvoll und doch volkstümlich: „Stille Nacht! Heilige Nacht. Alles schläft, einsam wacht nur das traute heilige Paar. Holder Knab im lockigen Haar. Schlafe in himmlischer Ruh, schlafe in himmlischer Ruh ...“

Geborgenheit und himmlische Ruh – das war es, wonach sich die Menschen in Mariapfarr mit ihren 2076 Seelen1, aber auch im Land Salzburg, in Österreich und in Deutschland, ja in ganz Europa sehnten. Sie hatten Fürchterliches erlebt, die Gegenwart war bedrückend und die Zukunft düster. Der napoleonische Schrecken, der über den Kontinent mit seinen zahllosen Kriegen und Feldzügen, seinen umstürzenden politischen Neuordnungen und dramatischen Gebietsverschiebungen hinweggefegt war und eine ganze Generation entwurzelt zurückließ, war erst im Jahr zuvor zu Ende gegangen. Elend allerorten: das war seine Hinterlassenschaft.

Napoleon Bonaparte, der selbsternannte Kaiser der Franzosen, hatte in seinem 15 Jahre währenden Aufstieg und Fall Europa erst erobert und dann in den Abgrund gestürzt. Er konnte mit dem Kontinent machen, was er wollte. Er hat Fürsten gehetzt, ihre Reiche zerteilt. Er hat das Vermächtnis der europäischen Geschichte verspottet. Glanz und Gloria, Leid und Elend stehen auf seinem Konto. Auch den Menschen in Salzburg und Umgebung hatte Napoleon seinen Stempel aufgedrückt. Am 3. Dezember 1800 rückten seine Soldaten in Salzburg ein und raubten und brandschatzten und misshandelten, was und wen sie konnten. Sie hatten monatelang keinen Sold bekommen und hielten sich an der eroberten Stadt frei. Den Schrecken ihrer Besatzung kann man sich heute kaum mehr vorstellen. Dabei sollte dies nicht der einzige Einfall fremder Truppen sein, den die Salzburger ertragen mussten.

Napoleon konnte erst 1813 in der vermutlich größten Schlacht der Weltgeschichte, der Völkerschlacht bei Leipzig, niedergerungen werden. Ein gemeinsamer Kraftakt von Russland, Preußen, Österreich und Schweden war dazu nötig. 600.000 Soldaten waren daran beteiligt. Ein Jahr später wurde der Kaiser der Franzosen nach der Einnahme von Paris durch die alliierten Truppen abgesetzt und auf die Insel Elba verbannt. Doch das Drama sollte noch immer kein Ende nehmen: Als Wiedergänger versetzte er ein weiteres Mal, diesmal für hundert Tage, Europa in Angst und Schrecken. In der Schlacht bei Waterloo 1815 schließlich konnte Napoleon von Briten, Niederländern und Deutschen ein für allemal besiegt werden. Nach Sankt Helena im Südatlantik verbannte man ihn, an den Rand der Welt, von wo aus keine Rückkehr mehr möglich war, nie mehr. Europa atmete auf. Die europäischen Länder waren ausgezehrt, die Menschen erschöpft.

Der Wiener Kongress ordnete den Kontinent neu. Für Stadt und Land Salzburg hatte das ebenso wie für viele andere Gebiete und seine Bewohner dramatische Folgen. Die Salzburger Bischöfe hatten im 13. Jahrhundert landesherrliche Rechte erworben, ihr Territorium war zu einer Art Kirchenstaat geworden, in dem sie jahrhundertelang sowohl die geistliche als auch die weltliche Macht ausübten. Durch die Salzvorkommen in der Region waren sie dabei über alle Maßen reich geworden. Die barocke Pracht Salzburgs erzählt noch heute davon. In der napoleonischen Zeit stürzte dann jahrhundertelang sicher Geglaubtes in sich zusammen. 1803 traf der Reichstag in Regensburg eine folgenschwere Entscheidung, deren Reichweite zunächst gar nicht abzusehen war und die das Gesicht Mitteleuropas drastisch veränderte – bis in unsere Tage hinein: in Folge dieses so genannten Reichsdeputationshauptschlusses wurden die geistlichen Territorien in Deutschland säkularisiert und den durch die napoleonischen Kriege landlos gewordenen Fürsten übereignet. Die nachfolgende Entschädigungswelle schwemmte erst die Reichskirche hinweg und dann in weiterer Folge 1806 auch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das seit dem Ausgang der Antike ein Anker der Geschichte Europas gewesen war.

Wie so viele andere wurde auch das weit mehr als tausend Jahre alte geistliche Territorium Salzburg 1803 aufgelöst und als Herzogtum Salzburg zusammen mit Berchtesgaden und den Bistümern Passau und Eichstätt dem Großherzogtum Toskana zugeschlagen; neuer Landesherr wurde Ferdinand von Toskana, ein Bruder Kaiser Franz II. Der letzte mit weltlicher und geistlicher Macht ausgestattete Fürsterzbischof, der kränkliche Hieronymus von Colloredo (1732–1812), dankte als Staatschef ab und verließ seine Residenz. Er verwaltete bis zu seinem Tode 1812 lediglich noch als Erzbischof die ihm verbliebene Diözese aus dem fernen Wien. In den Salzburger Palästen gingen die Lichter aus. Colloredo, der 1772 zum Erzbischof gewählt worden war, unterzeichnete am 11. Dezember 1803 sein Rücktrittsdekret. Schon 1800 war er vor den heranrückenden Franzosen nach Wien geflohen. Er ließ sich nie wieder in Salzburg blicken.

Hieronymus von Colloredo (1732-1812)

In den rund drei Jahrzehnten seiner Regierungszeit kam es zu einem letzten Höhepunkt der Salzburger Kultur. Colloredo war ein „durchaus moderner Regent im Geiste der europäischen Aufklärung“2, so das Urteil der Historiker über ihn. Seine Verdienste sind unbestritten. Colloredo förderte vernunftbegabtes und logisches Denken, die Naturwissenschaften und den kritischen Diskurs. Dies allerdings nicht immer zur Freude seines Volkes. So reduzierte der wenig verbindliche und in der Öffentlichkeit hölzern wirkende Fürsterzbischof gleich zu Beginn seiner Amtszeit die bis dahin geltenden 95 kirchlichen Sonn- und Feiertage auf 71, um „Müßiggang und Ausschweifung“ einzudämmen.3 Die Volksfrömmigkeit war ihm ebenso ein Dorn im Auge wie – erstaunlich für einen Salzburger Fürsterzbischof – übermäßiger Prunk.

Er hatte sich in seinem Territorium insbesondere für eine Modernisierung des Schulwesens eingesetzt und den im Alpenraum sich hartnäckig haltenden Aberglauben bekämpft – sehr zum Groll der in großen Teilen ungebildeten Bevölkerung. Der Fürsterzbischof wollte Salzburg zu einem „geistlichen Musterland“4 machen, in dem die Pressezensur liberal gehandhabt, Meinungsfreiheit gefördert und der Schuldenberg seines verschwenderischen und im Volk verhassten Vorgängers Sigismund Christoph Graf von Schrattenbach abgebaut werden sollte. Schrattenbach hatte zwar Schulden über Schulden angehäuft, ist aber auch in die Geschichte eingegangen als Förderer musikalischer Koryphäen wie Leopold und Wolfgang Amadeus Mozart sowie Michael Haydn.

1805 wurde das inzwischen so gut wie bankrotte Salzburg im Frieden von Preßburg österreichische Provinz. Kaiser Franz konnte sich mit dem neuen Titel „Herzog von Salzburg“ schmücken und seiner Krone die Güter des Erzstifts und des Domkapitels einverleiben. Ganze Wagenladungen von Kunstschätzen wurden von Salzburg nach Wien verfrachtet und befinden sich dort heute immer noch. Es ging weiter hin und her. 1809 rückten erneut französische Truppen ein. 1810 geriet Salzburg unter bayerische Herrschaft. Auch die Bayern waren nicht zimperlich, was den Umgang mit Land und Leuten anging. Unter bayerischer Herrschaft wurden in Salzburg mehr als 200 Bauernhöfe zwangsversteigert. Steigende Abgaben und geringere Nachfrage trieben die Besitzer mitsamt ihrem Gesinde in den Ruin.5 Die Bayern nahmen unter anderem die unschätzbar wertvolle Bibel des Pfarrers Peter Grillinger von 1428 aus Joseph Mohrs späterer Gemeinde in Mariapfarr mit nach München. Der betuchte Grillinger war zwischen 1419 und 1448 Seelsorger der Gemeinde gewesen, hatte wertvolle Bücher gesammelt und die romanische Kirche gotisch umgestalten lassen. Die auf Pergament handgeschriebene Bibel des Pfarrers mit 115 Abbildungen war „das kostbarste Buch weit und breit“6. Sie wurde nie wieder zurückgegeben und befindet sich heute in der Bayerischen Staatsbibliothek München.

Erst mit den Beschlüssen des Wiener Kongresses 1815 wurde die Region endgültig österreichisch, und es kehrte zumindest politisch Ruhe ein. Allerdings hatte es dazu erst noch eines militärischen Aufmarschs der Habsburger bedurft, und auch in Bayern übten sich Landsturm, Landwehr und Nationalgarde an den Waffen. Österreich und Bayern erhoben beide lautstark und säbelrasselnd Anspruch auf das übrig gebliebene Erbe der Fürsterzbischöfe.

Doch zumindest dieser neuerliche Schrecken blieb den Salzburgern erspart. Im Vertrag von München vom 14. April 1816 handelten die beiden Streitparteien einen klassischen Kompromiss aus: Das alte Erzstift Salzburg fiel an Österreich – allerdings beraubt seiner landwirtschaftlich wertvollsten Regionen: der links von Salzach und Saalach gelegenen Teile der Ämter Waging, Tittmoning, Laufen und Teisendorf und damit der gesamte Rupertiwinkel, der seit dem 13. Jahrhundert zu Salzburg gehört hatte, die Kornkammer der Erzbischöfe. Auch Berchtesgaden wechselte wieder den Landesherrn. Diese Gebiete sind seitdem bayerisch. De facto bedeutete dies: Teilung des Salzburger Landes. Und die wurde von den Menschen ebenso schmerzlich empfunden wie zuvor bereits der Raub wertvoller Kunstschätze.

Besonders hart traf die „Territorial-Ausgleichung“, wie die neue Grenzziehung genannt wurde, die Stadt Laufen an der Salzach. Laufen war einst die zweitgrößte Stadt in Salzburg und der Heimathafen der fürsterzbischöflichen Flusshandelsflotte, über die der lukrative Salztransport abgewickelt wurde. Die rechts des Flusses gelegenen Vororte Altach und Oberndorf blieben bei Salzburg, Laufen selbst wurde bayerisch. Oberndorf sollte noch lange Österreichisch-Laufen, Kaiserlich-Königlich-Laufen, Neulaufen oder Laufen am rechten Salzachufer genannt werden.7 Bis zum 1. Dezember 1997, dem Beitritt Österreichs zum Schengen-Raum, musste man beim Grenzübertritt über den Fluss seine Papiere vorzeigen. Die Grenze durchschnitt plötzlich eine über Jahrhunderte auf beiden Seiten des Flusses gewachsene Stadt. Auch die Pfarrei des Ortes wurde zerrissen. In Oberndorf musste eine neue Pfarrei gegründet werden, deren Pfarrkirche die alte Schifferkirche St. Nikola wurde; hier wurde 1818 erstmals „Stille Nacht“ gesungen. Wir kommen darauf zurück.

Auch andernorts verlor Salzburg Territorien: Im Osten und im Süden mussten Gebiete an „Österreich ob der Enns“ (heute Oberösterreich) und an Tirol abgetreten werden, der Rest des Landes blieb bis auf weiteres ein „oberösterreichisches Anhängsel“8. Denn nach dem Anschluss an Österreich wurde Salzburg zunächst Oberösterreich als Kreis (Bezirk) unterstellt – was für eine Demütigung für einen ehemals souveränen Staat! Die Stadt Salzburg sank von einer prachtvollen Residenzstadt zu einer Kreisstadt herab wie viele andere in der Provinz des Habsburgerreiches. Die Entscheidungen fielen erst einmal in Linz, das „das Land Salzburg gleichsam wie einen dummen Schulbuben behandelte“9. Erst 1848 bekam Salzburg wieder eine eigene Verwaltung. Der Landesname Salzburg blieb gar bis 1850 ausgelöscht.

Salzburg fand sich also als großer Verlierer unversehens am Rande des österreichischen Großreiches wieder, politisch degradiert und wirtschaftlich und kulturell am Nullpunkt. Salzburgs barocke Pracht, ein Glanzpunkt mitteleuropäischen Selbstbewusstseins, verfiel. Kaum jemand hatte mehr ein Auge für den Dom, einst das erste Barockbauwerk nördlich der Alpen, oder für die Erhardkirche mit ihrer beherrschenden Tambourkuppel oder für den entzückenden Mirabellgarten.

Österreich hatte seine habsburgischen Erblande zwar endlich zu einem geschlossenen Gebilde abrunden können, aber im fernen Wien interessierte man sich nicht allzu sehr für den Neuzugang im Westen. Die Salzach, jene Lebensader des Salzburger Landes, war über Nacht Grenzfluss geworden. Wer über die Salzach Handel treiben wollte, musste plötzlich horrende Zölle zahlen. Insbesondere das Getreide aus dem reichen, aber nunmehr bayerischen Rupertiwinkel konnte nur noch hoch besteuert importiert werden. Nahrungsmittel wurden knapp, die Menschen begannen zu hungern. Die Not griff um sich. 1815 war die Hälfte der Stadtbewohner Salzburgs mittellos, zwischen 1816 und 1822 wurden in der Stadt Salzburg ein Fünftel bis ein Viertel der Bevölkerung aus Armenfonds unterstützt.10 Die Bettlerei nahm „unglaubliche Ausmaße“ an.11 Salzburg verkam „zu einem Betteldorf mit leeren Palästen“, wie die Bürgerschaft schrieb. Sie flehte den Kaiser um Hilfe an.12

Kaiser Franz I. (1768-1835)

Wer konnte, verließ die Region und suchte sein Glück in der Fremde. 1817 erreichte die Bevölkerungszahl im Land mit 134.000 einen Tiefststand. Zum Vergleich: heute leben allein in der Stadt Salzburg rund 150.00 Menschen, im Bundesland Salzburg sind es 550.000. Die fürsterzbischöflichen Hofangestellten und Hoflieferanten brauchte niemand mehr. Die Beamten, die Intellektuellen, die Künstler zogen weg, viele von ihnen gingen nach Wien, wo jetzt die Musik spielte und der neue Kaiser Franz I., der 1804 ohne rechtliche Grundlage das österreichische Kaisertum begründet hatte, der Mittelpunkt war. Als Kaiser Franz II. hatte er 1806 die Krone und das Regiment des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation abgelegt und einen Schlussstrich unter tausend Jahre deutscher Geschichte gezogen. In Wien lebte und regierte es sich für den neuen Habsburger Kaiser dagegen behaglich.

Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (1773-1859)

Mit Hilfe seines Staatskanzlers, des Koblenzers Klemens Wenzel Lothar von Metternich, machte Franz aus dem neuen Österreich einen reaktionär-biedermeierlichen Obrigkeitsstaat. Metternichs „eiserner Sargdeckel“13 ging über dem Land nieder. Das neue Zauberwort der Politik hieß „Restauration“, und Metternich war ihr oberster Exekutor im Reich der Habsburger. Die alte Ordnung, die die französischen Revolutionäre und der korsische Emporkömmling Napoleon so empfindlich gestört hatten, sollte wiederhergestellt, restauriert, werden. Metternich schirmte den scheinbar so mächtigen Familienbaum der Wiener Herrscherfamilie „gegen jeden kalten Lufthauch“14 ab. Jedes Aufbegehren sollte schon im Keim erstickt werden. Finanzminister Johann Philipp von Stadion legte zudem einen Ring von Zollschranken um das Reich, unter dem naturgemäß die Grenzregionen am meisten leiden mussten.

Zurück blieben in Salzburg die zahllosen Handwerker, die bislang bei Hofe ein gutes Auskommen hatten und die keine Chance hatten wegzugehen. Sie mussten sich mit niederen Arbeiten weit unter ihrer Qualifikation und gegen einen Hungerlohn durchschlagen. Die Qualität ihrer Gewerke brach ein. Auch die früheren Dienstboten purzelten durch die plötzliche Arbeitslosigkeit die soziale Leiter hinunter. Der Verlust der Residenzstadtfunktion hatte ernste Folgen auch für den Handel. Viele Geschäftsinhaber gaben auf, von den Bauern des Umlandes ganz zu schweigen.

Nicht nur die Kriegsfolgen und die politischen Verschiebungen waren Ursachen der Not. Ein fernes Naturereignis warf in jenen Jahren buchstäblich seinen Schatten über Mitteleuropa, und keiner der Zeitgenossen konnte sich erklären, was da eigentlich vor sich ging: Im April 1815 war auf der 13.000 Kilometer von Salzburg entfernten indonesischen Insel Sumbawa der Vulkan Tambora ausgebrochen – eine Katastrophe von biblischem Ausmaß: die größte Vulkanexplosion seit Auftreten des modernen Menschen auf der Erde und die größte in geschichtlicher Zeit beobachtete Eruption: viermal so stark wie der Ausbruch des Krakatau 1883 und 170.000 Mal so stark wie die Atombombe von Hiroshima. Um die 4000 Menschen starben direkt nach dem Ausbruch des Tambora auf Sumbawa, ein Tsunami riss ganze Inseln weg, wohl 100.000 Menschen kamen in der Folge ums Leben. Der Vulkan schleuderte die unvorstellbare Menge von 50 Kubikkilometern Magma in die Luft.15 Die Asche, es war die zehnfache Menge des Krakatau-Ausbruchs, verdunkelte die Region in einem Umkreis von 600 Kilometern zwei Tage lang – und verteilte sich nach und nach in großer Höhe in der gesamten Erdatmosphäre, wo sie wie ein globaler Schleier die Sonneneinstrahlung dämpfte.

Monate später erreichte dieser Ascheschleier Nordamerika und Europa. Die Jahresdurchschnittstemperatur in dieser ohnehin kühlen Klimaperiode zu Anfang des 19. Jahrhunderts sank weltweit um 2 Grad. 1816 ging als das bis dahin kälteste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in die Geschichte ein – und verschärfte die politisch und kriegsbedingt ohnehin dramatische Situation zusätzlich.

Die Natur schlug Kapriolen: Auf der Schwäbischen Alb schneite es im Juli. In Ungarn ging schwarzer Regen nieder. Wo das Getreide zur Milchreife gelangen konnte, wenn es nicht schon im Dauerregen verfault war, zerstörten schwere Hagelschauer die Ähren. In Aufzeichnungen des Meteorologischen Observatoriums Hohenpeißenberg in Bayern, der weltweit ältesten Bergwetterstation, ist 1816 von Überflutungen, zerstörten Dorffluren, immer wiederkehrenden Hagelschlägen, „furchtbaren Gewittern“, „Donnerwetter“, Schneefall, Verödungen und Verschlammungen die Rede.16