Strafgefangener, Zelle 32 - Hans Fallada - E-Book

Strafgefangener, Zelle 32 E-Book

Hans Fallada

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Beschreibung

Falladas Gefängnistagebuch: ein wichtiger und literarisch wertvoller Fund aus dem Nachlass. Wegen Unterschlagung verurteilte das Schöffengericht Bunzlau im Sommer 1923 den Gutsbeamten Rudolf Ditzen zu sechs Monaten Gefängnis. Weil er Geld gebraucht hatte für seine Rauschgift- und Alkoholsucht, hatte er Korn verschoben. Am 20. Juni 1924 trat Ditzen, einem kleinen Leserkreis als Hans Fallada bekannt, die Haft in der Strafanstalt Greifswald an. Am 3. November wurde er vorzeitig entlassen: „Aktenzeichen 2 ER 229/24. Führung: gut. Arbeitsbelohnung: M 20.60.“ Der Gefängnisalltag ist anstrengend und zermürbend, neun Stunden am Tag Arbeit auf dem Holzhof, nachts die Wanzenplage. Als Ditzen die Erlaubnis erhält, abends in seiner Zelle schreiben zu dürfen, wird alles erträglicher für ihn. Er führt Tagebuch. Mit einer Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die den künftigen großen Romanautor Fallada spüren lassen, berichtet er vom Gefängnisleben, von dessen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen, von der Kunst des Streichholzspaltens und des Kippenstukens, von seinen nächtlichen Träumen und davon, wie er, der linkische Intellektuelle, mit diesen Umständen zurechtkommt.

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Über Hans Fallada

Rudolf Ditzen alias HANS FALLADA (1893–1947), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit "Der junge Goedeschal“. Der vielfach übersetzte Roman "Kleiner Mann – was nun?" (1932) machte Fallada weltberühmt. Sein letztes Buch, „Jeder stirbt für sich allein“ (1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937), »Der eiserne Gustav« (1938).

Informationen zum Buch

Wegen Unterschlagung verurteilte das Schöffengericht Bunzlau im Sommer 1923 den Gutsbeamten Rudolf Ditzen zu sechs Monaten Gefängnis. Weil er Geld gebraucht hatte für seine Rauschgift- und Alkoholsucht, hatte er Korn verschoben. Am 20. Juni 1924 trat Ditzen, einem kleinen Leserkreis als Hans Fallada bekannt, die Haft in der Strafanstalt Greifswald an. Am 3. November wurde er vorzeitig entlassen: "Aktenzeichen 2 ER 229/24. Führung: gut. Arbeitsbelohnung: M 20.60". Der Gefängnisalltag ist anstrengend und zermürbend, neun Stunden am Tag Arbeit auf dem Holzhof, nachts die Wanzenplage. Als Ditzen die Erlaubnis erhält, abends in seiner Zelle schreiben zu dürfen, wird alles erträglicher für ihn. Er führt Tagebuch. Mit einer Lebendigkeit und Anschaulichkeit, die den künftigen großen Romanautor Fallada spüren lassen, berichtet er vom Gefängnisleben, von dessen geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen, von der Kunst des Streichholzspaltens und des Kippenstukens, von seinen nächtlichen Träumen und davon, wie er, der linkische Intellektuelle, mit diesen Umständen zurechtkommt.

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Hans Fallada

Strafgefangener, Zelle 32

Tagebuch22. Juni – 2. September 1924

Inhaltsübersicht

Über Hans Fallada

Informationen zum Buch

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Tagebuch 22. Juni – 2. September 1924

Anhang

Nachwort

Anmerkungen

Zum Text

Impressum

Herausgegeben von Günter Caspar

Motto:

Hoffentlich geben Sie sich

über meinen Charakter

keinen Illusionen hin.

22. 6. 24

Ich habe die Aufforderung zum Haftantritt seit Wochen erwartet, Tag für Tag, Stunde für Stunde, aber da ich sie nun wirklich in der Hand hielt und den Befehl las, dass ich mich spätestens am 20. Juni, bis abends sechs Uhr beim Gerichtsgefängnis Greifswald zu melden habe, fühlte ich plötzlich mein Herz wie unsinnig klopfen. Ich glaube, ich habe versucht, einige Witze zu Kagelmacher zu machen, die wohl ein wenig schief herauskamen. Dann bin ich in den Garten gegangen und habe mich in die Sonne gelegt.

Noch zehn Tage hatte ich Zeit. Und trotzdem ich mich bis zur Stunde am meisten vor dem Entbehren von Zigaretten und Alkohol gefürchtet hatte, waren es doch nicht diese, die ich in den mir verbliebenen Tagen noch besonders wahrnehmen wollte, sondern das war es: Liegen in der Sonne, Meergeschmack und das Erschauen einer schönen Menschengeste. Und es war vielleicht darum, dass ich mir an Km.’s Liebesgeschichte wie beteiligt vorkam, dass es mir genügte, das Bewusstsein solcher Liebe mitzunehmen in die Eiszeit von sechs Monaten.

Dass ich erst wieder am 20. Dezember frei sein würde, dass ich den ganzen Sommer, den ganzen Herbst vergessen würde, das schmerzte besonders. Wenn wir zusammen auf das Feld hinausgingen und Km. sich darüber freute, dass die Kartoffeln so stark in der letzten Nacht gewachsen waren, dachte ich nur daran, dass ich sie nicht blühen, nicht abwelken, nicht geerntet sehen würde. Als ich am letzten Tage über das frisch gepflanzte Kohlfeld ging, dessen Pflanzen schlaff und verwelkt auf der Seite lagen, fiel mir ein, dass die ein ganzes Leben haben würden, während ich – Eiszeit. Steinzeit.

Denn dort lebt man nicht, nicht wahr? Es ist wie eine Pause, plötzlich ist das eigene Leben zu Ende, nun muss man das Leben irgendeines andern führen, ein fremdes, befohlenes Leben – wer aber wird man dann am 20. Dezember sein, der von früher? Oder ein ganz anderer?

Dazu kamen die Sorgen, ob es möglich sein würde, die Eltern über den Aufenthaltsort im unklaren zu lassen. Ich habe immer geglaubt, ich liebte sie nicht sehr, aber dies ist die größte Furcht, dass sie erfahren könnten, ich sei im Gefängnis. Vielleicht ist es auch gar nicht Liebe, vielleicht ist es die Abneigung dagegen, Unschuldige für sich leiden zu lassen. Und am Ende ist es überhaupt kein derart »edles« Gefühl, sondern die einfache Kinderangst vor den Eltern, wie man sich ja auch noch im Traum vor den Lehrern ängstet, wenn man auch schon »erwachsen« ist und eine »Lebensstellung« erreicht hat.

Dann habe ich mich sehr bekümmert, dass mein neuer Anzug noch rechtzeitig vorher fertig würde, der erste neue Anzug seit einer Reihe von Jahren. Und als ich ihn hatte, habe ich ihn an einem beliebigen Alltagsnachmittag angezogen, meine braunen Damenflorstrümpfe und die braunen Halbschuhe dazu, und habe mich sehr glücklich gefühlt.

Und weiter habe ich zwei schon ehemals geliebte Gedichte von Rilke, »Der Gefangene«, auswendig gelernt, in Wildes Zuchthausballade geblättert und einen kurzen Artikel von ihm über Kinder im Zuchthause gelesen.

Das alles ist ein wenig von dem, was mir in diesen letzten zehn Tagen durch den Kopf gegangen ist. Und vielleicht gilt dies alles nichts und rührte mich kaum stärker an als das Dahinziehen irgendeiner nun längst vergessenen Wolke, das ich von meiner Sonnenrast im Bauerngarten aus sah. Denn hier bin ich und dort ist Tod. Begreifst du? Nein, du begreifst nur, was du erlebst, nicht, was du erleben wirst. Das ist es. Zehn Tage, zehn Minuten, zehn Jahre, was verschlägt es? Das wachsende Feld, über das du gehst, das Meer, das du hörst, das rechnet; was ist damit anzufangen, dass dieses Feld einmal abgeerntet, dieses Meer einmal vereist sein wird? Gar nichts.

22. 6. 24

Mit Km. habe ich wohl nur einmal ein wenig ausführlicher über das, was mich erwartete, geredet: irgendwann einmal beim Kaffee. Wir zogen Parallelen zwischen ehemaligen Sanatoriums- und Irrenanstaltsaufenthalten von mir und dieser sechsmonatigen Gefängnishaft. Dieses würde kaum anders sein wie jenes. Und wurde eine Morphiumentwöhnung ertragen, wie viel leichter nicht ein bloßer Aufenthalt, dessen einzige Erschwernisse Entbehrungen von Nikotin, Alkohol und Freiheit waren?

Freilich sagte ich mir, dass ich die Entwöhnung damals unter Geheul, Geschrei und mit schrecklicher Anstellerei ertragen habe, hier aber will ich mich unbedingt anständig betragen. Warum? Meinetwegen! Aber ich fürchtete die Depressionen, die so schleichend kommen, jeden Willen untergraben, in denen es mir dann ganz gleichgültig ist, was mit mir geschieht. Und vielleicht sagte mir Km. aus einem ähnlichen Gedankengang heraus: »Dass Sie mir nur nicht gleich in den ersten Tagen in eine trübselige Stimmung kommen!«

Es ist seltsam, wie gut mir dieses Wort schon in diesen Tagen getan hat. Immer klingt es mir ins Ohr.

22. 6. 24

Von den letzten vierundzwanzig Stunden vor Strafantritt wäre eigentlich noch eine Menge zu sagen. Aber ich habe mir einmal vorgenommen, diese Zeilen als Tagebuch zu führen. Und da ich eben vor ein oder zwei Stunden erst die Erlaubnis erhalten habe, für mich zu schreiben, so bin ich gewaltig im Rückstand. Jedes Tagebuch aber, das rückblickend und nicht täglich geführt wird, verliert seinen eigentlichen Sinn. Denn was mich vorgestern bewegte, ist heute mir vielleicht schon gleichgültig geworden, sodass ich’s nicht mehr schildern kann. Deshalb werde ich jetzt das meiste bis zum heutigen Tage überspringen, vielleicht, dass es sich noch dann oder dann macht, einiges nachzuholen.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich sagen, dass ich nach bestem Wissen versuchen werde, diese Aufzeichnungen vollkommen wahrheitsgetreu zu führen. Dabei wird’s freilich notwendig sein, in ihnen auch mancherlei zu erzählen, was der Gefängnisordnung widerspricht. Um mich also nicht einmal in eine böse oder auch nur unangenehme Lage zu stürzen, muss ich diese Aufzeichnungen verstecken und so tun, als wäre ich mit etwas anderem beschäftigt. Gottlob habe ich mir ein angefangenes Manuskript aus meinem Koffer geben lassen. Auch ein Versteck habe ich gefunden: Das Wandschränkchen ist oben mit zwei Haken befestigt; hebt man es unten ein wenig ab, so kann man zwischen seiner Rückwand und der Mauer gut ein paar Bogen Papier verbergen. Das sind heute meine Sorgen.

Am 19. abends gingen Km. und ich noch nach Juliusruh zur Reunion. Von dieser ganzen Nacht ist mir kaum etwas erinnerlich. Nur an eines denke ich stark: als ich plötzlich – war es aus einem etwas anders betonten Abschiedswort? – merkte, dass Frau G. wusste, wohin ich ging. Dies hat mich geradezu erschüttert. Es war wie eine große Freude, wie die Gewissheit, ein feierliches Versprechen, man würde nicht allein sein, es würde an einen gedacht werden. Und weiß doch schon heute, dass all dies in einem ganz andern Sinne nur gelten wird, denn den, an den gedacht wird, den gibt es schon nicht mehr.

Ich bin dann nach zwei Stunden Schlaf mit dem Wieker Dampfer nach Stralsund gefahren, habe in der Kajüte mit drei törichten Sächsinnen Likör getrunken und gedalbert, in Stralsund eine junge Frau ins Café Mehlert gebracht und sie dann etwas brüsk auf der Straße stehenlassen. Es war, als konzentrierte sich all mein sonst so schwacher Unternehmungsgeist auf diese paar Stunden, plötzlich war ich mutig und hatte Glück. Oder war es der neue Anzug?

Auf der Bahn dann geriet ich mit einem jungen Mädel in Kniekontakt, ich forderte sie zu einem Kaffee auf, wir bummelten in Greifswald los, und dort, vor einem Bier, erzählte ich ihr, wohin ich ginge. Sie war rührend: Diese Mädel aus dem Volke haben solcher Lage gegenüber einfach Mitleid, sie empfinden Gefängnisstrafe nicht als eine Schande, sondern als ein Unglück, das einem jeden passieren kann. Glücklich der, der solchem Schicksal entflieht. Wir wanderten dann noch in ein weiteres Café, und dort bewilligte sie mir alles, was einem in einem Café, dessen einziger Gast unruhig schlafend am Nebentische sitzt, bewilligt werden kann. Zur Steuer der Wahrheit will ich aber noch berichten, dass ich ihr – ohne Aufforderung von ihrer Seite – fünf Mark zum Ankauf eines beliebäugelten Blusenstoffes schenkte.

Sei gegrüßt, kleine Hedwig Hanson, lieber wäre es mir aber doch, du hieltest dein Versprechen nicht und unterließest hier deinen Besuch.

Kurz vor drei Uhr küsste ich sie vor dem Gericht ab, klingelte an der Tür und meldete mich zum Strafantritt. Es war ein heißer, sonniger Junitag. Ich war nicht ganz nüchtern.

Freitag, den 20. Juni 1924

22. 6. 24

Diese leichte Dunität hat mir eher genützt als geschadet, denn ohne dass jemand anders etwas von ihr merkte, machte sie mein Auftreten viel sicherer, ungehemmter, nahm ihm den etwas verkrochenen Zug, den es leicht zu meinem und anderer Ärger hat.

Nach endlosem Klingeln erschien ein Mann mit Uniform, wie ich jetzt weiß, der Oberwachtmeister Labs.

»Ich möchte mich zum Strafantritt melden.«

»Haben Sie denn Papiere?«

Erst nachdem er diese gelesen hatte, entschloss er sich, mir aufzumachen. Nun ging es unter ewiger Schließerei über halbdunkle Gänge durch eine Reihe von Türen. »Na, und was soll denn der Koffer?«

»Da habe ich Papiere drin. Manuskripte.« Erklärend: »Ich dachte, ich könnte hier daran arbeiten. Ich bin Schriftsteller.«

»Nee, so was gibt es hier nicht. Hier gibt es andere Arbeit. So was ist nicht erlaubt. Höchstens mal sonntags.«

Und ich sehr eifrig, nur um sein Wohlwollen zu gewinnen: »Aber das weiß ich ja nicht. Ich bin zum ersten Male. Das wusste ich nicht.«

Wir kommen zur Wachstube. Er nimmt kurz meine Personalien auf, dann schaut er zu einer Wanduhr hoch und bemerkt die Stunde und Minute meines Strafantritts. Um diese Stunde und Minute werde ich in sechs Monaten wieder entlassen werden.

Dann geht es mit einem in Grau gekleideten »Kalfaktor«, ebenfalls einem Strafgefangenen, in die Kammer. Ich erhalte ein grobes weißes Hemd mit roten Streifen, Unterhosen, baumwollene Socken, eine feldgraue Hose, blaue Weste, feldgraue Joppe und Mütze (natürlich ohne Kokarde und Schirm), ein blauweißes Halstuch, blaues Taschentuch, Lederpantoffeln, Hosenträger, zwei Wolldecken, einen blauweißen Deckenüberzug, einen ebensolchen Kopfkeilüberzug und ein weißes Laken. Damit ziehen wir in die Kalfaktorstube ab.

Unterwegs treffen wir den Sekretär und den Arzt. Der Sekretär fragt mich nach Namen und Strafdauer, der Arzt will meinen Puls sehen.

29. 6. 24

Während der Ausgabe der Sachen an mich fand noch folgende Unterhaltung zwischen dem Oberwachtmeister und mir statt.

Er: »Können Sie denn Holz hacken und Holz sägen?«

Ich: »Nein, ich habe nie körperliche Arbeit gemacht.«

Er: »Dann ist es mit Ihnen auch nichts auf dem Holzhofe. Aber fegen und scheuern können Sie?«

Ich (zögernd): »Ja, eigentlich …« Der Kalfaktor, den ich bereits auf dem Gang gebeten, mir ab und zu Bescheid zu sagen, gibt mir einen aufmunternden Fußtritt. »Ja, aber das lässt sich ja lernen. Am guten Willen soll es nicht fehlen.«

Er (sichtlich befriedigt): »Na ja. Und wenn es mal ein Donnerwetter setzt, müssen Sie das auch vertragen.«

Und ich: »Wenn man es verdient hat.«

In der Kalfaktorzelle bleiben wir ein Weilchen allein, und ich frage den andern: »Ist das ein bequemer Posten, den er da für mich vorhat?«

»Fein. Sie sollen zweiter Kalfaktor werden.«

»Ach! Lass doch das Sie. Ihr nennt euch doch hier alle du.«

»Ja. Beim zweiten Kalfaktor brauchst du nicht auf Arbeit, brauchst hier nur reinzumachen, schläfst hier mit uns, hast immer Gesellschaft.«

Wieder werde ich in die Wachtstube gerufen; ich muss meine Taschen entleeren. Die Streichhölzer werden besonders beiseite gelegt. Die blaue Schachtel mit dem Rest Tabak entschwindet, für ein halbes Jahr bin ich vom Nikotin getrennt. »So. Alles leer?«

»Ja.«

»Dann gehen Sie zum Baden.«

Der Kalfaktor nimmt meine neuen Sachen. Wir wollen in den Keller gehen, da erscheint noch einmal der Sekretär.

»Wo wollen Sie ihn hinlegen, Oberwachtmeister?«

»Ich dachte als zweiter Kalfaktor. Soundso wird ja entlassen. Und arbeiten kann er ja sonst nichts.«

»Aber er ist zum ersten Male bestraft. Da darf er nicht auf Gemeinschaft. Ich werde mal mit dem Vorsteher darüber sprechen.«

»Auch ich will mit dem Herrn Vorsteher noch sprechen.«

Wir gehen in den Keller. Ein größerer Raum, zwei Badewannen. Der Koch, wie ich gleich erfahre: ein Holländer, erscheint, schüttet zwei Eimer heißes Wasser ein, kaltes folgt nach, ich setze mich hinein.

Während nun der Kalfaktor meine Zivilsachen zusammenlegt, folgen die Fragen. »Wie lange?« – »Selbststeller.« (Im Gegensatz zu denen, die sich erst verhaften lassen.) »Strafhaft?« (Im Gegensatz zu den Untersuchungsgefangenen.) »Warum?« – »Erste Strafe?«

»Ja.«

»Du hast es gut. Da kannst du einreichen, dass du für die zweite Hälfte der Strafe Bewährungsfrist bekommst.«

Ich sehe eine Möglichkeit dämmern, aber ich glaube nicht recht an sie.

»Und rauchen darf man gar nicht.«

»Doch, man kann Raucherlaubnis kriegen. Aber die gibt es nur ganz, ganz selten. Zwei Mann haben sie. Aber alle rauchen so. Das geht schon. Zu schade, dass du deinen Tabak abgegeben hast.«

»Ja, ich wusste ja nicht …«

»Du musst ja noch deine Zivilsachen in den Koffer legen; vielleicht kannst du ihn da wegschnappen.«

Ich will es versuchen. Ich kleide mich ein und lerne, wie man vorschriftsmäßig ein Halstuch bindet. Etwas ungewohnt, dieses Gefühl um den nicht vorhandenen Kragen herum, am meisten aber stören die Pantoffeln an den Füßen. Ich werde sie ja ewig verlieren. Und nun gar erst die Treppen hinauf. Trübe Zeit. Graue Zeit.

Nun packe ich, wieder in der Wachtstube, unter Aufsicht meine Sachen in den Koffer. Ich erhalte die Erlaubnis, für mich zu behalten: Zahnbürste, Zahnpasta, Kamm, Haarbürste, Rasierspiegel, Handbürste, Bimsstein, Seife, Schwamm. Hierdurch mutig gemacht, frage ich: »Ich habe da noch ein paar Butterbrote im Koffer, darf ich die auch …?«

»Nehmen Sie.«

Und zwischen den Butterbrotpaketen wird die blaue Tabaksdose beiseite gelegt. Der Kalfaktor macht eine billigende Bewegung; ich habe das Gefühl, Achtung erworben zu haben. Dann werde ich wieder mit meinen Schätzen in die Kalfaktorstube geschickt.

»Das hast du gut gemacht.«

Ich gebe dem Kalfaktor meinen Tabak zum Verstecken, er verschwindet im Bett. Dann werde ich zum Sekretär geholt, meine Personalien werden aufgenommen. Als Name und Adresse meiner Eltern festgestellt werden, sage ich stockend: »Ich hätte eine Bitte, Herr Sekretär.«

»Nun.«

»Wenn es möglich wäre, dass sie nicht benachrichtigt würden. Mein Vater ist zweiundsiebzig Jahre, er weiß von nichts. Und bei seiner Stellung. Ich bitte …«

Ich spreche mit einer ekelhaften, weinerlichen Stimme, ich fühle, wie mir die Tränen in die Augen kommen, und ich weiß dabei, wie gemein es ist, sich unnötig so zu demütigen, wie kitschig diese Sentimentalität ist! Warum kann ich das nicht ruhig und sachlich sagen? Oh, ich Schwein! Natürlich mit reuiger Stimmung Land gewinnen!

Zwischendurch hat sich einmal die Tür geöffnet, ein älterer Herr (wie man so sagt: in den besten Jahren) tritt ein, fragt: »Wie heißen Sie« – »Woher?« – Dann: »Kollege, haben Sie wohl den Briefkasten schon entleert?« Der, sichtlich betreten: »Nein, noch nicht. Das heißt, um drei Uhr natürlich …« Es ist Viertel vier Uhr. Der ältere Herr kommt mit einem beträchtlichen Packen Briefschaften zurück; es ist kaum anzunehmen, dass diese in der letzten Viertelstunde eingeliefert sind.

Dann muss ich noch mehrere Schriftstücke unterschreiben, und als ich sie vorher lesen will: »Das ist nicht nötig, ich lasse Sie schon nichts unterschreiben, was …«

Ich werde wieder zurückgebracht. Der Oberwachtmeister sagt: »So, holen Sie die Sachen aus der Kalfaktorzelle, Sie kommen in Einzelzelle.«

Ich sehe den Kalfaktor groß an. Gehe mit ihm hinüber. O die Einsamkeit, die schlimme Einsamkeit, die nun kommen wird!

»Der Tabak, geben Sie den Tabak!«

Er reicht ihn mir, ich nehme aus der Schachtel aufs Geratewohl, es scheint mir etwas zuviel, ich nehme zurück und stopfe den Rest in irgendein Gefäß.

»Das dauert ja so lange«, klingt die Stimme des Oberwachtmeisters draußen. Ich raffe die Decken zusammen, das Waschzeug, schiebe die Tabakschachtel dazwischen und laufe hinaus. Zwei Treppen hinter Labs hinauf, er schließt eine Tür auf, an der ich grade noch die Nummer »32« und »29 cbm« lese, ich trete ein. »So, klappen Sie das Bett hinunter. Nicht so, Sie werden sich klemmen. So. Beziehen Sie es, halten Sie Ihre Zelle hübsch ordentlich. Sie müssen sie selber fegen und aufwischen. Ich wollte ja eigentlich …, aber …«

Die Tür fällt zu. Und ich sehe mich um. Sieben Schritt lang, dreieinhalb Schritt breit. Gleich links neben der Tür an der Schmalwand ein brauner Kachelofen. Im Winkel an ihm ein Spucknapf. Ach was, Grundriss:

Die Tür, die innen mit Eisen beschlagen ist, hat natürlich ein Guckloch, das außen mit einer Doppelklappe – für kurzen und für vollständigen Überblick – verschlossen ist. Das Fenster, ungefähr anderthalb Meter über der Erde, ist aus geripptem Milchglas, seine obere Hälfte ist schräg zum Aufklappen eingerichtet, hat an den Seiten aber Blechblenden, die das Hinaussehen verhindern sollen. Ich steige jedoch einen Augenblick auf den Abortrand, und nun sehe ich ein paar grüne Baumwipfel des Parks. Die Zelle ist einfach geweißt, der Fußboden Linoleum, die Decke leicht gewölbt. Das Schränkchen – mit vier Abteilungen – hat unter sich ein paar Haken zum Sachenanhängen. Zwei Wischtücher, ein Scheuertuch und einen Handfeger finde ich vor. Das Bett hat eine dreiteilige, gar nicht sehr harte Seegrasmatratze und einen ebensolchen Kopfkeil. Die Wände der Zelle, die Ofenglasur, die Holzteile, selbst der Eisenlackanstrich der Tür sind über und über mit allen möglichen Inschriften, Einschnitten, Zerkratzungen bedeckt. Außerdem sind an der Wand seltsame lange schwärzliche und bräunliche Flecke, die bis zur Decke reichen, ich verstehe ihre Bedeutung erst später.

Ich beziehe das Bett, gehe einen Augenblick auf und ab, und da jetzt die Aufregung und die Wirkung des Alkohols nachlassen, fühle ich mich schläfrig und lege mich aufs Bett.

Als ich erwache, glaube ich zuerst noch, ich bin im Traum. Direkt vor meinem Auge, sodass sie ungeheuer groß erscheinen, bewegen sich zwei rostbraune, breite, gepanzerte Tiere. Ich fahre mit dem Kopf zurück, ich fühle ein unerträgliches Jucken im Gesicht und an den Armen, und ich begreife: Wanzen. Ich habe diese Tiere bisher nur in den Fenstern der Drogenhandlungen auf den Plakaten der Insektenvertilgungspulver gesehen, aber es sind zweifelsohne Wanzen. Ich zerdrücke sie, sie hinterlassen auf dem Überzug zwei breite Blutflecken. Und nun begreife ich auch die schwärzlich-braunen Stellen an den Wänden. Dieses sind keine versprengten Einzelexistenzen, dieses sind die Sendboten eines großen Volkes, mit dem ich mich werde auseinander zusetzen haben.

Mein erstes Gefühl ist das der Empörung. Man kann im Gefängnis streng sein, man kann dies verbieten und jenes, aber Wanzen liegen außerhalb jedes Bestrafungsplanes. Wanzen braucht sich auch ein Gefangener nicht zumuten zu lassen.

Es kann noch nicht spät sein. Ich habe wohl keine halbe Stunde geschlafen. Von unten höre ich eine Stimme kommandieren, dann höre ich ein rascheres Geräusch wie Schlagen auf Holz und eine Weile darauf eine wilde Jagd die Treppe hinauf. Dann wird meine Tür geschlossen, jemand reicht mir eine Schale und ein Stück Brot hinein. Die Tür geht wieder zu.

Ich betrachte mein Abendessen. Es ist eine hübsche Portion Haferschleim und ein Riesenstück trockenes Brot, ein halbes Pfund Brot in einem Stück. Ich betrachte es mit Ehrfurcht und setze es wieder in meinen Schrank. Dann esse ich ein paar Löffel Haferschleim und versuche ein wenig von Frau Wulfens Butterbroten. Es schmeckt nicht. Und wieder gehe ich auf und ab. (Ich habe so ein wenig das Gefühl, dass Gefangene auf und ab gehen müssen, immerzu.)

Dann öffnet sich meine Tür noch einmal, und der Oberwachtmeister schaut hinein. »Geben Sie dem Mann dort Ihren Napf. Bis morgen früh kommt nun niemand mehr. Und nach dem Frühstück treten Sie dann auch mit zur Arbeit an.«

Ich bin allein. Ich gehe auf und ab. Ich denke ein wenig an das Mädel von vorhin, an die vorhergehende Nacht, die Fahrt zum Dampfer – ferne Welt.

Und plötzlich überkommt mich ein rasender Hunger nach Rauchen. Es ist wie Irrsinn. Wilder Irrsinn. Ich habe Tabak, ich habe Zigarettenpapier, nur die Streichhölzer, die Streichhölzer! Aber kann man denn gar nichts machen? Ich erinnere mich, das Zuchthauskommando, das wir in Radach hatten, sie hatten einen Knopf auf einem langen Faden, den sie in Rotierung versetzten, gegen den Rand einer Blechschachtel schlagen ließen, die Funken fielen auf Zunder … Blechschachtel und Knopf sind da, nun nur ein langer Faden. Ich mache mich daran, aus meinen sehr gestopften Strümpfen einen Wollfaden auszuziehen, als ich ihn habe, ist er zu kurz. Den Rand aufrebbeln? Es ist mir alles egal. Aber ich bekomme nichts los. Außerdem, fällt mir ein, würde ein Wollfaden zu schwach sein, er würde reißen. Ich suche weiter, und plötzlich fällt mir die Kehrichtschaufel ein, auf der von meinem Vorgänger alles mögliche Zeug lag. Richtig, da liegen viele Fäden, aber so wollig, so kurz.

Und nun bekomme ich ein Stück Holz in die Hand, es ist so seltsam schwer, und als ich es näher anschaue, bemerke ich, dass mit Leinenstreifen auf seine eine Seite eine Dreikantfeile aufgebunden ist. Zuerst denke ich an Durchfeilen des Fenstergitters, Ausbruch, den mein Vorgänger betrieb, aber als ich dann ein weiteres Stück Holz in die Hand bekam, in dessen aufgespaltete Spitze ein Stück Feuerstein eingeklemmt war, begriff ich: das gesuchte Feuerzeug, Gnade über Gnade, hier war es, fertig zum Gebrauch.

Gesegnet seiest du, Vorgänger! Wo immer du auch nun wandelst, nie soll es dir an Rauchmaterial fehlen und an Feuer dazu, das wünsche ich dir.

Und ich drehe eine Zigarette. Lege den Zunder bereit. Und fange an, Feuer zu schlagen. Ich schlage eine Viertelstunde, eine halbe Stunde. Es wird dämmerig, ich pinke noch. Es ist dunkel, ich pinke immerzu.

Ihr Lieben, auch Feuerschlagen will gelernt sein, ich habe in zwei Stunden einen Funken erzielt!

Aber darüber ist mein Rauchhunger vergangen. Ich schiebe ein wenig Tabak in den Mund, zuerst schmeckt er ein wenig stark, aber nach einer Weile ist er köstlich und lind.

Und nun werde ich einen tiefen Schlaf tun, dass ich morgen zur Arbeit frisch bin.

(Ich muss noch nachtragen, dass ich bei der Essenausgabe dem Oberwachtmeister meldete: »Hier sind Wanzen im Zimmer.«

Meine Stimme klang wohl sehr entrüstet.

»Wanzen«, fragte er zurück, »darüber hat aber der Schullehrer nie geklagt. – Melden Sie es morgen früh, dann werden Sie ein Mittel bekommen.«

Morgen früh –!, und ich hatte die gleiche Empörung, Umsturz, sofortige Maßnahmen erwartet. Dieser Fall schien nichts ganz Außergewöhnliches zu sein.)

Sonnabend, den 21. Juni 1924

6. 7. 24

Was mir von diesem, nun zwei Wochen zurückliegenden ersten Arbeitstage im Gedächtnis geblieben ist, ist dieses:

Eine aus den Maßen schaudervolle Nacht. Kurzes heftiges Einschlafen und Erwachen von einem Jucken, das ich nun schon kenne. Ich fahre auf. Mein Bett scheint zu leben. Und da ich die Juckstellen am Körper kratze, scheinen es unzählige zu sein. Legionen müssen meine Lagerstatt erfallen. Ich suche den Mord, finde aber nur wenig Opfer.

Und dann wieder ein sachtes Hindämmern, das, ehe nur der Schlaf kommt, wieder mit einem Emporschrecken und Kratzen endet und so fort und – so – fort. Dabei höre ich die Stunden vom Turm schlagen, endlos, mit endlosen Pausen zwischen den Viertelstunden. Ein Nachtvogel knarrt vor meinem Fenster, schnarrend, misstönig. Dazu lärmen Hunde! Hält man hier Hunde? Ja, einer muss draußen auf dem Hof vor meinem Fenster lärmen, ein anderer drunten im Haus. Ich denke an den ersten Abschnitt von »Anton und Gerda«.

Gegen Morgen falle ich in einen tiefen Totenschlaf, in den doch noch die Erinnerung an die ausgestandene Quälerei hineinwebt. Dann höre ich eine Stimme »Aufstehen« rufen und noch einmal »Aufstehen«. Ich fahre auf.

Das frische Wasser tut mir wohl. Während des Anziehens überlege ich mir den Morgenplan. Da ich nicht weiß, wie viel Zeit mir bis zum Arbeitsanfang zur Verfügung steht, muss ich mich mit dem Reinigen der Zelle beeilen.

Zuerst mache ich das Bett. Ich habe die glatte Fläche, in der die Oberdecke in der Kalfaktorenstube lag, noch gut in der Erinnerung und finde, dass sich eine solche Glätte mit zwei in einen Überzug eingeschlagenen Flanelldecken nicht leicht erzielen lässt.

Dann fege ich mit dem Handkehrer die Zelle aus. Staubfreiheit des Bodens zu erzielen erweist sich auch nicht als einfach, besonders von der Wand fallen bei jeder Berührung kleine Kalkpartikelchen ab, die auf dem Linoleumboden sehr hässlich aussehen.

Zwischendurch läutet eine Glocke. Wenn es schon das Zeichen zum Beginn der Arbeitszeit wäre? Aber nein, vorher muss es mindestens einen Morgenkaffee geben, und für alle Fälle halte ich den Emaillebecher aus dem Schrank bereit. Meine Ahnung hat mich nicht getäuscht, meine Zelle wird aufgeschlossen, ich trete an die Tür mit dem Becher, der mir randvoll mit einer heißen braunen Brühe gegossen wird, ich erhalte wieder ein Halbpfundstück Brot, und die Zellentür schließt sich von neuem.

Das Brot kommt zu dem von gestern Abend in den Schrank. Ich versuche mich an den Gudderitzer Stullen und einem der beiden verbliebenen Eier. Aber es wird nichts Rechtes aus dem Essen, ich schwitze dabei schon wieder, wie ich eben beim Fegen schwitzte. Meine Glieder scheinen nachzugeben. Abstinenzerscheinung, denke ich und treffe damit wohl so ziemlich das Richtige. Nur der heiße Trank tut dem Magen gut, es ist ein nicht sehr hochprozentiger Roggenkaffee.

Dann wische ich meine Zelle auf, und als sie trocken wird, hebe ich jedes noch etwa daliegende Fäserchen auf. Immer noch erfolgt nichts. Ich rechne – nach dem Glockenschlag – aus, dass ich kurz vor halb sechs Uhr aufgestanden bin, jetzt muss es ziemlich sieben sein.

Schlimm ist es, dass man nicht eine Zeile zum Lesen hat. Nicht eine? Doch, das Klosettpapier ist bedruckt, es sind die zerschnittenen Seiten eines Buches; habe ich mehr Zeit, so werde ich versuchen, sie zusammenzusetzen.

Dann geht meine Zelle auf. »Antreten zum Holzhof!« Ich steige die beiden Treppen hinunter, auf dem Gang steht schon eine Reihe Graugekleideter wie ich, ich stelle mich dazu. Ein Wachtmeister meldet dem Oberwachtmeister: »Elf Mann zur Arbeit«, schließt die Tür auf, und: »Rechtsum kehrt. Marsch.« Wir steigen eine kleine Außentreppe hinunter, vor uns ein mäßig großer, von sehr hohen roten Mauern umgebener Hof mit Kiesplatz und zwei Kastanien. Eine oval eingetretene Bahn. Das ist der Hof für die »Freistunde«, der Hof, auf dem die Untersuchungsgefangenen täglich eine Stunde, in Abständen hintereinander, Spazierengehen dürfen.

Wir aber treten durch eine kleine Eisentür auf einen zweiten, sehr großen Hof, den Holzhof. Auch hohe Ziegelmauern. Links an sie anlehnend eine Schuppenreihe, der letzte zweistöckig, die zweiflügligen großen Tore werden aufgestoßen, und die Stätte meiner Arbeit für ein halbes Jahr liegt vor mir.

Hinter dem linken Tor stehen im Halbkreis zehn, zwölf Hauklötze, hinter dem rechten nebeneinander ein Dutzend Sägeböcke. Links in der Ecke ist eine Art Schalterhäuschen für den Beamten eingebaut, rechts ein Lokus.

Eine Säge wird mir in die Hand gedrückt, ich bekomme einen Partner. Wir sägen los. Drei, vier Sägen sägen los. Die andern hacken Holz. Zwei Wachtmeister lehnen gelangweilt an den Türen. Man redet nur abgerissen und leise miteinander, das Sprechen ist zwar nicht verboten, wird aber nicht für die Arbeit fördernd angesehen und deswegen möglichst eingedämmt.

Mein Partner – ein halber Pole scheint es – ist ein wenig unsicher, schwankt zwischen Sie und du. Die nun schon gewohnten Fragen: wie lange, warum, woher, Selbststeller. Ich erfahre, der dicke Herr von gestern ist der Gefängnisvorsteher gewesen, er muss gleich kommen.

Kommt schon. Die Eisentür am Ende des von Riesenholzstapeln umsäumten Weges bumst, und er kommt näher. Bleibt zunächst meinem Sägebock stehen. »Wie heißen Sie?« – »Woher kommen Sie?« – »Weswegen?«

»Unterschlagung. Ich habe Korn verschoben.«

»Zum ersten Male bestraft?«

»Ja.«

»Und keine Bewährungsfrist bekommen?«

»Nein.«

»Aber das ist doch hart, sehr hart.«

(Wie gut das tut! Hat man Mitleid verachtet? Dies ist Trost. Sei gesegnet dafür, Herr Vorsteher.)

»Was sind Ihre Eltern?« – »Wie alt sind Sie?«

»Nächsten Monat einunddreißig.«

»Aber Sie werden ja alt, Sie werden ja alt!«

Dann, zusammenfassend, nach längerem Gespräch: »Wenn Sie sich gut führen, können Sie nach der Verbüßung der Hälfte Ihrer Strafzeit Bewährungsfrist beantragen. Ich würde das befürworten.«

»An meinem guten Willen soll es nicht fehlen. Wenn nur die Kräfte reichen.«

»Man wird nichts Unangemessenes von Ihnen verlangen. Natürlich, schwer arbeiten müssen Sie, denn es soll ja eine«, Pause, Zögern, »Strafe sein. Halten Sie sich gut.«

Ich gehe an meinen Bock zurück. Wir sägen weiter. Der Pole sagt zu einem andern neidvoll: »Der kriegt einen Posten.«

Die Zeit von halb sieben bis halb zwei Uhr ist pausenlos sehr lang. Der Arm ist völlig abgestorben, ein Teil einer Maschine, die Füße brennen maßlos in den ungewohnten Lederpantoffeln. Ich wechsele immer wieder das Standbein, aber es schmerzt doch toll. Und die Zeit will nicht enden. Will nicht enden. Zwischendurch muss ich Holz tragen. Ein dicker Wachtmeister in Zivil fordert mich dazu auf: »Wollen Sie … bitte … das Holz holen, Ditzen … Herr Ditzen …«

Es rührt mich ein wenig, es ärgert mich ein wenig, dass ich auch hier Ausnahme bin, dass man nicht die rechte Einstellung zu mir findet.

Endlich heißt es: »Mittag«. Ich wasche Gesicht, die brennenden Hände und Füße gründlich, esse ein paar Löffel von Graupen mit Kartoffeln und werfe mich auf mein Bett. Aber es kommt zu keinem Schlaf, es ist nur das Dämmern eines Erschöpften, durch das alle Augenblicke grelle Bilder zucken.

Der Nachmittag bringt zuerst eine neue Beschäftigung. Ich muss mit vor den Holzwagen. Das sind ziemlich große Kastenwagen, die zwei Meter gehacktes Holz fassen. Vier bis sechs Gefangene spannen sich mit Gurten davor. Beim Einspannen erregt der »Pole« ein wenig mein Erstaunen, er fährt erst in den einen, dann in einen andern Winkel und flüstert einem Genossen jauchzend zu: »Mensch, ich habe doch immer Dusel. Ein Zigarren-, ein Zigarettenstummel! Die muss der Alte doch richtig für mich hingelegt haben.«

Dann die Fahrt durch die Stadt. Man sieht nicht hoch, man ist mit Ziehen beschäftigt. Wir halten irgendwo, ich bekomme einen Misthaken und muss das Holz vom Wagen in die Körbe haken. Der Schweiß läuft mir dabei in Strömen herunter, ich denke ein paar Male, ich kann mit den erlahmenden Armen nicht weiter. Als ich die Spannung des Wagens nicht gleich lösen kann, weist mich der Wachtmeister an. Er wird nicht ungeduldig, als ich mich ungeschickt anstelle, er sagt nur: »Jaja, was man nicht alles lernen muss!«

Es liegt ein etwas überlegenes Bedauern im Ton.

Als wir uns wieder einspannen, steckt mir der Kalfaktor, der mit von der Tour ist, eine Schachtel mit fünf, sechs Streichhölzern zu. Der Rest des Tages mit seiner Sägearbeit ist Spielerei. Ich werde heute Abend rauchen. Und morgen auch noch. Der Abschied!

Und es wird Feierabend. Ich wasche mich wieder, bekomme einen Napf Haferflocken. Das Brot weise ich zurück. »Ich habe noch so viel.«

Der Rest von Frau Wulfens Proviant verschwindet mit ein paar Löffeln Brei. Dann, eine Stunde später, wird der Napf abgeholt. Ich frage den Oberwachtmeister Labs, ob ich für mich werde arbeiten dürfen. Er wird den Vorsteher fragen.