Storytelling in virtuellen Welten - David Lochner - E-Book

Storytelling in virtuellen Welten E-Book

David Lochner

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Beschreibung

David Lochner gibt einen Überblick über die vielfältigen Möglichkeiten des Erzählens im virtuellen Raum. Ob Animationsfilm, digitales Spiel oder interaktiver Film – sie alle bieten Autoren und Produzenten neue Wege, Geschichten zu erzählen: Visionen, Träume und Welten zu entwickeln, die das Publikum noch nicht gesehen hat. Die zunehmende Digitalisierung hat nicht nur den Film revolutioniert, sondern auch neue Medien erschaffen, wie das digitale Spiel und den interaktiven Film. Herkömmliche dramaturgische Plot-Szenarien werden durch interaktive Erzählschemata neu definiert und erschaffen. Der Nutzer schreibt die Geschichte mit. Was dem Spieler große Freiheit bringt, bedeutet für den Autor eine neue Sicht aufs Storytelling. Durch das Internet können wir diese virtuellen Welten in Form von digitalen Spielen, wie World of Warcraft oder Second Life, betreten und uns in Netzwerken austauschen. Spieler greifen erstmals kreativ in das Geschehen ein und nehmen Einfluss auf den Handlungsverlauf. Der Autor tritt dabei in seiner Funktion des Geschichtenschreibers einen Schritt zurück und gibt Inhalte an die Konsumenten ab. David Lochner zeigt, dass virtuelle Welten mehr sind als eine digitale Alternative zum Kinofilm oder Roman. Sie müssen deshalb als eigenständiges Medium betrachtet werden. Als Medium, das nach eigenen erzählerischen GeSetzmäßigkeiten funktioniert und neue Ansprüche an die Unterhaltung stellt.

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INHALT

VORWORT

A LEBEN AUS PIXELN – EINFÜHRUNG IN VIRTUELLE WELTEN

A1 Die virtuelle Welt und der Autor von heute

A2 Das Unmögliche erzählen

» Exkurs: Der Weg zum modernen CGI

» Reihenfotografie

» Zeichentrick

» Die erste 3D-Animation

» Computer Generated Images

A3 Digitale Evolution des Storytellings

A4 Mythos Fremdartigkeit – der menschliche Bezug

A5 Leben aus Pixeln – der technische Bezug zum Storytelling

B DIGITALE GESCHICHTEN – STORYTELLING FÜR ANIMATIONSFILM: VOM REALFILM LERNEN

B1 Geschichten entwerfen

» Ideen finden: Die Seele der Geschichte und der rote Faden

» Erster Entwurf: Das Exposé

» Das Charakterprofil einer Figur

» Die Kurzgeschichte

B2 Erzähltechnik für Animationsfilm

» Verdichtung

» Vereinfachung und Überspitzung

» Held, Antiheld und Bösewicht

» Wissensverteilung: Spannung, Neugierde, Überraschung

» Abwechslung – Aktion und Emotion: Handeln statt reden

» Subtext – die versteckte Botschaft

B3 Die Struktur – der dramatische Aufbau

» Der Hollywood-Standard: Erzählen in drei Akten

» Komplexes Erzählen: Die Heldenreise

» Die Archetypen

»

Kung Fu Panda

»

Shrek – Der tollkühne Held

»

Findet Nemo

B4 Visuelles Schreiben – beschreibende Bilder

B5 Möglichkeiten der Notierung – das Drehbuch

B6 Concept Art und Storyboard

C INTERAKTIVE DRAMATURGIE – DIGITALE SPIELE

C1 Einleitung

» Das Spiel

» Digitale Spiele

» Was ist Interaktivität?

C2 Gamegenres

» Adventuregames

» Rollenspiele

» Strategiespiele und God Games

» Weitere Genres

C3 Eigenschaften des Gamestorytellings

» Zeitstruktur

» Das „Ich“ und das „Ich im Spiel“

» Play Time, Event Time, Dead Time

» Illusionserzeugung

» Die Erzählperspektiven

» Imagination in der virtuellen Spielwelt

C4 Besondere Möglichkeiten der Spannungserzeugung im Game

» Der Spielflow

» Schwierigkeitsgrade und die Fertigkeiten des Spielers

» Zeitdruck

C5 Interaktive Erzählstrukturen

» Statische Interaktivität – Branching mit Ankerpunkten

» Dynamische Interaktivität

» Interaktivität im Einsatz

C6 Möglichkeiten der Notierung – das Game Script

» Cutscenes

» Linearer Plot mit zwei Entscheidungsmöglichkeiten

» Branching mit mehr als zwei Optionen

C7 Concept Art und Vorlagen

D INTERAKTIVER FILM – VERBINDUNG VON DIGITALEM SPIEL UND ANIMATIONSFILM

D1 Einführung

D2 Der Weg zum interaktiven Film

D3 Interaktives filmisches Erzählen – das Röhrenprinzip

» Virtuelle Szenografie

» Exkurs: Storytelling und virtuelle Szenografie

»

Max Payne

– mehr als Spiel als Film

»

Heavy Rain

– mehr Film als Spiel

D4 Virtual Production

» Das technische Erzählen

» Mimik und Emotion

» Der Spieler als Schauspieler in einem Film

» Virtuelle Dreharbeiten – Prävisualisierung

E KRITISCHE HINTERFRAGUNG – DER BLICK HINTER DIE KULISSEN

E1 Die Fantasie kennt keine Grenzen

E2 Der Dauerzocker

E3 Die neue Identität

E4 Die Demokratisierung der Filmproduktion

X ANHANG

X1 Literaturverzeichnis

X2 Abkürzungsverzeichnis und Glossar

X3 Endnoten

X4 Bildnachweis

Vorwort

Ich schreibe, seit ich klein bin. Zuerst auf einem Stück Papier. Meine sozialen Beziehungen außerhalb meines Wohnortes wurden weitestgehend durch Briefeschreiben aufrechterhalten. Dann kam der Gameboy, ich lernte Mathematik mit den ersten Taschencomputern und beendete schließlich meine Schulzeit mit digitalen Aufsätzen. Heute benutze ich multifunktionale Notizzettel. Manches, was ich einmal zu nutzen gelernt habe, gibt es nicht mehr. Meinen letzten Aufsatz auf Diskette kann schon längst kein Computer mehr lesen, die CD-ROM mit den Urlaubsbildern von vor zehn Jahren ist unbrauchbar geworden. Meine Generation hat eine solch rasante technologische Entwicklung erlebt wie keine andere zuvor. Das elektronische Zeitalter hat uns Beine gemacht.

Durch diese schnelle Entwicklung haben sich Autoren und Nutzer digitaler Medien immer wieder umorientieren müssen, um sich den gewaltigen Veränderungen anzupassen. Wir haben permanent neu definiert, neu produziert, neu formuliert. Die Geschichten haben sich dabei immer an die jeweiligen Medien angepasst. Neue Formen sind entstanden. Vom E-Book, über den Film zum digitalen Spiel. Es gibt so viel Neues zu erfassen. Und stets müssen wir lernen, mit den neuen Medien umzugehen – wir lernen das Lesen und Schreiben neu, ob als Autor oder Leser, als Produzent oder Rezipient. Während sich der Mediennutzer meist Schritt für Schritt anpassen kann, ist es für den Autor wesentlich schwieriger, die neuen Gegebenheiten passend für den Endnutzer aufzubereiten.

Noch heute schreibe ich Briefe mit der Hand, weil ich es für eine der schönsten Formen der persönlichen Mittelung halte. Mein Empfinden in dieser Beziehung ist irgendwo zwischen Gewohnheit und Erziehung hängen geblieben. Aber wenn ich mich nicht medial weitergebildet hätte, würden mir all die faszinierenden neuen Formen der Kommunikation entgehen, die das Internet bereithält. Denn Austausch findet in unserer Zeit natürlich nicht mehr nur über Briefe statt. Wir sind miteinander vernetzt.

NORMALE BILDER KANN JEDER MACHEN.
ROLAND EMMERICH 1

Heute steht das Internet großen Teilen der Bevölkerung zur Verfügung. Es ermöglicht nicht nur die Vernetzung untereinander, es schafft auch neue Unterhaltungsformen wie den Animationsfilm, digitale Spiele und den interaktiven Film, welche bestimmten dramaturgischen Regeln folgen. Dieses Buch unternimmt einen Versuch, diese Formen für Autoren erfassbar zu machen. Denn sie gehören heute genauso zur Unterhaltung wie Bücher und herkömmliche Filme. Doch was hat sich geändert? Erzählen wir immer noch genauso wie ehedem, oder sind unsere Erzählformen zu technisch beeinflussten Konstruktionen geworden, die mit den Narrativen herkömmlicher Bücher wenig gemein haben?

Während sich Literatur und Film auf eine lange Tradition stützen, stecken die digitalen Medien in den Kinderschuhen und scheinen sich noch immer selbst finden zu wollen. Und dennoch: Hollywood ist ebenso wie die Spielbranche längst vom Digitalzeitalter eingeholt.

Während das Storytelling für Animationsfilme auf den dramatischen Grundkonzepten herkömmlicher Filme basiert, haben digitale Spiele das Storytelling nahezu revolutioniert. In der virtuellen Welt bahnt sich eine vollkommen neue Form des Erzählens an, die in vielen medialen Bereichen Einzug hält – die Interaktivität.

Viele Ideen sind in der Filmgeschichte bereits im Übermaß ausgeschlachtet worden: Die Geschichten wiederholen sich derzeit, Sequels und bombastische Actionfilme beherrschen die Spielpläne der Kinos. Es scheint, als stagniere die Entwicklung des Films. Vielleicht wurden ja die erzählbaren Geschichten aus der realen Welt bereits alle schon erzählt? Die virtuelle Welt jedenfalls scheint dagegen heute eine unerschöpfliche Ressource für Autoren, Geschichtenerzähler und Produzenten zu sein. Sie fordert unsere Kreativität und Vorstellungskraft neu heraus. Was sich im virtuellen Raum alles entwickeln kann, ist noch nicht abzusehen.

Durch die dynamische Entwicklung der Technik ist die grafische Leistung von Animationsfilmen und digitalen Spielen deutlich angestiegen. Durch künstliche Intelligenz ist es möglich, ganze Welten zu steuern. Figuren haben ihren eigenen Tagesablauf, interagieren wie echte Menschen. Pflanzen bewegen sich im Wind, als wären sie echt. Und wir betreten diese Welt staunend.

Abb. 1: Szene aus dem digitalen Spiel „Watch Dogs“A1

Die Möglichkeiten, bei Zuschauern und Spielern Emotionen zu wecken, sind beachtlich. Warum spielen Menschen den ganzen Tag kleine Computerspiele auf Facebook, warum verbringen sie Stunden in ihren Fantasiewelten und gehen darin völlig auf? Der Spieler lässt sich auf eine Welt ein, die er so im wirklichen Leben nicht erfahren könnte. Für die Autoren von Spielen ist es wichtig, diese Fantasieebene zu begreifen und virtuelle Welten auch als solche zu verstehen – ein Medium, über das wir Emotionen vermitteln können. Eine positive Illusion, auf die sich der Nutzer einlässt: Science-Fiction-Welten, in denen physikalische Gesetze keine Rolle spielen müssen, Mittelalterwelten, in denen wir gegen Drachen kämpfen, oder eine irgendwann und irgendwo angesiedelte Gesellschaft, in der wir politische Konflikte lösen sollen. Der Autor ist frei vom Zwang, sein erfundenes Universum physikalischen Gesetzen unterwerfen zu müssen, Anatomie zu studieren oder bekannte Konflikte aufzugreifen. Innerhalb dieses Kosmos ist er der Herr. Dieser Kosmos fasziniert durch das Mögliche, nicht durch das Reale: Es ist eine authentisch scheinende und mit sinnlich ansprechendem Inventar ausgerüstete Welt. Dieses Buch soll helfen, Autoren, Produzenten und Interessierten die virtuellen Welten näher zu bringen. Es soll jungen Autoren und Produzenten eine Plattform bieten, von der aus sie ihre eigenen Projekte und Idee entwickeln können. Während sich bereits zahlreiche Sach- und Fachbücher speziell mit jeweils einem Medium auseinandergesetzt haben, versucht dieses Buch, einen allgemeinen Überblick über Animationsfilme, digitale Spiele und interaktive Filme zu bieten. Virtuelle Welten sind sehr jung – umso weniger kann ich behaupten, mit diesem Buch alle drei großen Bereiche vollständig darzustellen. Mein Schwerpunkt liegt dabei darauf, wie man in ihnen Geschichten erzählen kann und nicht auf den technischen Aspekten.

Egal ob Animationsfilm, digitales Spiel oder interaktiver Film – letztlich geht es immer darum zu unterhalten. Was ein herkömmliches Buch oder ein Film ästhetisch leistet, ist durch virtuelle Welten nicht ersetzbar und soll es auch gar nicht sein. Wir sind stets auf der Suche nach Spannung. Dass wir immer nach Neuem suchen, liegt in unserer Natur. Virtuelle Welten bieten weitere Räume, um darin Geschichten zu erzählen, andere Geschichten als bisher. Wenn ein Kind lacht, sich über unseren Animationsfilm freut, über die witzigen Figuren und Gestalten, und emotional ergriffen ist, dann haben wir alles richtig gemacht. Dann ist es egal, ob wir eine digitale Figur vor uns auf der Leinwand haben oder einen echten Schauspieler.

LEBEN AUS PIXELN

Einführung in virtuelle Welten

A1

Die virtuelle Welt und der Autor von heute

A2

Das Unmögliche erzählen

A3

Digitale Evolution des Storytellings

A4

Mythos Fremdartigkeit – der Menschliche Bezug

A5

Leben aus Pixeln – Der technische Bezug zum Storytelling

Abb. 2: Szene aus „Das Eselchen Grisella“A2

A1 DIE VIRTUELLE WELT UND DER AUTOR VON HEUTE

NOVELS TELL, MOVIES SHOW, GAMES DO.
GREG ROACH

Virtuelle Welten sind digital. Kein anderes Unterhaltungsmedium hat einen so hohen technischen Bezug wie ein Animationsfilm, ein digitales Spiel oder ein interaktiver Film. Diese drei Medien sollen in diesem Buch stets als virtuelle Welten zusammengefasst werden. Wenn es auch in diesem Buch grundsätzlich um das Erzählen von Geschichten gehen soll, müssen vorab die Rahmenbedingungen, in denen sich der Autor bewegt und entfalten kann, erörtert werden. Vor allem für Autoren, die aus den Bereichen Drehbuch oder Print kommen, ist dieses Kapitel ein essenzieller Bestandteil zum Verständnis der virtuellen Welt und ihren erzählerischen Voraussetzungen.

Die virtuelle Welt und der Autor von heute

Als der Regisseur George Lucas Anfang des 21. Jahrhunderts begann, Schauspieler durch Animationen zu ersetzen, protestierten viele Filmemacher.2 Auf die Frage, warum er die letzten drei Teile seiner Star-Wars-Saga erst zu diesem Zeitpunkt produziert habe, antwortete er in etwa, dass die damaligen 3D-Techniken noch nicht in der Lage gewesen seien, seine Fantasiewesen angemessen wiederzugeben.3 Der heutige Stand der Technik erlaubt mittlerweile unzählige digitale Korrekturen: So können beispielsweise ohne Probleme Figuren im Nachgang in einen Film integriert werden.4 Die Vielfalt der Möglichkeiten ist beinahe unerschöpflich. George Lucas‘ Anspruch ist hierbei vor allem die Umsetzung seiner Ideen als Autor, die er auf die Leinwand bringen möchte. Er stellt dabei alte Produktionsweisen nicht in Frage, sondern sucht vielmehr neue Wege seine Geschichten zu erzählen. Seine Visionen und Träume zielen unter anderem darauf ab, seinem Publikum Welten vorzuführen, die es so noch nicht gegeben hat. Kritiker virtueller Welten stellen dabei oft die Qualität und die Entmenschlichung der Medien in den Vordergrund. Der Schauspieler aus Fleisch und Blut wird ersetzbar, fremde Welten werden gegen die eigentliche Welt, die Erde, eingetauscht. Aber ist es tatsächlich der Anspruch virtueller Welten, bestehende Medien zu ersetzen? Kann eine Animation einen Menschen ersetzen, einen Schauspieler auf der Bühne? Nein, denn das würde nur schwer als Animation funktionieren. Gerade hier macht es der persönliche und menschliche Stil des Schauspielers aus, welche den Zuschauer verzaubert. Deshalb muss die Frage anders gestellt werden: Welche Funktionen können virtuelle Welten eigentlich übernehmen?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns vom Gedanken lösen, herkömmliche Unterhaltungsmedien, wie den Realfilm, mit neuartigen Medien, wie dem Animationsfilm, zu vergleichen. Virtuelle Welten sind mehr als eine digitale Alternative zum Kinofilm oder Roman. Sie müssen deshalb als eigenständiges Medium betrachtet werden. Als Medium, das nach neuen erzählerischen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und andere Ansprüche an die Unterhaltung stellt, als ein Buch oder Realfilm. Dabei will das neue Medium keinesfalls das Alte ersetzen – ganz im Gegenteil. Hat der Realfilm beispielsweise den Zweck, mit einer Kamera real existierende Dinge aufzuzeichnen, ist es die Funktion des Animationsfilms, neue Dinge aus dem virtuellen Raum heraus zu erschaffen.

Die zunehmende Digitalisierung hat aber nicht nur den Film revolutioniert, sondern auch neue Medien erschaffen wie das digitale Spiel und den interaktiven Film. Gerade hier macht sich das neue Genre ganz deutlich sichtbar. Herkömmliche dramaturgische Plot-Szenarien werden durch interaktive Erzählschemata neu definiert und erschaffen. Der Autor muss sich nicht mehr wie im Buch oder Film nur auf einen Handlungsstrang konzentrieren, sondern auf mehrere: Plötzlich entscheidet sich der Nutzer eines digitalen Spiels durch die rechte anstatt durch die linke Tür zu gehen. Was dem Spieler große Freiheit bringt, bedeutet für den Autor einen zweiten Handlungsstrang, den es zu erzählen gilt. Neben dem erzählerischen Part erweitert sich sein Arbeitsfeld auch im technischen Bereich bedeutend. Das hat in der Medienlandschaft des Films in den letzten Jahren zu vielgestaltigen Veränderungen geführt. So muss der Autor ein grundlegend höheres technisches Verständnis mitbringen. Denn wer beim digitalen Spiel entwickelt und eine Geschichte erzählen will, muss sich bereits von Anfang über die zukünftigen Steuermechaniken, Interfaces, Konsolen und zahlreichen Endgeräte des Nutzers Gedanken machen. Wer einen Animationsfilm schreibt über die Möglichkeiten der technischen Umsetzung und ob die zu erschaffenden Stories und Figuren im Rahmen des Möglichen liegen. Der Autor von heute ist ein Tausendsassa, Multitalent, der sein stilles Kämmerlein mit Stift und Papier verlässt und multimedial denkt.

Durch unterschiedlichste Technologien wachsen die verschiedenen medialen Kanäle immer mehr zusammen.5 Der heutige Personal Computer (PC) ist auf dem Stand einer Hochleistungsmaschine, die es uns ermöglicht, dreidimensionale Welten (3D) vor unseren Augen erscheinen zu lassen. Durch das Internet haben die Menschen die Möglichkeit, diese virtuellen Welten in Form von Spielen, wie Second Life oder World of Warcraft, zu betreten und sich in Netzwerken auszutauschen. Sie erlauben es, den Spielern kreativ in das Geschehen einzugreifen und Einfluss zu nehmen, ohne dass sie dafür eine entsprechende dramaturgische oder künstlerische Qualifikation, wie Schauspiel oder Regie, erlernt haben müssen.6 Der Autor tritt dabei in seiner Funktion des Geschichtenschreibers einen Schritt zurück. Er gibt Inhalte an die Konsumenten ab, da diese durch eigene interaktive Beteiligung am Geschehen teilhaben. Sie erschaffen Neues.

Vor allem die Welt der digitalen Spiele hat sich dabei immens entwickelt und dabei die Filmindustrie Hollywood weit überholt.7 So ist heute zu beobachten, dass sich ein Großteil der medialen Aufmerksamkeit auf den PC und interaktive Formen der Unterhaltung, wie Computerspiele oder virtuelle Welten, konzentriert. Als Vergleich dazu: Die klassischen Massenmedien Film und Fernsehen werden indes überwiegend passiv rezipiert. Der Adressat nimmt eine reine Konsumhaltung ein und wird zum Nichtstun abgestellt. Heute wenden sich die großen Medienunternehmen zunehmend hiervon ab und öffnen sich dem interaktiven Medium des digitalen Spiels.8

Abb. 3: Prävisualisierung einer futuristischen Stadt A3

Abb. 4: Die Möglichkeiten des Erzählens im virtuellen Raum

Ein weiterer wichtiger Faktor ist das Hinzukommen der Dreidimensionalität. In immer stärkerem Maß bestimmen heute erfolgreiche 3D-Filme die Kinolandschaft. Vollständig animierte Filme wie Walt Disneys und Pixars Oben sind in der Lage, Menschen zu begeistern und zu verzaubern. Auch wenn sich ein in 3D produzierter Film auf den bisherigen Anzeigegeräten, wie Monitoren oder bedrucktem Papier, nur in 2D darstellt, ermöglichen Computerprogramme jederzeit eine Abänderung des Bildes durch Neupositionierung der Objekte. Nur der Computer ermöglicht einen solchen Vorgang.

Egal ob Animationsfilm, digitales Spiel oder interaktiver Film: Alle Formen erzählen Geschichten, die den Menschen genauso gut unterhalten wollen wie Realfilme und Bücher. Der Autor hält dabei alles in der Hand: Seine Verantwortung beginnt dabei bei der Auswahl des richtigen Mediums.

Abbildung 4 soll einen ersten Überblick über die vielfältigen Möglichkeiten des Erzählens im virtuellen Raum geben. Jedes Erzählmedium hat dabei ganz besondere Eigenschaften, die in den folgenden Kapiteln des Buchs aufgeschlüsselt werden sollen. Wichtigstes Merkmal ist die Aufteilung in lineare oder interaktive Erzählung. Bei einer linearen Erzählung bleibt die Abfolge der Handlung geradlinig, vergleichbar mit einem Buch oder einem Film. Im Gegensatz dazu steht die interaktive oder metalineare Geschichte: Hier kann sich Geschehen in viele verschiedene Richtungen entwickeln und ist somit auf Interaktivität angewiesen. Die Metalinearität ermöglicht es also dem Rezipienten, am Handlungsverlauf teilzuhaben. Im digitalen Spiel äußert sich das zum Beispiel durch das Vorhandensein der Steuerungstasten, mit deren Hilfe der Spieler seine Figur nach eigenem Ermessen durchs Spiel führt. Das Hinzukommen von Entscheidungsmomenten während des Spiels ermöglicht jedem Nutzer den Handlungsverlauf mitzubestimmen. Es findet daher ein interaktiver, metalinearer Prozess statt.9 Ein normaler Film würde dies nicht zulassen, er ist von Anfang bis Ende feststehend und lässt den Rezipienten lediglich konsumieren, nicht aber interagieren.

A2 DAS UNMÖGLICHE ERZÄHLEN

Exkurs: Der Weg zum modernen CGI

Reihenfotografie

Zeichentrick

Die erste 3D-Animation

Computer Generated Images

EINFACH DIE NATUR ZU IMITIEREN [...] VERSCHWENDET NICHT NUR DAS MEDIUM DER ANIMATION, SONDERN BELASTET AUCH DEN ANIMATOR ENORM.
GREG ROACH 10

Eine Filmkamera kann immer nur das zeigen, was tatsächlich existiert. Damit sind dem Medium Realfilm von Anfang an Grenzen gesetzt, denn es schöpft seine Bilder immer aus der tatsächlich existierenden Welt, und diese hat ihre Grenzen. Einen Spielfilm zu produzieren, der in der realen Welt abgedreht wird, ist deshalb sehr aufwendig. So kommt es nicht von ungefähr, dass Regisseure angefangen haben, einzelne Teile ihrer Filme durch Animationen zu ersetzen, um weitere Sehanreize zu schaffe. Wer ins Kino geht, möchte zum einen eine ansprechende Geschichte erleben und zum anderen ein visuelles Spektakel geboten bekommen. Das ist teuer. Schauspieler müssen gecastet werden, ein Drehplan wird geschrieben der Wochen, ja sogar Monate für seine Umsetzung in Anspruch nehmen kann. Licht muss gesetzt werden, das Timing der Schauspieler abgepasst werden und nicht zu vergessen die ständigen Wiederholungen und Takes einer Szene, weil ein Kameraschwenk nicht passte oder der Schauspieler einen Versprecher hatte. Zum Vergleich: Eine Animation ist zwar mindestens genauso aufwendig in ihrer Produktion, aber in jedem Falle nachhaltiger in der Machart. Denn ist die virtuelle Welt fertig animiert, kann sie immer wieder genutzt werden. Der Wechsel von Tag und Nacht sowie Licht und Schatten sind nur ein Knopfdruck entfernt.

In der ersten Einstellung des Films Das Fenster zum Hof von Alfred Hitchcock, sieht der Zuschauer eine sehr lange Kamerafahrt durch den Hinterhof eines Hauses. Um diese Fahrt ohne Unterbrechungen und Zwischenschnitt zu drehen, musste Hitchcock lange Zeit mit seinen Schauspielern und dem Kameramann proben. Man stelle sich nun vor, Hitchcock hätte nach den Dreharbeiten festgestellt, dass die aufgenommene Szene nicht seinen Wünschen entspräche. Das Licht ist unzureichend gesetzt und hier und dort fehlen ein paar Requisiten. Dies wäre einer Katastrophe gleich gekommen: Denn da Hitchcock auf Film drehte, gab es nicht wie heute die Möglichkeit, Fehler, Verwacklungen oder Versprecher der Schauspieler im Schnittraum zu korrigieren. Er musste die Szene am Stück so nehmen, wie sie gedreht wurde. Film ist damit in seiner Machart auf die reale Welt eingeschränkt.

Ein Vergleich: Zu Beginn von David Finchers Film Fight Club sehen wir eine lange Einstellung, bei der wir durch das menschliche Gehirn fliegen. Vorbei an Synapsen, organischen Verzweigungen und Hirnströmen. Ein beeindruckendes Bild. Solch eine Perspektive wäre mit einer physischen Kamera in dieser Ausführlichkeit beinahe unmöglich. Zum anderen ist die Kamerafahrt in Fight Club in ihrer Bewegung und Tempo perfekt ausgerichtet. Die Animation ist lediglich mithilfe von CGI-Szenen in den Realfilm integriert – ein häufig genutztes Mittel, um schwer umzusetzende Darstellungen in Realfilmen abzubilden. Ähnlich können wir das in Terminator 2: Tag der Abrechnung beobachten, bei dem der Regisseur James Cameron das Metallskelett eines Roboters komplett zerfließen lässt. Ein in der Wirklichkeit wohl nicht darzustellendes Bild. Ähnliches passiert im Kinoklassiker Jurassic Park, bei dem Regisseur Steven Spielberg animierte Dinosaurier in ein gefilmtes, tatsächlich existierendes Umfeld einbaute. Mit dem Unterschied zu Terminator 2, das erstmals organische Lebewesen, zum Leben erweckt wurden. All diese Filme nutzten die Animation als unterstützendes Element, in einem sonst komplett in der realen Welt gedrehten Film.

Exkurs: Der Weg zum modernen CGI

Um moderne computergenerierte Welten zu verstehen, ist ein kurzer Blick in die Vorgeschichte dieses jungen Mediums hilfreich. Beim genauen Hinsehen wird man schnell bemerken, dass sich viele Methoden und Grundprinzipien des klassischen Storytellings bis heute bewährt haben. So kommen viele der vor Jahrzehnten entwickelten Techniken auch gegenwärtig noch zum Einsatz und sind als Hintergrundwissen äußerst hilfreich.

Zunächst ist eine grundlegende Definition zweier wichtiger Begriffe notwendig, die im heutigen Sprachgebrauch oft verwechselt werden. Es handelt sich dabei um das Wort Animation, dass häufig gleichgesetzt wird mit CGI, ausgeschrieben Computer Generated Image bzw. Computer generiertes Bild. Eine Animation bezeichnet eine Anreihung von Bildern, wie Fotos, Zeichnungen oder computeranimierten Bildern, die im Gesamten die Illusion eines bewegten Bildes ergeben. Hingegen beschreibt das CGI einzig und allein ein Bild oder Reihe von Bildern, welche komplett durch computergesteuerte Verfahren dreidimensional erstellt wurden. Eine Animation kann also sowohl aus Zeichnungen als auch aus computergenerierten Bildern bestehen. Obwohl heute kaum noch gezeichnete Filme produziert werden, hat der übergreifende Begriff Animation sich bis zum modernen CGI durchgesetzt. Nur selten spricht man in der modernen Sprache vom CGI-Film, sondern zumeist vom Animationsfilm oder CGI Animationsfilm. Wir wollen also auch im Folgenden diesen Begriff für den weiteren Verlauf in diesem Buch nutzen.

Abb. 5: „The Horse in Motion“A4

Reihenfotografie

In den 1870er-Jahren ging der britische Fotograf Eadweard Muybridge einer einfachen Frage nach: Er wollte wissen, ob sich beim Galopp eines Pferdes alle vier Hufe zeitweise in der Luft befinden oder nicht. Dabei stellte er zwölf Fotoapparate an einer Galopprennbahn auf, welche mit Kontaktdrähten verbunden waren und beim Vorbeireiten des Pferdes die Kamera auslösten. Ähnlich wie in einem Daumenkino, brachte er die Fotos in eine chronologische Reihenfolge und in Bewegung. Dafür entwickelte er das Zoopraxicope, den wahrscheinlich ersten Filmprojektor der Geschichte. Im Jahr 1871 veröffentlichte Muybridge seine Bildserie unter dem Namen The attitudes of animals in motion und ging damit in die Geschichte ein.

Abb. 6: Zoopraxicope A5

Zeichentrick

Die erste vollständig animierte Filmsequenz mit einer spielerischen Handlung wurde erstmals durch James Steward Blackton vorgestellt. Mit seinem Film The Enchanted Drawing faszinierte er das Publikum mit dem Stopptrick. Während die Kamera lief, malte er ein Bild. Kurz darauf wurde die Kamera ausgestellt und das Bild leicht modifiziert. Danach stellt er die Kamera wieder an, wodurch die Veränderungen im Bild sichtbar wurden. Diesen Prozess widerholte er mehrfach, bis ein Film von knapp zwei Minuten zustande kam. Diese neue Form des Films wurde unter dem Namen Zeichentrickfilm bekannt. Eine der wichtigsten Eigenschaften des Zeichentricks ist, dass die Kameraposition stets fixiert ist und sich nur der Innenraum des Bildes bewegt. Dadurch kann der Zeichner immer wieder denselben Hintergrund verwenden, kopieren und für jedes Bild lediglich die sich bewegenden Objekte umzeichnen.

Abb. 7: „Gertie the Dinosaur“A6

Die erste 3D-Animation

Der Filmpionier und Zeichner Windsor McCay war der Erste, der 1912 mit seinem Film How a Mosquito Operates eine dritte Dimension in den Animationsfilm brachte. In diesem handgezeichneten Film, übertraf er alles bis dato Gesehene des noch jungen Genres. Zwei Jahre später, 1914, setzte er noch einen drauf und erweckte im darauf folgenden Film Gertie the Dinosaur den Dinosaurier Gertie zum Leben. Gertie gilt unter Filmhistorikern als die erste Zeichentrickfigur, die für den kommerziellen und modernen Zeichentrickfilm wegweisend war.

Bis zu diesem Zeitpunkt brauchten Künstler teilweise mehrere Monate, um kurze Animationsfilme von wenigen Sekunden fertigzustellen. Das wird schnell verständlich, wenn man bedenkt, dass jedes einzelne Bild für den Film extra gemalt werden musste. Um diesen Vorgang zu verkürzen, entwickelte der Zeichner und Produzent John Randolph Bray eine neue Technik. Anstatt jedes Bild erneut komplett zu zeichnen, entwarf er stattdessen zuerst den Hintergrund und kopierte diesen mehrfach. So musste er nur noch die sich bewegenden Elemente neu zeichnen. Dieses Verfahren wurde vom Amerikaner Earl Hurd verfeinert, indem er gezeichnete Figuren auf durchsichtiges Reispapier zeichnete und diese über einen gemalten Hintergrund legte. Dieses Prinzip ließ sich Hurd 1914 offiziell patentieren. Schließlich erhielt das Verfahren in der Rotoskopie seine Krönung, die erstmalig 1914 von Max Fleischer vorgeführt wurde.

Dabei werden echte Bewegungen gefilmt und auf eine durchsichtige Zeichenoberfläche Bild für Bild projiziert und abgemalt.

Aufgrund dieser zahlreichen technischen Errungenschaften verwundert es nicht, dass in den darauf folgenden Jahrzehnten viele erfolgreiche Animationsfilme entstanden. Unabhängig welche Technik dabei zur Fertigstellung genutzt wurde, musste dennoch jedes einzelne Bild per Hand gemalt werden. Der erste animierte Spielfilm der so entstand, war Walt Disneys Schneewittchen und die sieben Zwerge aus dem Jahr 1937.11

Computer Generated Images

Anfang der 70er-Jahre wurden erstmals sogenannte CGIs für die Filmproduktion eingesetzt. Im Zuge dessen wurden Papier und Stift durch den Computer ersetzt. Gegenüber der traditionellen Methode hatte sich wenig geändert, denn das Prinzip blieb das Gleiche. Der eigentliche Unterschied war, dass die gezeichneten Bilder durch computergenerierte ersetzt wurden und dadurch ein erheblicher Arbeitsaufwand vom Computer übernommen wurde. Quasi eine virtuelle Form des Stop-Motion Prinzips. Für Autoren änderte das eine ganze Menge. Waren sie doch nun in der Lage, all ihre Visionen in die dreidimensionale Wirklichkeit umzusetzen.

Abb. 8: Max Fleischers RotoskopA7

So kommt es nicht von ungefähr, das die 3D-Filmproduzenten von Pixar in ihrem ersten animierten Film von 1986 „Luxor Jr. – Die kleine Lampe“ von einer zum Leben erweckten Schreibtischlampe erzählen.12 Ein knappes Jahrzehnt später wurde 1995 mit Toy Story der erste komplett 3D-computergenerierte Langfilm der Geschichte produziert.13 Der Computer machte es möglich, Figuren und deren Bewegungsabläufe neu zu definieren und ganze Welten zu erschaffen. Für Filmautoren bringt diese Technologie neue Möglichkeiten der Entfaltung ihrer Fantasie mit sich. Denn in Form von digitalen Spielen lassen sich diese Welten sogar betreten und erleben.

A3 DIGITALE EVOLUTION DES STORYTELLINGS

Neben der neuen kreativen Freiheit, die den Autoren beim Erschaffen bildlich darstellbarer Objekte und Figuren zur Verfügung steht, ermöglicht der virtuelle Raum ganz neue Möglichkeiten des Erzählens einer Geschichte. Ein kurzer Blick zurück: Der Film im Allgemeinen besitzt die unglaubliche Fähigkeit, Dinge zu zeigen, die im realen Leben nicht möglich sind. So werden beispielsweise durch die Zeitlupe Bewegungen sichtbar, die das menschliche Auge normalerweise nicht erfassen könnte. Dadurch grenzt sich das Medium unter Anderem vom Theater ab. Durch das Hinzukommen von computergenerierten Bildern, wurden diese Methoden verfeinert. Neue Erzählmethoden wie die Bullet-Time in The Matrix, 1999, ermöglichten Bilder, die mit einer normalen Kamera nicht darstellbar gewesen wären. Durch die extreme Transformation von Zeit gelang es den Filmmachern, den Flug einer Patronenkugel durch die Luft filmisch darzustellen. Techniken wie diese geben dem Autor Werkzeuge an die Hand, die es ihm erlauben, Geschichten aus einem neuen Blickwinkel zu erzählen. Zugleich bieten diese dem Zuschauer inhaltlich als auch optisch überwältigende Perspektiven. Vor allem aber halten diese neuen Erzählmethoden verstärkt Einzug in digitalen Spielen. Durch dieses junge Medium, welches seine Inhalte komplett aus dem Computer schöpft, konnte das Storytelling erst revolutioniert werden. Orientieren sich computergenerierte Filme oder Animationsfilme in ihrer linearen Erzählweise fast ausschließlich an ihren Vorreitern, den Realfilmen, ermöglicht das digitale Spiel metalineare und interaktive Erzählweisen, die den Spieler weitaus mehr in die Handlung einbinden. Zudem ist er jetzt in der Lage, die virtuelle Welt nicht nur zu betrachten, sondern sie als Spieler sogar zu betreten. Dadurch verändert sich das Verhältnis von Autor und Rezipient komplett. War der Rezipient im Film ein reiner Betrachter, tritt er im digitalen Spiel als Akteur auf. Er wird zum Schauspieler in seiner eigenen Show in der vom Autor konzipierten Welt. Letzterer muss dabei ständig auf die Beziehung von Spielfigur, Spieler und Funktion der von ihm geschaffenen Story achten. Die virtuelle Welt stellt dabei ein animiertes Umfeld dar, welches dem Spieler ermöglicht, mit anderen virtuellen Charakteren zu interagieren aber auch mit Usern zu kommunizieren. Diese steuern ebenfalls animierte Figuren, die in der Fachsprache als Avatare bezeichnet werden.

Abb. 9: Map-Ansicht, Strategiespiel „Anno 2070“A8

Die Freiheit des Spielers zeigte sich schon in vergleichsweise simplen Konsolenspielen wie Super Mario Land 2: 6 Golden Coins, bei denen der Spieler auf einer Karte frei wählen kann, welchen Level er als nächstes betreten möchte. Wann immer er will und angepasst an seine Spiellust, kann er die Karte nach eigenem Belieben erforschen.

Mit der zunehmenden filmischen und dreidimensionalen Aufbereitung von digitalen Spielen, die ihre Krönung im interaktiven Film findet, wird das Genre durch cineastische Kameraperspektiven bereichert. Der Spieler ist durch die Dreidimensionalität des Raums in der Lage den Spielverlauf aus unterschiedlichen Kameraperspektiven zu steuern. Zum anderen können filmische Effekte, wie beispielsweise die bereits erwähnte Bullet-Time, gezielt ins Gameplay einfließen. In der Max-Payne-Reihe hat der Spieler beispielsweise die Möglichkeit, die Zeit zu kontrollieren, indem er per Tastendruck den Spielverlauf in Zeitlupe erleben kann. Dieses interessante Feature erweitert auch das Repertoire des Autors hinsichtlich des Storytellings.

Im digitalen Spiel Mass Effect werden cineastische Kameraeinstellungen vor allem beim interaktiven Dialog zwischen dem Avatar des Spielers und anderen Figuren genutzt, um Emotionen der am Dialog beteiligten Figuren einzufangen. Der Spieler spürt, wenn eine Figur sich über Reaktionen freut oder ärgert. Neben dem interaktiven Spielerlebnis hat der Spieler dadurch nicht nur das Gefühl etwas zu erleben – er hat das Gefühl Teil eines Films zu sein.

Da das digitale Spiel derzeit oft noch den Anstrich eines Spielzeugs hat, und leider oft zu einem reinen Unterhaltungsmedium herabgesetzt wird, das mit einem emotional mitreißenden Plot eines Animationsfilms bei weitem nicht mithalten kann, muss der Autor immer wieder erneut differenzieren, um welche Art es sich bei der Entwicklung eins digitalen Spieles handelt. Auch wenn digitale Spiele noch viel in ihrer Entwicklung durchmachen müssen, um mitreißenden linearen Filmplots gleichzukommen, ist der Anspruch an den Autoren gestellt, jedes Spiel so gut es geht emotional aufzuladen. Die Frage ist jedoch immer, ob der Spieler das überhaupt möchte. Denn wie auch in einem Film, muss man hier nach Genre und Art des Spiels unterscheiden. Welche erzählerischen Story-Elemente sollen im Spiel enthalten sein und wie hoch ist der Anspruch an das Spiel? Bei einem Jump-and-Run-Spiel wird eher ein Spielarchitekt benötigt, der sich Hindernisse und Rätsel ausdenkt. Hingegen bei einem anspruchsvollen Adventure, das Charaktere und Emotionen beinhaltet, ein Autor, der uns eine spannende Geschichte erzählt.

Abb. 10: Ego-Perspektive, „Far Cry 3“A9

Denn dort sind plötzlich die Verhaltensweisen und Charakterzüge der Spielfigur entscheidend für die gesamte Handlung, damit sich der Spieler sicher in der Spielatmosphäre bewegen kann und einen roten Faden erkennt. Dadurch wird auch das Aufgabenumfeld eines Autors größer als beim Film.

Bisher konzentriert sich die meisten Spielproduktion daher noch auf einfache Actionspiele in Form von Ego-Shootern, Autorenspielen, Sportspielen und Simulationen wie Strategiespielen, die vom Spieler mehr Geschicklichkeit einfordern als emotionale Einbindung ins Spiel. Zudem sind die bereits oben erwähnten Jump-and-Run-Spiele mit ihrem einfachen Aufbau gut geeignet, auf transportablen Medienabspielgeräten wie Smartphones genutzt zu werden. Wer denkt da schon an emotionales Spielen? Daher kommt es nicht von ungefähr, dass Spielehersteller ihren Fokus mehr auf grafische Optimierungen legen als auf konzeptionelle Verbesserung der Handlung. Betrachtet man den aktuellen Stand der Computerspielindustrie, ist festzustellen, dass es neben stetiger Grafikverbesserung auch eine starke Entwicklung zurück zu den Ursprüngen gibt. Einfache Jump-and-Run-Spiele gewinnen wieder an Beliebtheit, simple Facebook-Games haben viele Fans – ebenso wie alte Retro-Klassiker wie Super Mario.14 Immer mehr von diesen Spielen kommen auf den Markt oder werden im Internet kostenlos angeboten. Auf Grund ihrer Einfachheit und geringen grafischen Anforderungen sind sie für die kurze Nutzung, zum Beispiel in Pausen, auf mobilen Endgeräten perfekt geeignet. Diese Entwicklung lässt die Frage aufkommen, ob die Grafik eines Games entscheidend für die Attraktivität eines Spiels ist. Gute und realitätsnahe Grafik ist eine wichtige Errungenschaft, doch sie scheint nicht zwingend notwendig, um ein Spiel unterhaltsam zu gestalten.

Auf der anderen Seite Filme: Sie sprechen meist ein bestimmtes Publikum an, das gewisse Ansprüche an ihn stellt. Ein wenig gebildeter Mensch wird sich wahrscheinlich nur schwer an einem Dokumentarfilm über die Renaissance erfreuen können und eine Person mit differenzierten kulturellen Ansprüchen wird kaum ausschließlich Actionfilme schauen wollen. Filme müssen daher ihrem Publikum auf Augenhöhe begegnen und dem sozialen Umfeld der Zuschauer nahe kommen. Filmpsychologe Walter Schurian formuliert hierzu treffend: „Der Zuschauer, der sich mit der Handlung oder vor allem mit den Personen eines Films identifiziert [...], ist seit den Theorien der Praxis der Psychoanalyse als derjenige bezeichnet worden, dessen Verhalten durch das Objekt der Identifikation beeinflusst oder gar verändert werden kann.“15 Sofern sich der Zuschauer mit dem Film identifizieren kann, lässt er sich also laut Schurian auch von der Handlung mitreißen.

Ein Beispiel: Hollywood-Filme sind von Grund auf so konzipiert, dass sie die breite Masse ansprechen, somit sind sie in ihrer Erzählweise eher konservativ, als experimentell.16 Die Filme zeichnen sich oft durch eine einfache Struktur aus, die dem Zuschauer vertraut ist und nicht viel Mitdenken erfordert. Die Aufnahme der Inhalte wird ihm so einfach wie möglich gemacht17, bzw. durch immer stärkere Bildgewalt vom Denken abgelenkt. Theodor W. Adorno erkannte zu Recht: „Die Massen sind nicht das Maß, sondern die Ideologie der Kulturindustrie, so wenig diese auch existieren könnte, sofern sie nicht den Massen sich anpasste.“18

So ist es für den Autoren immer wieder wichtig, sich vor Augen zu halten, dass nicht das Ausreizen der technischen Möglichkeiten Sinn und Zweck eines Projektes sein sollte, sondern immer die zu erzählende Geschichte, wenn auch der Antrieb der Spielindustrie derzeit noch ein technischer ist. David Cage, Pionier des interaktiven Films und Produzent des spielerischen Meilensteins Heavy Rain, hat den Anspruch, Computerspiele mehr und mehr mit Ernsthaftigkeit zu betrachten und als emotional aufgeladenes Erlebnis, wie wir es von hochkarätigen Spielfilmen kennen. Nicht zuletzt hält der interaktive Film die meisten Optionen für den Autor und Spieler bereit: Als Synergie von digitalem Spiel und Animationsfilm, können hier gleich zwei unterschiedliche dramaturgische und technische Herangehensweisen für die Spannungserzeugung genutzt werden. Bei diesem noch sehr jungen und unausgereiften Genre sind die Anforderungen an den Autoren jedoch am höchsten.

A4 MYTHOS FREMDARTIGKEIT

Der Menschliche Bezug

EGAL, OB ICH ALS AUTOR EINEN SCHRANK ODER BAUM SPRECHEN LASSE, SCHLUSSENDLICH MÜSSEN WIR IMMER DIE MENSCHLICHE EXISTENZ BESPRECHEN.
HEIKO MARTENS 19

Wenn man die Liste der Animationsfilme der letzten zehn Jahre ansieht, wird man schnell feststellen, dass die Hauptfiguren der Filme überwiegend real existierende Lebewesen oder Objekte sind, stilisiert im Stil des Cartoons. So unter anderem Der gestiefelte Kater (DreamWorks, 2011), Antz (DreamWorks Animation, 1998), Ice Age (Blue Sky Studios, 2002), Cars (Pixar, 2006), Ratatouille (Pixar, 2007), Kung Fu Panda (DreamWorks Animation, 2008), Ich – Einfach unverbesserlich (Universal Pictures und Illumination Entertainment, 2010), Rango (Blind Wink, GK Films, Nickelodeon Movies 2011) und Ralph reicht´s (DreamWorks Animation). Nur wenige Filme haben ihre Hauptfiguren mit fremdartigen Lebensformen besetzt: Monster AG (Pixar 2001), Shrek – der tollkühne Held (DreamWorks Animation, 2001), WALL-E – Der letzte räumt die Erde auf (Pixar, 2008); Der Lorax (Universal Pictures und Illumination Entertainment, 2012). Der erste komplett in CGI animierte und erzählte Film war Pixars Toy Story des Jahrs 1995. Markantes Merkmal dieses und der darauffolgenden Filme war, das die darin vorkommenden Figuren zumeist einen Cartooncharakter hatten.20 Die Erzählweise orientierte sich zudem an den überzogenen und humorvollen Vorbildern bekannter Zeichentrickfilme.

Jahrelang bekam der Zuschauer keinen einzigen animierten Menschen zu sehen. Erst 2001 wurde mit der japanisch-amerikanischen Produktion Final Fantasy: The Spirits Within der Versuch unternommen, einen animierten Menschen in einen Film einzubauen. Nachdem der große Erfolg ausblieb, kehrten die großen Studios zurück zum Altbewerten. Auch heute ist noch auffällig, dass Animationsfilme fast ausschließlich aus fiktiven Figuren bestehen. Wenn Menschen eine Rolle spielen, dann meist in stilisierten Form oder im Comic-Look. Bis heute ist es problematisch, animierte Menschen in Filmen zu zeigen, die den Anspruch von Fotorealismus aufweisen. In James Camerons Avatar wurde eine ganze Welt fotorealistisch dargestellt. Einzelne Waldelfen waren zum Teil komplett animiert. Der Grund hierfür liegt vor allem darin, dass die Welten und Wesen frei erfunden sind. Sie sind dem Zuschauer völlig fremd, sodass er sie als realitätsferne Darstellung akzeptiert. Der erste komplett 3D-animierte Film Toy Story, aus dem Jahr 1995, bestand beispielsweise aus frei erfundenen kleinen Comicfiguren und schrieb Filmgeschichte.21

Mit zunehmend besseren Grafikleistungen wächst die Realitätsnähe der animierten Figuren.22 Damit ist jedoch ein großes Problem verbunden: Je realistischer animierte Wesen aussehen, umso stärker vergleichen die Zuschauer sie unterbewusst mit der Realität. Kurz gesagt: je menschlicher eine animierte Figur aussieht, umso höher ist der Anspruch des Betrachters, dass diese sich auch menschlicher verhält. Das Fehlen eines Gesichtszugs oder einer Träne kann die Figuren wie seelenlose Monster wirken lassen.

Dieses Phänomen wurde zuerst vom japanischen Roboterforscher Masahiro Mori 1970 beschrieben. Er stellte fest, dass die Akzeptanz des Zuschauers bei einer technisch animierten Figur von ihrer Menschenähnlichkeit abhängt. Diese Gesetzmäßigkeit bezeichnet er als Uncanny Valley23, zu Deutsch unheimliches Tal. „Das heißt, wenn ein Roboter menschenähnlicher wird, dann wird er für den Mensch zunächst vertrauter, bis zu einem bestimmten Punkt, dann schlägt die Wahrnehmung der Menschenähnlichkeit, bei der aber gleichzeitig das Technische noch bemerkbar ist, ins Negative um (das wirkt dann „unheimlich“), um dann schließlich bei vollendeter Menschenähnlichkeit wieder in den positiven Bereich, das Vertraute, umzuschlagen.“24 Diesem Problem müssen sich vor allem die Macher von Spielen stellen, die versuchen, Menschen fotorealistisch zu animieren.

Dieser Schwierigkeit kann entweder mit besserer Grafikleistung oder durch die Stilisierung der Animation beigekommen werden. Der gegenwärtige Stand der Technik erlaubt bisher jedoch nicht die „absolute“ fotorealistische Animation des Menschen.25