Stimmen und Räume der Gewalt - Urania Milevski - E-Book

Stimmen und Räume der Gewalt E-Book

Urania Milevski

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Beschreibung

Vergewaltigung ist als zentrales Thema der Literatur äußerst selten zu finden und wird zumeist in Zusammenhang mit Motiven der Verführung oder hinsichtlich einschlägiger Stoffe betrachtet. Im Fokus der Untersuchung sollen deswegen als sogenannte ‚Vergewaltigungsnarrationen‘ jene Erzählungen des 20. Jahrhunderts stehen, die den Akt sexualisierter Gewalt als zentrales Ereignis der Handlung setzen. Abseits der Konventionen operieren diese Darstellungen mit Verfahren, die, wie die erzähltheoretische Betrachtung zeigt, die Grenzüberschreitung durch die kunstvolle Verschränkung von Stimmen und Räumen deutlich machen. Dieses subversive Potenzial wird in Texten von Libuše Moníková, Stefan Schütz, Inka Parei und Karen Duve herausgearbeitet und nicht nur zu literarischen Traditionen in Beziehung gesetzt, sondern auch zu gesellschaftlich vorherrschenden Diskursen zu Vergewaltigung.

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Seitenzahl: 488

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Figurationen des Anderen

Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien

Herausgegeben von Mona Körte und Matthias N. Lorenz

Band5

Urania Milevski

Stimmen und Räume der Gewalt

Erzählen von Vergewaltigung in der deutschen Gegenwartsliteratur

Abbildung auf dem Umschlag:

Tabitha Vevers © 2009, When We Talk About Rape,

10 7/​8" x 14 7/​8", oil & gold leaf on Mylar, Private Collection,

www.tabithavevers.com

Diese Arbeit wurde unter dem Titel Stimme(n) und Räume der Gewalt.Erzähltheoretische Zugänge zu sexualisierter Gewalt in deutschsprachigenRomanen der Gegenwart (1980-2000) als Dissertation am Fachbereich II der Universität Kassel eingereicht und am 5.11.2014 erfolgreich verteidigt.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2016

Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld

Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-8498-1213-3

www.aisthesis.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

1. Einleitung

1.1 Vergewaltigung in der deutschen Literatur(wissenschaft)

1.2 Forschungsdesiderate

2. Gewalt und Geschlecht: Transdisziplinäre Voraussetzungen für die Analyse von Vergewaltigung

2.1 Theorien zu Gewalt und Geschlecht

2.2 Vergewaltigungsmythen

3. Erzählstrategien von Vergewaltigung und Trauma

4. Geschlecht erzählen: Narratologie und Gender Studies

4.1 Von der feministischen zur gender-orientierten Narratologie?

4.2 Geschlecht in erzählender Literatur – zwischen Kategorie und Kontext

5. Wer spricht? Stimmen der Gewalt zwischen Metapher, Metonymie und Kategorie

5.1 Stimmen literarischer Kommunikation

5.2 Überblick: Erzähler – Erzählinstanz – Stimme

6. Wer sieht? Fokalisierung und Perspektive zwischen Sehen, Wissen und Wahrnehmen

6.1 Fokalisierung (Genette) vs. Perspektive (Schmid, Bal, Rimmon-Kenan)

6.2 Wahrnehmung als Kombination aus Perspektive und Fokalisierung

7. Der ‚Spatial Turn‘ und die Literaturwissenschaft: Raum als blinder Fleck der Erzähltheorie?

8. Raum erzählen: Raumwissenschaftliche Entwicklungen zwischen Container und Netz

8.1 Alltagsvorstellungen von Raum

8.2 Raumkonstruktion zwischen Erzeugen und Darstellen

9. Untersuchung: Stimmen und Räume in Vergewaltigungsnarrationen

9.1 Zwischen Parabel und Vergewaltigungsnarration – Libuše Moníkovás Eine Schädigung (1981)

9.1.1 Vergewaltigung und Vergeltung als Initiation des weiblichen Subjektes

9.1.2 Janas Schädigung zwischen Parabel und Vergewaltigungsnarration

9.1.3 Janas Schädigung zwischen Körper- und Stadtraumkonstruktionen

9.1.4 Stimmen und Räume der Gewalt in Libuše Moníkovás Eine Schädigung

9.2 Körper Waren und Vergewaltigung: Konsumkritik in Stefan Schütz’ Schnitters Mall (1994)

9.2.1 Aus der Perspektive des Serientäters: Karl Hares Alter Ego(s)

9.2.2 Aus der Perspektive der Betroffenen: Sieg des Körpers über Brenda Barcley

9.2.3 Aus der Perspektive des Täterkollektivs: Hare als Objekt der „Liebe von Teufeln“

9.2.4 Stimmen und Räume der Gewalt in Stefan Schütz’ Schnitters Mall

9.3 Räume des Traumas und Wege der Heilung in Inka Pareis Die Schattenboxerin (1999)

9.3.1 Vergewaltigung als Ereignis und Leerstelle

9.3.2 Hell als unzuverlässige Erzählerin

9.3.3 Topographien des Traumas

9.3.4 Bewältigungsstrategien zwischen Helfer-Projektion und Täter-Introjekt

9.3.5 Stimmen und Räume der Gewalt in Pareis Die Schattenboxerin

9.4 Körperraum als Kriegsschauplatz der Geschlechter in Karen Duves Regenroman (1999)

9.4.1 Leon als Opfer mütterlicher Grausamkeit

9.4.2 Martina zwischen Vergewaltigung und Vergeltung

9.4.3 Stimmen und Räume der Gewalt bei Karen Duve

10. Schlussbetrachtung und Ausblick auf andere Räume der Gewalt

Quellenverzeichnis

1.1 Primärliteratur

1.2 Filme

1.3 Sekundärliteratur

1.4 Nachschlagewerke/sonstige Quellen

1.5 Abbildungen

Dank

Bisher in der Reihe »Figurationen des Anderen« erschienen

Anmerkungen

1. Einleitung

At any rate, when a subject is highly controversial – and any question about sex is that – one cannot hope to tell the truth. One can only show how one came to hold whatever opinion one does hold.

Virginia Woolf. A Room of One’s Own (1929). S.565.

Rape is about who gets to tell the story

Lynn A. Higgins/​Brenda R. Silver. Rape and Representation (1991). S.2.

2003 wird Eine Frau in Berlin in der Reihe Die Andere Bibliothek des Eichborn Verlags, die von Hans Magnus Enzensberger und dem Verleger und Buchgestalter Hans Greno 1984 ins Leben gerufen worden ist, erneut aufgelegt. Der Untertitel des Werkes lautet Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945 und referiert auf den autobiographischen Gehalt des Textes einer Autorin, die anonym bleiben möchte.1 Erzählt wird die Belagerung Berlins am Ende des Zweiten Weltkrieges und die omnipräsente Gewalt. Vergewaltigungen sind alltägliche Erlebnisse für die in Berlin zurückgebliebenen Frauen. Das Tagebuch Anonymas berichtet von diesen Ereignissen aus der Sicht einer Frau, die mit Hilfe ihrer russischen Sprachkenntnisse versucht, im ausgebombten Berlin zu überleben und ihren Mitmenschen bei der Interaktion mit den Besatzern zu helfen. Von deren Übergriffen ist sie jedoch ebenso betroffen wie alle anderen: Nachdem sie geholfen hatte, eine andere Frau vor Soldaten zu retten, lauern ihr diese wenig später auf. Nur steht ihr niemand bei – die verbliebenen Bewohner des Hauses sperren den Keller ab, als sie die Hilferufe hören:

Der eine zerrt mich an den Handgelenken weiter, den Gang hinauf. Nun zerrt auch der andere, wobei er mir seine Hand so an die Kehle legt, daß ich nicht mehr schreien kann, nicht mehr schreien will, in der Angst, erwürgt zu werden. Beide reißen sie an mir, schon liege ich am Boden. Aus der Jackentasche klirrt mir etwas heraus. Es müssen die Hausschlüssel sein, mein Schlüsselbund. Ich komme mit dem Kopf auf der untersten Stufe der Kellertreppe zu liegen, spüre im Rücken naßkühl die Fliesen. Oben am Türspalt, durch den etwas Licht fällt, hält der eine Mann Wache, während der andere an meinem Unterzeug reißt, sich gewaltsam den Weg sucht –

Ich taste mit der Linken am Boden herum, bis ich endlich den Schlüsselbund wiederfinde. Fest umklammere ich ihn mit den Fingern der Linken. Mit der Rechten wehre ich mich, es hilft nichts, den Strumpfhalter hat er einfach durchgerissen. Als ich taumelnd hochzukommen versuche, wirft sich der zweite über mich, zwingt mich mit Fäusten und Knien an den Boden zurück.2

Zuerst unvorstellbar und unbeschreiblich, werden die Übergriffe bald zu einem festen Bestandteil des (Über-)Lebens: „Es klingt wie das Letzte und Äußerste, ist es aber nicht.“3 Dies manifestiert sich auch in der Textgestalt. Wo im obigen Zitat noch ein Gedankenstrich das Unaussprechliche markiert, folgen im Laufe der Aufzeichnungen distanziert-nüchterne Beschreibungen der Ereignisse. Als sie ein weiteres Mal überfallen und ihre Unterwäsche zerrissen wird, kommentiert sie konsterniert: „Die letzten heilen Sachen.“4 Wenig später markiert nur noch ein Kürzel die erlebte Gewalt – die Übergriffe sind so alltäglich geworden, dass sie keiner gesonderten Erwähnung mehr bedürfen.5 Lediglich einzelne Episoden werden noch wegen ihrer außergewöhnlichen Grausamkeit hervorgehoben. Als ihr ein Angreifer beispielsweise den Mund aufzwingt und seinen Speichel hineintropfen lässt, reagiert die Erzählerin heftig auf diese überdeutliche Geste der Unterwerfung und beschließt: Die einzige Möglichkeit zur Verbesserung ihrer Lage besteht darin, Anschluss beim Feind selbst zu suchen. Sie muss dezidiert jene männlichen Verhaltensmuster aktivieren, die sie in den Augen der russischen Besatzer vom deutschen Opfer zum weiblichen Besitz eines Einzelnen macht: „Hier muss ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält.“6 Anonyma schafft es, einen solchen Wolf zu finden, der sie fortan vor den Übergriffen der Soldaten schützt. Sie überlebt, und doch bleibt ihr und den anderen Frauen nichts anderes übrig, als zu schweigen, wenn es um ihre Kriegserlebnisse geht.

Die Rezeptionsgeschichte dieses außergewöhnlichen Textes ist paradigmatisch für die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in der deutschen Literatur und Literaturwissenschaft. Bereits 1954 erscheinen Übersetzungen von Anonymas Tagebüchern in den USA, wo sie sich erfolgreich verkaufen; ebenso in Skandinavien, Frankreich, Italien, Spanien und Japan.7 1959 in der BRD publiziert, wird der anonyme Zeitzeug_innenbericht zu dieser Zeit des Wiederaufbaus bestenfalls ignoriert. Ihn doch wahrzunehmen bedeutet meist, dem Text negativ gegenüberzustehen: „In Deutschland will niemand lesen, was eine Kriegsvergewaltigte zu sagen hat“8, stellt die Emma-Journalistin Chantal Louis retrospektiv fest. Insbesondere für die DDR sind Anonymas Schilderungen der massenhaften Vergewaltigungen durch die Sowjetarmee problematisch, da sich hier eine junge nationale Identität auf der Basis einer ideologischen Identifikation mit der Sowjetunion herausbildet. Das Bild der russischen Besatzer, welches durch das Tagebuch Anonymas transportiert wird, konfligiert stark mit dem Verständnis der Sowjetunion als Befreier und führt so, wie in der BRD auch, zur Ausblendung der Massenvergewaltigungen.9

Dies ändert sich erst 2003, als der Text erneut aufgelegt und Teil eines „Kanon[s] der Kanonlosigkeit“10 wird. „Wer erfahren will, wie es wirklich war, wird sich an die Frauen halten müssen“11, heißt es im Präsentationstext von Greno und Enzensberger. Die Zeit scheint schließlich reif zu sein für die Auseinandersetzung mit einem dunklen Kapitel spezifisch weiblicher Kriegserfahrungen in Deutschland. In der feministischen Rezeption seit Langem ein Begriff, sichert sich Anonymas Tagebuch nun einen Platz in der Bestsellerliste. In diesem Zusammenhang verschiebt sich der Schwerpunkt der Diskussion: Nicht die Schilderungen selbst, sondern deren Authentizität sowie die Identität der Autorin werden hinterfragt. Allen voran entfacht Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung die Diskussion um die Daseinsberechtigung des Buches als historische Quelle.12 Obwohl die Frage nach der ‚Wahrheit‘ eines solchen Textes, der sich zwischen historiographischer und literarischer Ambition verortet13, spannend sein mag – in der vorliegenden Arbeit soll ein anderer Schwerpunkt gesetzt werden. Mit Eine Frau in Berlin steht 2003 in Deutschland erstmals ein Werk im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses, das sexualisierte Gewalt klar benennt und verhandelt: Deshalb lässt es sich auch als literaturhistorisch markante Zäsur verstehen. Es initiiert in diesem Zusammenhang die Diskussionsbereitschaft eines Publikums, das weit über feministische Zirkel hinausgeht. Vergewaltigung wird nicht nur auf einer persönlichen, sondern auf einer allgemeingültigen Ebene thematisiert und kommt damit als gesellschaftliches Phänomen in den Blick.

Aus diesem Grund soll Eine Frau in Berlin hier exemplarisch für eine Erzählung stehen, die die Transformation von geschlechtsspezifischem Gewalterleben in Sprache besonders deutlich macht. Das Zusammenwirken des physischen und psychischen Erlebens sexualisierter Gewalt, ihre Wahrnehmung und literarische Vermittlung sind ebenso für die fiktionalen Texte maßgeblich, die das Korpus dieser Arbeit stellen. Für Eine Frau in Berlin wie für die in dieser Untersuchung fokussierten Romane der Gegenwart gilt, dass sie Einblick gewähren, in die Art und Weise der sprachlichen Darstellung komplexer Gewaltzusammenhänge oder „into how language can be used to construct and reconstruct a self in times of crisis“14. Im Hinblick auf die Erzählerin Anonyma – jedoch auch in Bezug auf das gesamte Korpus – definieren sich diese von Jennifer Redman so bezeichneten „times of crisis“ vor allem durch allgegenwärtige sexualisierte Gewalt. Der Versuch, Vergewaltigung als Kulmination geschlechtsspezifischer Gewalt zu erfassen, eröffnet ein komplexes Spannungsfeld. Vor allem zwei Denkrichtungen sind in diesem Zusammenhang auszumachen, die ich unter den Prämissen „pragmatischer Status“ oder „Realität versus Textualität“ und „ontologischer Status“ oder „Sexualität versus Gewalt“ betrachten möchte.

Zum einen kann Vergewaltigung mit den Worten Christine Künzels beschrieben werden als „Ineinanderfallen von Realität und Textualität, da es sich hier um eine Erfahrung handelt, die sich kaum anders als durch Narration, sprich durch Text, Bild oder andere Codes vermittelt behaupten kann“15. Doch schon der Begriff ‚Vergewaltigung‘ ist hochproblematisch und Gegenstand anhaltender Diskussionen. Er existiert bereits seit dem 14. Jahrhundert und bedeutete ursprünglich so viel wie „etwas in seine Gewalt bringen“16. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich die Bedeutung immer mehr auf den unrechtmäßigen Eingriff in fremde Rechte verengt, wobei ein sexueller Aspekt vorhanden sein kann, jedoch nicht muss.17 Erst der heutige Gebrauch des Wortes stellt vor allem die sexuelle Komponente dieser Unterwerfung in den Mittelpunkt und gibt, zumindest in Wörterbüchern, eine Täter-Opfer-Konstellation vor. So lautet die Erklärung zur aktuellen Bedeutung im etymologischen Wörterbuch von Friedrich Kluge: „eine Frau zum Geschlechtsverkehr zwingen“18.

Die miteinander in Konflikt stehenden Positionen in der Forschung zur Begriffsbedeutung sind am besten anhand der Arbeiten von Angela Koch und Karin Wetschanow zu beschreiben. Die Bedeutungsverengung in der neuesten Begriffsgeschichte erfasst Karin Wetschanow in ihrer Studie zur medialen Berichterstattung von Vergewaltigungsfällen als „Verlagerung vom rechtspolitischen hin zu einem somatischen Aspekt“19. Während zuvor das Ziel der Unterwerfung fokussiert wurde, das (unter anderem) mit sexuellen Mitteln zu erreichen war, liege im aktuellen Sprachgebrauch der Schwerpunkt auf der gewaltsamen Bemächtigung des (vornehmlich weiblichen) Körpers zum Zwecke des Geschlechtsverkehrs.20 Die Konzentration auf einzelne Körper, so kann zusammengefasst werden, naturalisiert Vergewaltigung als Spielart von Heterosexualität. Im Gedächtnis der meisten heutigen Sprecher_innen ist nur die neueste Bedeutung hinterlegt, sodass die ursprüngliche, allgemeinere Bedeutung, die im ‚lexikographischen Gedächtnis‘ durchaus noch präsent sei, von ihnen zumeist als metaphorische Übertragung der ersten Bedeutung interpretiert werde.21

Während Wetschanow vorschlägt, den rechtspolitischen Aspekt des Wortes zu erinnern, um den Schwerpunkt von der Somatisierung und damit der Entindividualisierung des Opfers zu nehmen, lehnt Angela Koch den Begriff ‚Vergewaltigung‘ kategorisch ab. Ihrer Meinung nach liegen die Gründe für den objektivierenden Impetus der Bezeichnung nicht in einer Entvergesellschaftung, sondern vielmehr in einer übermäßigen Vergesellschaftung, die den Blick auf das Individuum verstelle.22 Die Konzentration auf den körperlichen Aspekt des Verbrechens befördere in Verbindung mit rechtspolitischen Tendenzen das Verständnis von Vergewaltigung als biopolitisches Vergehen wider das Kollektiv.23 Nur wenn ein staatliches Interesse bestünde, würden Vergewaltigungen rechtlich verfolgt, wie die Entwicklungen im Zusammenhang mit Artikel 177 zeigten.24 Noch vor 1997 waren Vergewaltigung und Nötigung innerhalb des Eheverhältnisses nicht strafbar, da sie mit den Reproduktionsaufgaben der Frau nicht in Konflikt standen – erst im Anschluss wurden die Vergehen als Delikte gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau anerkannt. Die vorgängigen Implikationen des Begriffs ‚Vergewaltigung‘ jedoch blieben bestehen, so Koch, nur eine Streichung des gesamten Wortfeldes könne die Reaktion darauf sein:

Die Betroffenen werden in der Folge dazu ermächtigt, eine Sprache für ihre individuellen und subjektiven Erfahrungen zu finden, für den Schmerz, die Angst, die Wut. All diese Aspekte bleiben beschränkt, wenn weiterhin an dem Begriff der „Vergewaltigung“ festgehalten wird, der die Gewalttat im Bereich der Sexualität oder – veraltet – der Sittlichkeit verortet.25

Die Richtung, in die Koch hier argumentiert, zielt auf ebenjenes Ineinanderfallen von Realität und Textualität ab, das Künzel im Zusammenhang mit der Narration sexualisierter Gewalterlebnisse beschreibt. Empfiehlt es sich, gänzlich auf diesen Begriff zu verzichten?

In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Romanen, die ebenjenen Begriff und dessen Implikationen im ästhetischen Spiel der Literatur zur Disposition stellen, ist die Arbeit mit und am Begriff ‚Vergewaltigung‘ unerlässlich. Es erscheint nicht sinnvoll, hier eine künstliche Leerstelle zu produzieren, indem man Bezeichnungen ersatzlos streicht. Stattdessen sollen sich Implikationen bewusstgemacht werden. ‚Vergewaltigung‘ als Begriff muss immer mit seinem ontologischen Status und dessen Spannungsverhältnis zwischen Gewalt- und Sexualakt zusammengedacht werden.26

Die Begrifflichkeiten ‚sexuelle‘ respektive ‚sexualisierte Gewalt‘ sind meines Erachtens nicht synonym zu ‚Vergewaltigung‘ zu gebrauchen. Die Rede von ‚sexueller‘ oder ‚sexualisierter Gewalt‘ verweist auf semantisch verwandte Überbegriffe, die sich nicht in jedem Fall auf die gewaltsame Penetration eines unterlegenen Subjektes beziehen müssen und zudem unterschiedliche Intentionen transportieren. Während ‚sexualisierte Gewalt‘ vor allem das Anwenden sexueller Mittel bezeichnet, die der Machtausübung dienen, steht ‚sexuelle Gewalt‘ in einer Erklärungstradition, deren Ausgangspunkt das Ziel der sexuellen Befriedigung oder Fortpflanzung ist. Trotzdem hat sich die Bezeichnung ‚sexuelle Gewalt‘ auch in der neusten Forschungsliteratur gehalten, in welcher die Problematik des Begriffs zumeist in Fußnoten verhandelt wird.27

In der vorliegenden Arbeit sollen Begrifflichkeiten nicht der Kürze halber oder aus Gründen der Geläufigkeit verwendet werden. Die Termini ‚Vergewaltigung‘, ‚sexuelle Gewalt‘ und ‚sexualisierte Gewalt‘ definiere ich deshalb wie folgt:

Vergewaltigung bezeichnet die gewaltsame Penetration eines unterlegenen Subjektes durch ein überlegenes Subjekt unter Anwendung von physischer und/​oder psychischer Gewalt.

Sexuelle Gewalt bezeichnet den Vorgang der Machtausübung mit der Intention der sexuellen Befriedigung. Die gewaltsame Penetration ist dabei nur eine von vielen Möglichkeiten.

Sexualisierte Gewalt bezeichnet die Ausübung von Macht durch sexuelle Mittel, mit dem Ziel der Unterwerfung des unterlegenen Subjektes oder einer dritten Partei, der geschadet werden soll.

28

Diese trennscharfe Unterteilung ist für die vorliegende Untersuchung vor allem deshalb wichtig, weil alle definierten Bereiche Gegenstand literarischen Erzählens sind, ohne literaturhistorisch als Motive zu gelten. Ovids Prokne und Philomele, Augustinus’ Geschichte der Lucretia in De civitate dei (413-426), Die Schandtat der Gibea in Benjamin (Buch der Richter, Kapitel 19) oder der Raub der Sabinerinnen – obwohl bereits biblische und antike Texte den gewaltsamen Geschlechtsverkehr thematisieren, gilt Vergewaltigung nicht als ausgewiesenes Motiv der Weltliteratur; Verführung dagegen schon.29 Ob von Verführung oder Vergewaltigung ausgegangen wird, ist von zwei Faktoren abhängig: Zum einen kommt es auf die Erzählstrukturen an, die den unterlegenen Subjekten einen Anteil am narrativen Diskurs einräumen oder deren Perspektive auslassen: „Rape is about who gets to tell the story“30, erklären Lynn A. Higgins und Brenda R. Silver in diesem Zusammenhang äußerst pointiert. Zum anderen entscheidet die Rezeption über Vergewaltigung oder Verführung. Dabei sind nicht nur literaturwissenschaftliche Praktiken des Decodierens literarischer Texte gefragt. Ausgehend von der Überzeugung, dass „narrative Formen keine überzeitlichen Idealtypen darstellen, sondern historisch bedingt sind und sich aus bestimmten sozialen und weltanschaulichen Voraussetzungen ergeben“31, sollen Diskurse sexualisierter Gewalt identifiziert und aufeinander bezogen werden. Am Beispiel der bisherigen Forschung zu sexueller bzw. sexualisierter Gewalt in Literatur soll gezeigt werden, wie eng die Interpretation mit entsprechenden Vorannahmen verknüpft ist.

1.1 Vergewaltigung in der deutschen Literatur(wissenschaft)

Der prominenteste deutschsprachige Text, der die Frage von Verführung oder Vergewaltigung in den Mittelpunkt stellt, ist Heinrich von Kleists Marquise von O … (1808). Die Novelle beginnt mit der Annonce, die die Gräfin Julietta aufgibt, weil sie unwissentlich schwanger geworden sei und nun den unbekannten Vater des Kindes suche.32 Dieser „sonderbare, den Spott der Welt reizende[] Schritt“33 ist Auftakt der Novelle, deren zentrales Ereignis retrospektiv erzählt wird. Nicht nur die Wissenslücken der Gräfin sind Teil der Textstrategie. Auch die Erzählinstanz spart den Moment der Empfängnis aus und sorgt so für Unsicherheit in der Rezeption:

Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von allen solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.34

In dieser Ellipse manifestiert sich ein Zeitsprung, der zunächst als Pause im Erzählfluss gelesen werden kann: Der Satz bricht nicht ab, sondern wird durch Interpunktion unterbrochen. Die genauen Umstände der Zusammenkunft von Julietta und dem russischen Grafen – ob Verführung oder Vergewaltigung – bleiben aufgrund der ambivalenten Erzählweise Kleists deutungsintensiv und werden bis heute anhaltend und kontrovers diskutiert.35 Es erscheint nicht verwunderlich, dass bei einer solch uneindeutigen Anlage des Textes die Leerstelle immer wieder als Verführung gelesen wird, als erotisches Abenteuer, das sich die Marquise gewünscht habe. Im Zuge dieser Lesart wird die Ohnmacht zum Vehikel, das es der unverheirateten Frau ermöglicht, ihr sexuelles Begehren, das sie „gegen die Natur“36 unterdrückt, zu befriedigen, ohne deswegen als promisk zu gelten.37 In der Sekundärliteratur spricht man mitunter sogar von einem einvernehmlich vollzogenen „spontanen Sexualakt“38, der das „versöhnliche Ende“39 erst ermögliche. Dass es sich um ein gewalttätiges Vergehen des russischen Grafen handeln könne, ist tatsächlich ein Urteil, das zwar immer wieder gefällt wurde, allerdings erst seit Kurzem als Konsens der Kleistforschung gilt.40

Die germanistische Forschung, die sich mit dem Hinterfragen von Verführungstopoi auseinandersetzt, zentriert sich ausnahmslos um Kleists Marquise von O … und untersucht die Darstellung und Verhandlung von Vergewaltigung in deutschsprachiger Literatur ab 1700: Sabine H. Smiths Sexual Violence and German Culture (1998), Christine Künzels Vergewaltigungslektüren – Zur Codierung sexueller Gewalt in Literatur und Recht (2003) und „Zeter und Mordio“ – Vergewaltigung in Literatur und Recht (2005) von Gesa Dane.

Smith knüpft ausdrücklich an die Studie der radikalfeministischen Journalistin Susan Brownmiller, Gegen unseren Willen, an, deren Übersetzung 1978 in Deutschland eine Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von sexueller Gewalt und patriarchalen Strukturen bewirkte.41 Brownmiller begreift Vergewaltigung als Mittel sozialer Kontrolle:

Die Entdeckung des Mannes, daß seine Genitalien als Waffe zu gebrauchen sind, um damit Furcht und Schrecken zu verbreiten, muß neben dem Feuer und der ersten groben Streitaxt als eine der wichtigsten Entdeckungen prähistorischer Zeit angesehen werden. Ich glaube, daß Vergewaltigung seit eh und je eine überaus wichtige Funktion inne hat. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als eine Methode bewußter systematischer Einschüchterung, durch die alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten.42

Auch Smith versteht sexualisierte Gewalt als Ergebnis patriarchaler Strukturen. Es habe sich eine sogenannte Vergewaltigungskultur etabliert, welche sich auch in literarischen Texten niederschlage.43 Ereignisse oder deren Platzhalter, wie den Gedankenstrich in Kleists Marquise, nicht zwangsläufig als Verführung, Liebe oder Romanze zu lesen, sondern als „incidents of violence, coercion and abuse“44 sei der erste Schritt zur Überwindung dieser Vergewaltigungskultur. Das große Verdienst Smiths liegt in der Eröffnung eines Forschungsfeldes, das es so in der Germanistik zuvor nicht gegeben hatte. Zwar erschien 1992 Anke Meyer-Knees’ Untersuchung Verführung und sexuelle Gewalt, die die medizinischen und juristischen Diskurse im 18. Jahrhundert in den Mittelpunkt der Überlegungen stellt. Die Betrachtung des literaturwissenschaftlichen Diskurses jedoch blieb aus.45 Smiths Projekt kann also durchaus als Fortsetzung von Meyer-Knees’ Studie gehandelt werden.46

Christine Künzels Dissertation Vergewaltigungslektüren (2003) wählt einen spezifischeren Blickwinkel auf die Verhandlung sexualisierter Gewalt. Sie beschreibt ihre Herangehensweise als eine Art überkreuzende Lektüre. Sowohl Kleists Marquise von O … als auch ein realer Fall, der als „Berliner Gynäkologen-Prozess“ (1984-1986) Eingang in die Medien fand, werden unter rechts- sowie kulturwissenschaftlichen Aspekten untersucht.47 Besonders der fremde Blick der Jurisprudenz auf den literarischen Fall rechtfertige dabei ganz neue Ergebnisse einer literaturwissenschaftlichen Analyse.48 Mit deutlichen Anleihen der Law and Literature-Bewegung49 betrachtet Künzel sowohl den literarischen Fall der Marquise als auch den realen Fall des Gynäkologen-Prozesses. Die Novelle wird dabei auf die Schnittstellen und Einflussnahmen des rechtswissenschaftlichen Diskurses hin untersucht, die Gerichtsakten und Berichte mit Hilfe kulturwissenschaftlicher Vorgehensweisen auf konstante Motive und Diskurse überprüft. Die kombinierte Lektüre der Marquise und des Berliner Gynäkologen-Prozesses fördert interessante Aspekte einer Forschung über Vergewaltigung zutage, unter anderem die Erkenntnis darüber, wie viele der Problemfelder des beginnenden 19. Jahrhunderts auch heute noch virulent sind.50 Nicht nur Künzels Auseinandersetzung mit Definitionen sexualisierter Gewalt und weiblicher Zeugenschaft, die unter Berücksichtigung der Wechselwirkungen von juridischen und literarischen Diskursen stattfindet, ist richtungsweisend. Künzels Ansatz, Kleists Marquise unter traumatheoretischen Implikationen zu lesen, darf als innovativ bezeichnet werden und wird auch in der vorliegenden Arbeit von Interesse sein.51

In ihrer Studie „Zeter und Mordio“ (2005) legt Gesa Dane den Fokus auf literarische Vergewaltigungsfälle vom 17. bis ins 19. Jahrhundert.52 Ihr Erkenntnisinteresse gilt dabei den Erzähltraditionen der „idealtypischen literarischen Vergewaltigung“53, die sie auf drei potenziell interdependente Szenarien eingrenzt: die gewaltsame sexuelle Befriedigung des Mannes, Kriegshandlungen und die Schädigung eines Dritten. Besonders Augustinus’ Darstellung der Lucretia in De civitate dei (413-426) sowie Richardsons Clarissa (1748) versteht Dane als paradigmatisch für die literarische Auseinandersetzung mit Vergewaltigung. Für die untersuchten Texte identifiziert Dane vor allem zwei Gemeinsamkeiten: einerseits die elliptische Darstellung des Aktes selbst, andererseits die Konzentration auf die Perspektive des weiblichen Opfers, die sowohl das Motiv des Täters als auch dessen Bestrafung in den Hintergrund rückt.54 Auch Dane bezieht die Rechtsdiskurse der jeweiligen Zeit in ihre Überlegungen ein und nutzt die literarischen Texte zur kritischen Diskussion der Rechtsnormen.55 Zusätzlich diskutiert sie den Einfluss von Konzepten wie ‚Ehre‘, ‚Tugend‘, ‚Sittlichkeit‘ und ‚Schande‘ auf rechtswissenschaftliche und literarische Diskurse sexualisierter und sexueller Gewalt.56 Mit der Feststellung, dass aus dem literarischen Rechtsfall zumeist kein literarischer Kriminal- oder Gerichtsfall werde57, kommt sie zu dem Schluss, dass in literarischen Texten des 17. bis 19. Jahrhunderts nicht Recht, sondern Gefühl „eine zuverlässige Orientierung“58 biete, wenn es um die Auseinandersetzung mit Vergewaltigung gehe.

1.2 Forschungsdesiderate

Bei der vergleichenden Betrachtung der Studien von Smith, Künzel und Dane fällt auf, dass sie sich vor allem mit Texten des 17. bis 19. Jahrhunderts auseinandersetzen. Insbesondere die deutschsprachige Literatur des 20. Jahrhunderts ist in Bezug auf die Darstellungs- und Verhandlungsweisen von sexualisierter Gewalt noch nicht ausreichend erforscht worden.59 Diese Lücke soll in der vorliegenden Arbeit geschlossen werden. Bei der Zusammenstellung eines Korpus wurde schnell deutlich, dass sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt allgegenwärtige Themen in der Literatur darstellen – ist der Blick einmal geschärft, erstaunt die Fülle der Realisierungen. Doch bei genauerer Betrachtung ist das Ereignis der Gewalt nur selten auserzählt und steht noch seltener an zentraler Stelle der Handlung. Beispielsweise ist Christoph Heins Die Vergewaltigung (1994) vor allem als Erzählung zu lesen, die ebenjene Zerrissenheit thematisiert, mit der die DDR die Sowjetunion als Besatzer wie Befreier wahrgenommen hat. Nicht die Vergewaltigung von Ilonas Großmutter ist das zentrale Ereignis der Handlung, sondern Ilonas Verschweigen, während sie öffentlich von einer „demokratischen Zukunft“60 und der „Freundschaft mit allen Völkern“61 spricht.

Smith benutzt in ihrer Untersuchung den Begriff ‚rape narrative‘, „when referring to any discursive representation of women’s sexual violation“62. Doch im Gegensatz zu ihrer Untersuchung, die die Ausprägungen einer sogenannten ‚Vergewaltigungskultur‘ betrachtet, also die Viktimisierung von Frauen in literarischen Texten, soll in der vorliegenden Arbeit ein anderer Fokus gesetzt werden. Gegenstand meiner Untersuchung ist das Erzählen von Vergewaltigung in deutschsprachigen Romanen der Gegenwart, in welchen das Ereignis geschlechtsspezifischer Gewalt im Sinne von Goethes „unerhörter Begebenheit“63 als empathisch wahrgenommener Vorfall fungiert. Statt Vergewaltigung lediglich als literarisches Motiv oder Stoff einer Erzählung zu begreifen oder als Manifestation spezifischer Gesellschaftsdiskurse, soll sie im Folgenden als ein im Sinne Wolf Schmids im höchsten Grad „ereignishaftes Ereignis“64 gefasst werden, um welches sich die Handlung konstituiert.

Der Terminus ‚Narrativ‘ soll durch ‚Narration‘ ersetzt werden. Im Gegensatz zum englischen Begriff wird im Deutschen damit seit Käthe Hamburgers Logik der Dichtung (1957) das ‚Epische Präteritum‘ als Marker fiktionaler Erzählungen verknüpft.65 Zudem versteht man unter einem Narrativ, beeinflusst durch die Geschichtswissenschaften, ein bestimmtes, oft kulturell verfestigtes Erzählmuster, das sich auf das „fiktive Element“66 einer historischen Rekonstruktion bezieht. Die Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach als Reaktion auf die Niederschlagung des ‚Prager Frühlings‘, der Reformbestrebungen der Tschechoslowakei in den späten 1960er Jahren, wird in einem der hier analysierten Romane, Libuše Moníkovás Eine Schädigung (1981), eine zentrale Rolle spielen. Palachs Tod ist zum Mythos geworden, zu einem nationalen Narrativ des Widerstandes, während die Erinnerungen an die realhistorischen Umstände des ‚Prager Frühlings‘ stark verblasst sind.67 Die Bezeichnung ‚Narrativ‘ erweckt also den Eindruck einer schematischen, symbolhaften Erzählung. Das Wort ‚Narration‘ hingegen, das im Deutschen als Synonym für ‚Erzählung‘ verwendet wird, betont sowohl Inhalt als auch Prozesshaftigkeit des Erzählens. Es bedingen sich also „[d]ie Präsentation der Geschichte und die Art und Weise dieser Präsentation“68: Die Betonung liegt damit auf der Wechselseitigkeit von ‚Was‘ und ‚Wie‘, von ‚discours‘ und ‚histoire‘.

Diese Wechselseitigkeit bildet sich auch im Aufbau dieser Untersuchung ab. Die zentrale These dieser Arbeit lautet: Vergewaltigung als gewaltsame Zuweisung von Geschlecht hat als konstituierendes Ereignis eines literarischen Erzähltextes maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung des narrativen Diskurses. Am Anfang steht deswegen die Betrachtung der inhaltlichen Komponente: Im zweiten Kapitel soll es um das Sprechen von und über sexuelle sowie sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung im Besonderen gehen, das unter einem dezidiert transdisziplinären Blickwinkel betrachtet wird. Zunächst stehen mögliche wissenschaftliche Zugänge zu vergeschlechtlichter Gewalt im Mittelpunkt, die im Anschluss durch eine Betrachtung der Diskurse zu Vergewaltigung ergänzt werden. Dabei wird der Diskursbegriff Michel Foucaults zugrunde gelegt, spezifiziert von Jürgen Habermas: Die Diskussion von Werten und Normen, deren Konsens auf die Sprach- und Denkmuster in der Gegenwart rückwirken und damit auch Einfluss auf den literarischen Diskurs nehmen.69 Gegenstand der Betrachtung ist das „epistemologische Feld“70, das sich nicht nach objektiven Regelhaftigkeiten konstituiert, sondern nach bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen.71 Als verfestigte ‚Episteme‘ im Diskurs zu sexualisierter Gewalt fungieren die sogenannten Vergewaltigungsmythen, d.h. kumuliertes Wissen, gewonnen aus kulturellen Zusammenhängen, persönlicher Erfahrung und angeeigneten Informationen zu den beteiligten Personen bzw. Figuren – ‚Tätermythen‘ und ‚Opfermythen‘ – und zu den Kontexten. Die ‚Raum-Mythen‘ beschreiben die Vorstellung von weiblich konnotierter Verletzungsoffenheit als eine räumliche Konstruktion, die materielle Beschaffenheit von Körperräumen und Tatorten mit sozialen Praktiken verknüpft. Diese Episteme dienen als organisierende Struktur, mit der es möglich wird, einige Schneisen in das Dickicht der Diskurse zu schlagen. Ausgehend von der These, dass sich die betrachteten literarischen Erzähltexte widerständig zu bestehenden Diskursen verhalten, können nur mit deren Kenntnis subversive Tendenzen erkannt und detailliert herausgearbeitet werden. Der literarische Text, der „eine Beobachterposition einnimmt, sozusagen zum Analytiker von Diskursen wird“72, operiert damit abseits des Mainstream.

Die Widerständigkeit literarischer Erzähltexte manifestiert sich sowohl auf inhaltlicher als auch auf Vermittlungsebene und schlägt sich dort in Form von Brüchen und Divergenzen im narrativen Diskurs nieder. Die Weiterführung der traumatheoretischen Überlegungen Künzels im dritten Kapitel stecken einen ersten erzähltheoretischen Rahmen ab, um Aussagen wie die Gesa Danes, dass Vergewaltigungsnarrationen „stets aus der Perspektive der Frau“73 erzählten, kritisch zu hinterfragen.74 Wie wird Geschlecht erzählend konstituiert? Dieses Erkenntnisinteresse leitet über zu Kapitel vier, das die Narratologie auf ihre Zugänge zu Geschlecht befragt. Bei der Betrachtung der Forschungserträge, die die Rolle von ‚Gender‘ diskutieren, kristallisiert sich heraus, dass insbesondere dem Verhältnis von Erzählinstanz und Geschlecht besondere Bedeutung zugemessen wird: Das konsequente Sprechen von dem Erzähler, das generische Maskulinum, ist Ansatzpunkt meiner eigenen erzähltheoretischen Überlegungen zur Relation zwischen Raum und Geschlecht in Vergewaltigungsnarrationen. In Kapitel fünf sind es deswegen die ‚Stimmen der Gewalt‘, die fokussiert werden: Unter Bezugnahme auf das Kommunikationsmodell literarischer Texte soll die erzähltheoretische Definition der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen ‚Stimme‘, ‚Erzähler‘, und ‚Erzählinstanz‘ erarbeitet werden. Das Ergebnis legt nahe, dass dieses Modell insofern weit hinter der literarischen Praxis zurückbleibt, als es einen Bereich ausspart; denn die Frage nach der sprechenden Instanz, des Senders, wird durch das Zusammenspiel dessen beantwortet, was auf welche Weise als das zu Sehende vermittelt wird. Es schließt sich im sechsten Kapitel also die Betrachtung der Wahrnehmung an, die als Kombination aus den Theorien zur Perspektive und Genettes ‚Fokalisierung‘ gedacht wird. Dabei wird insbesondere eines klar: Raum ist kein Gegenstand in diesen erzähltheoretischen Auseinandersetzungen. Da ich jedoch davon ausgehe, dass sich Raum und Geschlecht als relationale Kategorien gegenseitig konstituieren75, muss im achten Kapitel nach den Entwicklungen in der erzähltheoretischen Betrachtung von Raum gefragt werden. Denn weiblicher Körperraum ist kulturell als offener, stets penetrierbarer Körperraum konstruiert. Diese kulturelle Konstruktion der Offenheit wird auch in literarischen Darstellungen der Gegenwart mit konkreten räumlichen Gegebenheiten in Verbindung gesetzt und stellt einen Komplex dar, der oft zum Tragen kommt, jedoch selten Gegenstand erzähltheoretischer Betrachtung wird. Diesem Mangel soll in der vorliegenden Arbeit begegnet werden: Im neunten Kapitel werden die Überlegungen zu Wahrnehmung und Vermittlung mit sowohl sozialwissenschaftlicher als auch narratologischer Raumtheorie kombiniert und zu einem Analyseinstrumentarium für die zu betrachtenden Vergewaltigungsnarrationen verbunden.

Die insgesamt vier Vergewaltigungsnarrationen aus dem 20. Jahrhundert, die einer ausführlichen Untersuchung zugrunde liegen, sind aus einer Anzahl von deutschsprachigen Erzähltexten ausgewählt worden, die Vergewaltigung als zentrales Ereignis der Handlung ausformulieren.76 Die Menge der in Frage kommenden Texte ist überschaubar: Sexuelle und sexualisierte Gewalt, Verführung und Vergewaltigung sind zwar oft Gegenstand literarischer Erzählungen, allerdings selten zentrales Thema deutschsprachiger Literatur. Jeder einzelne Roman zentriert sich um eine erzählerisch ausgestaltete Vergewaltigung und wendet unterschiedliche Subvertierungsstrategien an, die bestehende Diskurse zu sexualisierter bzw. sexueller Gewalt herausfordern. Die Vergewaltigung als Kulminationspunkt gewaltsamer Geschlechterverhältnisse ist Gegenstand von Libuše Moníkovás Eine Schädigung (1981), die sie in ein direktes Wechselverhältnis zu gesellschaftspolitischen Aspekten setzt. Stefan Schütz’ Roman Schnitters Mall (1993) diskutiert sexualisierte Gewalt als Endpunkt aller Zivilisation und dystopisches Moment. Obwohl im selben Jahr, 1999, erschienen und als Debüt junger Autorinnen des ‚literarischen Fräuleinwunders‘ deklariert, könnten die Texte von Karen Duve und Inka Parei nicht unterschiedlicher sein: Duves Regenroman (1999) nimmt die wohl ausgeprägteste Subvertierung literarischer Traditionen des Erzählens von geschlechtsspezifischer Gewalt vor. Pareis Die Schattenboxerin (1999) dahingegen darf als Einziger der hier behandelten Romane gleichzeitig als Vergewaltigungsnarration und Trauma-Erzählung gelten.

Von einer durchgängigen Opferperspektive kann in keinem der behandelten Werke gesprochen werden. Nicht einmal die Opfer- und Täterimplikationen erscheinen manifest, auch rechtliche Kontexte spielen keine Rolle – obwohl zumindest Pareis Protagonistin ihren Angreifer anzeigt. Stattdessen geht die Entwicklung hin zu einer Diversifizierung und Umdeutung eines Szenarios, das in den meisten Köpfen immer noch als Prototyp des Rotkäppchenmärchens zu existieren scheint: Vergewaltigt werden schöne, unschuldige Frauen, nachts, allein, im dunklen Wald von männlichen Bestien. Die literarische Realität hingegen sieht anders aus und experimentiert mit Machtstrukturen, Tätern und weiblichen Opfern, Täterinnen und männlichen Opfern, mit bekannten Motiven und deren Umdeutungen – und mit dem subversiven Potenzial des Unterlaufens von Erzählkonventionen.

2. Gewalt und Geschlecht: Transdisziplinäre Voraussetzungen für die Analyse von Vergewaltigung

Am Dienstag, den 8. Mai 1945, haben die russischen Besatzer Berlin verlassen. Beim Anblick der Tochter ihrer Nachbarn, eines 16jährigen Mädchens, von dem die Ich-Erzählerin weiß, dass es seinen ersten Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung erlebt hat, resümiert Anonyma:

Eines ist klar: Wäre an dem Mädel irgendwann in Friedenszeiten durch einen herumstreunenden Kerl die Notzucht verübt worden, wäre hinterher das übliche Friedensbrimborium von Anzeige, Protokoll, Vernehmung, ja von Verhaftung und Gegenüberstellung, Zeitungsbericht und Nachbarngetue gewesen – das Mädel hätte anders reagiert, hätte einen anderen Schock davon getragen. Hier aber handelt es sich um ein Kollektiv-Erlebnis, vorausgewußt, viele Male vorausbefürchtet – um etwas, das den Frauen links und rechts nebenan zustieß, das gewissermaßen dazugehörte. Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden werden. […] Was natürlich nicht ausschließt, das feinere Organismen als diese abgebrühte Berliner Göre daran zerbrechen oder doch auf Lebenszeit einen Knacks davontragen.77

Auch im historischen Fall der Kriegsvergewaltigungen in Berlin 1945 ist aus den Verbrechen kein Rechtsfall geworden. Weil die erlebte Gewalt zum Alltag der Betroffenen gehört, ist sie aber immerhin mitteil- und damit überwindbar, auch wenn es ihr Leben langfristig verändert. In ihrer Auseinandersetzung mit den autobiographischen Schriften der Söhne und Enkel der Kriegsgeneration beschreibt Alexandra Pontzen das Potenzial von Eine Frau in Berlin, Vergewaltigung als historische Krisenerfahrung sichtbar zu machen und so der gesellschaftlichen Tabuisierung entgegenzuwirken. Dieser verdrängende Umgang – in Krisen- wie in Friedenszeiten – sei vor allem dem „prekären Status der Vergewaltigung als Gewalt- und Sexualakt“78 zu verdanken. Doch nicht nur diese Mittelstellung ist problematisch: Sowohl ‚Gewalt‘ als auch ‚Sexualität‘ sind komplexe Bereiche, in welchen sich Machtverhältnisse sowohl explizit als auch implizit abbilden. Setzt man also dieses Spannungsverhältnis zentral, die Verquickung von sexuellen Praktiken mit der Ausübung von Gewalt, müssen zusätzliche Aspekte in den Blick genommen werden. Zum einen Sexualität und damit zwingend zusammenhängend die Konstruktion von Geschlecht sowie die Betrachtung der Geschlechterverhältnisse. Zum anderen die differenzierten Ausprägungen von Gewalt, die zwischen epistemischer, struktureller sowie psychischer und physischer Gewalt oszilliert.

Die Studien von Sabine H. Smith, Christine Künzel und Gesa Dane haben ihre Ausführungen zu Vergewaltigung in der Literatur auf ein Fundament aus juridischen und juristischen Texten fußen lassen. Insbesondere die Gesetzestexte der jeweiligen Zeit dienten so als Folie, vor welcher die literarischen Darstellungen gelesen werden. Dieser Zugang hat seine Berechtigung: Nicht nur ist Vergewaltigung ein Verbrechen, das strafrechtlich definiert werden muss, auch ist insbesondere für die Marquise von O … nachgewiesen worden, dass es dem Autor und Juristen Kleist durchaus um die ‚blinden Flecken‘ der Rechtsprechung gegangen sei.79

In den hier versammelten Vergewaltigungsnarrationen aus dem 20. Jahrhundert ist eine solche Rechtfertigung vergleichsweise schwierig. Das liegt daran, dass Gesa Danes Einschätzung, dass aus einem literarischen Verbrechen kein literarischer Rechtsfall würde, für die betrachteten Texte ausnahmslos zutrifft. Außerdem ist auch der aktuelle Artikel 177 des Strafgesetzbuches überfordert, wenn es um eine differenzierte Definition von Gewalt geht. Die Straftaten der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung sind umrissen wie folgt:

(1) Wer eine andere Person

1. mit Gewalt

2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder

3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist,

nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.

(2) In besonders schweren Fällen ist die Strafe Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn

1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder an sich von ihm vornehmen läßt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder

2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird.80

Die Rechtsprechung konzentriert sich zumeist ausschließlich auf die somatisch-physische Ausprägung von Gewalt. Obwohl im Gesetzestext nicht ausdrücklich vermerkt, geht es dabei nicht nur um die vom Täter oder der Täterin ausgeführten Gewalt, sondern auch um die Gegenwehr der unterlegenen Person. Wie problematisch dies ist, wird an Urteilen wie dem 2012 gefällten Freispruch für den 31jährigen Roy Z. am Landgericht Essen deutlich. Der als extrem gewaltbereit geltende Täter hatte eine fünfzehn Jahre alte Jugendliche zum Geschlechtsverkehr gezwungen. Weil sie sich nicht ausreichend physisch gewehrt hatte, blieb der Täter straffrei. Sie hatte sich freiwillig in die Wohnung des Angeklagten begeben, der kurz darauf seine ebenfalls anwesende Lebensgefährtin und eine dritte Frau in den Keller schickte, um mit der Betroffenen ungestört zu sein. Statt sich tätlich zu verteidigen oder um Hilfe zu rufen, hatte die Jugendliche nur einmal darum gebeten, von ihr abzulassen.81 „Wenn man nicht will, muss man das deutlicher machen“, wird die zuständige Richterin zitiert, „[d]as reicht nicht, um jemanden zu bestrafen.“82 Personen mit Rechtsexpertise geben der Richterin recht: Was „aus moralischer Sicht“83 durchaus als Vergewaltigung gilt, kann aus juristischer Sicht nicht belangt werden – ein Umstand, den Tanja Hommen den spezifischen kulturellen Deutungsmustern sexueller/​sexualisierter Gewalt anlastet, die seit dem Kaiserreich spezifische Kontinuität besitzen.84 Dazu gehört auch die tätliche Gegenwehr der Frau, die aus einem Sexualakt erst eine Vergewaltigung macht.85 Dieses Verständnis von Vergewaltigung arbeitet auch Anke Meyer-Knees heraus. Mit der Schrift des Gerichtsmediziners D. Emauel Gottlieb Elwert aus dem frühen 19. Jahrhundert führt Meyer-Knees eine Gegenposition zum dominierenden Diskurs an, der weibliche Gegenwehr als zwingende Voraussetzung für den Tatbestand der Vergewaltigung versteht. Elwert sieht Gewalt bereits in dem Moment als gegeben an, in dem die unterliegende Person nicht selbst Begehren äußert.86 Eine nicht nur für 1808 „erstaunlich fortschrittliche Ansicht“87, wie Meyer-Knees bemerkt. Denn das bedeutet, dass nicht das Verneinen bereits im Vollzuge befindlicher sexueller Handlungen, der physische Widerstand gegen, sondern vielmehr das ausdrückliche Auffordern zu solchen gegeben sein sollte.88 Die Abwesenheit eines verbalisierten Neins ergibt nicht zwingend ein Ja. Doch so fortschrittlich dieser Gedanke sein mag, erst jetzt, im Jahr 2016, wird in Deutschland darüber diskutiert, den Artikel 177 entsprechend anzupassen. Die Kampagne Nein heißt Nein der UN hat erst durch die Ereignisse der Silvesternacht in Köln und anderen Großstädten Deutschlands den nötigen Schub aufgenommen, wo noch Ende 2014 Rechtsexperten wie Thomas Fischer verlauten ließen, dass es so etwas wie eine Schutzlücke im deutschen Strafrecht nicht gebe.89 Die neuesten Entwicklungen zeigen, dass über die Reformierung diskutiert wird, wenn auch noch unklar ist, mit welchem Ausgang.90 Deutlich ist, dass nicht etwa die grundsätzliche Ungleichbehandlung in Geschlechterverhältnissen oder die Besinnung auf ein grundlegendes sexuelles Selbstbestimmungsrecht Anlass waren für die Veränderungen. Nicht das patriarchale System unserer westlichen Kultur soll überdacht werden und dessen „inkrementelle[r] Terrorismus“91, wie Christopher Kilmartin die Gewalt gegen Frauen benennt.92 Ausschlaggebend waren die Übergriffe ‚Fremder‘ auf deutsche Frauen – ein Problemkomplex, der in der Definition von Vergewaltigung eine große Rolle spielt, worauf noch einzugehen sein wird.

Die Definition von Nötigung oder Vergewaltigung scheint also von vielen Faktoren beeinflusst zu werden, wovon der Aspekt der angewandten physischen Gewalt nur einer ist. An den Formulierungen im Gesetzestext wird deutlich, wie schwierig allein die sprachliche Definition ist. Begriffen wie ‚Vergewaltigung‘, ‚rape‘, ‚sexuelle Gewalt‘ und ‚sexualisierte Gewalt‘ liegen interpretative Muster zugrunde, die in der alltäglichen Sprache wie bei der Untersuchung literarischer Texte einzubeziehen sind. Sprache ist dabei kein objektiver „Bedeutungstransmitter“93, der die Wirklichkeit abzubilden vermag: „[D]iskursive Praxis ist immer auch soziale Praxis“94 und damit subjektiv beeinflusst. Dies gilt auch für die Sprache der Gesetzestexte, insbesondere für den Aspekt der angewandten Gewalt in Artikel 177. Wenn ein Gericht wie im Fall Roy Z. die aktive Gewaltbereitschaft des Täters weniger schwerwiegend bewertet als die Passivität der Geschädigten, dann herrscht ein Ungleichgewicht im Mächteverhältnis. Diese Form struktureller, geschlechtlich codierter Gewalt, die in gesellschaftliche Institutionen eingebettet ist95, wird in der juridischen Definition von Vergewaltigung nicht mitgedacht. Obwohl die feministische Forschung vielfach darauf aufmerksam gemacht hat, dass hier nicht nur der penetrierte Körper Gewalt erleidet, sondern die gewaltsame Handlung auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Ein Teil der Debatte verweist auf Michel Foucaults Sexualität und Wahrheit (1976-1984). Speziell im ersten Band Der Wille zum Wissen (1976/​1983) wird die sogenannte Repressionshypothese formuliert, als „Notwendigkeit, den Sex durch nützliche und öffentliche Diskurse zu regeln“96. Foucault kritisiert, dass Sexualität durch staatlichen Anspruch zu Biopolitik wird. Wie Koch ausführt, wird Vergewaltigung somit nur dann zu einem Verbrechen, wenn es durch einen Außenstehenden verübt wird – es bleibt ungeahndet, wenn der Täter zum Kollektiv gehört. Das einzig mögliche Vorgehen in diesem Zusammenhang sieht Foucault darin, der staatlichen Gerichtsbarkeit ausschließlich die physische Gewalt zugänglich zu machen.97 Die gewaltsame Penetration eines Sexualorgans sei somit prinzipiell nichts anderes als ein Fausthieb, da es nicht um sexuelle Befriedigung gehe, sondern darum, zu unterwerfen und den Willen des unterlegenen Subjektes zu verletzen.98 Dieser Vorschlag Foucaults würde das Sexualdelikt als Gewaltdelikt verhandeln und dabei geschlechtsspezifische Aspekte außer Acht lassen.99 Aufgrund der Kontroversen um die Definition dieses Verbrechens hält beispielsweise Monique Plaza diesen Vorschlag für nicht realisierbar. Sexualisierte Gewalt, insbesondere Vergewaltigung, sei eine Art soziales ‚Sexing‘, das dem untergeordneten Geschlecht Weiblichkeit und dem übergeordneten Männlichkeit zuspreche – und zwar unabhängig vom jeweiligen biologischen Geschlecht: „Whether one punches his fist in someone’s face, or his penis in the sexual organ does make a difference – the difference between the sexes.“100 Christine Künzel fasst die Diskussion zusammen:

In ihrer Eigenschaft als (gewaltsamer) Akt der Zuschreibung von Weiblichkeit stellt Vergewaltigung eine der sozio-kulturellen ‚Techniken der Feminisierung‘ (techniques of feminization) dar, die das Delikt – allen strafrechtlichen Neutralisierungsversuchen zum Trotz – nach wie vor als das geschlechtsspezifische Verbrechen schlechthin erscheinen lassen.101

Auch Gesetzestexte sind demnach nur ein Diskursstrang im Sprechen von sexualisierter Gewalt. Statt nach einer möglichst einfachen und wenig komplexen Definition zu suchen, die Vergewaltigung begreift, soll es im Folgenden darum gehen, die verschiedenen Diskurse darzustellen und sie dort, wo es möglich ist, zueinander in Verbindung zu setzen, um Einflüsse und Gegensätze herauszustellen. In der Bezeichnung einer Handlung können bereits Annahmen mittransportiert werden, die deren Motivation betreffen – die Erlangung von sexueller Befriedigung als Konsumzwang wie in Stefan Schütz’ Schnitters Mall oder sexualisierte Gewalt als Rache für eine erlittene Beleidigung wie in Karen Duves Regenroman. Die vorliegende Arbeit soll zeigen, dass Vergewaltigung in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts als Akt sexualisierter Gewalt fungiert und sich vor allem in Unterwerfungsmechanismen manifestiert. Die Erklärungsmuster sexueller und sexualisierter Gewalt erscheinen in den Romanen als Referenz auf etwaige Verführungstopoi und reagieren damit auf literarische Traditionen, die sie auf produktive Weise herausfordern. Sowohl Gewalt als auch Geschlecht werden dabei in ihrer ganzen Komplexität dargestellt und eröffnen damit Deutungsspielräume in der Interpretation der literarischen Texte.

2.1 Theorien zu Gewalt und Geschlecht

Andrea Geier arbeitet in ihrer Studie ‚Gewalt‘ und ‚Geschlecht‘ (2005) heraus, wie vielschichtig und komplex der Begriff der Gewalt in der kulturwissenschaftlichen Forschung verhandelt wird. Als literarisches Thema scheint sie in zahlreichen Spielarten omnipräsent zu sein, fest verbunden mit den Diskursen der jeweiligen Zeit, und zwar über ein abbildendes oder ästhetisierendes Verhältnis hinaus.102 Geier lässt trotz ihres Titels sexualisierte Gewalt ganz bewusst außen vor. Stattdessen fragt sie nach dem „Interpretationskonstrukt Gewalt“103. Dieses Konstrukt besteht in literarischen Texten einerseits aus jenen Phänomenen, die auf Ebene des narrativen Diskurses als gewaltinspiriert wahrgenommen werden können, und andererseits aus den Repräsentationen von sozialem und biologischem Geschlecht, die damit verwoben sind. Ihre zentrale Einsicht ist dabei, dass jedweder Ausprägung von Gewalt ein geschlechtsspezifisch relevanter Aspekt inhärent ist. „Gewaltdefinitionen sind Werturteile“104: Sie können sowohl als kulturelle Interpretationsmuster innerhalb literarischer Texte verstanden werden, als auch produktive außerliterarische Bedeutungsträger darstellen. Geier stellt somit die zentrale Frage „nach der jeweiligen Wahrnehmung und Beschreibung von ‚Gewalt‘ als Erfahrung und Erleiden, als Handeln und Ereignis“105.

In Geiers Ansatz werden die Probleme einer Auseinandersetzung mit vergeschlechtlichter Gewalt noch einmal deutlich herausgestellt und führen zur Schlussfolgerung, dass eine objektive, allgemeingültige Definition für alle Aspekte von Gewalt und Geschlecht nicht zu formulieren ist. Es müssen also andere Vorgehensweisen gefunden werden, um Vergewaltigung als Verquickung von Sexualität und Gewalt sichtbar zu machen.

„Gewalt hält sich nicht an die Maßstäbe der Zivilisation und an die Vorgaben der geltenden Rechtsnormen“106, wie Gesa Dane richtig bemerkt, denn die gewaltsame Durchsetzung eines Willens muss nicht zwingend physischer Natur sein oder sich in Drohungen ergehen. Die von ihr angeführte Unterscheidung in ‚potestas‘ und ‚violentia‘, die regulierend-rechtmäßige und die zerstörende Ausprägung von Gewalt107, erweist sich im Hinblick auf die Betrachtung sexualisierter Gewalt als wenig produktiv. Dies liegt vor allem daran, dass innerhalb dieses Interpretationskonstruktes ‚Vergewaltigung‘ sowohl rechtmäßige, das heißt gesellschaftlich legitimierte, als auch zerstörende Tendenzen eine enge Bindung eingehen. Der spezifische Erkenntniswert des Parameters ‚Gewalt‘ stellt damit für die Analyse von Vergewaltigungsnarrationen ein dringendes Forschungsdesiderat dar. Aus diesem Grund sollen im nun folgenden Abschnitt Theorien und Modelle diskutiert werden, die sich mit Gewalt als gesellschaftlichem Phänomen auseinandersetzen, um sie auf ihre Produktivität für das Thema literarischer Vergewaltigungsnarrationen zu prüfen.

Geht es um die Definition des Verhältnisses von Macht und Gewalt, ist das Werk von Hannah Arendt eine aufschlussreiche Quelle. Arendt versteht Gewalt im Sinne der weiter oben skizzierten ‚violentia‘ als Gegenbegriff zu Macht.108 Somit kann Gewalt als Produkt von unterdrückender Herrschaft und Tyrannei verstanden werden und fungiert zugleich als Instrument zur Durchsetzung persönlicher Interessen. Ausgehend von Überlegungen zu politischen Strukturen ist Macht für Arendt Handeln eines Kollektivs und damit Grundlage jedes gesellschaftlichen Systems – sowie dessen Bedingung und Selbstzweck.109 Erst wenn diese kollektive Macht in Gefahr sei, trete Gewalt auf den Plan als Drang nach Dominanz ohne legitimierende Anerkennung.110 Die konkreten Ausprägungen dieser Gewalt variieren, wie Arendt am Vietnamkrieg zeigt und den Folgen für Land und Leute, die noch heute spürbar sind.111 Hannah Arendt konzipiert Macht als einen kollektiv geschaffenen Zustand der Gleichheit, der nicht gewaltsam erreicht, durch Gewalt aber durchaus zerstört werden könne:

Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überläßt man sie den ihr innewohnenden Gesetzen, so ist ihr Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht. So kann man auch nicht eigentlich sagen, das Gegenteil von Gewalt sei eben die Gewaltlosigkeit. Von „gewaltloser“ Macht zu sprechen ist ein Pleonasmus. Gewalt kann Macht vernichten; sie ist gänzlich außerstande, Macht zu erzeugen.112

Wenn Macht also kollektiv geschaffen wird und Gleichheit impliziert, welchen Einfluss muss dann Geschlecht als Differenzkategorie auf diese Macht haben? Der Einbezug von Geschlecht als „Mangel an Gleichheit“113 ist dazu in der Lage, Macht als „zusammenwirkendes Handeln von Menschen“114 in Gefahr zu bringen. Sexualisierte Gewalt im Sinne einer Zuweisung von Geschlecht kann in diesem Zusammenhang als Kulmination einer politischen und sozialen Konfliktsituation verstanden werden115, wie es in den Tagebüchern von Anonyma anklingt.

Heinrich Popitz als Gewaltforscher mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung vertritt in Bezug auf das Verhältnis von Macht und Gewalt eine gänzlich andere Auffassung. Er versteht Gewalt nicht als Gegenbegriff, sondern vielmehr als Ausprägung von Macht, deren direkteste Form als „die Macht, andere etwas erdulden zu lassen“116, verstanden werden kann, als dezidierte „Aktionsmacht“117:

Aktionsmacht ist Verletzungsmacht, der Aktionsmächtige der Verletzungsmächtige. Im direkten Akt des Verletzens zeigt sich unverhüllter als in anderen Machtformen, wie überwältigend die Überlegenheit von Menschen über andere Menschen sein kann. Zugleich erinnert der direkte Akt des Verletzens an die permanente Verletzbarkeit des Menschen durch Handlungen anderer, seine Verletzungs-Offenheit, die Fragilität und Ausgesetztheit seines Körpers, seiner Person.118

Verletzungsmacht oder Verletzungsoffenheit sind nicht an Geschlechterkonstruktionen rückgebunden, sondern potenziell für jedes Subjekt gegeben. Ebenso ist die physische Verletzung nur eine vieler Möglichkeiten, Gewalt auszuüben. Popitz argumentiert schlüssig, dass Instinkten in diesem Zusammenhang keine Rolle zukomme, spricht sogar von einer grundsätzlichen ‚Instinktentbundenheit‘: Kein Mensch sei in Anbetracht einer bestimmten Situation dazu gezwungen, Gewalt anzuwenden.119 Der Wert dieser Systematik von Popitz für die Untersuchung von Vergewaltigungsnarrationen besteht insbesondere in der Verneinung des Zusammenhangs von Triebtheorien und Gewalt.

Ruth Seifert arbeitet für den vergewaltigten Frauenkörper in der kulturellen Konstruktion des Krieges im Anschluss an Theresa Wobbe heraus, dass Weiblichkeit bereits als verletzungsoffen konstruiert sei und somit, nicht nur in kriegerischen Auseinandersetzungen, zum labilen Moment einer Gesellschaft würde.120 Während der Soldat „den vertretenen Ideen oder Interessen das Attribut körperlicher Realität“121 verleihe, fungiere der weibliche Körper als Repräsentation eines Volkskörpers, dessen Integrität angegriffen werden soll.122 Für Seifert ist die Setzung „verletzungsoffen vs. verletzungsmächtig“123eine Frage der kulturellen Konstruktion von Geschlecht: „Die Möglichkeit, zu vergewaltigen bzw. vergewaltigt zu werden, wird […] als anthropologischer Grundtatbestand behandelt.“124

Gewalt – und eben auch sexualisierte Gewalt als eine ihrer Varianten – als „Option menschlichen Handelns“125 zu verstehen, ist auch für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung nützlich. Jeden Körper als verletzungsoffen zu denken, wie Popitz es tut, fordert die kulturelle Konstruktion von Geschlecht heraus. Im Hinblick auf die Analyse der Figurenkonstellationen wird ermöglicht, das subversive Potenzial der literarischen Darstellung sexualisierter Gewaltereignisse zu betrachten. Inwiefern diese Herausforderung auch von literarischen Darstellungen ausgeht, wird zu zeigen sein.

Es besteht keine Veranlassung dazu, Arendts Feststellungen eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Macht und Gewalt zu Popitz’ Gunsten zu verwerfen. Vielmehr braucht es beide Ansätze, um einerseits den politisierten Verhandlungsspielraum vergeschlechtlichter Gewalt deutlich zu machen, andererseits Worte für deren konkrete Wirkung zu finden. Arendt und Popitz eint eine eher induktive Vorgehensweise. Beide gehen von konkreten Vorkommnissen aus und entwickeln auf deren Basis eine sehr spezifische Vorstellung des Zusammenhangs zwischen Gewalt und Machtverhältnissen. Im Gegensatz dazu konzipiert der Friedens- und Konfliktforscher Johan Galtung einen Ansatz, der alle Ausprägungen von Gewalt systematisch zu erfassen sucht. Gewalt, so Galtung, liege dann vor, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“126. Galtung formuliert insgesamt sechs Unterscheidungskriterien, die zur Darstellung spezifischer Konfliktsituationen frei miteinander kombinierbar sind. Die wichtigste Unterscheidung stellt die zwischen personaler und struktureller Gewalt dar. Während personale Gewalt als direkte Gewalt ein ausführendes Subjekt benötigt, meint strukturelle Gewalt jene Beeinträchtigungen ohne erkennbare_n Agent_in, die oft institutionell verankert sind.

Die von Anonyma vielfach erlebte und beschriebene Vergewaltigung durch wechselnde Männer ist unmittelbar intendierte personale Gewalt – die Unterwerfung einer einzelnen Frau durch jeweils einzelne Männer. Diese intendierte Gewalt einzelner Männer resultiert in Schmerz, dessen Ursprung sowohl physischer als auch psychischer Natur ist.127 Da die Übergriffe nicht nur die Ich-Erzählerin, sondern die meisten Frauen im belagerten Berlin treffen, muss zusätzlich von struktureller Gewalt ausgegangen werden. Auch der anschließende Umgang mit der Situation ist von strukturimmanenter Gewalt geprägt: „Wir […] werden fein den Mund halten müssen, werden so tun müssen, als habe es uns, gerade uns ausgespart. Sonst mag uns am Ende kein Mann mehr anrühren.“128 Das in dieser Äußerung offenbar werdende gesellschaftliche Ungleichgewicht ist geschlechtlich konnotiert. Die gesamte Lebensführung der Frauen erfährt während der Belagerung und danach immense Beeinträchtigung. Die Distanzierung der Kriegsheimkehrer und Ehemänner von den Frauen mündet in ein stetes Leugnen der erlebten Gewalt. Diese Einschränkung, die mit fehlender Aufarbeitung einhergeht, macht aus den direkt erlebten Kriegsvergewaltigungen zusätzlich Akte struktureller Gewalt und manifestiert damit soziale Ungerechtigkeit.129

Die Darstellung der Herangehensweisen von Hannah Arendt, Heinrich Popitz und Johan Galtung an das komplexe Thema der Gewalt hat gezeigt, dass sich Gewaltverhältnisse und Machtverhältnisse gegenseitig bedingen. Wichtig ist deshalb, auch in der Untersuchung von Vergewaltigung Machtstrukturen mitzudenken, die über tradierte Konstellationen männlicher Täterschaft und weiblichen Opfertums hinausgehen. Selbst in der neueren Forschung wird diese Dichotomie meist fortgeschrieben statt aufgelöst oder zumindest gelockert.130 Nur einzelne Studien versuchen, diese Schemata zu hinterfragen oder sogar zu dekonstruieren. Ein Beispiel für einen anderen Blickwinkel auf Gewalt und Geschlechterverhältnisse ist die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderte Pilotstudie Gewalt gegen Männer (2004). Das Forschungskollektiv um Ludger Jungnitz beschreibt sexualisierte neben körperlicher und psychischer Gewalt als zentrale Gewaltform, der Männer ebenso ausgesetzt sind wie Frauen.131 Insbesondere sexualisierte Gewalt ist für betroffene Männer äußerst schambesetzt, weil sie in der öffentlichen Vorstellung als Situationen verstanden werden, in welchen sich nur Frauen wiederfinden können. Ein Auszug aus der Präsentation der Ergebnisse von Jungnitz u.a. verneint diesen Eindruck:

Sexualisierte Gewalt gegen Männer in der Öffentlichkeit und Freizeit existiert in einer Bandbreite von sexueller Belästigung über Nötigung bis hin zu Vergewaltigung. Dies kommt sowohl in den qualitativen Interviews zum Ausdruck, in denen Männer zum Teil von massiven sexualisierten Gewalterfahrungen, beispielsweise auch von Vergewaltigungen, berichten. Die zerstörerische psychische Wirkung, die sexualisierte Widerfahrnisse wie Vergewaltigungen haben können, ist hier besonders deutlich. Aber auch in der quantitativen Befragung zeigen sich sexualisierte Gewaltwiderfahrnisse. Geschildert wird massives sexuelles Bedrängtwerden durch eine Bekannte und eine sexuelle Belästigung durch einen Mann in der Bar.132

Abbildung 1: Typologie der Gewalt nach Galtung

Obwohl Forschende wie der Kreis um Jungnitz oder Carol Hagemann-White sexualisierte zusammen mit körperlicher und psychischer Gewalt zu den zentralen Gewaltformen zählen, die selten getrennt voneinander zu betrachten sind, verläuft die Forschungslinie zu sexueller beziehungsweise sexualisierter Gewalt auffällig separiert.133 Insbesondere Studien zu Vergewaltigung nehmen weiterhin geschlechtsspezifische Machtgefälle an, die Verletzungsmacht mit dem männlichen Genital und Verletzungsoffenheit mit dem weiblichen Sexualorgan zusammendenken. Nicht nur die Konstellation der Geschlechter erscheint manifest, auch die übrigen Umstände – Ablauf, Gründe, Kontexte – von Vergewaltigung scheinen als „Stereotyp“134 oder „Skript“135 im Kopf eines jeden Lesers vorhanden zu sein. Im Sinne der Prototypentheorie würde also jener Hergang als „bestes Beispiel und typischster Repräsentant“136 einer Vergewaltigung gelten, „bei dem ein großer dunkler Unbekannter nachts im Wald mit vorgehaltener Pistole ein (am besten in jedem Sinne) unschuldiges Opfer vergewaltigt“137.

Tatsächlich scheinen im Zusammenhang mit Vergewaltigung besonders Fragen der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit von Relevanz zu sein. So werden die stereotypen Ansichten zu Vergewaltigung maßgeblich von Vorstellungen der Differenz beeinflusst, von ganz alltäglichen Grenzziehungen, die vor allem die Funktion haben, Orientierung zu bieten. Gerd Bohner, der ausführlich zu den sogenannten ‚Vergewaltigungsmythen‘ geforscht hat, bezieht sich in diesem Zusammenhang auf Melvin Lerners Studie zu ‚irrationalen Deutungen‘.138 Damit werden realitätsverzerrende Schlussfolgerungen bezeichnet, die den Zweck haben, Menschen ein Gefühl der Sicherheit und Rechtmäßigkeit zu vermitteln. Als Beispiel nennt Lerner Vorfälle, in welchen Opfern von Naturkatastrophen Verantwortlichkeit für ihr Unglück zugesprochen wird. Es werden Lebensweise oder sozialer Status der Betroffenen ins Feld geführt, um den unvorhersehbaren Schicksalsschlag rückwirkend als vorhersehbares und gerechtes Ereignis zu konstruieren.139 Der Glaube an eine gerechte Welt hat geschlechtsunspezifische, zentrale Bedeutung und ist in Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt keinesfalls nur in der von Brownmiller betonten „Dichotomie männlichen Denkens“140 zu finden.141 Das Denken in binären Strukturen soll helfen, sich die eigene Umwelt als kausal organisiertes Geschehen vorzustellen – auch wenn dies nicht der Wirklichkeit entspricht.142 Dieser Prozess der Differenzierung, die Konstruktion eines ‚Anderen‘, der oder die eine bestimmte Behandlung oder einen Schicksalsschlag verdient, ist ein Ausdruck sogenannter epistemischer Gewalt und eng verwoben mit dem, was in der postkolonialen feministischen Forschung ‚verkitschtes Denken‘ genannt wird: Setzungen, die, statt Gesellschaft zu transformieren, signifikanten Einfluss auf die Stabilisierung der bestehenden machtvollen Diskursstränge ausüben.143

Episteme stellen Foucault zufolge die Verfestigung einer bestimmten Anordnung von gesellschaftlichen Diskursen zu einer bestimmten Zeit dar. Diejenigen Diskurse, welche als ‚wahres Wissen‘ gelten, dominieren und disziplinieren dabei andere Überzeugungen oder schließen mitunter bestimmte Denkweisen völlig aus.144 Um diese alltäglichen Grenzziehungen kritisch zu beleuchten, ist es notwendig, sie als Produkte jener dominanten Diskurse zu verstehen, die Subjekte ungehört lassen, „die auf der anderen Seite der Wahrheit, Rationalität, Normalität, Normativität, Universalität und Wissenschaftlichkeit stehen“145. Im Folgenden sollen die sogenannten Vergewaltigungsmythen als ebenjene Episteme betrachtet werden.

2.2 Vergewaltigungsmythen

Die umfassendste Studie zur Funktion und Akzeptanz solcher Überzeugungen hat Gerd Bohner vorgelegt, der Vergewaltigungsmythen definiert als

Überzeugungen über Vergewaltigungen, die dazu dienen, sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen zu leugnen, zu verharmlosen und zu rechtfertigen. […] Die Inhalte können sich auf die Ursache der Tat, auf den Kontext, in dem Vergewaltigungen stattfinden, auf ihre Folgen und vor allem aber auch auf die Annahmen über die typischen Täter und Opfer von Vergewaltigungen beziehen.146

Als Mythen werden diese Diskurse um sexualisierte Gewalt deswegen beschrieben, weil sie ein Kumulativ aus kulturell gewachsenen Ansichten, eigener Erfahrung und belegtem Wissen darstellen.147 Obwohl sie einen Wahrheitsanspruch geltend machen, erweisen sie sich rational betrachtet als nicht haltbar. Bohner beschreibt Vergewaltigung dementsprechend als soziales Phänomen, dessen Definition nicht nur weitreichende Folgen für einzelne Individuen hat, sondern zudem einen signifikanten Einfluss auf gesamtgesellschaftliche Diskurse ausübt.148 Den Vorgaben der Vergewaltigungsmythen zuzustimmen bringt insbesondere für Frauen ein erhöhtes Sicherheits- und Selbstwertgefühl mit sich: Solange sie sich adäquat verhalten, können sie nicht Opfer von Übergriffen werden.149 Nach Bohners Ergebnissen korrespondiert im Gegensatz dazu die Einsicht, Übergriffe nicht verhindern zu können, mit einem Gefühl der Unsicherheit, das negativ erlebt wird.150 Gleichzeitig befördern solche vereinfachten Voreinstellungen zu sexualisierter Gewalt die Aufrechterhaltung einer positiven männlichen Identität in Abgrenzung sowohl zur Gruppe der weiblichen Opfer als auch zu den devianten Triebtätern.151 Auch die rationale Erklärung eigener Gewalttendenzen könne laut Bohner ein Grund für das Bejahen von Vergewaltigungsmythen sein.152 Doch die Akzeptanz solcher vereinfachten Vorstellungen beschränkt sich nicht auf einzelne Subjektpositionen. Bereits Smith stellt im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit der Forschung zu Vergewaltigung fest, dass jede Disziplin dazu neigt, heterogene Diskurse zu vereinheitlichen, um Objektivität und Eindeutigkeit beanspruchen zu können.153 Leerstellen können so gefüllt, Unsicherheiten schnell ausgeräumt werden, wenn es um die Darstellung und Beurteilung sexualisierter Gewalt geht.

In den bisher erschienenen literaturwissenschaftlichen Arbeiten wurde dieses stabilisierende Moment vornehmlich in Rechtstexten extrapoliert. Dabei konnte detailliert gezeigt werden, wie Literatur die rückwärtsgerichteten Tendenzen des Rechts aufgreift und herausfordert. Deshalb wird diese Perspektive, erweitert um einen dezidiert transdisziplinären Zugang, auch in der vorliegenden Arbeit eingenommen, um den Topos der Vergewaltigung zu reflektieren. Im Mittelpunkt sollen „die Konsequenzen der Auseinandersetzung mit dem Thema“154 stehen und deren Einfluss auf den literarischen Diskurs. Seit dem Paradigmenwechsel in der Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt, den Susan Brownmiller herbeiführte, ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass nicht nur Einzelpersonen bestimmte Voreinstellungen und Klischees vertreten. Auch die Forschung zu geschlechtsspezifischer Gewalt unterliegt bestimmten Perspektivierungen, die den Zugang zu Vergewaltigung als Forschungsgegenstand stark beeinflusst. Weder die Autor_innen von wissenschaftlichen Studien noch die Autor_innen von fiktionalen Texten stehen außerhalb des Diskurses zu sexualisierter Gewalt, sondern sind Teil davon.155 Deswegen soll sich hier nicht nur ein Überblick über die prominentesten Vergewaltigungsmythen und deren Funktion anschließen, sondern auch deren Diskussion. Für eine systematische Analyse sexualisierter Gewalt müssen die Bewertungen und (Be-)Handlungen, das ‚wahre Wissen‘ also, um welches sich das Thema der sexualisierten Gewalt positioniert, in den Fokus rücken. Zum einen muss anhand der Erzählstrukturen literarischer Vergewaltigungsnarrationen selbst identifiziert werden, wo Normierungen brüchig werden. Zum anderen gilt es in Bezug auf die Inhalte kritisch zu beleuchten, was gemeinhin als ‚normal‘ oder gar ‚wahr‘ gilt, wenn es um sexualisierte Gewalt in Form von Vergewaltigung geht. Der folgende Abschnitt beschreibt die Vergewaltigungsmythen mit dem erheblichsten Einfluss auf den gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Diskurs über Vergewaltigung – und damit, so die These, eben auch den zeitgenössischen literarischen.

Die Setzungen, geordnet nach Aussagen zum (männlichen) Täter, dem (weiblichen) Opfer und Raum als Schwerpunkt eines spezifischen Kontexts fungieren dabei als Faden der Ariadne durch das minotaurische Labyrinth. Denn das subversive Potenzial der Gegenwartsromane, die Gegenstand dieser Untersuchung literarischer Vergewaltigung sind, kann nur dann herausgearbeitet werden, wenn entsprechende kulturell verankerte Setzungen vorab verhandelt werden.

Tätermythos I: Der Täter ist ein Fremder.

Das gängigste Verständnis eines Vergewaltigungsdelikts sieht vor, dass der Täter ein dem Opfer unbekannter Mann ist. Bereits für die Vergewaltigung in der Antike unterstreicht Georg Doblhofer die Vorstellung des Täters als „großer dunkler Unbekannter“156