Stonehenge - Die Kathedrale der Zeit - Ken Follett - E-Book

Stonehenge - Die Kathedrale der Zeit E-Book

Ken Follett

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Beschreibung

Mit seinem ambitionierten neuen Roman lädt Welt-Bestsellerautor Ken Follett uns ein, an seiner Seite eines der größten Mysterien der Weltgeschichte zu erkunden: Stonehenge

Ein Mann mit außergewöhnlicher Gabe

In der Hitze des Hochsommers überquert Seft, ein begnadeter Feuersteinhauer, die Große Ebene, um den Ritualen beizuwohnen, die den Beginn des neuen Jahres anzeigen. Beim Markt zur Sommersonnenwende will er einige seiner Steine eintauschen und Neen suchen, das Mädchen, das er liebt. Neens Familie lebt in Wohlstand und bietet Seft in ihrer Gemeinschaft von Hirten Zuflucht vor seinem brutalen Vater und seinen aggressiven Brüdern.

Eine Priesterin, die an das Unmögliche glaubt

Joia, Neens Schwester, ist eine Priesterin mit Vision, eine geborene Anführerin. Schon als Kind sieht sie der Zeremonie zur Sommersonnenwende wie gebannt zu. Sie träumt von einem wundergleichen neuen Monument, errichtet aus den größten Steinen der Welt.

Ein Monument, das eine Zivilisation prägen wird

Joias Vision von einem großen Steinkreis inspiriert Seft und wird zu ihrem gemeinsamen Lebenswerk. Doch als Dürre die Erde plagt, wächst das Misstrauen zwischen Hirten, Ackerbauern und Waldbewohnern - und eine grausame Gewalttat führt zu offenem Krieg ...

Der neue große Roman des internationalen Bestsellerautors

»Ich habe bereits über Momente großer menschlicher Leistungen geschrieben und mich schon immer für Geschichten über normale Menschen interessiert, die scheinbar Unmögliches vollbringen. Und was könnte außergewöhnlicher sein als der Bau dieses gewaltigen Monuments?« KEN FOLLETT

»Follett ist ein meisterhafter Geschichtenerzähler« THE TIMES

»Einer der großen Bestsellerautoren« DAILY TELEGRAPH

»Follett ist ein Meister seines Fachs« THE WASHINGTON POST

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Seitenzahl: 886

Veröffentlichungsjahr: 2025

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KEN FOLLETT

STONEHENGE

DIE KATHEDRALE DER ZEIT

Historischer Roman 

Übersetzung aus dem Englischen von Rainer Schumacher und Dietmar Schmidt

Inhalt

Alles beginnt um das Jahr 2500 v. Chr.

1

2

3

4

5

6

Zehn Mittsommer später

7

8

9

10

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35

Fünfzehn Mittwinter später

36

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Danksagung

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[Impressum]

Über dieses Buch

Mit seinem ambitionierten neuen Roman lädt Welt-Bestsellerautor Ken Follett uns ein, an seiner Seite eines der größten Mysterien der Weltgeschichte zu erkunden: Stonehenge

 

Ein Mann mit außergewöhnlicher Gabe

 

In der Hitze des Hochsommers überquert Seft, ein begnadeter Feuersteinhauer, die Große Ebene, um den Ritualen beizuwohnen, die den Beginn des neuen Jahres anzeigen. Beim Markt zur Sommersonnenwende will er einige seiner Steine eintauschen und Neen suchen, das Mädchen, das er liebt. Neens Familie lebt in Wohlstand und bietet Seft in ihrer Gemeinschaft von Hirten Zuflucht vor seinem brutalen Vater und seinen aggressiven Brüdern.

 

Eine Priesterin, die an das Unmögliche glaubt

 

Joia, Neens Schwester, ist eine Priesterin mit Vision, eine geborene Anführerin. Schon als Kind sieht sie der Zeremonie zur Sommersonnenwende wie gebannt zu. Sie träumt von einem wundergleichen neuen Monument, errichtet aus den größten Steinen der Welt.

 

Ein Monument, das eine Zivilisation prägen wird

 

Joias Vision von einem großen Steinkreis inspiriert Seft und wird zu ihrem gemeinsamen Lebenswerk. Doch als Dürre die Erde plagt, wächst das Misstrauen zwischen Hirten, Ackerbauern und Waldbewohnern - und eine grausame Gewalttat führt zu offenem Krieg ...

 

Der neue große Roman des internationalen Bestsellerautors

 

Über Ken Follett

Ken Follett gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellern der Welt. Die 37 Bücher aus seiner Feder wurden in vierzig Sprachen übersetzt und sind in mehr als achtzig Ländern erschienen. Insgesamt hat er 195 Millionen Exemplare von ihnen verkauft. Seine Laufbahn begann er jedoch zunächst als Reporter, zuerst bei der Lokalzeitung seines Heimatortes, der SOUTH WALES ECHO, dann bei den LONDON EVENING NEWS. Seinen Durchbruch als Schriftsteller erlebte er 1978 mit der Veröffentlichung des Thrillers DIE NADEL, der im Jahr darauf mit dem EDGAR AWARD der Mystery Writers of America als bester Roman ausgezeichnet wurde.

1989 stand DIE SÄULEN DER ERDE, Ken Folletts epischer Historischer Roman über den Bau einer mittelalterlichen Kathedrale, überall auf den Beststellerlisten. Er diente als Vorlage für eine erfolgreiche Fernsehserie, die von Ridley Scott produziert und 2010 erstmals ausgestrahlt wurde.

Ken Follett hat sich in zahlreichen Stiftungen zur Leseförderung engagiert und war zehn Jahre lang Präsident von DYSLEXIA ACTION. Er war außerdem Vorsitzender des NATIONAL YEAR OF READING, einer gemeinsamen Initiative von Staat und Wirtschaft. Er lebt mit seiner Frau Barbara im englischen Hertfordshire. Gemeinsam haben sie fünf Kinder, sechs Enkelkinder und drei Labradore.

Alles beginnt um das Jahr 2500 v. Chr.

1

Seft trottete über die Große Ebene, auf dem Rücken einen großen Flechtkorb, gefüllt mit den Feuersteinen, mit denen er Handel treiben wollte. Er war in Begleitung seines Vaters und seiner zwei älteren Brüder, und er hasste jeden von ihnen.

Die Ebene reichte, so weit das Auge sehen konnte, von einem Horizont zum anderen. Das sommergrüne Gras war von rot blühendem Klee und gelben Butterblumen übersät, die in der Ferne zu einem Schleier aus Orange und Grün verschmolzen. Zufrieden grasten hier große Herden von Rindern und Schafen. Es waren mehr Tiere, als Seft zählen konnte. Einen Pfad gab es zwar nicht, aber sie kannten den Weg, und wenn sie weiter so gut vorankamen, würde ihnen an diesem langen Sommertag noch viel Zeit bleiben.

Die Sonne brannte auf Sefts Kopf. Die Ebene war größtenteils flach, doch immer wieder einmal ging es sanft bergauf und bergab. Mit der schweren Last auf dem Rücken fühlte sich die Steigung allerdings nicht mehr ganz so sanft an, und Sefts Vater, Cog, marschierte in der immer gleichen Geschwindigkeit, ungeachtet des Terrains. »Je schneller wir da sind, desto schneller können wir auch ausruhen«, sagte er immer wieder. Diese dumme Bemerkung ärgerte Seft jedes Mal, wenn er sie hörte.

Feuerstein war das härteste Gestein von allen, und Sefts Vater hatte ein ebenso hartes Herz. Er hatte graues Haar und graue Haut und war nicht groß, aber stark, sehr stark sogar, und wenn ihm an seinen Söhnen etwas nicht gefiel, bestrafte er sie mit Fäusten aus Stein.

Alles mit einer Schneide wurde aus Feuerstein hergestellt, von Äxten und Pfeilspitzen bis hin zu Messern. Jeder brauchte Feuersteine, und so konnte man sie auch gegen alles tauschen, was man benötigte, sei es Kleidung oder Vieh. Manche Leute lagerten sie sogar ein, wohl wissend, dass sie ihren Wert behielten und nie verrotten würden.

Seft freute sich vor allem darauf, Neen wiederzusehen. Seit dem Frühlingsritus hatte er jeden Tag an sie gedacht. An seinem letzten Abend dort hatten sie sich getroffen und die ganze Nacht geredet. Sie war so warmherzig und freundlich gewesen, dass Seft sicher war, dass sie ihn mochte. In den Wochen darauf hatte er sich oft ihr Gesicht vorgestellt, während er in der Feuersteingrube schuftete. In seinen Tagträumen lächelte sie und beugte sich vor, um ihm etwas Nettes zu sagen. Sie war wunderschön, wenn sie lächelte.

Sie hatte ihm auch einen Kuss gegeben, als sie sich voneinander verabschiedet hatten.

Seft hatte noch nicht viele Frauen kennengelernt, denn er arbeitete den ganzen Tag in einem Loch in der Erde, und die Frauen, denen er begegnet war, hatten nie solche Gefühle in ihm hervorgerufen.

Seine Brüder hatten Seft mit Neen gesehen und nahmen an, dass er sich in sie verliebt hatte. Jetzt, auf dem Weg, verspotteten sie ihn immer wieder mit vulgären Bemerkungen. Olf, groß und dumm, fragte: »Und? Wirst du ihr dein Ding heute reinstecken, Seft?« Und Cam, der Olf immer folgte, machte Stoßbewegungen mit der Hüfte, woraufhin beide lachten wie zwei Krähen im Baum. Sie hielten sich wirklich für witzig. So machten sie eine Zeit lang weiter, doch schon bald fiel ihnen nichts mehr ein. Sie waren nicht sonderlich einfallsreich.

Cog, Olf und Cam trugen ihre Körbe entweder auf den Armen, auf den Schultern oder auf dem Kopf, Seft aber hatte eine Möglichkeit gefunden, sich seinen mit Lederriemen auf den Rücken zu binden. Zwar war er so schwer anzulegen, aber sobald der Korb erst einmal auf dem Rücken war, trug er sich äußerst angenehm. Die anderen machten sich lustig darüber und nannten Seft einen Weichling, doch daran war er gewöhnt. Er war der Jüngste der Familie, aber auch der Klügste, und vor allem Letzteres neideten seine Brüder ihm. Ihr Vater mischte sich nie in ihre Streitereien ein. Vielmehr schien er es sogar zu genießen, wenn seine Söhne sich stritten oder miteinander kämpften. Wann immer Seft von seinen Brüdern drangsaliert wurde, sagte sein Vater nur, er solle sich zusammenreißen.

Je länger sie unterwegs waren, desto mehr spürte Seft trotz der Trageriemen das Gewicht des Korbs. Doch als er zu den anderen schaute, hatte er den Eindruck, dass sie nicht annähernd so müde waren wie er. Im Gegensatz zu ihm schwitzten sie nicht einmal.

Der Sonne nach zu urteilen war es Mittag, als Cog eine Rast ankündigte, und sie hielten unter einer Ulme an und stellten ihre Körbe ab. Durstig tranken sie aus den Flaschen, die sie an Lederriemen am Gürtel trugen. Die Große Ebene wurde im Norden, Osten und Süden von Flüssen begrenzt, doch auf der Ebene selbst gab es nur wenige Bäche und Teiche, von denen im Sommer auch noch viele ausgetrocknet waren. Deshalb hatte der kluge Reisende stets Wasser dabei.

Cog verteilte Scheiben kalten Schweinefleischs, und sie aßen. Dann legte Seft sich auf den Rücken und schaute zur Baumkrone hinauf. Er genoss die Stille.

Viel zu schnell verkündete Cog, dass sie weitermussten. Seft griff nach seinem Korb, zögerte und starrte ihn an. Feuerstein aus den tiefsten Adern war tiefschwarz und glänzend und hatte eine weiche, weiße Kruste. Wenn man ihn mit einem anderen Stein bearbeitete, brachen Splitter ab, wodurch man ihn formen konnte. Die Feuersteine in Sefts Korb hatte sein Vater bereits teilweise behauen, sodass man leicht Messer, Äxte, Schaber oder andere Werkzeuge daraus machen konnte. Außerdem waren die Steine so leichter zu transportieren, und sie waren auch für die Steinformer mehr wert, die ihnen ihre endgültige Gestalt verleihen würden.

Jetzt sah es allerdings so aus, als wären mehr von ihnen in Sefts Korb als noch am Morgen. Bildete er sich das nur ein? Nein. Er war sicher. Er schaute zu seinen Brüdern.

Olf grinste, und Cam kicherte.

Da wusste Seft, was geschehen war: Unterwegs hatten seine Brüder heimlich Steine aus ihren Körben genommen und sie in seinen gelegt. Jetzt erinnerte er sich auch daran, dass sie zu ihm aufgerückt waren, um sich über seine Schwärmerei lustig zu machen. Das hatte ihn abgelenkt. Kein Wunder, dass der morgendliche Marsch ihn so erschöpft hatte!

Er richtete den Finger auf sie. »Ihr zwei …«, knurrte er wütend.

Olf und Cam krümmten sich vor Lachen. Auch Cog lachte. Er hatte eindeutig von dem Streich gewusst.

»Ihr Dreckschweine!«, sagte Seft verbittert.

»Das war doch nur ein Scherz!«, erwiderte Cam.

»Sehr lustig.« Seft drehte sich zu seinem Vater um. »Warum hast du sie nicht davon abgehalten?«

»Hör auf zu jammern«, antwortete Cog. »Zeig endlich mal Eier.«

Olf sagte: »Jetzt musst du sie auch den Rest des Weges schleppen. Schließlich bist du drauf reingefallen.«

»Ach! Glaubst du wirklich?« Seft kniete sich hin und schüttete so lange Feuersteine aus seinem Korb auf den Boden, bis er ungefähr wieder die ursprüngliche Ladung hatte.

»Also ich sammele die nicht auf«, erklärte Olf.

»Ich auch nicht«, sagte Cam.

Seft wuchtete sich den nun wieder leichteren Korb auf den Rücken und marschierte los.

»Komm sofort zurück!«, hörte er Olf rufen.

Seft ignorierte ihn.

»Wie du willst. Ich schnapp dich schon.«

Seft drehte sich um und ging rückwärts weiter. Olf stapfte auf ihn zu.

Vor einem Jahr hätte Seft noch nachgegeben und einfach getan, was Olf von ihm verlangte, doch inzwischen war er deutlich größer und stärker. Er hatte zwar immer noch Angst vor Olf, nur ergab er sich dieser Angst jetzt nicht mehr. Stattdessen griff er über die Schulter nach hinten und nahm einen Feuerstein aus seinem Korb. »Willst du noch einen Stein tragen?«, fragte er.

Olf stieß ein wütendes Brüllen aus und stürmte los.

Seft schleuderte den Feuerstein. Er hatte die kräftigen Arme eines jungen Mannes, der den ganzen Tag über Steine klopfte, und er warf hart.

Der Stein traf Olf direkt über dem Knie. Olf heulte vor Schmerz auf, humpelte noch zwei Schritte und fiel dann zu Boden.

»Der nächste trifft deinen Kopf, du dämlicher Auerochse«, sagte Seft. Dann drehte er sich zu seinem Vater. »Sind das Eier genug?«

»Lasst den Unsinn«, knurrte Cog. »Olf, Cam … Schnappt euch eure Waren, und setzt euch in Bewegung.«

»Was ist mit den Steinen, die Seft auf den Boden geschüttet hat?«, fragte Cam.

»Heb sie auf, du Narr!«

Cam ließ sich zurückfallen.

Seft ging weiter. Sein Herz schlug schnell. Er hatte wirklich Angst gehabt, aber es war noch mal gutgegangen – vorerst.

Nach dem Frühlingsritus hatte er beschlossen, seine Familie bei der erstbesten Gelegenheit zu verlassen. Allerdings hatte er noch keine Vorstellung, wie er seinen Lebensunterhalt allein verdienen sollte. Feuersteine abzubauen, war Gruppenarbeit. Allein war das unmöglich. Seft brauchte einen Plan. Es wäre viel zu demütigend, entmutigt und halb verhungert zu seiner Familie zurückkehren und sie anbetteln zu müssen, ihn wieder aufzunehmen.

Nur eines wusste er mit Sicherheit: Er wollte, dass Neen Teil seiner Zukunft war.

***

Ein hoher Erdwall umgab das Monument. Eine Lücke im Kreis, die sich nach Nordosten öffnete, bildete den Eingang. Ein Stück davon entfernt waren Häuser zu sehen, die den Priesterinnen gehörten. Doch heute ging niemand ins Monument. Der Mittsommerritus fand erst morgen statt.

Jedes Vierteljahr kamen die Menschen zum Monument, um den Zeremonien beizuwohnen. Das Zusammentreffen so vieler Menschen von nah und fern war auch eine Gelegenheit zu handeln, weshalb manch einer einige Tiere oder andere Dinge mitbrachte. Schon jetzt legten einige ihre Waren aus. Sie wussten, dass sie den heiligen Kreis nicht betreten durften, und konzentrierten sich stattdessen auf den Eingangsbereich. Auch von den Häusern der Priesterinnen hielten sie sich fern.

Aufgeregtes Gerede lag in der Luft, als Seft und seine Familie näher kamen. Die Menschen strömten nun aus allen Himmelsrichtungen herbei. Eine Gruppe traf sich jedes Jahr in einem Dorf auf einem Hügel, vier Tagesmärsche nordöstlich. Von dort folgten sie einem ausgetretenen Pfad hierher, von dem es hieß, er sei uralt. Lange Kolonnen von Menschen und Vieh zogen über ihn zum Monument.

Cog blieb neben Ev und Fee stehen, einem Paar, das Seile und Taue aus den Ranken der Heckenkirsche drehte. Die Steinhauer leerten ihre Körbe, und Cog begann, die Feuersteine auf einen Haufen zu werfen.

Ein anderer Steinhauer unterbrach Cog bei seiner Arbeit, Wun, ein kleiner Mann mit gelben Augen, den Seft schon mehrmals gesehen hatte. Wun war äußerst gesellig. Er war jedermanns Freund und liebte es zu plaudern, besonders mit anderen Steinhauern. Er wusste immer, was los war. Seft hielt ihn für ein wenig neugierig.

Wun schüttelte Cog die Hand, informell, links auf rechts. Rechts auf rechts wäre die formelle Art gewesen und hätte eher Respekt als Freundschaft ausgedrückt.

Cog war so wortkarg wie immer, doch das schien Wun nicht zu stören. »Wie ich sehe, seid ihr alle hier«, sagte er. »Bewacht denn niemand eure Grube?«

Cog schaute Wun misstrauisch an. »Wenn sich jemand daran vergreift, schlage ich ihm den Schädel ein.«

»Gut gesagt.« Wun grinste und tat so, als würde er Cogs Streitlust billigen. Gleichzeitig warf er einen aufmerksamen Blick auf den Haufen halb fertiger Feuersteine und versuchte, ihren Wert einzuschätzen. »Übrigens«, sagte er, »da ist ein Händler mit einer riesigen Sammlung von Geweihen. Einfach fantastisch.«

Das Geweih eines Rothirschs war fast so hart wie Stein und noch dazu spitz, ideal als Spitzhacke für Steinhauer. »Das sollten wir uns ansehen«, sagte Olf zu Cam.

Alle schauten zu Wun, niemand achtete auf Seft. Seft erkannte die Gelegenheit, stahl sich davon und verschwand sogleich in der Menge.

Ein gerader Weg führte vom Monument zum nicht weit entfernten Dorf Riverbend. Vieh graste zu beiden Seiten des ausgetretenen Pfads. Seft mochte keine Kühe. Wenn sie ihn anschauten, wusste er nie, was sie gerade dachten.

Abgesehen davon beneidete er die Hirten. Sie saßen den ganzen Tag nur herum und beobachteten ihre Herden. Sie mussten nicht immer wieder auf eine Feuersteinader einschlagen, den harten Stein aufbrechen und ihn über einen Kletterbalken an die Oberfläche tragen. Rinder, Schafe und Schweine vermehrten sich von selbst, und das Hirtenvolk wurde immer reicher, ohne etwas dafür zu tun.

Als Seft das Dorf erreichte, starrte er auf die Häuser, die alle gleich aussahen. Jedes hatte niedrige Wände aus Flechtwerk, das mit Schlamm verstärkt war, und ein Dach aus Grassoden, das auf Holzgiebeln ruhte. Die Eingänge bestanden aus jeweils zwei Pfosten mit einem Querbalken als Türsturz. Im Sommer kochten alle draußen, doch im Winter brannte ein Feuer in der Mitte der Behausungen. Fleisch wurde zum Räuchern unter den Giebel gehängt. Im Augenblick ließen halbhohe Gitter aus Weidengeflecht frische Luft herein, während sie gleichzeitig Hunde und all die kleinen Kreaturen fernhielten, die auf der Suche nach Futter herumhuschten. Im Winter ließen sich die Eingänge mit schwereren, exakt eingepassten Türen aus Holz vollständig verschließen.

Jede Menge Schweine streunten durch das Dorf und das umliegende Land und suchten mit ihren Schnauzen nach Essbarem.

Ungefähr die Hälfte der Häuser stand leer. Sie waren für die Besucher gedacht, die viermal im Jahr zum Monument kamen. Das Hirtenvolk kümmerte sich gut um seine Gäste, schließlich brachten diese mit ihrem Handel großen Reichtum auf die Ebene.

Die Riten wurden im Herbst zur Tagundnachtgleiche, die man den »Halben Weg« nannte, zur Wintersonnenwende, zum Halben Weg im Frühling und zur Sommersonnenwende, also morgen, abgehalten. Eine der wichtigsten Pflichten der Priesterinnen bestand darin, den Lauf der Tage im Blick zu behalten, sodass sie zum Beispiel verkünden konnten, dass es noch sechs Tage bis zum Halben Weg im Herbst waren.

Seft fragte eine Hirtenfrau nach dem Weg zu Neens Haus. Die meisten Menschen hier kannten Neen, weil ihre Mutter eine der Ältesten und dadurch eine wichtige Person war. Deshalb wusste die Hirtenfrau genau, wo Seft hinmusste, und es dauerte nicht lange, bis er es gefunden hatte. Das Haus war sauber und leer. Vier Menschen lebten hier, schätzte er, doch keiner von ihnen war da. Zweifellos hatte Neens Familie wegen des Ritus viel zu tun.

Ungeduldig machte Seft sich auf die Suche nach Neen. Er wanderte zwischen den Häusern umher und hielt nach ihrem lächelnden Gesicht und ihrem üppigen dunklen Haar Ausschau. Viele Besucher hatten sich bereits in den leer stehenden Häusern eingerichtet, fiel Seft auf, sowohl Alleinreisende als auch Familien mit Kindern, die die fremde Umgebung mit großen Augen betrachteten.

Seft fragte sich nervös, wie Neen ihn wohl empfangen würde. Immerhin war die Nacht, in der sie so lange miteinander geredet hatten, schon ein Vierteljahr her. Damals war sie sehr warmherzig gewesen, doch diese Wärme konnte natürlich längst abgekühlt sein. Neen war so anziehend und liebenswert, dass sicher viele Männer an ihr interessiert waren. Und ich selbst bin alles andere als besonders, dachte Seft. Außerdem war er auch noch ein paar Jahre jünger als Neen. Zwar schien ihr das bei ihrer ersten Begegnung gleichgültig gewesen zu sein; trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie viel reifer war als er.

Seft erreichte das Flussufer, wo immer viel los war. Flussaufwärts holten die Menschen Frischwasser, flussabwärts wuschen sie sich und ihre Kleidung. Seft sah Neen nicht, fand aber zu seiner Erleichterung ihre Schwester, die er beim Frühlingsritus ebenfalls kennengelernt hatte. Sie war ein selbstbewusstes Mädchen mit einem Wust von lockigem Haar und einem entschlossenen Kinn. Seft schätzte sie auf ungefähr dreizehn. In diesem Fall würde sie morgen vierzehn werden. Die Menschen der Großen Ebene schätzten ihr Alter mithilfe der Sommersonnenwenden. Daher würde morgen jeder von ihnen um ein Jahr älter.

Wie hieß sie noch gleich?

Jetzt fiel es Seft wieder ein: Joia.

Joia und zwei ihrer Freundinnen schienen Schuhe im Fluss zu waschen. Ihre Schuhe waren genauso wie die aller anderen: flache, zurechtgeschnittene Lederstücke mit Löchern für Schnüre, die aus Kuhsehnen gefertigt und straff angezogen wurden, damit die Schuhe eng am Fuß saßen.

Seft ging zu Joia und fragte: »Erinnerst du dich noch an mich? Ich bin Seft.«

»Natürlich erinnere ich mich an dich«, antwortete Joia und grüßte ihn, wie es üblich war: »Möge der Sonnengott auf dich herablächeln.«

»Und auf dich. Warum wäschst du deine Schuhe?«

Joia kicherte. »Weil ich keine Stinkefüße haben will.«

Daran hatte Seft noch nie gedacht. Er wusch seine Schuhe nie. Was, wenn Neen seine Füße roch? Er schämte sich schon jetzt. Er würde seine Schuhe bei der nächstbesten Gelegenheit ebenfalls waschen.

Joias Freundinnen flüsterten und kicherten miteinander, wie Mädchen es aus unerklärlichen Gründen manchmal taten. Joia schaute zu ihnen, seufzte verärgert und sagte laut: »Ich nehme an, du suchst nach meiner Schwester. Neen.«

»Natürlich.«

Der Gesichtsausdruck der Freundinnen sagte: So ist das also.

Seft fuhr fort: »Euer Haus ist leer. Weißt du, wo Neen ist?«

»Sie hilft bei den Vorbereitungen für das Fest. Soll ich dir den Weg zeigen?«

Es ist sehr nett von ihr, mir Hilfe anzubieten und ihre Freundinnen zurückzulassen, dachte Seft. »Ja, bitte«, sagte er.

Mit den nassen Schuhen in der Hand verabschiedete Joia sich von ihren Freundinnen. »Das Fest bereiten Chack, Melly und ihre ganze Familie vor: Söhne, Töchter, Cousins und Cousinen und was weiß ich, wer noch«, erklärte sie gut gelaunt. »Ihre Familie ist groß, und das ist auch gut so, denn es wird auch ein großes Fest. In der Mitte des Dorfes gibt es einen Platz, und da wird alles aufgebaut.«

Während sie Seite an Seite zum Dorf zurückgingen, kam Seft der Gedanke, dass Joia ihm vielleicht verraten könnte, was Neen von ihm hielt. »Darf ich dich was fragen?«, sagte er.

»Natürlich.«

Seft blieb stehen, und Joia tat es ihm nach. Verlegen senkte Seft die Stimme. »Sei ehrlich … Glaubst du, Neen mag mich?«

Joia hatte liebreizende haselnussbraune Augen, und mit diesen schaute sie Seft nun schelmisch an. »Ich denke schon. Allerdings weiß ich nicht, wie sehr.«

Das war eine äußerst unbefriedigende Antwort. »Spricht sie von mir? Wenigstens manchmal?«

Joia nickte nachdenklich. »Oh, ich glaube, sie hat dich dann und wann erwähnt.«

Joia achtete sorgfältig darauf, nicht zu viel zu verraten, erkannte Seft frustriert. Trotzdem hakte er nach: »Ich möchte sie gern besser kennenlernen. Ich finde sie … Ach, ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll … liebenswert.«

»Das solltest du ihr sagen, nicht mir.« Joia lächelte, um den Tadel zu entschärfen.

Seft versuchte es weiter. »Wird sie sich denn freuen, wenn sie es hört?«

»Ich glaube, sie wird sich freuen, dich zu sehen, aber mehr kann ich nicht sagen. Neen wird für sich selbst sprechen.«

Seft war zwei Mittsommer älter als Joia. Trotzdem konnte er sie nicht dazu bewegen, sich ihm anzuvertrauen. Sie war wirklich stark, erkannte er. Hilflos sagte er: »Ich weiß einfach nicht, ob Neen genauso empfindet wie ich.«

»Frag sie, dann findest du es schon raus«, erwiderte Joia, und Seft hörte einen Hauch von Ungeduld in ihrer Stimme. »Was hast du schon zu verlieren?«

»Eine Frage noch«, sagte Seft. »Gibt es einen anderen, der ihr gefällt?«

»Nun …«

»Also ja.«

»Er mag sie. So viel steht fest. Aber ob sie auch ihn mag … Ich weiß es nicht.« Joia hob die Nase in die Luft und schnupperte. »Riechst du das?«

»Ja. Da brät jemand Fleisch.« Seft lief das Wasser im Mund zusammen.

»Folg einfach deiner Nase. Dann findest du auch Neen.«

»Danke für den freundlichen Rat.«

»Viel Glück.« Joia drehte sich um und ging zurück zu ihren Freundinnen.

Seft lief weiter. Die beiden Schwestern unterschieden sich stark voneinander. Joia war brüsk und sogar ein wenig herrisch, Neen hingegen weise und freundlich. Beide sahen gleich gut aus, doch Seft mochte Neen.

Der Duft des Fleisches wurde intensiver, und Seft erreichte ein freies Feld, wo mehrere Ochsen auf Spießen gebraten wurden. Das Fest würde erst morgen Abend stattfinden, aber Seft nahm an, dass es sehr lang dauerte, etwas so Großes zu braten. Höchstwahrscheinlich würde man die kleineren Tiere, die Schafe und Schweine, erst morgen zubereiten.

Gut zwanzig Männer, Frauen und Kinder liefen hier herum, kümmerten sich um die Feuer und drehten die Spieße. Beinahe sofort entdeckte Seft Neen. Sie saß mit verschränkten Beinen auf dem Boden, den Kopf gesenkt, und war mit irgendetwas beschäftigt.

Sie sah anders aus als in Sefts Erinnerung – und sogar noch schöner. Neens Haut war von der Sommersonne gebräunt, und in ihrem dunklen Haar waren nun hellere Strähnen zu sehen. Sie war ganz in ihre Arbeit vertieft und hatte die Stirn in Falten gelegt.

Mit einem Schaber aus Feuerstein säuberte Neen die Innenseite einer Tierhaut, die ohne Zweifel von einem der Tiere stammte, die sich über dem Feuer drehten. Seft erinnerte sich daran, dass Neens Mutter Gerberin war. Die Art, wie Neen ganz in ihrer Aufgabe versank, berührte ihn und brachte ihn fast zum Weinen.

Er würde sie trotzdem unterbrechen.

Seft überquerte den Platz, und seine Anspannung wuchs mit jedem Schritt. Warum mache ich mir eigentlich solche Sorgen?, fragte er sich. Ich sollte eigentlich glücklich sein. Und ich bin glücklich – und ein wenig ängstlich.

Seft blieb vor Neen stehen und lächelte. Es dauerte ein wenig, bis sie den Blick von der Rinderhaut hob. Dann sah sie ihn, und auf ihrem Gesicht erschien ein derart breites und liebes Lächeln, dass Sefts Herz einen Schlag lang aussetzte.

»Du bist es«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte Seft glücklich. »Ich bin es.«

Neen legte den Schaber und die Haut beiseite und stand auf. »Ich werde später weitermachen«, verkündete sie. Sie nahm Sefts Arm, schob ein Schwein zur Seite und sagte: »Lass uns irgendwohin gehen, wo es ruhiger ist.«

Sie wandten sich nach Westen, weg vom Fluss. Der Boden stieg leicht an wie so oft in der Nähe von Flüssen. Seft wollte mit Neen reden, aber er wusste nicht, wie er anfangen sollte. Nach kurzem Nachdenken sagte er schließlich: »Ich freue mich wirklich sehr, dich wiederzusehen.«

Neen lächelte. »Ich empfinde das Gleiche.«

Das ist ein guter Anfang, dachte er.

Sie erreichten ein seltsames Gebilde, das aus konzentrischen Kreisen aus Baumstämmen bestand. Offensichtlich handelte es sich um einen heiligen Ort. Sie gingen um den Kreis herum. »Die Menschen kommen hierher, um in Ruhe nachzudenken«, erklärte Neen. »Oder um zu reden, so wie wir. Und hier treffen sich die Ältesten.«

»Ich erinnere mich. Du hast erzählt, dass deine Mutter eine der Ältesten ist.«

»Ja. Sie ist eine gute Streitschlichterin. Sie kann die Menschen beruhigen und durchdenkt die Dinge.«

»Meine Mutter war genauso. Sie konnte selbst meinen Vater zur Vernunft bringen – wenigstens manchmal.«

»Du hast erzählt, sie ist gestorben, als du zehn Mittsommer alt warst.«

»Ja. Sie hat spät in ihrem Leben noch ein Kind bekommen, doch sie und das Baby sind bei der Geburt gestorben.«

»Du vermisst sie sicherlich.«

»Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr. Vor ihrem Tod hatte mein Vater nichts mit uns drei Jungen zu tun. Vielleicht hatte er Angst, ein Baby auf den Arm zu nehmen, oder so was. Jedenfalls hat er uns nie berührt oder auch nur mit uns gesprochen. Als meine Mutter gestorben ist, musste er sich plötzlich um uns kümmern. Ich glaube, er hat es gehasst, seine Kinder am Hals zu haben, und er hat uns gehasst, weil wir ihn dazu gezwungen haben.«

»Das ist ja furchtbar«, sagte Neen leise.

»Er berührt uns noch immer nicht. Es sei denn, er will uns bestrafen.«

»Er schlägt dich?«

»Ja. Und meine Brüder auch.«

»Hatte deine Mutter keine Verwandten, die dich hätten beschützen können?«

Das war ein großer Teil des Problems, wie Seft wusste. Die Eltern, Geschwister, Cousins und Cousinen einer Frau sollten sich im Falle ihres Todes eigentlich um die hinterbliebenen Kinder kümmern, doch seine Mutter hatte keine lebenden Verwandten mehr gehabt. »Nein«, antwortete er deshalb. »Meine Mutter hatte keine Familie mehr.«

»Warum verlässt du deinen Vater nicht einfach?«

»Das werde ich. Eines Tages. Bald. Aber erst muss ich mir überlegen, wie ich allein für mich sorgen kann. Eine Grube zu graben, dauert, und zwar lange. Ich würde verhungern, bevor ich auch nur einen Feuerstein hätte, den ich eintauschen könnte.«

»Und warum sammelst du nicht einfach Feuersteine in den Bächen und auf den Feldern?«

»Das ist eine andere Art von Feuerstein. Diese Knollen sind voller versteckter Makel, die den Stein brechen lassen, manchmal schon beim Formen, spätestens aber, wenn man sie als Werkzeug benutzt. Wir graben in Adern nach Feuerstein. Der bricht nicht, und aus ihm kann man große Axtköpfe herstellen, mit denen man sogar Bäume fällen kann.«

»Und wie macht ihr das? Hebt ihr einfach eine Grube aus?«

Seft setzte sich, und Neen tat es ihm nach. Er klopfte auf das Gras neben sich. »Die Erde reicht hier nicht sehr tief. Wenn wir graben, stoßen wir schon bald auf einen weißen Fels, den man Kreide nennt. Diese Kreide brechen wir mit Spitzhacken auf, die aus dem Geweih der Rothirsche gemacht sind.«

»Das klingt nach harter Arbeit.«

»Alles, was mit Feuerstein zu tun hat, ist harte Arbeit. Wir schmieren uns Lehm auf die Hände, damit wir keine Blasen bekommen. Dann graben wir uns durch die Kreide, was Wochen dauern kann. Manchmal stoßen wir dann auf eine Feuersteinader.«

»Und manchmal auch nicht?«

»Das kann vorkommen.«

»Dann habt ihr ja ganz umsonst gearbeitet.«

»Und wir müssen anderswo von vorn beginnen und eine neue Grube ausheben.«

»Ich habe nie darüber nachgedacht, was man alles machen muss, um an Feuerstein zu kommen.«

Seft hätte ihr noch mehr dazu erzählen können, aber er wollte nicht darüber reden. »Wie war denn dein Vater so?«, fragte er stattdessen. Neen hatte ihm bereits erzählt, dass ihr Vater gestorben war.

»Er war ein ganz lieber Mann, gut aussehend, freundlich zu jedermann und klug. Aber er war kein vorsichtiger Mensch, und so hat eine verrückte Kuh ihn totgetrampelt.«

»Sind Kühe gefährlich?«, fragte Seft. Er verriet Neen nicht, dass er Angst vor Kühen hatte.

»Sie können gefährlich sein, vor allem wenn sie Kälber haben. Dann ist es besser, vorsichtig zu sein. Aber mein Vater war nie vorsichtig.«

Seft wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.

»Es hat mir das Herz gebrochen«, fuhr Neen fort. »Ich habe eine ganze Woche lang nur geweint.«

»Wie traurig«, versuchte es Seft.

Neen nickte, und Seft hatte das Gefühl, das Richtige gesagt zu haben.

»Ich bin immer noch traurig«, sagte Neen. »Auch nach all den Jahren.«

»Was ist mit dem Rest deiner Familie?«

»Du solltest sie kennenlernen«, antwortete Neen. »Möchtest du mit mir nach Hause kommen?«

»Gern.«

Sie verließen den heiligen Ort und gingen durch das Dorf zurück. Seft hatte die Einladung nur allzu gern angenommen, denn sie war ein Zeichen dafür, dass Neen ihn wirklich mochte; doch jetzt sorgte er sich, welchen Eindruck er auf ihre Familie machen würde. Schließlich waren sie feine Dorfbewohner, die sogar ihre Schuhe wuschen! Seft hingegen lebte ein raues Leben mit wenig Kontakt zu irgendjemandem. Seine Familie blieb nie lang an einem Ort. Sie bauten einfach ein Haus neben der Grube, in der sie gerade arbeiteten, und zogen weiter, wenn die Ader erschöpft war. Gleich würde er mit Neens Mutter reden müssen, einer respektierten Ältesten des Hirtenvolks. Und sie würde ihn, einen möglichen Vater für ihre Enkelkinder, aufmerksam beobachten und abschätzen. Was sollte er ihr nur sagen?

Vor dem Haus von Neens Familie stand in der Glut eines Feuers ein dampfender Topf, und es roch nach Fleisch und Kräutern. Die Frau, die in dem Topf rührte, war eine ältere Version von Neen. Sie hatte Falten um die Augen und silberne Strähnen in ihrem schwarzen Haar. Als Seft näher kam, schenkte sie ihm das gleiche einladende Lächeln wie Neen, nur dass sich in ihrem Gesicht dabei mehr Falten bildeten.

»Mutter«, sagte Neen. »Das ist Seft, mein Freund. Er ist Feuersteinhauer.«

»Möge der Sonnengott auf dich herablächeln«, grüßte Seft.

»Und auf dich«, erwiderte die Frau. »Mein Name ist Ani.«

»Und das ist mein kleiner Bruder, Han«, sagte Neen.

Seft sah einen blonden Jungen von acht oder neun Mittsommern, der neben einem schlafenden Hundewelpen auf dem Boden saß. »Möge er auch auf dich herablächeln«, sagte Seft.

»Und auf dich«, antwortete Han höflich.

Es gab noch zwei weitere Kinder. Bei Han saß ein kleines Mädchen und streichelte den Welpen. »Das ist Pia, Hans Freundin«, erklärte Neen.

Seft wusste nicht, was er zu dem Mädchen sagen sollte, doch noch während er darüber nachdachte, ergriff sie das Wort. Wie sich herausstellte, war sie im Umgang mit Fremden deutlich erfahrener, als ihr Alter vermuten ließ. »Meine Familie gehört zum Bauernvolk«, sagte sie. »Ich lebe in Farmplace. Ich bin für den Ritus hier.« Sie hielt kurz inne und fügte dann selbstbewusst hinzu: »Mein Vater lässt mich nicht mit den Hirtenkindern spielen, aber er ist heute nicht hier.« Sie war kleiner als Han, ihr Freund, aber ihr Selbstbewusstsein ließ sie älter wirken. »Ich kümmere mich um Stam, meinen Cousin. Er ist fast vier.«

Stam, der ebenfalls auf dem Boden saß, schaute nur mürrisch drein und schwieg.

»Warum ist dein Vater dieses Jahr nicht zum Ritus gekommen, Pia?« fragte Ani interessiert. »Er ist doch sonst immer hier.«

»Er musste zu Hause bleiben. Das mussten alle Männer.«

Ani legte die Stirn in Falten. »Ich frage mich, warum.«

Offenkundig sah sie eine Bedeutung darin, die Seft nicht nachvollziehen konnte.

Han holte ihn aus seinen Gedanken. Der Junge schaute ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Staunen an und fragte: »Kann jeder Steinhauer werden?«

»Eher nicht«, antwortete Seft. »Normalerweise machen das Familien. Die Eltern bringen es ihren Söhnen bei. Es gibt viel zu lernen.«

Han wirkte niedergeschlagen. »Das heißt also, dass ich Hirte werden muss.«

Der Gedanke gefiel Han offensichtlich nicht. Er wollte weg von hier und den Rest der Welt sehen, vermutete Seft. Wenn der Junge älter wurde, würde sich das vermutlich ändern.

»Wie heißt eigentlich dein Hund?«, fragte Seft.

»Er hat noch keinen Namen.«

»Ich denke, er sollte Pretty heißen, weil er so hübsch ist«, sagte Pia.

»Ein schöner Name«, bemerkte Seft.

Ohne aufzuwachen, furzte der Welpe laut. Han lachte laut, und Pia kicherte.

»Er mag den Namen Pretty nicht«, sagte Ani und lächelte. »Setz dich, Seft. Mach es dir bequem.«

Seft und Neen setzten sich auf den Boden. Seft hatte den Eindruck, dass es ganz gut lief. Er hatte mit Neens Mutter und ihrem kleinen Bruder geplaudert, ohne sich in Verlegenheit zu bringen. Er hatte das Gefühl, dass er der Familie gefiel, und er mochte sie ebenfalls.

Dann kam Joia, Neens jüngere Schwester. Sie trug die Schuhe in der Hand. »Ah! Du hast Neen also gefunden«, sagte sie zu Seft und stellte die Schuhe neben das Feuer, damit sie trocknen konnten.

»Ja. Dank deiner Hilfe.«

»Bist du eigentlich gern Steinhauer?«

Das war eine direkte Frage, und Seft beschloss, genauso direkt zu antworten. »Nein. Und ich arbeite auch nicht gern mit meinem Vater zusammen. Ich werde gehen, sobald ich weiß, wie ich allein überleben kann.«

»Das ist interessant, Seft«, sagte Ani. »Was willst du tun, wenn du kein Steinhauer mehr bist?«

»Das ist das Problem. Ich weiß es nicht. Ich bin ein guter Zimmermann. Ich könnte also Schaufeln, Hämmer oder Bögen bauen. Glaubst du, die kann man gegen Essen tauschen?«

»Mit Sicherheit«, antwortete Ani, »besonders, wenn sie besser sind als das, was die Leute selbst herstellen können.«

»Oh, das wären sie«, erklärte Seft.

»Du klingst selbstsicher«, bemerkte Joia.

Sie war eine herausfordernde Person, fiel Seft auf, aber sie konnte auch sehr freundlich sein. Viele Menschen waren beides. Nachdenklich erwiderte er: »Ist es nicht wichtig zu wissen, was man gut kann und was nicht?«

»Was kannst du denn nicht so gut, Seft?«, erwiderte Joia schelmisch.

»Das ist unfair, Joia!«, protestierte Neen.

»Ich bin nicht gut darin, mit anderen zu reden«, gab Seft zu. »In der Grube reden wir kaum drei Wörter am Tag.«

»Dafür sprichst du ziemlich gut«, bemerkte Neen. »Achte nicht auf meine kleine Schwester. Sie ist einfach nur gemein.«

»Das Essen ist fertig«, verkündete Ani und verhinderte so einen Streit zwischen den Schwestern. »Joia, hol ein paar Schüsseln und Löffel.«

Während sie aßen, versank die Sonne am Horizont. Die Luft war angenehm mild, und der Himmel nahm die hellgraue Farbe der Dämmerung an. Es versprach eine warme Nacht zu werden.

Das Essen war köstlich. Das Fleisch war zusammen mit Wildpflanzen gekocht worden, und Seft schmeckte Gänsefingerkraut, Kletten und Kümmel. Sie waren weich und hatten den Geschmack des Rindfleischs aufgenommen.

Seft dachte darüber nach, wie sehr diese Familie sich von seiner unterschied. Hier waren alle nett zueinander. Es gab keinerlei Feindseligkeit. Joia war zwar ein wenig streitlustig, aber das war nichts Ernstes. Seft war sicher, dass hier nie jemand den anderen schlug.

Seft fragte sich, was wohl passieren würde, wenn es Nacht wurde. Würde er zu seinem Vater und seinen Brüdern zurückkehren müssen? Oder würde man ihm gestatten, hier zu schlafen? Vielleicht sogar neben Neen? In jedem Fall hoffte er, die Nacht mit Neen verbringen zu können.

Als sie mit dem Essen fertig waren, bat Ani Neen, die Schüsseln und Löffel zum Fluss zu bringen und dort auszuwaschen. Selbstverständlich begleitete Seft sie. Während sie die Schüsseln ins Wasser tauchte, sagte Neen: »Ich glaube, Pretty wäre wirklich ein guter Name für den Welpen.«

»Ich hatte nie einen Hund«, sagte Seft. »Aber als Kind habe ich mir immer einen gewünscht. Ich wollte ihn Donner nennen.«

Neen kicherte. »Unser Welpe ist viel zu niedlich, um Donner zu heißen.«

»Han könnte behaupten, so wie er furzt, passt es.«

Neen lachte. »Ja, das wäre perfekt! Wie alle Jungen in seinem Alter findet er Fürze toll.«

»Ich weiß. Ich war auch schon mal in dem Alter, und ich erinnere mich noch gut daran.«

Auf dem Weg zurück hörte Seft hinter sich die Stimme eines Mannes. »Hallo, Neen«, sagte der Mann. Sein Tonfall war warmherzig. Seft drehte sich um und sah einen großen Mann von ungefähr zwanzig Mittsommern.

Neen wandte sich ebenfalls um und lächelte, und Seft fühlte sich verpflichtet, stehen zu bleiben. »Hallo, Enwood. Seid ihr für den Ritus bereit?«

»Ja. Ich werde nach dir Ausschau halten.«

Das ärgerte Seft. Wer war dieser Enwood, der nach Neen »Ausschau halten« wollte?

»Ich will möglichst früh dort sein, um gut sehen zu können«, fuhr Enwood fort. »Das solltest du auch tun.«

Enwood wollte also ein Stelldichein. »Wenn ich rechtzeitig aufwache«, erwiderte Neen. Das war weder Zustimmung noch eine Weigerung. Trotzdem missfiel Seft der vertraute Unterton in beiden Stimmen.

Für einen Moment sagte keiner etwas. Dann sagte Neen: »Seft hilft mir beim Spülen.«

Enwood schaute Seft kühl an. »Wie nett«, sagte er. »Dann bis morgen.« Er stapfte davon.

Die Begegnung beunruhigte Seft. »Wer war das?«, fragte er, als sie weitergingen.

»Oh … nur ein Freund.«

Seft vermutete, dass Enwood der Mann war, von dem Joia gesprochen hatte. Er mag sie. So viel steht fest. Aber ob sie ihn auch mag … Ich weiß es nicht. »Er sieht ziemlich gut aus«, bemerkte er.

»Nicht so gut wie du.«

Das überraschte Seft. Er betrachtete sich nicht als gut aussehend, aber er konnte es auch nicht wirklich einschätzen. Eigentlich kümmerte er sich kaum um sein Erscheinungsbild. Er konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, wann er zum letzten Mal sein Spiegelbild in einem Teich betrachtet hatte.

Inzwischen war es dunkel geworden, und die Sterne waren zu sehen. Seft hatte das Gefühl, dass Enwood die vertraute Stimmung zwischen ihm und Neen zerstört hatte. »Und? Was sollen wir jetzt tun?«, fragte er in härterem Ton, als er beabsichtigt hatte.

Neen schien das nicht aufzufallen. »Was würdest du denn gern tun?«

Ohne zu zögern, antwortete Seft: »Es ist nicht kalt. Ich würde mit dir gern unter den Sternen sitzen. Nur wir zwei. Wäre das für dich in Ordnung?«

»Ja«, sagte Neen.

Seft lächelte. Alles ist wieder gut, dachte er.

Sie erreichten das Haus. Han war hineingegangen und band den kleinen Hund für die Nacht an einen Pfosten. Pia und Stam waren wieder zu ihren eigenen Familien zurückgekehrt. Joia schlief bereits, und Ani zog sich gerade die Schuhe aus.

Neen sagte zu ihrer Mutter: »Wir werden heute Nacht draußen schlafen.«

»Dann hoffe ich, es wird nicht kalt«, erwiderte Ani.

»Wir werden schon zurechtkommen.«

Neen nahm Sefts Arm, und gemeinsam gingen sie los.

»Wohin sollen wir gehen?«, fragte er.

»Ich kenne da einen Ort.«

Sie liefen zum Fluss und an dessen Ufer entlang, bis sie die Häuser hinter sich gelassen hatten. Schließlich erreichten sie eine kleine Lichtung, die von dicht belaubten Bäumen umgeben war.

»Und?«, fragte Neen. »Gefällt es dir?«

»Es ist wunderbar.«

Sie setzten sich in die Nähe eines Busches.

»Dein Leben ist einfach perfekt«, sagte Seft. »Deine Familie liebt dich, und ihr habt jede Menge Essen. Das Hirtenvolk hat so viel Vieh, dass man es kaum zählen kann. Ihr lebt wie die Götter.«

»Da hast du recht«, erwiderte Neen. »Der Sonnengott lächelt auf uns herab.« Sie legte sich zurück.

Das schien eine Einladung zu sein. Seft beugte sich über sie und küsste sie.

Er hatte noch nicht oft geküsst. Deshalb wusste er nicht, was von ihm erwartet wurde, doch Neen übernahm die Führung. Sie nahm seinen Kopf in die Hände und küsste ihn auf Mund, Wange und Hals. Gleichzeitig streichelte sie sein Haar. Es war das Schönste, das Seft je widerfahren war.

Alles in ihm drängte danach, Neens Körper zu berühren, und so legte er ihr die Hand aufs Knie und ließ sie langsam ihr Bein hinaufgleiten.

Er hatte schon nackte Frauen gesehen, meist wenn diese im Fluss gebadet hatten. Die Frauen kümmerte es nicht, wenn sie gesehen wurden; es galt lediglich als unanständig, sie anzustarren. Dadurch hatte Seft eine recht gute Vorstellung davon, wie sie ohne Kleider aussahen. Eine nackte Frau berührt hatte er aber noch nie. Jetzt tat er es zum ersten Mal.

»Sanft«, ermahnte ihn Neen. »Streichele sanft!«

Sie küsste ihn, während er sie berührte, und nach einer Weile fiel ihm auf, dass Neen keuchte. Dann sagte sie: »Ich kann nicht länger warten.«

Sie drehte Seft auf den Rücken, schob sein Hemd hoch und hockte sich breitbeinig auf ihn. Als sie sich auf ihm niederließ, sagte er: »Oh! Das ist einfach wunderbar!«

»Das ist es, aber nur mit der richtigen Person«, erwiderte Neen. Danach brachten beide keinen zusammenhängenden Satz mehr heraus.

***

Als Seft aufwachte, war es noch dunkel. Kein Vogelgesang war zu hören – dafür war es noch zu früh –, wohl aber das Plätschern des nahe gelegenen Flusses. Er spürte Neen an seiner Seite. Sie hatte ihren weichen, warmen Leib gegen seinen gepresst und ein Bein und einen Arm über ihn gelegt. Seft fror ein wenig, doch das kümmerte ihn nicht. Er drückte Neen fest an sich.

Neen rührte sich und öffnete die Augen. Sie schaute Seft an und streichelte seine Wange. »Meine Schwester sagt, du siehst wie die Mondgöttin aus«, flüsterte sie.

Seft lächelte. »Wie sieht die Mondgöttin denn aus?«

»Bleich und wunderschön und mit einem Mund wie für die Liebe geschaffen.« Neen küsste ihn.

»Ich nehme an, wir sind jetzt ein Paar«, sagte Seft.

Neen setzte sich auf. »Was meinst du damit?«

»Dass wir zusammenleben und Kinder bekommen werden.«

»Jetzt warte aber mal!«, erwiderte Neen mit einem kleinen Lachen.

Seft runzelte verwirrt die Stirn. »Aber nach letzter Nacht –«

»Die letzte Nacht war wunderbar, und ich mag dich wirklich sehr«, fiel Neen ihm ins Wort. »Und ich möchte es heute Nacht auch wieder tun, aber lass uns nichts übereilen.«

Das verstand Seft nicht. »Aber du könntest ein Kind bekommen!«

»Eher nicht. Nicht nach nur einer Nacht. Außerdem liegt das ohnehin in der Hand der Mondgöttin, die über das Schicksal von uns Frauen bestimmt. Wenn sie will, dass wir Kinder haben, ist es eben so.«

»Aber …« Er war verwirrt. »Hat es etwas mit Enwood zu tun?«

Neen stand auf. »Hörst du auch, was ich höre?«

Seft erhob sich ebenfalls und lauschte. Er hörte in der Ferne das Geräusch einer Menschenmenge, Schritte und Stimmen.

»Sie stehen alle auf und ziehen zum Monument«, sagte Neen.

Auch jetzt verstand Seft nicht, was das bedeutete, aber er wusste ebenso wenig, was er fragen sollte, damit Neen dieses Rätsel für ihn auflöste. So folgte er ihr einfach zum Fluss, wo sie ein wenig Wasser tranken und sich rasch wuschen. Dann kehrten sie ins Dorf zurück und schlossen sich den Menschen an, die nach Westen gingen. Alle plauderten aufgeregt miteinander und freuten sich offenbar auf das große Ereignis.

Neens Haus war leer. Ihre Familie war bereits aufgebrochen. Sie ging hinein und kam kurz darauf mit zwei Stücken kaltem, getrocknetem Hammelfleisch wieder heraus. Eines davon gab sie Seft.

Während sie weitergingen und auf ihrem Hammelfleisch kauten, tröstete sich Seft mit dem Gedanken, dass sie auch die nächste Nacht miteinander verbringen würden. Das hieß, dass Neen es mit ihm ernst meinte. Vielleicht würden sie auch noch einmal darüber sprechen, ob sie ein Paar würden, und womöglich würde er dann verstehen, wie sie dachte.

Außerhalb des Dorfes folgten alle dem Weg nach Südwesten. Das Vieh wich widerwillig zur Seite, als die Menschenmenge den Pfad verließ, weil dort nicht genug Platz für alle war. Nun redeten die Leute nur noch leise miteinander und gingen vorsichtig, als hätten sie Angst, einen schlafenden Gott zu wecken. Trotzdem hörten sie sich an wie ein Fluss, der über Felsen rauscht.

Der Pfad führte direkt zum Eingang des Monuments. Im Inneren saßen Menschen auf dem Boden, das Gesicht zum Eingang gewandt, in die Richtung also, aus der sie gekommen waren, denn dort würde zu dieser Jahreszeit die Sonne aufgehen. Gleichzeitig trieb eine Priesterin die herumlaufenden Schweine hinaus.

Der Kreis füllte sich immer mehr. Seft und Neen entdeckten in der Menge weder Ani noch Joia oder Han. Neen schlug vor, auf die andere Seite zu gehen und sich dort auf den Erdwall zu setzen, von wo sie alles würden sehen können.

Der Kreis maß ungefähr hundert Schritt im Durchmesser. Direkt innerhalb des Erdwalls befand sich ein Ring aus aufrecht stehenden Steinen, alle mehr oder weniger in gleichem Abstand zueinander und ein wenig höher als ein großer Mann. Es waren mehr, als Seft zählen konnte. Ihre Oberfläche war weder geformt noch geglättet, und sie hatten eine bläuliche Farbe, weshalb man sie Blausteine nannte, wie Neen Seft erklärte.

In der Mitte gab es einen weiteren Kreis aus Holz, und der war vollkommen anders. Seft schaute genauer hin und erkannte einen Ring aus Baumstämmen, die noch einmal größer waren als die Blausteine. Die aufrecht stehenden Stämme waren oben durch Querbalken miteinander verbunden, alle in derselben Höhe und absolut gleichmäßig. Anders als die Blausteine war die Holzkonstruktion perfekt bearbeitet und glatt poliert. Der Zimmermann in Seft konnte diese Arbeit nur bewundern, doch er fragte sich, wie stabil die Konstruktion wohl war. Würde alles zusammenbrechen, sollte eine verrückte Kuh gegen einen dieser Stämme laufen? Aber vermutlich achtete man ohnehin darauf, keine Rinder an diesen heiligen Ort zu lassen.

Innerhalb dieses Rings sah Seft einen zweiten, kleineren Ring, ein Oval aus frei stehenden Paaren, jedes einzelne mit einem Querbalken verbunden, aber getrennt voneinander. Die waren ebenso gut gearbeitet wie die äußeren, aber noch größer.

Sofort hatte Seft das Gefühl, dass die Holzringe das Wichtigste waren. Im Vergleich zu ihnen wirkte der äußere Steinring geradezu willkürlich. Seft fragte sich, ob dieser wohl älter war, errichtet von einem Volk, das noch nicht so geschickt gewesen war.

Die Menge war überraschend still. Alle fühlten, wie heilig dieser Ort war. Auch Seft empfand eine gewisse Anspannung. Zwar war er schon einmal hier gewesen und hatte die Priesterinnen beim Frühlingsritus gesehen, aber die Feier heute war wichtiger und die Menge deutlich größer. Die Sommersonnenwende markierte das Ende des alten und den Beginn des neuen Jahres. Alle wurden an diesem Tag einen Mittsommer älter.

Die Menschen wussten, dass alles, was sie am Leben hielt, von der Sonne kam. Deshalb verehrten sie sie.

Die meisten, die gekommen waren, gehörten zum Hirtenvolk, das auch das größte Volk der Großen Ebene war. Außerdem gab es einige Bauern, die die fruchtbaren Felder in den Flusstälern bestellten. Sie waren an ihren Tätowierungen leicht zu erkennen. Die Frauen hatten für gewöhnlich Bänder am Handgelenk tätowiert, die Männer am Hals. Seft sah allerdings nicht viele Bauernmänner, und er musste an das Gespräch mit Ani und Pia gestern Abend denken. Das Fehlen der Bauernmänner schien Ani Sorgen bereitet zu haben.

Auch die Waldleute fehlten. Dafür aber kannte Seft den Grund: Sie befanden sich auf ihrer jährlichen Wanderung und folgten dem Damwild in die Hügel im Nordwesten, wo es frisches Sommergras gab.

Als es im Osten dämmerte, strömten immer noch Menschen herbei. Keine Wolke war zu sehen, als das silbrige Licht heller wurde und die Köpfe der Gläubigen zu segnen schien.

Schließlich kamen die Priesterinnen, etwa dreißig von ihnen. Sie trugen Lederkleider, die ihnen bis zu den Knöcheln reichten. Ihre Füße waren nackt, und jeweils zu zweit tanzten sie miteinander.

Eine von ihnen hatte auch eine Trommel dabei, ein ausgehöhltes Holzscheit, auf das sie mit einem Stock schlug und das ein überraschend lautes und klares Geräusch erzeugte.

Die Priesterinnen bewegten sich alle auf die gleiche Weise: Sie wiegten sich von einer Seite zur anderen wie hohes Gras im Wind. Seft war fasziniert. Er hatte Menschen noch nie so tanzen gesehen, vollkommen im Einklang miteinander wie ein Schwarm Fische.

Sie sangen, während sie tanzten. Eine Priesterin mit weißem Haar, möglicherweise die Hohepriesterin, sang eine Zeile, die wie eine Frage klang, und die anderen antworteten ihr im Chor. Immer wieder traten die Priesterinnen dabei in den äußeren Kreis und wieder heraus. Wie Flechtwerk wanden sie sich um die Pfosten. Sie schienen jeden Holzbogen einzeln anzusprechen, als hätte jeder eine andere Bedeutung. Seft hatte das Gefühl, sie zählten mit ihrem Gesang etwas, doch ihre Worte waren ihm unbekannt.

Der Tanz war nicht aufreizend – zumindest nicht sonderlich. Für Seft waren sich wiegende Frauen immer aufreizend, doch darum ging es bei diesem Tanz nicht.

Der äußere Ring aus Blausteinen, der sich direkt vor dem Erdwall befand, spielte bei ihrem Ritus keine Rolle. Er konzentrierte sich auf die beiden hölzernen Ringe, den Kreis und das unvollständige Oval darin. Die Priesterinnen bewegten sich noch eine Weile um den äußeren Ring, dann auf dieselbe Weise um den inneren, dessen fehlender Teil genau gegenüber dem Eingang lag und nach Nordosten ausgerichtet war. Genau dort endete der Tanz: in der Lücke.

Noch immer in Paaren sanken die Priesterinnen zu Boden. Als der obere Rand der Sonne am Horizont erschien, wurde ihr Gesang lauter. Seft saß beinahe in direkter Linie zum Sonnenaufgang und sah daher, dass die Sonnenscheibe exakt zwischen zwei Pfeilern des Rings aufstieg. Offenbar war das Monument genau für diesen Zweck konstruiert worden. Die Pfeiler und Querbalken bildeten einen Rahmen, und Seft erkannte voller Ehrfurcht, dass dies das Tor war, durch das der Sonnengott die Welt betrat.

Die Menschenmenge wurde immer stiller, und die Priesterinnen sangen immer lauter, während die rote Scheibe in den Himmel stieg. Natürlich ging die Sonne jeden Tag auf, doch hier und jetzt war es etwas Besonderes, und die Menge blickte in heiliger Trance auf sie.

Die Sonne war nun beinahe vollständig aufgegangen, doch der Gesang der Priesterinnen wurde noch immer lauter. Kurz schien das unterste Ende der Sonnenscheibe unter dem Horizont zu verweilen, als wollte die Scheibe nicht loslassen. Doch dann löste sie sich, und ein schmaler Streifen Licht erschien zwischen ihr und der Erde. Das Lied erreichte seinen Höhepunkt. Im nächsten Moment hörten Gesang und Trommeln plötzlich auf, und die Menge stieß einen triumphierenden Schrei aus, der so laut war, dass man ihn noch am Rand der Welt würde hören können.

Dann war alles vorbei. Die Priesterinnen schritten zu zweit durch die Lücke im Erdwall und verschwanden in ihren Häusern. Die Menschen standen nach und nach auf, streckten sich und plauderten munter miteinander, sobald die Anspannung sich löste.

Seft und Neen blieben im Gras sitzen. Er schaute zu ihr. »Ich fühle mich irgendwie … überwältigt«, sagte er.

Neen nickte. »Ja, es ist ergreifend, besonders beim ersten Mal.«

Seft schaute zu den Menschen, die sich am Ausgang drängten. »Ich sollte lieber zurück zu meiner Familie … Ich werde dich doch wiedersehen, oder?«

Neen lächelte. »Ich hoffe es.«

»Wo sollen wir uns treffen?«

»Würdest du gern mit meiner Familie zu Abend essen?«

»Noch einmal? Bist du sicher, dass das deiner Mutter nichts ausmacht?«

»Ja, natürlich. Wir Hirten teilen gern. So machen die Mahlzeiten mehr Spaß.«

»Dann nehme ich die Einladung gern an. Das Essen gestern Abend war wunderbar. Ich meine, das Essen war köstlich, aber vor allem hat mir gefallen …« Seft zögerte. Er wusste nicht recht, wie er ausdrücken sollte, was er empfand. »Es war sehr schön zu sehen, dass ihr einander liebt.«

»Das ist doch normal in einer Familie.«

Seft schüttelte den Kopf. »Nicht in jeder.«

»Das tut mir leid. Flieh heute Abend einfach noch einmal zu uns.«

»Ich danke dir.«

Sie standen auf. Widerwillig sagte Seft: »Ich muss los.«

»Dann geh.«

Seft drehte sich um und machte sich auf den Weg.

Er wusste nicht, ob er sich freuen sollte oder nicht. Er hatte mit dem Mädchen, das er vergötterte, gelegen, und es war wunderschön gewesen, doch dann hatte sie ihm gesagt, sie wisse noch nicht, ob sie ihr Leben mit ihm verbringen wolle oder nicht. Schlimmer noch: Er schien einen Rivalen zu haben, einen großen, selbstbewussten Mann namens Enwood, der im Gegensatz zu ihm auch noch älter war als Neen.

Morgen würde Seft den Ort mit seiner Familie verlassen müssen, und er würde Neen erst während des Halben Wegs im Herbst wiedersehen. Damit blieb Enwood ein Vierteljahr, um sie zu umwerben, ohne dass ihm jemand in die Quere kam.

Heute Nacht aber würde sie mit Seft zusammen sein, nicht mit Enwood. Seft hatte also noch eine Gelegenheit, es in etwas Festes zu verwandeln.

Vor dem Monument handelten die Menschen bereits miteinander. Sie boten ihre Waren feil und fragten nach dem, was sie dafür haben wollten. Sie stritten über den verhältnismäßigen Wert von Feuersteinäxten, Feuersteinmessern, Steinhämmern, Töpfen, Fellen, Seilen, Bullen, Böcken, Bögen und Pfeilen.

Seft fand seine Familie. Er erwartete, dass Olf und Cam sich über ihn lustig machen würden, weil er die ganze Nacht weggeblieben war. Sicher würden sie ihn mit obszönen Bemerkungen überschütten und seine Liebesbeziehung in den Schmutz ziehen. Aber sie saßen einfach nur nebeneinander auf dem Boden und schauten ihn an, als würden sie auf etwas warten.

Das war unheimlich.

Sein Vater hatte Seft den Rücken zugekehrt. Er sprach mit Ev und Fee, den Seilmachern, und Seft wartete, bis sie fertig waren.

Wenig später drehte Cog sich um. »Wo warst du gestern Nacht?«

»Die Arbeit war doch schon erledigt, als ich gegangen bin, oder?«, erwiderte Seft.

»Das stimmt, aber ich hätte dich vielleicht noch gebraucht.«

»Dann ist es ja gut, dass dem nicht so war.«

»Sei’s drum. Ich will die Grube nicht allzu lang unbeaufsichtigt lassen. Ich traue diesem Wun nicht.«

Seft hatte das Gefühl, dass ihn schlechte Neuigkeiten erwarteten. »Was, glaubst du denn, könnte Wun tun?«, fragte er. »Er ist doch auch hier.«

»Er hat eine große Familie, und vermutlich hat er ein paar von ihnen zurückgelassen.«

»Und was sollen die tun? Unsere Schaufeln stehlen?«

»Lass die Witze, sonst reiße ich dir deinen dämlichen Kopf ab.«

Cam lachte laut, als wäre es das Lustigste, was er je gehört hatte.

»Ich frage mich nur, wo die Gefahr sein soll«, bemerkte Seft.

»Die Gefahr ist, dass Wuns Leute drei Tage lang Feuerstein in einer Grube abbauen können, die sie nicht selbst gegraben haben. Das haben wir schließlich schon getan.« Cog richtete den Finger auf Seft. »Daran hast du wohl nicht gedacht, du Klugscheißer.«

»Das stimmt.« Seft hielt Cogs Befürchtung zwar für eher unwahrscheinlich, aber es war sinnlos, mit seinem Vater zu diskutieren.

Triumphierend sagte Cog: »Genau deshalb wirst du zur Grube zurückkehren und sie bewachen.«

»Wann?«

»Heute. Jetzt. Und wenn du schon einmal da bist, kannst du auch aufräumen, bis ich zurück bin. Der Boden ist vollkommen verdreckt.«

Seft wich einen Schritt zurück, hielt kurz inne und sagte dann: »Nein.«

»Wage es ja nicht, mir zu widersprechen, Junge!«

»Ich habe ein Mädchen kennengelernt …«

Cam und Olf grölten.

»Heute Abend werde ich zu ihrem Haus gehen, wo ihre Mutter uns Abendessen machen wird. Das werde ich nicht verpassen.«

»Oh doch. Das wirst du.«

»Schick Olf. Er hat hier kein Mädchen und auch sonst nirgendwo. Er wäre mit Sicherheit besser darin, Wuns Leute aus der Grube zu werfen, als ich.«

»Ich schicke aber dich.«

»Warum?«

»Weil ich das Oberhaupt dieser Familie bin. Ich treffe hier die Entscheidungen.«

»Und du weigerst dich offenbar auch dann, deine Entscheidungen noch einmal zu überdenken, wenn sie dämlich sind.«

Sein Vater schlug ihn mitten ins Gesicht.

Cogs Fäuste waren hart, und seine Schläge taten weh. Seft taumelte zurück und hob die Hand vors Gesicht. Der Schlag hatte ihn direkt neben dem linken Auge getroffen. Seine Sicht verschwamm.

Olf und Cam johlten und klatschten.

Seft war schockiert. Auch wenn es schon öfter passiert war, erstaunte es ihn immer wieder, wie grausam sein Vater sein konnte.

Cog hob erneut die Faust, doch diesmal war Seft auf den Schlag vorbereitet und konnte ausweichen. Sein Vater war also doch nicht allmächtig. Das verlieh ihm Mut. Seft schlug wild zurück, und es gelang ihm, Cogs Nase zu treffen.

Es war das erste Mal, dass er seinen Vater geschlagen hatte.

Blut spritzte aus Cogs Nase. Entrüstet brüllte er: »Wie kannst du es wagen, mich zu schlagen, Junge?« Im selben Moment stürzte er sich auf seinen Sohn. Diesmal konnte Seft dem Schlag nicht ausweichen. Er traf ihn an der Schläfe und warf ihn zu Boden.

Kurz war Seft benommen. Als er wieder zu sich kam, sah er, dass er neben einem kleinen Haufen Feuersteine lag. Auch war er sich vage bewusst, dass sich bereits einige Neugierige um sie versammelt hatten.

Seft rappelte sich auf und schnappte sich einen Stein, um sich zu wehren.

»Du willst mich mit einem Stein schlagen, du ungehorsamer Hund?«, knurrte Cog und griff ein weiteres Mal an.

Seft hob die rechte Hand, in der er den Feuerstein hielt.

Der Schlag wurde aufgehalten, bevor er treffen konnte. Eine kräftige Hand griff Sefts Handgelenk, und er ließ den Stein fallen. Seine Hand wurde wieder losgelassen, doch stattdessen wurden seine Arme gepackt, sodass er sich nicht mehr bewegen konnte. Da erkannte er, dass Olf derjenige war, der ihn gepackt hatte. Seft versuchte, sich zu befreien. Ohne Erfolg. Olf war viel zu groß und stark.

Während Seft sich hilflos wand, schlug Cog ihm erneut die Faust ins Gesicht, dann in den Magen und schließlich wieder ins Gesicht. Seft schrie und flehte seinen Vater an aufzuhören. Cog schob sein Gesicht dicht vor seinen Sohn, und Seft sah ein dreckiges Grinsen, das verriet, wie viel Spaß Cog an der Barbarei hatte. »Und?«, zischte er. »Wirst du jetzt zur Grube gehen?«

»Ja, ja, ja. Ich tue alles, was du willst!«

Olf ließ Seft los, und er brach zusammen.

Er hörte Ev, den Seilmacher, zu seinem Vater sagen: »Du wirst Ärger bekommen.«

Cog war noch immer wütend. »Ich? Ärger?«, knurrte er streitlustig. »Mit wem denn? Mit dir?«

Ev ließ sich nicht einschüchtern. »Mit Leuten, die viel wichtiger sind als ich.«

Cog schnaubte verächtlich.

Seft hatte Schmerzen am ganzen Leib. Weinend gelang es ihm irgendwie, sich auf alle viere aufzurichten und davonzukriechen. Die Leute starrten ihn an, und er schämte sich zu Tode.

Seft versuchte aufzustehen. Es gelang ihm erst, als ihm ein Fremder half.

Dann wankte er davon.

2

Zwischen der Zeremonie und dem Fest am Abend wurde vor allem Vieh gehandelt. Die Hirten wussten um die Gefahren der Inzucht, weshalb sie stets an frischem Blut für ihre Herden interessiert waren. Bei jedem Ritus erwarben sie neue Tiere, vor allem Bullen, Böcke und männliche Schweine. Im Allgemeinen tauschten sie sie eins zu eins. So kehrten die Hirten aus der Ferne mit neuen Männchen zu ihren eigenen Herden jenseits der Großen Ebene zurück.

Ani ging mit zwei anderen aus dem Kreis der Ältesten, Keff und Scagga, über den Markt und hielt nach Anzeichen von Streit Ausschau. Normalerweise handelten die Menschen zwar freundschaftlich miteinander, aber Streit war nichts Ungewöhnliches, und es gehörte zu den Aufgaben der Ältesten, den Frieden zu bewahren.

Was genau ein Ältester war und was er zu tun hatte, stand nicht wirklich fest. Immer wieder schlossen sich ihnen Leute an oder verließen den Kreis wieder. Keff allerdings wurde als Anführer akzeptiert. Man nannte ihn den Hüter der Feuersteine, da es zu seinen Aufgaben gehörte, über die Vorräte des Hirtenvolks zu wachen, einen Haufen halb fertiger Feuersteine in einem bewachten Gebäude mitten in Riverbend. Scagga wiederum gehörte zu den Ältesten, weil er das Oberhaupt der größten Familie war. Außerdem wusste er sich durchzusetzen, wenn auch bisweilen ein wenig zu energisch – zumindest für Anis Geschmack. Ani selbst wurde gemeinhin als außergewöhnlich weise betrachtet, obwohl sie sich selbst eher als empfindsam bezeichnet hätte. Sie hatte zahlreiche Geschwister, Cousins und Cousinen, alle jünger als sie, die nach ihrem Tod ebenfalls als Älteste dienen könnten.

Die Ältesten führten die Hirtengemeinschaft mit leichter Hand. Sie hatten keine Möglichkeit, irgendetwas zu erzwingen. Wer sich ihnen widersetzte, musste allerdings mit allgemeiner Missbilligung rechnen, was durchaus Folgen haben konnte. Deshalb wurden ihre Beschlüsse meist akzeptiert.

Ani war überzeugt, dass das Glück ihrer Kinder und ihrer möglichen Enkelkinder vom Wohlstand und Frieden ihrer Gemeinschaft abhing. Deshalb betrachtete sie ihren Dienst als Älteste auch als Teil ihrer Familienpflichten.

Sie war bereits mit Han schwanger gewesen, als Olin, ihr furchtloser Mann, von einer Kuh zu Tode getrampelt worden war, woraufhin sie ihre drei Kinder allein hatte großziehen müssen. Die Leute waren zunächst davon ausgegangen, dass sie schon einen anderen Mann finden würde, mit dem sie Last und Bett teilen konnte. Schließlich war sie damals noch jung gewesen, hatte recht gut ausgesehen und war auf der ganzen Großen Ebene gut gelitten. Auch gab es immer jede Menge alleinstehende Männer mittleren Alters, weil viele Frauen im Kindbett starben. Ani aber hatte alle Verehrer abgelehnt. Nach Olin konnte sie niemanden mehr lieben. Auch als sie sich jetzt vorstellte, wie er mit seinem buschigen blonden Bart über die Ebene schritt, stieg ihr eine Träne in die Augen und ließ ihre Sicht verschwimmen. Ich bin eine Ein-Mann-Frau, sagte sie manchmal. Für mich gibt es nur eine wahre Liebe.