Streikrepublik Deutschland? - Klaus Dörre - E-Book

Streikrepublik Deutschland? E-Book

Klaus Dorre

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Beschreibung

25 Jahre nach dem Mauerfall sind in Ostdeutschland erstaunliche Veränderungen zu beobachten: Galten die Gewerkschaften im Osten der Republik als besonders schwach, verspüren sie heute Rückenwind. Verschiedene Gewerkschaften gewinnen Mitglieder, unterstützen die Gründung von Betriebsräten und schließen neue Tarifverträge ab. Diese nachholende betriebliche Demokratisierung führt jedoch immer wieder zu heftigen Konflikten und Streiks. Auf der Grundlage von 70 Experten- und Beschäftigteninterviews in 21 Fallbetrieben untersuchen die Autoren die Gründe für die gewerkschaftliche Erneuerung und erörtern, ob sich diese Entwicklung konsolidieren wird.

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Klaus Dörre, Thomas Goes, Stefan Schmalz, Marcel Thiel

Streikrepublik Deutschland?

Die Erneuerung der Gewerkschaften in Ost und West

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

25 Jahre nach dem Mauerfall sind in Ostdeutschland erstaunliche Veränderungen zu beobachten: Galten die Gewerkschaften im Osten der Republik als besonders schwach, verspüren sie heute Rückenwind. Verschiedene Gewerkschaften gewinnen Mitglieder, unterstützen die Gründung von Betriebsräten und schließen neue Tarifverträge ab. Diese nachholende betriebliche Demokratisierung führt jedoch immer wieder zu heftigen Konflikten und Streiks. Auf der Grundlage von 70 Experten- und Beschäftigteninterviews in 21 Fallbetrieben untersuchen die Autoren die Gründe für die gewerkschaftliche Erneuerung und erörtern, ob sich diese Entwicklung konsolidieren wird.

Vita

Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena. Thomas Goes, Dr., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen. Stefan Schmalz, PD Dr., ist akademischer Rat und Vertretungsprofessor am Institut für Soziologie der Universität Jena. Marcel Thiel, Dipl.-Psych., ist dort Doktorand.

Inhalt

Vorwort

1Streikrepublik Deutschland?

1.1Gegenwind 2000

1.2Rückenwind 2015

1.3Forschungsdesign, Methoden, empirische Basis

1.4Machtressourcenansatz, strategische Handlungsfähigkeit, Streiks

1.5Die strukturierenden Thesen im Überblick

2Arbeitsmarkt und Arbeitsbeziehungen in den neuen Ländern

2.1Wirtschaftliche Rahmenbedingungen

2.2Zwei Phasen der Transformation

2.3Eine neue Phase des Wandels von Arbeitsbeziehungen?

2.4Resümee: Am Arbeitsmarkt öffnet sich ein Gelegenheitsfenster

3Ursachen gewerkschaftlicher Organisierung: Ungerechte Löhne als Katalysator

3.1Wahrgenommene Lohnungerechtigkeit und gewerkschaftliche Organisierung

3.2Der Lohn ist nicht alles

3.2.1Konfliktfeld Arbeitszeiten und Flexibilitätsanforderungen

3.2.2Konfliktfeld betriebliche Herrschaft und Anerkennung

3.2.3Unterschiede zwischen IG Metall und NGG

3.3Von den Ursachen zu den Anlässen

3.4Sinkende Arbeitslosigkeit, größere Konfliktbereitschaft

3.5Spaltungslinien: Frauen, prekär Beschäftigte und Migranten

3.5.1Frauen zwischen Sonderrolle und Sonderbelastung

3.5.2Prekäre Normalität: Leiharbeit, Befristung und Werkverträge

3.5.3Migrantische Beschäftigte: »Altanteile aus DDR-Zeiten« und Randbelegschaften

3.6Resümee: Organisierung für gerechten Lohn und Lebensqualität

4Organisierungspolitik: Neue Aktivengruppen und strategische Handlungsfähigkeit

4.1Bewegung in den Betrieben: Die Schlüsselrolle der betrieblich Aktiven

4.2Wichtige Begleit- und Unterstützungsleistungen durch Hauptamtliche

4.2.1Die Handlungsebene lokale Gewerkschaftsorganisation

4.2.2Die Handlungsebene Betriebsbetreuung

4.2.3Spaltungslinien und Differenzen in der Belegschaft

4.3Strategische Fähigkeiten

4.4Exkurs: Das Sozialprofil der Aktiven

4.4.1Frauen in den Aktivenkreisen

4.4.2Qualifikation und betriebliche Stellung der Aktiven

4.4.3Prekäre und migrantische Beschäftigte

4.5Resümee: Das »magische Dreieck« strategischer Handlungsfähigkeit

5Gegenwind: Arbeitgeberdruck, gespaltene Belegschaften und gewerkschaftliche Organisationsmacht

5.1Arbeitgeberdruck gegen gewerkschaftliche Initiativen

5.2Gespaltene Belegschaften und Union Busting

5.3Zwischenbetrachtung: Arbeitgeberdruck und Organisationsmacht

5.3.1Nachhaltigkeit gewerkschaftlicher Organisierung

6Die neue Konfliktformation: Arbeitskämpfe in einer zersplitterten Tariflandschaft

6.1Grenzen von Intermediarität und Konfliktpartnerschaft

6.2Einkommensungleichheit und die Fragmentierung der Arbeitsbeziehungen

6.3Die Auseinandersetzungen im Streikjahr 2015

6.3.1Der Streik bei der Deutsche Post – DHL Group

6.3.2Der Streik der Lokführer bei der Deutschen Bahn

6.3.3Der Streik bei den Sozial- und Erziehungsdiensten

6.3.4Warnstreiks im Tarifkonflikt der Metall- und Elektroindustrie

6.4Abseits der Fläche: Streiks auf betrieblicher Ebene

6.4.1Der Arbeitskampf bei Amazon

6.4.2Die Streiks bei Gesoma, Endertech und Metaflix

6.5Einige Schlussfolgerungen: Fragmentierung und Funktionswandel des Streiks

7Politische Unterstützungsleistungen: Der »Thüringenkorporatismus«

7.1Entstehung des »Thüringenkorporatismus«

7.2Gremien, Instrumente, Akteure

7.2.1Gremien des »Thüringenkorporatismus«

7.2.2Instrumente, politische Regelungen, Gesetzesinitiativen

7.2.3Arbeitspolitisches Netzwerk und »Scharnierpersonen«

7.3Wirkungen des »Thüringenkorporatismus«

7.4Arbeitsbeziehungen und die Rolle des Staates

7.4.1Der »Thüringenkorporatismus« im Vergleich

7.4.2Die veränderte Bedeutung staatlicher Politik

8Konflikt und Demokratisierung in fragmentierten Arbeitsbeziehungen

8.1Kontext: Co-Transformation des Sozialkapitalismus und der Arbeitsbeziehungen

8.2Ergebnisse I: Organisierung und strategische Handlungsfähigkeit im Betrieb

8.3Ergebnisse II: Betriebliche Konflikte und (nachholende) Demokratisierung

8.3.1Betriebsräte: Von Wächtern zu Machern der Tarifnormen

8.3.2Strukturwandel des Tarifsystems und neue Probleme

8.4Ergebnisse III: Die neue Konfliktformation – eine Typologie

9Zum Schluss: Der neue Verteilungskonflikt – gekommen, um zu bleiben

Anhang

Literatur

Abbildungen und Tabellen

Abkürzungen

Glossar

Vorwort

Das Streikjahr 2015 belegt, die Gewerkschaften haben sich zurückgemeldet – und das auch im Osten der Republik. Im Buch fragen wir nach den Ursachen gewerkschaftlicher Organisierungserfolge und den Gründen für eine zunehmende Konfliktintensität in den organisierten Arbeitsbeziehungen. Dabei gelangt es zu einem überraschenden Befund. Die deutschen Gewerkschaften müssen sich zunehmend in »zwei Welten« tariflicher Regulation behaupten. Während sich die schrumpfende »erste Welt« noch an den Standards des einstigen (west-)deutschen Sozialkapitalismus orientiert, expandiert eine »zweite Welt«, in der diese Standards mehr und mehr ihre Gültigkeit verlieren. Die Konfliktlinie zwischen beiden Welten, die sich auch in Ost-West-Differenzen bemerkbar macht, ist zunehmend umkämpft. In ihren unterschiedlichen Ausprägungen sind die Streiks von 2015 nur zugespitzter Ausdruck eines neuen, mehrdimensionalen Verteilungskonflikts, dessen gesellschaftliche Brisanz in der Öffentlichkeit noch immer unterschätzt wird.

Zu diesem Ergebnis gelangen zwei Teilstudien, die wir in diesem Buch zusammenführen. Die erste – in Kooperation mit der Otto Brenner Stiftung realisierte – Untersuchung beschäftigt sich mit der Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in ostdeutschen Betrieben aus den Organisationsbereichen von IG Metall und NGG. Diese Teilstudie wurde erstmals im OBS-Arbeitsheft 83 unter dem Titel »Gewerkschaften im Aufwind? Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht in Ostdeutschland« im Herbst 2015 veröffentlicht. Die zweite Untersuchung basiert auf Erhebungen zu den Arbeitskämpfen des Jahres 2015. Sie nimmt zusätzliche Branchen bzw. Sektoren in den Blick (Post, Bahn, Sozial- und Erziehungsdienste) und weitet den Fokus der Analyse auf Westdeutschland aus. Wer an einem komprimierten Überblick über die Ergebnisse der Untersuchung interessiert ist, dem seien die zusammenfassenden Kapitel acht und neun zur Lektüre empfohlen; wer sich einen differenzierten Einblick in die Welt fragmentierter Klassen-Auseinandersetzungen verschaffen will, wird jedoch auf die übrigen Kapitel nicht verzichten können.

Ohne die großzügige Förderung durch die Otto Brenner Stiftung und eine Co-Finanzierung seitens der Hans-Böckler-Stiftung hätte weder die Studie zu den Rekrutierungserfolgen in ostdeutschen Betrieben noch das vorliegende Buch entstehen können. Unser Dank gilt den beiden Verantwortlichen der OBS, Jupp Legrand und Burkard Ruppert, die unser Projekt sehr kompetent begleitet haben. Bedanken möchten wir uns auch bei Alessandro Alborea vom Ressort Controlling und Statistik beim IG Metall-Bundesvorstand, der uns einen Einblick in die Mitgliederstatistiken der IG Metall ermöglichte. Angeregt hatten die Studie Michael Ebenau (IG Metall Bezirk Mitte) und Wolfgang Lemb (Mitglied des geschäftsführenden Vorstandes der IG Metall). Beiden schulden wir großen Dank. Gleiches gilt für die Experten/-innen, die an der zweiten Teilstudie zu den Arbeitskämpfen mitgewirkt haben. Stellvertretend bedanken wir uns bei den Gewerkschafter/-innen Christoph Ellinghaus (IG Metall), Frank Nachtigall (GDL), Thomas Voß (Ver.di), Andreas Wiedemann (Ver.di) und Ines Zipfel (Ver.di) sowie den Wissenschaftler/-innen Sabrina Apicella, Yalcin Kutlu und Luigi Wolf für ihre informativen Beiträge.

Das vorliegende Buch hat vom kooperativen Geist der Jenaer Arbeitssoziologie profitiert. Unser Dank gilt Florian Butollo, Martin Ehrlich, Tom Engel, Dennis Eversberg und Ingo Singe für kritische Kommentierung und Unterstützung. In dem Projekt haben neben den Autoren Manfred Füchtenkötter, Jakob Köster, Daniel Menning, Yvonne Möller und Philipp Motzke als wissenschaftliche Hilfskräfte sowie Daniel Gauerhof als Praktikant mitgearbeitet. Ohne ihr Engagement wären die umfangreichen Forschungen nicht möglich gewesen. Cora Puk und Merlette Jensen haben sich um die Endkorrektur des Manuskripts besonders verdient gemacht. Lena Haubner hat die Grafiken gestaltet. Ein besonderes Dankeschön gilt Janett Grosser, die in ihrer gewohnt gelassenen und freundlichen Art alles zusammen gehalten hat. Gut kooperiert haben wir auch mit unseren Erlanger Kolleginnen Silke Röbenack und Ingrid Artus, die eine Parallel-Studie zu Betriebsräten in Ostdeutschland verfasst haben. Entscheidend für unsere Forschungen war die Bereitschaft von Betriebsräten, Gewerkschaftern und Praktikern aus Verbänden und Politik, uns aufschlussreiche Einblicke in ihre Tätigkeit zu gewähren. Stellvertretend für viele andere seien Conny Weißbach (NGG, Ver.di) und Michael Behr (ThMA) genannt, die sich um unsere Forschungen besonders verdient gemacht haben. Unsere Studie versteht sich als Beitrag zur internationalen Debatte um gewerkschaftliche Erneuerung. Sie ist im Sinne einer öffentlichen Soziologie in engem Austausch mit Praktikern aus Betrieben, lokalen Gewerkschaftsgliederungen, Interessenverbänden und Ministerien entstanden. Sollten sie öffentliche und wissenschaftliche Debatten um das Comeback der Gewerkschaften weitertreiben, hätten unsere Forschungen ihr wichtiges Ziel erreicht.

Klaus Dörre, Thomas Goes, Stefan Schmalz und Marcel Thiel,

Jena im Juli 2016

1Streikrepublik Deutschland?

»Deutschland, einig Streikland«, so oder ähnlich titelte die Tagespresse im Frühsommer 2015. Den Anlass für derartige Schlagzeilen bot eine für Deutschland ungewöhnliche Häufung von Arbeitskämpfen. »Bahnstreik, Kita-Streik, Poststreik: 2015 ist auf dem besten Weg, ein ›Superstreikjahr‹ zu werden« (KN, 16. Juni 2015), lautete der Tenor einschlägiger Kommentare. Von den Arbeitskämpfen beeindruckt, ertönte rasch der Ruf nach neuen staatlichen Regeln für den Streik (SZ, 24. Mai 2015). Derartige Reaktionen beruhten auf starken Übertreibungen, denn im europäischen Vergleich und an Streiktagen gemessen ist die Bundesrepublik noch immer ein wirtschaftsfriedliches Land. Gab es in Deutschland pro 1000 abhängig Beschäftigter im Jahresdurchschnitt (2004–2014) gerade einmal 16 streikbedingte Ausfalltage, waren es in Frankreich 139, in Kanada 102 und in Großbritannien immerhin noch 23. Weniger streikbedingte Ausfalltage zählte man lediglich in Österreich, Polen und der Schweiz. Dies in Rechnung gestellt, war 2015 für die Bundesrepublik dennoch ein außergewöhnliches Jahr (WSI 2016). Rund zwei Millionen Streiktage und 1,1 Millionen an Streiks beteiligte Beschäftigte bedeuteten den höchsten Wert seit über einem Jahrzehnt. Die Zunahme der Arbeitskämpfe im deutschen Kontext steht in deutlichem Kontrast zur Rückläufigkeit von Streiks, wie sie in vielen anderen OECD-Staaten zu beobachten ist (Vandaele 2014: 346 ff.; vgl. Abbildung 1).

Abbildung 1: Streiktage

Quelle: WSI 2016

Die Besonderheit des Jahres 2015 ergibt sich aber nicht allein aus einer größeren Häufigkeit von Arbeitskämpfen, auch die Inhalte, die Streikformen, die Verläufe, Ziele und Trägergruppen der Konflikte haben sich verändert. Obwohl sich die Streiks von Branche zu Branche stark unterscheiden, zeichnet sich doch eine übergreifende Tendenz ab. Zwar stammte die Mehrzahl der Streikenden noch immer aus der Metall- und Elektroindustrie; die meisten Streiktage und die große Mehrzahl der Arbeitskämpfe wies jedoch der Dienstleistungssektor auf. Die Streiks sind tendenziell weiblicher geworden, haben auch den prekären Sektor erfasst, sind in Dienstleistungsbranchen teilweise mit besonderer Härte und offenem Ausgang geführt worden und beruhten mitunter auf zuvor unbekannten Formen direkter Mitglieder- und Beschäftigtenpartizipation. Während des Arbeitskampfes der Paketzusteller und in den Auseinandersetzungen bei der Lufthansa agierte das Management der betroffenen Unternehmen gut vorbereitet und mit einem Arsenal an Maßnahmen, das an Niederwerfungsstrategien erinnerte, wie sie zuvor hauptsächlich aus US-amerikanischen Firmen bekannt waren. Im Sozial- und Erziehungssektor, in welchem es nach fünf Jahren Friedenspflicht zu einem großen Erzwingungsstreik für einen neuen Tarifvertrag kam, lehnten die Mitglieder qua Befragung eine Vereinbarung ab, der ihre Gewerkschaft bereits zugestimmt hatte. Die Tarifparteien mussten nachverhandeln. Beim Lokführerstreik, den die Spartengewerkschaft GDL führte, ging es um Löhne und Arbeitszeiten, im Hintergrund stand allerdings eine Auseinandersetzung um die Tariffähigkeit der GDL und letztendlich um das Streikrecht. Neben größeren branchenbezogenen Konflikten kam es auch in Unternehmen und Betrieben zu teilweise heftigen Arbeitskämpfen. Im Falle von Amazon und der Charité erreichten solche Konflikte eine größere Öffentlichkeit. Beim Onlinehändler Amazon, wo sich die Auseinandersetzung um eine Angleichung an den Einzelhandelstarifvertrag schon über mehrere Jahre hinzog, wurde auch 2015 gestreikt. Der gesamte Konflikt ist seitens der Gewerkschaft Ver.di auf Jahre hin angelegt. Die Mehrzahl der dezentral geführten betriebs- oder unternehmensbezogenen Arbeitskämpfe fand allerdings mit einer vergleichsweise geringen Beschäftigtenzahl statt und hatte in der öffentlichen Wahrnehmung allenfalls regionale Bedeutung. In solchen Auseinandersetzungen, wie sie insbesondere in den Organisationsbereichen von Ver.di und der NGG stattfanden, manifestierte sich ein seit längerem anhaltender Trend. Die Gesamtanzahl der Tarifkonflikte ist von nur 82 im Jahr 2007 auf 214 in 2014 angewachsen; rund 90 Prozent der Streiktage entfallen inzwischen auf den Dienstleistungssektor.

Was verbirgt sich hinter solchen Zahlen und wofür genau steht das Streikjahr 2015? Handelt es sich um ein kurzzeitiges Aufbäumen der Gewerkschaften, ein bloßes Zucken, dem wieder ein langes Dahinsiechen folgt, wie Wissenschaftler aus wirtschaftsnahen Zusammenhängen mutmaßen (Lesch 2015; Anders u. a. 2015)? Oder sind die Arbeitskämpfe gekommen, um zu bleiben, wie andere prognostizieren (Streeck 2015)? Wird die wachsende Anzahl von Streiks durch eine »größere Konfliktbereitschaft der Gewerkschaften« verursacht (Dribbusch 2016; zu Ver.di: Kocsis/Sterkel/Wiedemuth 2013) oder müssen wir davon ausgehen, dass Verhärtungen im Management und auf der Arbeitgeberseite zusätzlichen Konfliktstoff erzeugen? In der vorliegenden Studie bemühen wir uns um Antworten. Auf der Grundlage einer früheren Betriebsräte-Studie skizziert das erste Kapitel eine Kontrastfolie (1.1), vor deren Hintergrund das Comeback der Gewerkschaften, insbesondere im Osten der Republik, schlaglichtartig beleuchtet wird (1.2). Anschließend werden das Forschungsdesign, die Methoden und die empirische Basis der Untersuchung vorgestellt (1.3), der zugrundeliegende »Jenaer Machtressourcenansatz« erläutert und die Kampfform des Streiks in dieses Konzept eingeordnet (1.4). Das Kapitel schließt mit den forschungsleitenden Thesen und Hinweisen zum Aufbau der Studie (1.5).

1.1Gegenwind 2000

Aus unserer Sicht macht das Streikjahr 2015 vor allem eines deutlich. Die Gewerkschaften sind zurück – in der Öffentlichkeit, als Tarifparteien und als sichtbare, konfliktfähige Akteure. Diese Entwicklung ist weder selbstverständlich noch ist sie über Nacht eingetreten. Und sie äußert sich keineswegs allein in Arbeitskämpfen. Streiks haben zumeist einen langen, unspektakulären Vorlauf. Sie verweisen auf Veränderungen am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft, die sich über längere Zeiträume hinweg eher unter der Oberfläche vollzogen haben. Und sie künden von Lernprozessen, in deren Verlauf sich Gewerkschaften lokal und regional auf veränderte Handlungsbedingungen einstellt haben (Schmalz/Dörre 2013). Organisationslernen ereignete sich in Regionen, in denen Gewerkschaften über viele Jahre hinweg nur noch eine Nebenrolle spielten. Rückenwind verspüren die deutschen Gewerkschaften erstmals seit langer Zeit auch im Osten der Republik. Vielleicht kann man sogar sagen, dass der Rückenwind gelegentlich ein Ostwind ist.

Rückenwind für die Gewerkschaften zu behaupten, der noch dazu aus dem Osten weht, ist alles andere als selbstverständlich. Erinnern wir uns: Noch vor einem Jahrzehnt schienen die deutschen Gewerkschaften an einem Tiefpunkt ihrer Geschichte angekommen. Marktradikale Ökonomen hatten sie als Hauptschuldige für die »deutsche Krankheit«, für hohe Arbeitslosigkeit und Inflexibilität am Arbeitsmarkt ausgemacht. Das Bild eines Arbeitsmarktes im »Würgegriff der Gewerkschaften« (Sinn 2005: 143–150) stand schon damals in groteskem Kontrast zur sozialen Realität. Die DGB-Gewerkschaften hatten seit Jahren flächendeckend Mitglieder verloren und zugleich Organisationsmacht, Konflikt- und Mobilisierungsfähigkeit eingebüßt. Der Negativtrend machte sich insbesondere in den neuen Ländern bemerkbar. Im Anschluss an eine kurze Scheinblüte unmittelbar nach der Wende, als die Mitgliederzahlen der DGB-Organisationen binnen Jahresfrist um 49 Prozent auf 11,8 Millionen gestiegen waren (1991), ging es steil und stetig bergab. Die Mitgliederverluste fielen stärker aus als der Rückgang der Beschäftigung. Lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad 1991 in den neuen Ländern mit etwa 50 Prozent der abhängig Erwerbstätigen noch weit über dem Durchschnitt der kontinentaleuropäischen Staaten, so stürzte er bis zur Jahrtausendwende auf 18 Prozent ab.

Das, was folgte, war weit mehr als eine gewöhnliche Krise gewerkschaftlicher Repräsentation. Der »ohne Ergebnis abgebrochene« (Gewerkschaftssekretär I11) Arbeitskampf um die Einführung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie (Schmidt 2003) stand geradezu symbolisch für einen »Auflösungsprozess gewerkschaftlicher Organisationsmacht« (Brinkmann u. a. 2008: 33). Der Osten drohte, wenn schon nicht zu einer gewerkschaftsfreien Zone, so doch zu einer Region ohne nennenswerten Gewerkschaftseinfluss zu werden. An offensiv geführte Streikauseinandersetzungen war lange Zeit nicht mehr zu denken. Diese Tendenz schlug sich auch in unseren empirischen Forschungen nieder.1 Rückblickend sind vor allem vier Beobachtungen interessant, die gewissermaßen als Kontrastfolie für unsere empirischen Befunde zur Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht und zum Streikjahr 2015 dienen können.

(1) Erosion des Tarifsystems und neue Konfliktformen: Nach der Jahrtausendwende zeichnete sich in der gesamten Bundesrepublik ein wachsender Druck auf das System der Flächentarifverträge ab. Dieses Phänomen betraf keineswegs nur prekäre Randbelegschaften oder klein- und mittelständische Betriebe. Es fand sich selbst in den verbliebenen Hochburgen gewerkschaftlicher Organisierung, etwa bei den Endherstellern im Wertschöpfungssystem Automobil. Ausgehend von den großen Unternehmen breiteten sich Formen einer kompetitiven betrieblichen Solidarität aus, die jeder überbetrieblichen Interessenpolitik den Boden zu entziehen drohten.2 Ein befragter Gewerkschaftssekretär aus den alten Ländern beschrieb den damals vorherrschenden Trend in der Metall- und Elektroindustrie mit folgenden Worten:

»Das Betriebsverfassungsgesetz ist zurzeit noch das einzige, was eine gewisse Sicherheit bietet. Aber die Anzahl der Betriebe, in denen das Betriebsverfassungsgesetz erkämpft werden muss, nimmt ständig zu. In der Praxis bekomme ich drei Dinge immer wieder vorgeführt: Erstens ist die Selbstverständlichkeit, dass Tarifverträge und Gesetze akzeptiert werden in den Betrieben, nicht mehr vorhanden, bis hinein in Großbetriebe. Sie müssen mit großer Mühe tagtäglich wieder erkämpft werden. In einer ganzen Reihe von Klein- und Mittelbetrieben wird einfach das Betriebsverfassungsgesetz außer Kraft gesetzt und wenn sich die Kollegen nicht wehren, dann bleibt das auch so. In großen und einigen mittleren Betrieben können wir es teilweise unter großer Kraftanstrengung wieder in Kraft setzen. Der Tarifvertrag wiederum war für die Kollegen immer noch der Schutz des ›darunter geht’s nicht‹ – dieser Schutz hat Löcher bekommen. Da haben wir teilweise sogar selber mitgemacht, in Sanierungsfällen oder Erpressungssituationen ist das auch schwierig zu vermeiden.« (Gewerkschaftssekretär IG Metall, Norddeutschland)

Infolge dieser Entwicklung begann sich die Funktion des Flächentarifvertrages zu wandeln. Hatte er lange Zeit als eine Art Mindestnorm gegolten, die in betrieblichen Vereinbarungen überschritten werden konnte, so wurde er nun mehr und mehr zu einer Höchstmarke, von der aus in den Unternehmen nach unten verhandelt wurde. Aus der gewerkschaftlichen Perspektive ging es überwiegend um die Aushandlung interessenpolitischer Rückschritte. Im Rahmen ständig wiederkehrender Standortkonkurrenzen wurden stets aufs Neue Bestandteile tariflicher Regelungen infrage gestellt. Der Tarifkonflikt verwandelte sich mehr und mehr in einen »Häuserkampf«. Die Kapitalseite diktiere das Geschehen; einen tariflichen Normalzustand gebe es nicht mehr, lautete das für unsere Betriebsräte-Studie repräsentative Statement eines befragten Bevollmächtigten (IG Metall, Norddeutschland). In dieser Konstellation sahen sich lokale Gewerkschaftsgliederungen mit einer paradox anmutenden Situation konfrontiert. Um handlungsfähig zu bleiben, waren sie einerseits verstärkt auf Betriebsräte und andere betriebliche Akteure angewiesen, andererseits mussten sie gerade in den Betrieben immer wieder schwindende Durchsetzungsmacht konstatieren:

»Die Belegschaften nehmen fast alles hin, nur damit sie ihren Job behalten. Wir hatten hier so eine Krisenbude. Die haben uns dann die ganze Palette aufgetischt. Und da habe ich einen Sch…-Tarifvertrag gemacht. Aber ich habe doch keine Alternative mehr. Trage ich das mit, weiß ich, ich bin raus aus dem System der Fläche, trage ich das nicht mit, kann ich mich im Betrieb nicht mehr sehen lassen.« (Gewerkschaftssekretär, IG Metall)

Starke Betriebsräte, die unter solchen Bedingungen zunehmend Managementfunktionen übernahmen, mussten bei Misserfolgen eine Delegitimierung ihrer Politik befürchten. Doch Not machte auch erfinderisch. In Auseinandersetzungen um Standortverlagerungen und drohende Betriebsschließungen begannen lokale Gewerkschaftsgliederungen mit betrieblichen Tarifkommissionen zusammenzuarbeiten. Sie machten gewerkschaftliche Organisierungen der Belegschaften zur Vorbedingung für Verhandlungen und erzielten auf diese Weise selbst in Betrieben, deren Schließung bereits feststand, teilweise spektakuläre Mitgliedergewinne. Solche Auseinandersetzungen, die den industriellen Konflikt aus der tariflichen Arena gewissermaßen in die Betriebe zurück verlagerten, erwiesen sich allerdings als sehr voraussetzungsvoll. Wie wir heute wissen, konnten sie die Anpassung des Tarifsystems an die Flexibilitätsbedarfe der Unternehmen, wie sie das 2004 vereinbarte Pforzheimer Abkommen in der Metall- und Elektroindustrie geregelt hatte, nur sehr begrenzt im Sinne organisierter Arbeitsinteressen beeinflussen (optimistischer: Schwarz-Kocher 2014). »Häuserkämpfe« setzten voraus, dass in den Betrieben Kampfbereitschaft erzeugt werden konnte. Das war insbesondere in vielen Ostbetrieben nicht der Fall. Dort war die gewerkschaftliche Mobilisierungsfähigkeit deutlich geringer ausgeprägt als in den westdeutschen Untersuchungsregionen. Als mobilisierungstauglich galten befragten Betriebsräten allenfalls die Themen »Löhne« und »Standorterhalt«. Hinsichtlich der Regulation von Arbeitszeiten fielen die Einschätzungen zu potenzieller betrieblicher Mobilisierung in den ostdeutschen Betrieben deutlich skeptischer aus als im Westen (ebd.: 39–50).

(2) Betriebsräte auf Distanz zu den Gewerkschaften: Diese Feststellung berührt bereits eine zweite Beobachtung, bei der es um das Verhältnis von Gewerkschaften und Betriebsräten geht. Zwar kann im Rückblick von einem gelungenen Institutionentransfer im Feld der Arbeitsbeziehungen gesprochen werden; die betriebliche Mitbestimmung wurde, wenngleich mit geringerer betrieblicher Deckungsrate, auch im Osten der Republik erfolgreich adaptiert (Kohte/Burkert/Schika 2012: 189–201). Doch lange Zeit agierte eine überdurchschnittliche Zahl der Betriebsräte in den neuen Ländern allenfalls in freundlicher Distanz zu den Gewerkschaften (Candeias/Röttger 2008; Candeias u. a. 2009: 25–27). Unter den von uns befragten ostdeutschen Betriebsräten befanden sich überdurchschnittlich viele, die dem Typus der reinen »Belegschaftsvertreter« oder dem der managementaffinen »Betriebswirte« zuzuordnen waren. Beide Typen zeichneten sich durch eine bewusste Distanzierung von den Gewerkschaften aus, teilweise waren die so klassifizierten Betriebsräte gar ausgesprochene Gewerkschaftsgegner. Anders als im Westen wurde die Infragestellung tariflicher Standards von den meisten Interessenvertretern nicht als sonderlich bedrohlich empfunden. Zahlreiche ostdeutsche Befragte erlebten den ständigen Druck auf Arbeits- und Lohnstandards als Normalität. Vielerorts waren Arbeitszeitverlängerungen durchgesetzt und vertraglich fixiert worden. Zwar fielen Standortverlagerungen weniger ins Gewicht als im Westen, weil ab 1990 im Osten bereits eine massive Deindustrialisierung stattgefunden hatte. Doch das Lohnniveau war generell niedriger als im Westen und die Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hoch. Wer es geschafft hatte, eine vergleichsweise gut bezahlte Stelle in einem Metallbetrieb zu ergattern, setzte alles daran, diesen Arbeitsplatz zu behalten und wollte ihn nicht durch gewerkschaftliches Engagement gefährden.

Angesichts der überwiegend schwachen Mobilisierungsfähigkeit ihrer Belegschaften praktizierten Betriebsräte in der überwältigenden Mehrheit reine Stellvertreterpolitik. Für gewerkschaftliche Ziele zu mobilisieren, trauten sich nur gut 20 Prozent der befragten Ost-Betriebsräte (im Westen 28 Prozent) zu. Der Großteil konzentrierte sich auf die Pflege eines guten Verhältnisses zu ihren regionalen Geschäftsgliederungen. Um Arbeitsplätze zu erhalten, wurden schlechtere Arbeitsbedingungen auf breiter Front akzeptiert. Die Distanz zur Gewerkschaft und zu gewerkschaftlichen Positionen war im Durchschnitt deutlich größer als im Westen. Kritik an einer »Überpolitisierung«, an einem allzu kämpferischen Auftreten der IG Metall sowie an »überzogenen gewerkschaftlichen Forderungen« kam häufig vor. Teilweise machte sie sich an »Gewerkschaftsfunktionären aus dem Westen« fest, die in den Augen befragter Betriebsräte »ziemlich große Töne spuckten« und so den kooperativen Umgang mit den Geschäftsführungen der Ost-Betriebe störten (Candeias u. a. 2009: 152).

(3) Das betriebliche und gesellschaftliche Demokratiedefizit: Solche Haltungen erklärten sich aus besonderen Vor- und Nachwendeerfahrungen vieler Interessenvertreter. Was die Ost-Betriebe auszeichnete, kann aus der Binnensicht befragter Interessenvertreter als Demokratiedefizit beschrieben werden. Die großen Vorbehalte gegenüber Gewerkschaften rührten zum Teil aus der DDR-Vergangenheit: »Jeder war im FDGB. Mit der Wende wollten wir diesen Zwang nicht mehr. Das Erste, was wir abschaffen wollten, [war, Anm. d. A.], dass die Gewerkschaft bei allen Themen im Betrieb mitregiert – wir sind im Betrieb die Interessenvertreter«, erläuterte ein Betriebsrat aus der Optoelektronik diese Haltung (ebd.: 152). Die Devise »Kein neuer FDGB!« war teilweise mit einer Konsensorientierung im Betrieb verknüpft, die nicht zuletzt darauf beruhte, dass die Anerkennung und das Austragen von Interessengegensätzen keineswegs als Voraussetzung und Lebenselixier – auch betrieblicher – Demokratie betrachtet wurden. Nicht zuletzt wegen der hohen Arbeitslosigkeit poche ich »nicht auf das, was mir eigentlich zusteht, […] denn ich weiß ja, was ich draußen bei anderen Betrieben bekomme – da geht es mir doch ganz gut hier, und das will man nicht aufs Spiel setzen«, beschreibt ein Interessenvertreter die Grundhaltung vieler Beschäftigter. Der – zweifelsohne idealisierte – Westen erschien gewerkschaftlich engagierten Betriebsräten geradezu als positive Kontrastfolie: »Die haben dort mehr eine eigene Meinung, diskutieren mehr. Da ist es normaler, dass man auch Politisches diskutiert. Wir haben die Kultur nicht, weil wir immer ›geführt‹ wurden« (ebd.: 153).

Im Osten delegierte man seine Interessen an Betriebsräte, die ihrerseits von Seiten des Managements wenig Anerkennung genossen. Waren betriebliche Mobilisierungen kurz nach der Wende vor allem beim Kampf um den Erhalt industrieller Kerne noch relativ leicht möglich, änderte sich das schon bald grundlegend. Die anfängliche Aufbruchsstimmung schlug in Desillusionierung um. Angesichts zahlloser Niederlagen nicht nur beim Erhalt von Betrieben und Arbeitsplätzen, sondern auch im Falle der vergeblichen Proteste gegen die Arbeitsmarktreformen (»Hartz-Gesetze«), stellten sich gerade bei den betrieblich Aktiven Ohnmachtsgefühle ein. Passivität der Belegschaften sei in der Wahrnehmung von Aktiven ein Moment »überall, auf jeder Ebene«. An positive Erfahrungen werde kaum angeschlossen, wenn, »dann an die negativen«, lautete das bezeichnende Resümee einer befragten Betriebsrätin (ebd.: 141–147). Die beklagte Passivität paarte sich teilweise mit harscher Kritik an der Praxis parlamentarischer Demokratie und an mangelnden demokratischen Einflussmöglichkeiten. Anders als in der früheren DDR könne nun jede und jeder in der Öffentlichkeit sagen, was sie oder er möchte, es habe aber keine wahrnehmbare Bedeutung. Daher kümmere sich jeder nur noch um seine Belange: »Wie im Westen: Ich schaue nur auf mich, was die anderen machen, geht mich nichts an« (ebd.: 155 f.). Vorenthaltene Demokratie wurde nach Ansicht vieler befragter Interessenvertreter seitens der Beschäftigten mit Demokratieabstinenz, mit Entsolidarisierung und Distanz zum politischen Raum beantwortet.

(4) Ungenutzte Potenziale: Angesichts solcher Haltungen schien der Weg in eine allmähliche Entgewerkschaftung oder zumindest in eine gewerkschaftsferne Verbetrieblichung der ostdeutschen Arbeitsbeziehungen fast schon schicksalhaft vorgezeichnet. Gerade in der Kritik an der unbefriedigenden Praxis demokratischer Verfahren und Institutionen in Betrieb und Gesellschaft deutete sich aber schon damals eine Gegentendenz an. Die Kritik beinhaltete häufig ein unausgesprochenes Plädoyer für eine wirkungsvollere Mitbestimmung, für durchsetzungsfähige Gewerkschaften und für mehr Demokratie. Dabei handelte es sich nicht nur um Absichtserklärungen. So gaben immerhin 12 Prozent der von uns standardisiert befragten Betriebsräte aus den östlichen Untersuchungsregionen an, in sozialen Bewegungen aktiv mitzuarbeiten – nicht viel weniger als in den westlichen Regionen, wo sich 15 Prozent in solchen Bewegungen engagierten (ebd.). Ähnlich wie in einigen West-Regionen gab es auch im Osten Betriebsräte und lokale Gewerkschaftsgliederungen, die mit direkter Beschäftigten- und Mitgliederpartizipation experimentierten. Ausnahmefälle illustrierten, dass eine beteiligungsorientierte Politik, wie sie in einigen Bezirken der IG Metall betrieben wurde, auch im Osten für gewerkschaftliche Erneuerung genutzt werden konnte (ebd.: 147).

So war es für die meisten befragten Interessenvertreter eines optoelektronischen Unternehmens selbstverständlich, Gewerkschaftsmitglied zu sein. Allerdings sprachen die Betriebsräte überwiegend von einem komplizierten Spagat zwischen den Interessenorientierungen der Beschäftigten und der Gewerkschaft, den sie zu leisten hatten, um tragbare Kompromisse zwischen betrieblich Machbarem und gewerkschaftlich Erwünschtem zu finden (Behr u. a. 2013: 59 f.). Interessant ist, dass die Betriebsräte in ihrer Kritik an den Gewerkschaften häufig ein innerorganisatorisches Demokratiedefizit monierten:3 »Die Gewerkschaft muss da auch mal auf die Leute stärker hören und nicht immer versuchen, ihre eigenen Interessen aus irgendwelchen Gründen durchsetzen zu wollen. Das kostet sicherlich Mitglieder. Das ist ganz klar«, argumentierte ein kritischer, aber sehr engagierter Betriebsrat, der aus der Gewerkschaft ausgetreten war (ebd.: 60). Selbst die Gewerkschaftsmitglieder unter den befragten Betriebsräten betrachteten die IG Metall als »äußeren« Akteur, auf dessen Unterstützung man nur zurückgriff, sofern keine andere Möglichkeit blieb. Dementsprechend skeptisch wurde die Entwicklung gewerkschaftlicher Organisationsmacht bewertet. Die pessimistische Sicht der meisten Betriebsräte stand allerdings im Kontrast zu Ergebnissen einer von uns durchgeführten Belegschaftsbefragung, die auf ein erhebliches ungenutztes Potenzial bei Beschäftigten verwies. Ein beträchtlicher Teil der Belegschaft war prinzipiell für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft ansprechbar, immerhin 15 Prozent der Befragten gaben an, »auf jeden Fall« oder »unter Umständen« bereit zu sein, sich aktiv für die IG Metall zu engagieren (ebd.; sowie Behr/Dörre 2008). Das war ein ausgesprochen hoher Anteil einer vermeintlich weitgehend gewerkschaftsabstinenten Belegschaft. Real blieb es jedoch bei Absichtsbekundungen von Beschäftigten. Weder den gewerkschaftsnahen Betriebsräten noch den zuständigen lokalen Gewerkschaftssekretären gelang es, bekundetes in reales Engagement zu verwandeln. Das gewerkschaftliche Mitgliederpotenzial in den Standortbetrieben schien groß, aber den lokalen Gewerkschaftern fehlte es an Konzepten und Gelegenheiten, um die gewerkschaftliche Organisationsmacht nachhaltig zu stärken.

Wenngleich es sich bei dem untersuchten Ostunternehmen um einen in vielerlei Hinsicht singulären Fall handelte – die Belegschaft zeichnete sich traditionell durch eine hohe Identifikation mit dem Unternehmen aus –, ließen sich die Aussagen zur wachsenden Kluft zwischen den Akteuren der betrieblichen Mitbestimmung einerseits und der gewerkschaftlichen Interessenrepräsentation andererseits doch bis zu einem gewissen Grad verallgemeinern (Mense-Petermann 1996; Artus u. a. 2001; Brinkmann u. a. 2008: 33 f.). Im Osten Deutschlands war offenbar ein Raum entstanden, in welchem die betriebliche Mitbestimmung selbst dort, wo sich ihre Akteure aktiv betätigten, mit vergleichsweise schwacher gewerkschaftlicher Organisationsmacht einherging. Diese Entwicklung berührte die selten erforschte Nahtstelle von betrieblicher Interessenvertretung und gewerkschaftlicher Politik. In seiner viel beachteten Betriebsrätestudie hatte Herrmann Kotthoff (1994) vergleichsweise stabile westdeutsche Mitbestimmungskulturen porträtiert, die künftig nur von zwei damals eher unwahrscheinlichen Entwicklungen bedroht schienen. Das waren die Auflösung des Lohnarbeiterstatus einerseits und der dramatische Verfall gewerkschaftlicher Organisationsmacht andererseits. Gut zehn Jahre später wollten Arbeitsbeziehungs-Forscher wie Walther Müller-Jentsch das Szenario eines »Kapitalismus ohne Gewerkschaften« (Müller-Jentsch 2006) zumindest im Osten Deutschlands nicht mehr vollständig ausschließen. Doch wie so häufig gilt: Totgesagte leben länger. Heute bedeutet Ostwind für die Gewerkschaften nicht mehr zwangsläufig Gegenwind. Noch ist aber unklar, ob es sich bei dem, was Interessenvertreter nun in ihrem Rücken spüren, nur um eine schwache Brise oder doch um eine jener kräftigen Luftströmungen handelt, die als Folge von Klimaveränderungen länger anhalten können.

1.2Rückenwind 2015

Was ist 2015 anders als zur Jahrtausendwende? Eine erste Antwort lautet: Das öffentliche Klima, die Wahrnehmung von Gewerkschaften, hat sich verändert und zwar in West und Ost. Auf den ersten Blick verwirrend, ist dieser Stimmungsumschwung ausgerechnet mit der großen Wirtschaftskrise von 2008/09 eingetreten. Während der tiefsten Rezession der bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte konnten insbesondere die Industriegewerkschaften mit kooperativem Krisenmanagement punkten. Es waren aber keineswegs nur Abwrackprämie und Langzeit-Kurzarbeit, die dazu beitrugen, eine Beschäftigungskatastrophe zu vermeiden. In manchen Unternehmen verhinderten Betriebsräte und Belegschaften mit Aktionen bis hin zu Warnstreiks und Großdemonstrationen Massenentlassungen. Unterhalb dieser Schwelle war es häufig dem hartnäckigen Drängen von lokalen Gewerkschaften und betrieblichen Interessenvertretungen zu verdanken, dass beschäftigungssichernde Instrumente angewendet wurden (Schwarz-Kocher 2014; Hinz/Woschnack 2013: 161–172). Ein Krisenmanagement, das in der Industrie maßgeblich dazu beigetragen hatte, Stammbelegschaften zu sichern, sorgte in Verbindung mit einer wirkungsvollen betrieblichen Interessenpolitik offenbar für einen Imagegewinn der Gewerkschaften. Aus den vermeintlichen Hauptverursachern der »deutschen Krankheit« waren in den Leitmedien verantwortungsbewusste Krisenmanager geworden.

Der Stimmungsumschwung zugunsten der Gewerkschaften hält bis heute an. Lohnforderungen und selbst Arbeitskämpfe finden plötzlich Unterstützung in den Medien. Beim gesetzlichen Mindestlohn war das gewerkschaftliche Agenda-Setting erfolgreich. Demoskopen bescheinigen den Lohnabhängigenorganisationen ein deutlich verbessertes Ansehen in der Bevölkerung. Zwar hat sich über Nacht nicht alles zum Besseren gewendet; häufig genug ist noch immer das Gegenteil der Fall, aber es ist für die gewerkschaftliche Alltagsarbeit doch von Vorteil, wenn Arbeitnehmerorganisationen nicht mehr am öffentlichen Pranger stehen. Ein Auszug aus einem Interview mit einem lokalen IG Metall-Sekretär bringt auf den Punkt, was uns in vielen Gesprächen begegnet ist:

Interviewer: »Was ist anders?«

Gewerkschaftssekretär: »Das Klima, […], da ist immer Skepsis da bei den Kollegen, das wird auch immer so bleiben, und das ist auch okay. […] Aber die Abneigung oder dieser Hass, der geschürt wird, der ist nicht mehr da. Und das ermöglicht Menschen, auch andere Wege zu gehen, und das befähigt sie auch.« (Gewerkschaftssekretär I11)

Diese »Befähigung« drückt sich nicht zuletzt in Mitgliederzahlen aus. Zwar verzeichnet der DGB noch immer Mitgliederverluste, doch manche seiner Mitgliedsorganisationen, darunter auch die IG Metall und – in jüngster Zeit mit Rückschlägen – die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG)4, weisen seit einigen Jahren eine positive Mitgliederbilanz auf. Diese Entwicklung setzte bei den Einzelgewerkschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein. Im Organisationsbereich der IG Metall machte sich der Trend ab 2011 besonders stark bei jungen Mitgliedern, Leiharbeitern und auch in den Ost-Verwaltungsstellen in Sachsen und Thüringen bemerkbar (Interne Mitgliederstatistik der IG Metall 2015; Urban 2013: 383). Bei der NGG war zwischen 2011 und 2014 ebenfalls ein stetiges Mitgliederplus in Ostdeutschland und hier insbesondere bei den unter 35-Jährigen zu beobachten. Sichtbar wird der Zuwachs vor allem dann, wenn man den Fokus auf die betriebsangehörigen bzw. erwerbstätigen Mitglieder richtet. In dieser für Organisationsmacht zentralen Kernmitgliedschaft weisen IG Metall und NGG seit einigen Jahren wieder deutliche Mitgliederzuwächse aus (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2: Betriebsangehörige bzw. erwerbstätige Gewerkschaftsmitglieder in Ostdeutschland: IG Metall und Gewerkschaft NGG

Hinweis: »Betriebsangehörige Mitglieder« (IG Metall) beinhaltet auch die »Auszubildenden«. Ostdeutschland umfasst bei der NGG den Landesbezirk Ost und die Region Mecklenburg-Vorpommern. Für das Jahr 2005 (NGG) liegen keine Angaben vor.

Quelle: Interne Mitgliederstatistiken der NGG und der IG Metall; eigene Berechnungen.

Die »Kurve der Hoffnung«, in der sich andeutet, dass die Talsohle bei der Mitgliederentwicklung durchschritten sein könnte, ist aber nicht der einzige Indikator für ein Comeback der Gewerkschaften. Wie wir aus einer kleinen Pilotstudie zur vorliegenden Untersuchung wissen, ist es im Osten zu einer Serie erfolgreicher Betriebsratsneugründungen gekommen, bei denen oft Unzufriedenheit mit der Entlohnung oder eine Kritik an paternalistischen Strukturen der Unternehmensleitung im Vordergrund stehen (Schmalz u. a. 2013: 258 f.; Röbenack/Artus 2015). Anfragen zu Betriebsratsgründungen kommen aus Unternehmen, die für die lokalen Gewerkschaften lange als uneinnehmbare Festungen galten. Macht sich der Rückenwind für Gewerkschaften und betriebliche Mitbestimmung teilweise in der Neugründung oder Aktivierung betrieblicher Interessenvertretungen bemerkbar, so sind es in anderen Fällen Tarifverhandlungen und die direkte Beteiligung der Mitgliederbasis im Betrieb, die Chancen zur Erneuerung gewerkschaftlicher Organisationsmacht erkennen lassen.

Mitgliedergewinne dürften auch darauf zurückzuführen sein, dass sich innerhalb der Gewerkschaften etwas verändert hat. Die DGB-Organisationen verfügen inzwischen über ein großes Repertoire an Erneuerungspraktiken (Kocsis/Sterkel/Wiedemuth 2013; Schmalz/Dörre 2013; Wetzel 2013). Unverkennbar werden bei der Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht neue Wege beschritten. Dazu gehören Experimente mit beteiligungsorientierten Ansätzen der Gewerkschaftsarbeit, die von der »Besser-statt-billiger«-Kampagne zur Mitbestimmung der Beschäftigten bei Tarifabweichungen (Brettschneider u. a. 2010) über partizipative Formen der Streikführung (Kutlu 2013) bis hin zur bedingungsgebundenen Tarifarbeit (Neuner 2013) reichen. IG Metall und NGG nehmen, wenngleich auf unterschiedlichen Feldern und Ebenen, dabei eine Vorreiterrolle ein. Die IG Metall hat im Zuge einer umfangreichen Organisationsreform einen Fonds mit rund 20 Millionen Euro jährlich für Mitgliederwerbung und Kampagnen geschaffen. Über diesen Fonds können Erschließungs- und Organizingprojekte gefördert werden. Als wichtiges Medium zur Rückkoppelung für das »German Organizing« (Wetzel 2013: 22) dienen Beschäftigtenbefragungen, aus denen Themen in die strategische Planung der Gewerkschaft eingeflossen sind. Die IG Metall verzeichnet nun auch deutliche Erfolge in Bereichen, die zuvor als »weiße Flecken« galten. Zum Organisationswandel gehört die Öffnung für Gruppen, die lange Zeit nicht im Fokus gewerkschaftlicher Organisationsbemühungen standen. Dazu zählen insbesondere prekär Beschäftigte. Ein erfolgreicher Tarifabschluss, der erhebliche Verbesserungen für Leiharbeiter beinhaltete, steht exemplarisch für diesen Trend. Die IG Metall hat mit ihrem Projekt »Zukunft Ost« beträchtliche personelle und materielle Ressourcen bereitgestellt, um in den neuen Ländern wieder stärker Fuß zu fassen.

Für die NGG bedeutet Erneuerung ebenfalls, »Geländegewinne« in Branchen anzustreben, in denen die Tarifdeckung besonders gering ist (NGG 2013: 62). Im heterogenen Organisationsbereich der Gewerkschaft sind nichtstandardisierte, schlecht entlohnte Beschäftigungsformen wie z. B. Werkverträge besonders stark verbreitet. Als Reaktion darauf hat die Organisation ihre Anstrengungen zum Abschluss von Tarifverträgen und zur Gründung von Betriebsräten verstärkt. Die gewerkschaftliche Organisierung von mindestens 50 Prozent der Belegschaften gilt als Bedingung für den erstmaligen Abschluss von Haustarifverträgen (ebd.: 85). Zusätzlich zur tariflichen Arbeit organisierte die NGG unter anderem eine Kampagne gegen verdeckte Leiharbeit, in deren Rahmen Belegschaften für die Problematik sensibilisiert und gesetzliche Veränderungen eingefordert wurden (NGG 2012). Entscheidende strategische Innovation war die frühzeitige Festlegung der kleinen Gewerkschaft auf die Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn. Diese Forderung führte die heterogenen Organisationsbereiche zusammen und machte die NGG auf diese Weise bündnis- und organisationsfähig. In beiden Gewerkschaften hat, so können wir resümieren, ein mehr oder minder weitreichender Organisationswandel stattgefunden, der bei aller Unterschiedlichkeit darauf hinausläuft, dass die Beteiligung von Mitgliedern an Entscheidungsprozessen und die Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht Eingang in die strategische Planung und die Organisationsroutinen gefunden haben.

Alle genannten Veränderungen deuten darauf hin, dass sich keineswegs nur in Westdeutschland, sondern gerade auch in den ostdeutschen Bundesländern ein günstiges Gelegenheitsfenster für eine Erneuerung gewerkschaftlicher Organisationsmacht geöffnet hat. Vermutlich stellen günstige Gelegenheiten allein aber weder eine Garantie für eine Stärkung gewerkschaftlicher Organisationsmacht dar, noch beinhalten sie ein Versprechen auf einen widerspruchsfreien Trend hin zu einem Aufschwung von Mitbestimmung und kollektiver Interessenvertretung der Lohnabhängigen. Deshalb wird unter Wissenschaftlern und Praktikern kontrovers diskutiert, was den Rückenwind auslöst, wie er von den Gewerkschaften zu nutzen ist und ob er auf Dauer gestellt werden kann (Lorenz 2013; Schmalz/Dörre 2013; Schroeder 2014).

An dieser Problematik setzt unsere5 Untersuchung an. Ihr Ziel ist nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, nachzuweisen, dass es eine Tendenz zu größerer Streikbereitschaft, zu gewerkschaftlicher Erneuerung und zur Stärkung von Organisationsmacht gibt. Diese Tendenz setzen wir im Untersuchungsdesign voraus. Unser Untersuchungsgegenstand sind lokale Gewerkschaftsgliederungen sowie von ihnen betreute Betriebsfälle, die – möglicherweise – für gewerkschaftliche Revitalisierung und einen Zuwachs an Lohnabhängigenmacht stehen. Indikatoren sind neben steigenden Mitgliederzahlen vor allem die Neugründung oder Wiederbelebung von Betriebsräten, bessere Chancen für Tarifvereinbarungen, eine Erweiterung gewerkschaftlichen Handlungsvermögens und damit verbunden ein Zuwachs an Durchsetzungs-, Konflikt- und Mobilisierungsfähigkeit. Streikfähigkeit und Streikbereitschaft sind in diesem Zusammenhang nur ein Kriterium unter vielen.

Unsere erste zentrale Annahme lautet, dass es neben günstigen Gelegenheitsstrukturen und politischen Unterstützungsleistungen besonderer strategischer Fähigkeiten betrieblicher und gewerkschaftlicher Akteure bedarf, um die neue gesellschaftliche Großwetterlage organisationspolitisch nutzen zu können. Dies wird vor allem dann deutlich, wenn sich die betrieblich Aktiven mit gespaltenen Belegschaften konfrontiert sehen, die in Teilen für antigewerkschaftliche Mobilisierungen offen sind. Arbeitskämpfe, so unsere zweite Annahme, müssen im Kontext von umfassenderen Bemühungen betrachtet werden, gewerkschaftliche Organisationsmacht zu stärken. Sie sind nicht nur Reaktion auf zunehmende Vermögens- und Einkommensungleichheit (Fratzscher 2016) sowie Resultat einer Dezentralisierung organisierter Arbeitsbeziehungen, sondern entspringen auch dem Versuch, Arbeitskämpfe als Mittel zur Stärkung von gewerkschaftlicher Organisationsmacht zu nutzen.

Diese Annahmen haben wir in sieben forschungsleitende Fragen übersetzt: (1) Gibt es strukturelle Ursachen am Arbeitsmarkt und in den Betrieben, die gewerkschaftliche Organisationserfolge begünstigen? (2) Welche Problemwahrnehmungen und Motive von Beschäftigten fördern gewerkschaftliche Organisationsmacht und Handlungsfähigkeit? (3) Lassen sich besondere Gruppen von Aktiven identifizieren, deren Interaktionen mit repräsentierten Belegschaftsgruppen für eine Stärkung von Organisationsmacht bedeutsam sind? (4) Bedarf es besonderer strategischer Fähigkeiten, um mittels innovativer Praktiken die gewerkschaftliche Konflikt- und Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen? (5) Wie setzen sich Betriebsräte und Gewerkschaften mit Gegenmobilisierungen auseinander? (6) Welchen Stellenwert haben Streiks und streikähnliche Konfliktformen für die Erneuerung gewerkschaftlicher Organisationsmacht? (7) Können politische Unterstützungsleistungen zu einer Stärkung gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit beitragen?

1.3Forschungsdesign, Methoden, empirische Basis

Diesen Fragen sind wir im Rahmen einer explorativen Studie, genauer gesagt im Rahmen von zwei Teiluntersuchungen nachgegangen, die nicht Repräsentativität im statistischen Sinne, wohl aber hohe Plausibilität bei der Beschreibung und, so hoffen wir, der Erklärung der untersuchten Phänomene beanspruchen können. Gleichwohl müssen wir mit Nachdruck darauf aufmerksam machen, dass das für qualitative Erhebungen sehr umfangreiche empirische Material nur eine begrenzte Beweiskraft hat. Das gilt insbesondere für Aussagen zu subjektiven Orientierungen und Bewusstseinsformen von Beschäftigten, die wir überwiegend nur »aus zweiter Hand«, aus der Perspektive von Gewerkschaftssekretären und betrieblich Aktiven, rekonstruieren können. Allerdings haben wir unsere Befunde nicht allein mittels Crosschecking (den Quervergleich von Aussagen über Einzelinterviews, Betriebsgrenzen und Positionen hinweg) und Fallvergleichen gewonnen, sondern auch in Präsentationen und Gesprächen mit Gewerkschaftern und betrieblichen Praktikern zusätzlich gehärtet. Aus diesem Grund sind wir sicher, dass sich unsere Untersuchungen nah an den Alltagswelten von Arbeitern, Angestellten und ihren gewerkschaftlichen Repräsentanten bewegen. Nachfolgend informieren wir über die Anlage, die Erhebungsinstrumente, Auswertungsverfahren und die empirische Basis der beiden Teilstudien.

(1) Anlage der Untersuchung, Erhebungsmethode, Auswertungsverfahren: Unsere erste Teilstudie beinhaltet vier Erhebungsschritte – eine Analyse der Mitgliederentwicklung von IG Metall und NGG, eine Expertenbefragung von Gewerkschaftssekretären aus den Organisationsbereichen der genannten Gewerkschaften, eine leitfadengestützte Befragung von betrieblich Aktiven sowie eine Erhebung zu politischen Unterstützungsleistungen, die wir in Thüringen durchgeführt haben (»Thüringenkorporatismus«). Hinzu kommt eine zweite Teilstudie mit umfangreichen Nacherhebungen und einem Hearing mit Wissenschaftlern und Gewerkschaftern zu den Arbeitskämpfen im Jahr 2015. Für die Wahl der Organisationsbereiche von IG Metall und NGG waren zwei Gründe ausschlaggebend. Erstens weisen beide Organisationen bei den betriebsaktiven Mitgliedern seit einigen Jahren relativ konstante Mitgliedergewinne auf und können in gewisser Weise als Vorreiter einer Erneuerung gewerkschaftlicher Organisationsmacht gelten. Zweitens lassen sich in den Betrieben, die von der NGG und der IG Metall organisiert werden, für die Industriestruktur Ostdeutschlands relativ charakteristische Phänomene wie niedrige Löhne und lange Arbeitszeiten beobachten.

Zur Identifizierung geeigneter Betriebsfälle wurden zunächst vier (NGG) bzw. sechs (IG Metall) Experteninterviews (Bogner/Littig/Menz 2005; Gläser/Laudel 2004) mit Ansprechpartnern aus ostdeutschen Verwaltungsstellen der IG Metall sowie mit Angehörigen von Regionalbüros der NGG geführt. Die Interviews dienten der Identifikation geeigneter Betriebsfälle und einem ersten Überblick über innovative betriebs- und gewerkschaftspolitische Praktiken. Sie wurden inhaltsanalytisch ausgewertet (Gläser/Laudel 2004: 191 f.; Mayring 2003). Hierfür haben wir die Transkripte zunächst theoriegeleitet kodiert und anschließend die relevanten Informationen zusammengefasst (Mayring 2003: 472 f.). Als Grundlage für die betrieblichen Fallstudien dienten problemzentrierte, leitfadengestützte Interviews (Kaufmann 1999: 24; Witzel 2000) mit betrieblich Aktiven. Je Betrieb haben wir in der Regel mindestens zwei Beschäftigte befragt, die zum Kern der gewerkschaftlich Aktiven gehörten. Die problemzentrierten Interviews wurden mit Hilfe eines heuristischen Rahmens, das heißt thematisch auf die Fragestellungen hin fokussiert und ausgewertet (Kelle/Kluge 2010: 43 f.). Auf diese Weise konnten wir die zentralen Themen und Deutungsmuster der Befragten herausarbeiten. Anschließend haben wir relevante Interviewpassagen mittels reflektierender Interpretation (Bohnsack 1993: 132–138) intensiver analysiert.

Das Expertenhearing zu den Arbeitskämpfen im Jahr 2015, das die empirische Basis der zweiten Teilstudie bildet, stellt aus unserer Sicht eine methodische Innovation dar, die in Anlehnung an Gruppendiskussionsverfahren entwickelt wurde. Die beteiligten Experten aus Wissenschaft und Gewerkschaften erhielten vorab mehrere Leitfragen zu den Streiks, zu denen sie während des Hearings einleitend Stellung nahmen. Anschließend fragte das Forschungsteam nach; die Experten diskutierten aber auch spontan untereinander. Das gesamte Hearing wurde aufgezeichnet, protokolliert und sodann inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Ergebnisse des Streikhearings präsentierten einzelne Mitglieder des Forschungsteams in Workshops und Veranstaltungen unter anderem mit Betriebsräten und Politikern, aber auch mit Repräsentanten von Arbeitgeberverbänden. Erste Verschriftlichungen der Ergebnisse wurden wiederum mit zusätzlich ausgewählten Gewerkschaftern und Wissenschaftlern debattiert. Auf diese Weise konnten zeitlich komprimiert Informationen gewonnen werden, die in verdichteter Form unter anderem in das Streikkapitel des Buchs sowie in das zusammenführende Kapitel eingeflossen sind. Dieses Vorgehen entspricht der Intention einer organischen Public Sociology (Burawoy 2015: 57; Dörre 2014a; Clawson u. a. 2007; Jeffries 2009), die Wissen aus vertrauensvoller Kooperation mit Arbeitern, Angestellten und deren gewerkschaftlichen Repräsentanten generiert, um es in aufbereiteter Form an die Befragten zurück zu transferieren und deren Anliegen in geeigneten Öffentlichkeiten eine Stimme zu verleihen.

Die Fallauswahl der ersten Teilstudie zielte darauf, Gewerkschaftsgliederungen und Betriebe herauszufiltern, die für unsere übergeordnete Fragestellung interessant schienen. Hierzu zählten Fälle einer erfolgreichen Mitgliedergewinnung und -mobilisierung ebenso wie kontrastive Beispiele für »gespaltene Belegschaften«. Um die politischen Unterstützungsleistungen genauer zu analysieren, haben wir zudem Experteninterviews mit Vertretern aus Landespolitik, Wissenschaft, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden geführt.

(2) Empirische Basis, Branchen, regionale Schwerpunkte: Die Interviews der Haupterhebungswelle wurden zwischen Juli 2014 und Mai 2015 geführt. Unsere Studie basiert auf 23 Experteninterviews und 46 Beschäftigteninterviews in 21 Fallbetrieben (vgl. Tabelle 1). In einer Nacherhebung wurden zwischen November 2015 und Januar 2016 weitere acht Experteninterviews mit Hauptamtlichen der NGG und IG Metall geführt sowie ein Expertenhearing zu zentralen Streikauseinandersetzungen des Jahres 2015 durchgeführt.6 Für die Darstellung der Streiks haben wir im Rahmen einer zweiten Teilstudie weitere Betriebsfälle (insbesondere Metaflix, B25) mit Arbeitskämpfen aufgenommen. Zusätzlich greifen wir auf einige Ergebnisse aus einer Vorstudie mit acht Interviews in fünf Fallbetrieben zurück (siehe Vorstudien-Betriebe 22 bis 24). Darüber hinaus haben Ergebnisse aus einer gemeinsam mit Jenaer Studierenden durchgeführten Lehrforschung zum Thema »Gewerkschaftliche Erneuerung in Ostdeutschland« Eingang in die Auswertung gefunden. Im Rahmen der Lehrforschung wurden zusätzlich 14 Interviews mit Beschäftigten in vier Untersuchungsbetrieben sowie vier Experteninterviews mit Gewerkschaftssekretären (IG Metall) durchgeführt. Die qualitativen Erhebungen haben wir durch eine standardisierte Befragung ergänzt, die wirtschaftliche und soziale Hintergrundinformationen zu den Untersuchungsbetrieben und den Betriebsratsgremien zum Gegenstand hatte. Um die Anonymität unserer Interviewpartnerinnen und -partner zu gewährleisten, haben wir die Betriebe und die lokalen Gewerkschaftsgliederungen bzw. die Verwaltungsstellen mit Kunstnamen versehen. In der Liste der IG Metall-Verwaltungsstellen wird man Saxa, Radstadt, Ostmosel und Metropa nicht finden; es handelt sich um erfundene Bezeichnungen für reale Organisationseinheiten. Gleiches gilt für die Namen, die wir den Betrieben gegeben haben.

Insgesamt wurden 17 Betriebsfallstudien im Organisationsbereich der IG Metall und acht im Organisationsbereich der NGG durchgeführt. Eher zufällig hat sich eine gewisse Konzentration der Betriebsfälle eingestellt. Elf Untersuchungsbetriebe sind Teil der Wertschöpfungskette Automobil. Hier arbeiteten im Jahr 2010 rund 6,5 Prozent aller deutschen Beschäftigten (Meißner 2012: 194 f.). Aufgrund der anhaltenden Outsourcing- und Just-in-Time-Strategien der großen Endhersteller sind für die Zulieferer hoher Wettbewerbsdruck und starke Flexibilitätsanforderungen typisch. Dieser Druck wird oftmals direkt an die Belegschaften weitergegeben. Dabei hält nicht nur der Trend zur Fremdvergabe von Produktionsarbeiten an (etwa die Herstellung von Sitzen), auch produktionsnahe Dienstleistungen (von der Logistik bis zur Ingenieursarbeit) werden ausgelagert (Meißner 2013: 2). Nach Schätzungen lässt sich nur noch weniger als ein Fünftel der Wertschöpfung auf die Endhersteller zurückführen. Zum Vergleich: Anfang der 1980er Jahre lag dieser Wert noch bei rund der Hälfte (ebd.: 7). Zu den Untersuchungsfällen unseres Samples gehören sowohl produzierende Firmen (etwa Stahl-Meyer und Andensystems) als auch Logistiker (etwa Schoba-Automax und Auto-Flex). Aufgrund erheblicher Unterschiede hinsichtlich der Positionierung in der Wertschöpfungskette kann allerdings nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass Arbeiter in Zulieferbetrieben weitaus schlechtere Beschäftigungs- und Lohnbedingungen haben als jene der Endhersteller (OEMs [Original Equipment Manufacturer] wie VW, BMW oder Mercedes). Zur Familie der Zulieferer gehören immerhin Unternehmen wie BASF, Bosch oder Continental (Meißner 2012: 196 f.). Unsere Fallbetriebe zählen aber überwiegend zu jenen Unternehmen, die permanent unter Kostendruck stehen. Folglich sind niedrige Löhne und überlange Arbeitszeiten dort Normalität. Dass viele der untersuchten Betriebsfälle Teil der Wertschöpfungskette Automobil sind, ist für die Untersuchung aus zwei Gründen von Bedeutung: Zum einen können die Beschäftigungsbedingungen und Löhne der Endhersteller auch für die Aktiven im Zulieferbereich zum Referenzpunkt ihres Handelns werden. Zum anderen verfügen die Beschäftigten in der Zulieferkette aufgrund der Just-in-Time-Produktion über ein erhebliches Stör- und Druckpotenzial gegenüber den Endherstellern, das sich nutzen lässt, um die Verhandlungsmacht der Interessenvertretungen zu stärken.

Einen zweiten Schwerpunkt bilden sechs Fallbetriebe aus der Backwarenindustrie. Davon entfallen vier auf das Backgewerbe und zwei auf die »feinen Backwaren«, die zur Süßwarenbranche zählen. Das Backgewerbe, bestehend aus Bäckerhandwerk und Großbäckereien, ist mit fast 40 Prozent der Betriebe und knapp 30 Prozent der Beschäftigten ein Hauptbestandteil der Ernährungswirtschaft (NGG 2013: 119 f.). Darüber hinaus haben wir zwei Tiefkühlbackwarenhersteller (Backwerk und Brothaus) untersucht. Diese Sparte profitierte vom Aufbackwarenboom der jüngeren Vergangenheit, der insbesondere durch die Backautomaten in Supermärkten und Backfilialen stimuliert wird. Im Bereich der »feinen Backwaren« (Kekstal und Zuckerwelt) ist bei den Beschäftigtenzahlen dagegen ein rückläufiger Trend zu beobachten. Zwischen 2008 und 2012 ist aufgrund von Rationalisierungen, Restrukturierungen, Automatisierungsprozessen, Outsourcing, Produktionsverlagerungen ins Ausland und Leiharbeit fast ein Viertel aller Stellen (ca. 4000) verloren gegangen. Die Süßwarenindustrie zeichnet sich insgesamt durch einen hohen Exportanteil von fast einem Drittel der Produktion aus (ebd.: 140).

Die Belegschaftsgrößen im Sample reichen von 50 bis zu 1000 Beschäftigten und umfassen damit neben der typischen klein- und mittelbetrieblichen Betriebsgrößenstruktur Ostdeutschlands fünf verhältnismäßig große Betriebe (mehr als 500 Beschäftigte). 16 Untersuchungsbetriebe befinden sich in Thüringen, sechs in Sachsen und drei in Sachsen-Anhalt. Insgesamt wurden 45 Mitglieder von Betriebsräten und fünf funktionslose Gewerkschaftsmitglieder (34 Männer und 16 Frauen) interviewt. Tabelle 1 bietet einen Überblick über die Betriebsfälle, den Organisationsbereich, die jeweilige Branchenzugehörigkeit und die Betriebsgröße. Dokumentiert werden zudem das Gründungs- bzw. Reaktivierungsjahr des Betriebsrates, der gewerkschaftliche Organisationsgrad und, sofern vorhanden, die Reichweite tariflicher Regelungen.

Tabelle 1: Betriebsfallstudien im Überblick

Hinweis: Die Untersuchungen fanden in den Verwaltungsstellen (IG Metall) Eisenach, Jena-Saalfeld/Gera, Leipzig und Zwickau sowie in den Regionen (NGG) Thüringen und Magdeburg statt. Der Organisationsgrad wurde zum Erhebungszeitpunkt erhoben.

Quelle: eigene Darstellung.

1.4Machtressourcenansatz, strategische Handlungsfähigkeit, Streiks

Unsere Studie versteht sich als Beitrag zu den inzwischen umfangreichen Labor Revitalization Studies (u. a.: Voss/Sherman 2000; Frege/Kelly 2004; Brinkmann u. a. 2008; Schmalz/Dörre 2013). Die Grundannahme dieser Forschungsrichtung lautet, dass gewerkschaftliche Akteure auch in schwierigen Zeiten über die Möglichkeit einer strategischen Wahl (strategic choice) verfügen. Innerhalb vorgegebener Handlungskorridore sind sie durchaus in der Lage, Strategien zu entwickeln, mit deren Hilfe sie auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen reagieren können. Für die Operationalisierung gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit ist eine geeignete Machtkonzeption zentral. In dieser Studie geht es uns um Ausprägungen einer ermöglichenden Macht, um Machtressourcen, mit deren Hilfe Interessen und Ansprüche von Lohnabhängigen wirkungsvoll durchgesetzt werden können.

Mit dem in der Literatur so bezeichneten »Jenaer Machtressourcenansatz« (Urban 2015a: 228–232; Dörre 2010; AK Strategic Unionism 2013) haben wir ein begriffliches Instrumentarium entwickelt, das es uns erlaubt, Quellen von Lohnabhängigenmacht zu identifizieren, die nur teilweise und mitunter sehr vermittelt als gewerkschaftliche Macht wirksam werden. Im Mittelpunkt steht die Überlegung, dass Beschäftigte in der Regel nur durch kollektive Zusammenschlüsse und Mobilisierungen erfolgreich Interessen durchsetzen können. Für die Anwendung ihrer Machtressourcen müssen Arbeiter, Angestellte und ihre Repräsentanten jedoch strategisches Handlungsvermögen und spezifische Fähigkeiten ausbilden. Wir suchen nach empirisch erfassbaren, betrieblichen Praktiken gewerkschaftlicher Erneuerung und den mit ihnen korrespondierenden Fähigkeiten, die von hauptamtlichen Gewerkschaftern gefördert und durch politische Unterstützungsleistungen zusätzlich begünstigt werden können. Lohnabhängigenmacht beruht auf den folgenden vier Ressourcen.

(1) Strukturelle Macht entsteht aufgrund besonderer Positionierungen von Lohnabhängigen im Wirtschaftssystem (Silver 2005: 30 f.). Es existieren zwei Subformen struktureller Macht. Produktionsmacht äußert sich in der Fähigkeit, Produktionsabläufe zu beeinflussen oder zu stören. Insbesondere Lohnabhängige in hochintegrierten Produktionsprozessen oder in wichtigen Exportbranchen besitzen eine große Produktionsmacht, da sich Arbeitsniederlegungen weit über die direkt betroffenen Betriebe hinaus auswirken. Produktionsmacht wird manchmal dezentral oder spontan ausgeübt und umfasst auch verdeckte Formen des industriellen Konflikts wie Sabotage oder Bummelei. Marktmacht resultiert aus einer angespannten Arbeitsmarktlage und damit aus dem »Besitz seltener Qualifikationen, die von Arbeitgebern nachgefragt werden, geringer Arbeitslosigkeit« und der »Fähigkeit, sich vollständig vom Arbeitsmarkt zurückzuziehen und von anderen Einkommensquellen zu leben« (ebd.: 31). Marktmacht ist oftmals nur indirekt, zum Beispiel in Tarifverhandlungen, spürbar.

(2) Organisationsmacht entsteht aus kollektiven Zusammenschlüssen von Arbeitern und Angestellten. Sie kann fehlende strukturelle Macht teilweise kompensieren, jedoch nicht vollständig ersetzen. Wichtige Akteure sind Gewerkschaften, aber auch Betriebsgruppen oder -räte und politische Parteien. Neben hohen Mitgliederzahlen sind für Organisationsmacht andere Faktoren, etwa Infrastrukturressourcen, eine effiziente Organisationsstruktur, eine aktive Beteiligung der Gewerkschaftsmitglieder sowie verbindliche Orientierungen und Überzeugungen von Bedeutung (Lévesque/Murray 2013b: 42–48; AK Strategic Unionism 2013: 353–356).

(3) Institutionelle Macht ist das Resultat von Kämpfen und Aushandlungsprozessen, die auf struktureller Macht und Organisationsmacht beruhen. Ihre Besonderheit wurzelt darin, dass Institutionen soziale Basiskompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben können (Brinkmann u. a. 2008: 25). Institutionelle Macht wird in tariflichen Normen, Regeln betrieblicher Mitbestimmung, im Arbeitsrecht oder der Sozialgesetzgebung sowie in korporatistischen Dialogverfahren festgeschrieben. Sie wirkt über Gewohnheiten und Habitualisierung, indem sie den Akteuren organisierter Arbeitsbeziehungen bestimmte Handlungsstrategien nahelegt und andere unwahrscheinlich macht. Gewerkschaften können ihre institutionelle Macht ausspielen, indem sie sich auf verbriefte Rechte berufen. Mitunter können sie auch Lobbymacht, die ihnen eher informell zuwächst, erfolgreich einsetzen.

(4) Unter gesellschaftlicher Macht werden die Handlungsspielräume verstanden, die aus tragfähigen Kooperationszusammenhängen mit anderen Organisationen und Netzwerken sowie aus der Unterstützung gewerkschaftlicher Forderungen durch außerbetriebliche zivilgesellschaftliche Akteure heraus entstehen. Wir unterscheiden zwei Formen gesellschaftlicher Macht: Kooperationsmacht und Diskursmacht. Beide Machtressourcen sind miteinander verzahnt und verstärken sich wechselseitig. Kooperationsmacht entsteht aus der Verfügung über Netzwerke zivilgesellschaftlicher Akteure außerhalb der Arbeitswelt, die für gewerkschaftliche Mobilisierungen und Kampagnen aktiviert werden können (Frege/Heery/Turner 2004: 137 f.). Die wirksame Ausübung von Diskursmacht oder auch »kommunikativer Macht« kommt darin »zum Ausdruck, erfolgreich in öffentliche Debatten bzw. historisch gegebene hegemoniale Grundstrukturen von Öffentlichkeit intervenieren zu können« (Urban 2010: 444). Auf diese Weise soll Meinungsführerschaft zu gewerkschaftlich relevanten Themen ausgeübt werden. Kooperationsmacht baut darauf auf, dass die Bevölkerung gewerkschaftliche Anliegen mehrheitlich als gerecht empfindet. Werden die Gerechtigkeitsnormen und moralischen Legitimitätsvorstellungen großer Bevölkerungsgruppen verletzt, können Gewerkschaften, die sich dieser Problematik annehmen, öffentlichen Druck erzeugen.

Es bedarf allerdings immer des strategischen Handlungsvermögens von haupt- und ehrenamtlichen Gewerkschaftern, um Machtressourcen zu erkennen, zu erschließen und auch anzuwenden (Ganz 2000; Nachtwey/Wolf 2013). Die Durchsetzungsfähigkeit in gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen basiert letztlich auf der strategischen Nutzung situativ verfügbarer Machtressourcen. Strategisches Handlungsvermögen umfasst sämtliche Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissensbestände von gewerkschaftlich Aktiven, mit denen sich diese Akteure in die Lage versetzen, unterschiedliche Quellen von Lohnabhängigenmacht für eigene Anliegen nutzbar zu machen und sie in besonderen Handlungssituationen einzusetzen. Strategisches Handlungsvermögen existiert nicht nur in den Planungs- und Entscheidungszentren an der Spitze der Organisation. Es muss auch in Betrieben und dezentralen Gewerkschaftsgliederungen entwickelt und an spezifische Handlungsbedingungen angepasst werden. Strategische Handlungsfähigkeit bemisst sich vor allem an der Durchsetzungsfähigkeit von Gewerkschaften. Zur Zielerreichung können gewerkschaftliche Akteure auf ein weites Spektrum an Taktiken und Aktivitäten zurückgreifen, die sich im Spektrum von Kooperation und Konflikt mit den Adressaten ihrer Forderungen bewegen.

Bei gewerkschaftlicher Erneuerung geht es in der Regel nicht um die schematische Alternative Konflikt oder Kooperation, sondern um die bestmögliche Option für ein spezifisches Konfliktfeld. Wirkungsvoll agieren Gewerkschaften dann, wenn sie ein großes Spektrum an Strategien und taktischen Mitteln beherrschen. Der Streik ist eine besonders zugespitzte Form der Auseinandersetzung von Arbeitern und Angestellten mit der Kapitalseite, bei der in der Regel auf alle Quellen von Lohnabhängigenmacht zurückgegriffen wird. Streiks erfordern eine intensive Kommunikation der Gewerkschaften nach innen (organisationsinterne Öffentlichkeiten) und außen (mediale und politische Öffentlichkeiten). Sie sind eine Kampfform, mit deren Hilfe es Gewerkschaften zumindest punktuell gelingen kann, eine außergewöhnliche öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Anliegen und Forderungen zu erzielen. Mit einer aktiven Streikbeteiligung übertreten Gewerkschaftsmitglieder in gewisser Weise eine Schwelle. Sie riskieren etwas, sie üben Solidarität mit anderen und sind zugleich auf die Solidarität von anderen angewiesen. Die Erfahrung praktizierter Solidarität stellt einen Kontrast zu der verbreiteten Wahrnehmung dar, dass die Früchte von Tarifvereinbarung quasi automatisch und ohne eigenes Zutun entstehen und verteilt werden. Streiks sind ohne aktives Überzeugen von Mitgliedern weder möglich noch durchzuhalten. In der Gegenwart hängen Streikerfolge mehr denn je von der Fähigkeit ab, Ziele und Hintergründe in geeigneter Form in gesellschaftlichen Öffentlichkeiten zu präsentieren. Intelligent geführt, können Streiks für eine Stärkung von Organisations- und gesellschaftlicher Macht der Lohnabhängigen genutzt werden. Teilweise ermöglichen sie Organisierungserfolge. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich nicht um sogenannte »Tapezierstreiks« (Gewerkschafter bleiben zu Hause und nutzen den Arbeitskampf für Renovierungsarbeiten, d. A.) handelt, sondern Arbeitskämpfe aktiv geführt werden. Allerdings bedarf es zumeist besonderer Anstrengungen der betreffenden Gewerkschaftsgliederungen, um Organisationserfolge über den Streik hinaus zu verstetigen.