Soziologie - Kapitalismus - Kritik - Klaus Dörre - E-Book

Soziologie - Kapitalismus - Kritik E-Book

Klaus Dorre

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Beschreibung

Einst gehörte es zu den zentralen Aufgaben der Soziologie, die moderne Gesellschaft über die sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer Krisenhaftigkeit aufzuklären. Diesem heute oft vernachlässigten Anliegen fühlen sich die Autoren dieses Bandes verpflichtet und stellen die Frage nach dem zeitdiagnostischen Potential soziologischer Analyse in den Mittelpunkt einer Debatte. Zeitdiagnostisch fundierte Gesellschaftskritik, so eine ihrer Thesen, gehört zum Kerngeschäft der Soziologie. Eine zweite besagt, daß jede Gesellschaftskritik der Gegenwart notwendig auch Kapitalismuskritik sein muß. Anhand von drei unterschiedlichen, aber komplementären Perspektiven auf aktuelle Prozesse der Landnahme, der Aktivierung und der Beschleunigung wird eine soziologische Kritik der Gegenwartsgesellschaft entfaltet, die zugleich Ansatzpunkte für politisches Handeln aufzeigt.

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Seitenzahl: 465

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Schon für die Gründerväter des Fachs war es eine zentrale Aufgabe der Soziologie, die moderne Gesellschaft über die sozialen Voraussetzungen und Konsequenzen ihrer Krisenhaftigkeit aufzuklären. Diesem heute oft vernachlässigten Anliegen fühlen sich die Autoren verpflichtet, wenn sie die Frage nach dem zeitdiagnostischen Potential soziologischer Analyse stellen. Sie vertreten die Überzeugung, dass zeitdiagnostisch fundierte Gesellschaftskritik zum Kerngeschäft der Soziologie gehört – und dass jede Gesellschaftskritik der Gegenwart notwendig auch Kapitalismuskritik sein muss. Ihre drei komplementären Perspektiven, die die aktuellen Prozesse der Landnahme, der Aktivierung und der Beschleunigung in den Mittelpunkt stellen, verknüpfen die Autoren zu einer soziologischen Kritik der Gegenwartsgesellschaft, die sich der Suche nach Ansatzpunkten politischen Handelns nicht verschließt.

Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Stephan Lessenich ist Professor für Vergleichende Gesellschafts- und Kulturanalyse an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Im Suhrkamp Verlag ist von ihm erschienen: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (stw 1760).

Klaus Dörre, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa

Soziologie − Kapitalismus − Kritik

Eine Debatte

unter Mitarbeit vonThomas Barth

Suhrkamp

Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

eISBN 978-3-518-73234-2

www.suhrkamp.de

5Inhalt

Einleitung

I. Soziologie – Kapitalismus – Kritik: Zur Wiederbelebung einer Wahlverwandtschaft

Positionen

II. Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus (Klaus Dörre)

III. Kapitalismus als Dynamisierungsspirale – Soziologie als Gesellschaftskritik (Hartmut Rosa)

IV. Mobilität und Kontrolle. Zur Dialektik der Aktivgesellschaft (Stephan Lessenich)

Kritiken

V. Kapitalismus, Beschleunigung, Aktivierung – eine Kritik (Klaus Dörre)

VI. Leiharbeiter und Aktivbürger: Was stimmt nicht mit dem spätmodernen Kapitalismus? (Hartmut Rosa)

VII. Künstler- oder Sozialkritik? Zur Problematisierung einer falschen Alternative (Stephan Lessenich)

Repliken

VIII. Landnahme, sozialer Konflikt, Alternativen – (mehr als) eine Replik (Klaus Dörre)

IX. Antagonisten und kritische Integrationisten oder: Wie gehen wir mit dem verdorbenen Kuchen um? (Hartmut Rosa)

X. Das System im/am Subjekt oder: Wenn drei sich streiten, freut sich die (kritische) Soziologie (Stephan Lessenich)

6Schluss

XI. Landnahme – Beschleunigung – Aktivierung: Eine Zwischenbetrachtung im Prozess der gesellschaftlichen Transformation

Literatur

7Einleitung

9I. Soziologie – Kapitalismus – Kritik: Zur Wiederbelebung einer Wahlverwandtschaft

We Are All Socialists Now.                

Newsweek vom 16. Februar 2009

Wohin man auch schaut: Kapitalismuskritik ist urplötzlich zur Modeerscheinung geworden. Gegenwärtig könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Kritik am »System«, die ihren Platz lange Zeit nur in Randsegmenten studentischer, gewerkschaftlicher oder altlibertärer Sozialmilieus hatte und zuletzt in der globalisierungskritischen Bewegung ihren (anti-)institutionellen Ort gefunden zu haben schien, nunmehr den Weg in die gesellschaftliche Mitte angetreten hat. Ob in den Feuilletons der großen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen oder in den Verlagsprogrammen renommierter Sachbuchverlage, von den globalisierungskritischen Invektiven Heiner Geißlers bis zu den öffentlichen Selbstbezichtigungsreden Josef Ackermanns: Wer hierzulande etwas auf sich hält, distanziert sich derzeit offensiv vom Kapitalismus – zumindest moralisch, und jedenfalls von den Funktionsirrungen und Krisenwirrungen seiner jüngsten, »neoliberalen« Entwicklungsphase. Warum also, so dürfen sich der Leser und die Leserin dieses Bandes am Beginn ihrer intellektuellen Anstrengungen durchaus gerechtfertigterweise fragen, noch eine weitere Suada gegen den Kapitalismus, warum ein weiteres Buch zu dessen mittlerweile doch offenkundiger Krise? Wollen nun, wo offensichtlich gerade jede/r dem gestürzten Riesen eins auswischen darf, auch drei Jenaer Professoren einfach noch einmal lustvoll nachtreten?

Als vor gut zwei Jahren, im Sommer des Jahres 2007, unter uns die Idee zu reifen begann, als professionelle Soziologen gemeinsam wissenschaftlich-politisch Position zu beziehen zum Kapitalismus als der – immer noch – »schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens«,[1] da war noch keineswegs abzusehen und ausgemacht, 10dass dieser so bald wieder und so massiv auch in den Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung geraten würde. Zwar begann sich zu dieser Zeit die bevorstehende Krise des finanzmarktdominierten Akkumulationsmodells der vergangenen Jahrzehnte bereits abzuzeichnen. Doch die Initiative zur nunmehr vorliegenden Veröffentlichung hatte andere, tiefer liegende Gründe – Gründe, die durch die zwischenzeitlich erfolgte, jähe Zunahme öffentlicher Kapitalismuskritik keineswegs überholt sind. Bis heute nämlich ist es unseres Erachtens der Soziologie, von einigen Beobachtern schon voreilig als glückliche »Krisengewinnlerin« identifiziert,[2] als akademischer Disziplin nicht gelungen, sich mit dem gegenwärtigen, zuletzt offen krisenhaften Wandel der kapitalistischen Gesellschaftsformation in einer Weise auseinanderzusetzen, die einem kritisch-aufklärerischen Selbstverständnis gerecht würde.

Dies aber liegt vorrangig daran, dass ein derartiges Selbstverständnis der Disziplin – jedenfalls in Deutschland und im deutschsprachigen Raum – in der jüngeren Vergangenheit vollkommen randständig geworden ist. Dass Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft immer auch die kritische Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit beinhaltet und ihr dabei die kapitalistische Verfasstheit »ihrer« Gesellschaft zum zentralen Gegenstand der Kritik geraten muss, galt zuletzt nur noch einer kleinen Minderheit von Soziologinnen und Soziologen als selbstverständlich. Der die vergangenen beiden Jahrzehnte bestimmende, postkommunistische Siegeszug des Marktliberalismus ging auch und gerade in der akademischen Sozialwissenschaft mit einer nachhaltigen »Erschöpfung utopischer Energien«[3] und einer faktischen Desavouierung des Denkens von und in gesellschaftlichen Alternativen zum Kapitalismus einher. Die Soziologie mutierte in diesem Kontext in ihrem übergroßen Mainstream zu einer (mal mehr, meist weniger »kritischen«) Begleitwissenschaft eines Zeitalters, in welchem eine offensiv zur Schau getragene Marktfreundlichkeit in praktisch allen gesellschaftlichen Lebensbereichen hegemonial wurde und eine politische Programmatik der Befähigung bzw. Erziehung der Men11schen zur »Marktlichkeit«[4] zunehmend fraglos und überzeugt als Ausweis von »Modernität« galt.

Vom »Kapitalismus«, einem in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit öffentlich verpönten Begriff, zu sprechen, wurde zwar nach seinem Sieg in der »Systemkonkurrenz« auch in der hiesigen Sozialwissenschaft analytisch wieder hoffähig – soweit es um die Unterscheidung unterschiedlicher institutioneller Regime (markt-)wirtschaftlichen Handelns in spätindustriellen Gesellschaften ging. Schon diese Diskussion um die zeitgenössischen »varieties of capitalism«[5] war hierzulande tendenziell durch das Lob der sozial-koordinierten »rheinischen« gegenüber der liberal-kompetitiven »amerikanischen« Variante gekennzeichnet. Und sobald die deutschsprachige Sozialwissenschaft öffentlich (oder öffentlich wahrgenommen) wurde, stimmte sie dezidiert das Lob der »sozialen Marktwirtschaft« an, die eben – recht besehen – gar kein »Kapitalismus« sei. Sie fügte sich damit faktisch in eine spezifische Diskursformation[6] ein, die von den Wissensbeständen und Interpretamenten der akademischen Ökonomik durchdrungen ist und im Rahmen derer professionelle Ökonomen die wissenschaftliche Hoheit über die Deutung gesellschaftlicher Wirklichkeit errungen haben. Noch im Angesicht der aufziehenden Finanzmarktkrise, zu ihrem »60. Geburtstag« im Juni 2008, konnte sich die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der »sozialen Marktwirtschaft« politisch als über alle Zweifel erhabenes Erfolgsmodell gesellschaftlicher Gestaltung inszenieren. Im sogenannten »Jenaer Aufruf«[7] feierten Propagandisten der neoliberalen »Ordnungspolitik« aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft die »soziale Marktwirtschaft« als alternativlose Ordnung eines Lebens in Wohlstand und Freiheit – und beklagten deren immerwährende Gefährdung durch einen hypertrophen, die Bürgerinnen und Bürger bevormundenden, ihre wirtschaftliche Initiative lähmenden und ihre Freiheitsbestrebungen durchkreuzenden Interventionsstaat, dem durch eine ebenso 12unabschließbare gesellschaftliche »Erneuerung« Einhalt geboten werden müsse.

Dass der politisch so weit wie möglich ungebändigte (und dafür aber christlich-ethisch moderierte) Kapitalismus gewissermaßen vor unserer Haustür mit viel pomp and circumstance – mit einem massiven Einsatz öffentlicher Ressourcen, einer geradezu entwaffnenden Selbstgewissheit und einer an Realitätsverweigerung grenzenden kontrafaktischen Energie – als das einzig und ewig Wahre, Gute und Schöne gefeiert wurde, mag der letzte Anlass für die Initiative zu einer wissenschaftlich-politischen Gegenpositionierung aus Jena gewesen sein. Unser gemeinsamer Wille zu einer solchen öffentlichen Positionierung begann sich aber schon früher abzuzeichnen, und die institutionellen Möglichkeiten dazu waren seit dem Winter 2004 durch die – historisch kontingente – Rekonstitution der Jenaer Soziologie als ein Ort kritischer Analyse der Gegenwartsgesellschaft gegeben.

Worin besteht nun der gemeinsame Ausgangspunkt unserer Überlegungen, worin das Gemeinschaftliche unserer Bestrebungen? Gemeinsam teilen wir die Überzeugung, dass in der Tat ein großer Akt der »Erneuerung« ansteht, eine kollektive wissenschaftliche Anstrengung, die wir mit diesem Buch befördern wollen: die Rückkehr der Kritik in die Soziologie. Unser Anliegen einer Wiederbelebung des kritischen Impetus der akademischen Soziologie verorten wir in der Tradition der kritischen Theorie – einer Tradition, die eine wesentliche Quelle der Inspiration aus der Marx’schen bzw. marxistischen Theorie bezieht, Kritik als eine der Hauptaufgaben soziologischer Theoriebildung begreift und die Emanzipation von nicht zu rechtfertigender Herrschaft bzw. von sozial erzeugten, gesellschaftlich aber nicht kontrollierten Systemzwängen als den Maßstab dieser Kritik versteht. Unser kritischer Impuls beruht auf der Einsicht, dass es in der »modernen« Gesellschaft – und auch noch in ihrer gegenwärtigen, »spätmodernen« Formation – vor allem der Kapitalismus als verselbstständigte Form privater Profitakkumulation ist, auf den bzw. auf dessen soziale Bedingungen und Konsequenzen soziologische Gesellschaftsdiagnostik und Gesellschaftskritik zu zielen haben. Damit ist auch unsere gemeinsame Überzeugung benannt, dass eine Kritische Theorie der (kapitalistischen) Gesellschaft systematisch an eine empirisch fundierte sozio13logische Zeitdiagnose rückgebunden werden muss. Darüber hinaus sind wir uns darin einig, dass es für eine erfolgreiche Wiederbelebung der Soziologie als Ort der Gesellschaftskritik einer zwar durchaus differenzbewussten, aber gleichwohl verständigungsorientierten Zusammenführung unterschiedlicher Traditionslinien und Entwicklungsstränge kritischer Theoriebildung – etwa (neo-)materialistischer und poststrukturalistischer Ansätze – bedarf, sodass Fragen ökonomischer Ausbeutung und sozialer Ungleichheit ebenso zur Sprache kommen wie politische Subjektivierungsweisen und kulturelle Formierungspraktiken.

Ganz in diesem Sinne einer kritischen Soziologie des Gegenwartskapitalismus sind unsere drei einleitenden Beiträge zu dem vorliegenden Band zu verstehen. Sie diagnostizieren eine dreifache Dynamik historisch-strukturellen Wandels der kapitalistischen Gesellschaftsformation, die begrifflich mit den Prozesskategorien der »Landnahme«, der »Beschleunigung« und der »Aktivierung« zu fassen versucht werden. Die Grundidee des Bandes liegt zum einen in der Vermutung, dass keiner der drei hinter diesen kategorialen Etiketten sich verbergenden Ansätze – so triftig sie auch je für sich sein mögen – die kritikwürdige Realität des gegenwärtigen Kapitalismus in ihrer ganzen Komplexität zu fassen und zu »treffen« vermag. Zum anderen wollen wir zeigen, dass auf dem Wege der in diesem Band praktizierten wechselseitigen Kritik und Rekapitulation unserer Thesen und Theoreme nicht nur deren je individuellen Stärken und Schwächen aufgezeigt werden können, sondern auch – im Sinne des diskursiven Prinzips dialogischer Wissensentwicklung[8] – ihre produktive Komplementarität mit Blick auf die soziologische Analyse und Kritik des kapitalistischen Vergesellschaftungsmodus unserer Zeit. Damit soll selbstverständlich nicht suggeriert werden, dass schon die Zusammenführung der drei hier zu entwickelnden Ansätze eine »Globalanalyse« der Gesellschaftsformation der Gegenwart leisten könnte: Nichts wäre vermessener und nichts läge uns ferner. Aber wir sind durchaus der Überzeugung, dass nur in der wissenschaftlich-kollegialen Ergänzung und Kooperation die Chance zu einer Erneuerung der Soziologie im Geiste der Gesellschaftskritik liegt, und wir haben auf dem Weg zu diesem Buch die wertvolle Erfahrung gemacht, dass die wechselseitige Perspek14tivenübernahme unsere Sensibilität für die jeweils ausgeblendeten Aspekte spürbar erhöhte.

Gemeinsam ist den von uns diagnostizierten Prozessen der Landnahme, der Beschleunigung und der Aktivierung, dass sich in ihnen die immanente Krisenhaftigkeit kapitalistischer Vergesellschaftung widerspiegelt. In seinen Krisen – auch in der gegenwärtigen, finanzmarktgetriebenen Krise, die sich möglicherweise als die schwerste Wirtschaftskrise seit der großen Depression erweisen wird – offenbart der Kapitalismus immer wieder sein ansonsten systemisch unterdrücktes, politisch stillgestelltes oder gesellschaftlich marginalisiertes sozialdestruktives Potential. Schon die vermeintlich – glaubt man seinen Apologeten – unüberbietbare ökonomische Effizienz des spätmodernen Überfluss- und Wegwerfkapitalismus lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Ganz offenkundig aber und nicht zu ignorieren sind die sozialen »Ineffizienzen« jener Gesellschaftsformation, die wir in diesem Band in ihrer aktuellen Entwicklungsdynamik beschreiben wollen. Nur um den Preis der Verleugnung der Wertmaßstäbe, die sich die »bürgerliche Gesellschaft« in ihren politischen Revolutionen selbst gesetzt hat, lassen sich die durch diese Formation fortwährend produzierten sozialen Verletzungen, Verwerfungen und Verwüstungen verschweigen. Im Sinne jener normativen Kritikmaßstäbe der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit – können unsere Analysen als Kritik an der Selbstentwertung, Selbstentmächtigung und Selbstzerstörung der Gesellschaft im Kapitalismus gelesen werden. Zugleich aber gilt es auch, den Sinn zu schärfen für die historische Gebundenheit und Kontextualität dieser Wertmaßstäbe, für ihre ideelle und materielle Verankerung in einer Gesellschaftsformation, deren Überwindung sich eine ernst gemeinte Kapitalismuskritik auf die Fahnen geschrieben hat und schreiben muss.

Im Lichte der gegenwärtigen Renaissance der Kapitalismuskritik ist dies – die gute (bzw. böse) alte »Systemfrage« – wohl auch der Punkt, an dem sich die Geister der Kritiker und Kritikerinnen scheiden. Für uns selbst nehmen wir in Anspruch, die Perspektive einer notwendigen Systemüberwindung in den Mittelpunkt unserer Kritik zu rücken – auch wenn wir uns durchaus uneinig sind in der Frage, wie dieses Ziel zu erreichen ist bzw. wie der Weg, an dem dieses Ziel liegt, zu finden sein mag. Nicht, dass wir uns als Sozialwissenschaftler die Aufgabe setzen würden, konkret-uto15pische Gegenentwürfe zur herrschenden Gesellschaftsformation zu entwickeln und zu propagieren. Aber gemeinsam – in der wechselseitigen kritischen Auseinandersetzung mit unseren Ansätzen – möchten wir versuchen, analytisch-diagnostisch belastbare und damit zumindest potentiell auch politisch anschlussfähige Maßstäbe der Kritik am Kapitalismus zu entwickeln. Gemeinsam gehen wir damit in unserer Positionierung zugunsten einer kritischen Soziologie über eine das Kritikgeschehen reflektierende »Soziologie der Kritik«[9] hinaus – und grenzen uns insbesondere ab von all jenen Spielarten wohlfeiler Kapitalismuskritik und ihren Vertretern, die sich entweder in der Polemik gegen einzelne Systemakteure (zur Zeit vorzugsweise die »Manager«) erschöpfen oder aber eine weichgespült-kritische Attitüde als vorübergehend karriereförderliche Konzession an den Zeitgeist meinen annehmen zu müssen. Beiden Varianten der Kritik ist keine große Zukunft beschieden (und auch nicht zu wünschen), denn beide würden im Sog einer den gegenwärtigen Krisenerscheinungen zum Trotz nicht auszuschließenden Wiederbelebung des neoliberalen Paradigmas sang- und klanglos untergehen. Nur kurzzeitig nämlich wollte es so scheinen, als seien die Marktpropagandisten der beiden vergangenen Jahrzehnte nachhaltig getroffen und als würden sie sich zurückziehen – ebenso wie man nur kurze Zeit dem Trugschluss anhängen konnte, der Neoliberalismus habe bereits abgedankt, ja das Primat der Ökonomie sei an ein historisches Ende gekommen. Mittlerweile nämlich beginnen sich die markttreuen Truppen schon wieder zu sammeln und zu formieren: sei es in Gestalt der Sprachregelung, dass der Neo- als guter deutscher Ordoliberalismus immer schon den starken, regelsetzenden Staat gefordert habe (so etwa der amtierende Bundespräsident: »Die Deutschen haben etwas anzubieten beim Aufarbeiten der Krise«[10]); sei es mit dem diskursiven Versuch, die jüngste Krise als einen weiteren Akt in der Geschichte des Staatsversagens zu inszenieren.

Wie aber muss eine soziologische Kapitalismuskritik beschaffen sein, die einen radikalen Anspruch vertritt und sich diesen auch 16über den Tag hinaus zu bewahren vermag? Sie muss – so meinen wir – drei Merkmale aufweisen: Sie muss klar, komplex und kollektiv sein. Was ist damit gemeint? Der Kapitalismus ist von der neueren politischen Soziologie als ein System mit scheinbar unendlicher Kraft zur Absorption gesellschaftlicher Systemalternativenergien beschrieben worden;[11] unvergleichlich effizient ist dieses System – so könnte man in diesem Sinne sagen – nur darin, keine realen oder idealen Systemalternativen auf Dauer bestehen zu lassen. Auch wir selbst können uns, als politisch denkende Wissenschaftler im universitären Feld des real existierenden Kapitalismus, den systemischen Inkorporierungsdynamiken und institutionellen Vereinnahmungspraktiken unserer Zeit nicht ohne Weiteres widersetzen oder entziehen. Die soziologische Kapitalismuskritik der (bzw. eine soziologische Kapitalismuskritik mit) Zukunft muss insofern, soll sie nicht ungehört verhallen und folgenlos verpuffen, mit Begriffen operieren, die in ihrer analytischen Substanz ebenso wie in ihrem kritischen Gehalt klar sind; diese Begriffe müssen es ermöglichen, die Welt kapitalistischer Vergesellschaftung in ihrer komplexen Realität zu erschließen, und als solche müssen diese Begriffe in einer kollektiven wissenschaftlich-politischen Anstrengung veröffentlicht und popularisiert werden. Idealerweise stehen solche Begriffe dann – jenseits des wissenschaftlichen Feldes – für soziale Praktiken der Politisierung offen und zur Verfügung, die ihrerseits auf eine Weitung des Horizonts gesellschaftlicher Gestaltungsoptionen und damit auf eine alternative Praxis der Vergesellschaftung zielen.

Für eine Wissenschaft von der Gesellschaft, die sich – auf welch vermittelte Weise und auf wie verschlungenen Wegen auch immer – in ihrer Arbeit zu derartigen sozialen Praktiken und Dynamiken in Beziehung setzt, ist das »Kritische« ihres Anspruchs keine bloße Etikette. Auch eine solche kritische Soziologie hat ihre intellektuellen und materiellen, individuellen und institutionellen Grenzen. Die Kritik, die wir üben, ist die Kritik der Inkorporierten: die Kapitalismuskritik dreier landgenommener, beschleunigter, aktivierter Professoren. Die Gefahr besteht, dass eine solche Kritik nur die eigene Lebenssituation reflektiert, einen rein persönlichen Betrof17fenheitsgestus kultiviert. Dieser Gefahr ist nicht allein durch individuelle Selbstreflexion zu begegnen, sie muss durch kollegiale Kritik und professionelle Supervision zunächst im engeren Kreis der heimischen akademischen Institution, sodann im weiteren Kreis der scientific community gebändigt werden. Die Jenaer Soziologie bringt – die heutigen Rahmenbedingungen kritischer Wissenschaft in Rechnung gestellt – beste institutionelle und personelle, intellektuelle und soziale Voraussetzungen für den Versuch mit, die eigene Disziplin zunächst vor Ort als eine gesellschaftskritische zu (re-) positionieren und aus dieser Dynamik heraus nach kritisch-dialogischen Anschlussmöglichkeiten an entsprechende Aktivitäten an anderen Orten des akademischen Geschehens zu suchen. Von hier aus aber wird und muss es für eine erneuerte kritische Soziologie darum gehen, das Licht der außerakademischen, medialen und alltagspraktischen Welt zu suchen. Denn dort – und nur dort – wird letzten Endes entschieden, ob Soziologie und Kapitalismuskritik wieder zueinanderfinden – und ob »die Gesellschaft« es merkt.

*

Die Arbeit an diesem Buch war ein wirklich kollektives, kooperatives, kollegiales Unterfangen. Entsprechend vielfachen und vielfältigen Dank haben wir an dieser Stelle auszusprechen – wollen uns aber gleichwohl so kurz wie möglich halten. Unser Dank gilt zuallererst unseren beiden jeweiligen Koautoren, die es against all odds geschafft haben, dieses wissenschaftlich-soziale Experiment (vorerst) erfolgreich abzuschließen. Wir danken sodann Thomas Barth, der die Entstehung des Bandes mit bemerkenswerter intellektueller und organisatorischer Energie begleitet und ermöglicht hat. Viele wichtige Ideen zu unseren Texten haben wir bei zwei Institutsklausuren in der Toskana im März 2008 und 2009 gesammelt, ohne die dieser Band sicher nicht das Licht der Welt erblickt hätte. Wir bedanken uns ganz herzlich bei dem Team der Villa Palagione und bei allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern beider Reisen: Thomas Barth, Karina Becker, Michael Behr, Michael Beetz, Peter Bescherer, Tanja Bogusz, Melanie Booth, Uli Brinkmann, Michael Corsten, Susanne Draheim, Silke van Dyk, Margrit Elsner, Dennis Eversberg, Jan Freitag, Lars Gertenbach, Stefanie Graefe, Jannett Grosser, Jens Hälterlein, Tine Haubner, Hajo Holst, Ute Kalbit18zer, Christoph Köhler, Cornelia Koppetsch, Martin Langbein, Henning Laux, Diana Lehmann, Oliver Nachtwey, Matthias Neis, Jörg Oberthür, Tilman Reitz, Alexandra Schauer, Karen Schierhorn, Steffen Schmidt, Olaf Struck, Vera Trappmann, Alexandra Wagner, Angela Wenning-Dörre, Torsten Winkler und Franziska Wolf. Ganz besonders möchten wir uns darüber hinaus bei unseren Institutskollegen Christoph Köhler, der uns aktiv mit Rat und Tat und vielen kritischen Anregungen zur Seite stand, sowie Heinrich Best und Bruno Hildenbrand bedanken, die unser Treiben mit Nachsicht und Großmut und in überaus solidarischer Kollegialität beobachteten. Es ist uns eine Freude, mit Euch am Institut zusammenzuarbeiten – und nach getaner Arbeit auch einmal die Rockbühne zu teilen! Special thanks der Autoren gehen an Hans Jürgen Bieling, Frank Deppe, Werner Fricke, Janett Grosser, Oliver Nachtwey, Hans Jürgen Urban, Klaus Peter Wittemann und Volker Wittke (Klaus Dörre); an Thomas Barth, Evi Bunke, Silke van Dyk, Stefanie Graefe und Ute Kalbitzer (Stephan Lessenich); sowie an Stefan Amann, Ulf Bohmann, Sigrid Engelhardt, Andreas Klinger und David Strecker (Hartmut Rosa). Schließlich danken wir dem Suhrkamp Verlag, insbesondere Eva Gilmer, Christine Göhring und Andreas Gelhard, für ihr Vertrauen in unsere Arbeit sowie Daniela Neumann für die letzten Korrekturen am Manuskript. Und natürlich Jena und dem genius loci.

Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut RosaJena, im April 2009

19Positionen

21II. Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus*

Klaus Dörre

[…] Ich arbeite in einem großen Unternehmen als Zeitarbeiter und gehöre damit nicht zum Kernpersonal. Eingestellt wird sowieso nicht mehr. […] Überall nur Zeitarbeit. Diese Form des Kapitalismus hat nun freie Bahn, leider. […] Nachdem 2004 die Gesetze für Zeitarbeit von der Bundesregierung gelockert wurden […], wird nur noch über Zeitarbeit hier beschäftigt. Von der Sekretärin bis zum Administrator, das ist das Einzige, was boomt. Eingestellt wird über sogenannte BZA-Tarifverträge, die aber viel niedriger sind als ein normaler Lohn eines Angestellten. Die Verpflichtung, einen ähnlichen Lohn zu zahlen wie der von Festangestellten, besteht also nicht mehr bzw. wird so umgangen. […] Ich bekomme im Vergleich zu meinem Kollegen ein Drittel weniger Lohn, fünf Tage weniger Urlaub, keine Boni, halb so hohe Zuschläge, keine Essenszuschläge, keine Altersvorsorge, keine Betriebsrente, keine Lohnerhöhungen, keinen Parkplatz und darf nicht an firmeninternen Feiern […] teilnehmen – und das bei teilweise besserer Qualifikation. Von der psychischen Belastung will ich gar nicht sprechen, diese ist furchtbar, denn man fühlt sich als Mensch zweiter Klasse. Man hat ja auch allen Grund dazu. Wohin soll diese Entwicklung denn noch führen? Welchen Ausweg sollte ich denn finden? Was raten Sie mir? Ich bin mittlerweile sehr, sehr ratlos. […]

Der zitierte Auszug aus der elektronischen Post eines Leiharbeiters beinhaltet eine Klage, wie sie in der Arbeitswelt alltäglich geworden ist. Offenbart wird nicht physische Not, nicht Verelendung in einem absoluten Sinne, und doch sind die geschilderten Erfahrungen existenziell. Vordergründig betrachtet hat der Betroffene alles richtig gemacht. Beruflich in einer modernen Leitbranche, der IT-Industrie, beschäftigt, hat er sich weitergebildet, um schließlich festzustellen, dass trotz Abitur kein Weg zurück in die Stammbelegschaft führt. Schmerzhafte Diskriminierungen und Ratlosigkeit sind alles, was bleibt.

22Wie kann, wie soll ein Soziologe auf solche Klagen reagieren? Natürlich besteht an einem wissenschaftlichen Instrumentarium, das sich billigem Mitleid verweigert, kein Mangel. Man könnte den fragenden Leiharbeiter darüber informieren, dass er zum Opfer einer riskanten Entscheidung geworden ist – persönlich ärgerlich, in einer individualisierten Moderne aber immer auch selbst gewähltes Schicksal vieler. Man könnte ihn, hermeneutisch geschult, mit der Nase darauf stoßen, dass er sich mittels des Sündenbocks Kapitalismus selbst von Verantwortung entlastet, statt entschlossen ein Studium zu absolvieren, um so die statistisch nachweisbare Bildungschance zu nutzen. Von systemtheoretisch bewanderten Beobachtern würde der E-Mail-Schreiber vielleicht mit dem Umstand konfrontiert, dass seine Klage allenfalls ein Rauschen im System verursacht, in dessen Substrukturen er dennoch unweigerlich inkludiert bleibt. Man könnte aber auch etwas Überraschendes tun: den Zeitarbeiter ernst nehmen und eine Spur verfolgen, die er in seiner elektronischen Post selbst legt. Gibt es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der prekären Lebenssituation eines Einzelnen und einer besonderen Variante des Kapitalismus? Wie lässt sich dieser Kapitalismus kritisieren und verändern? Welche Alternativen gibt es?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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