Was stimmt nicht mit der Demokratie? - Klaus Dörre - E-Book

Was stimmt nicht mit der Demokratie? E-Book

Klaus Dorre

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Beschreibung

Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen, ökologischen und sozialen Krisen zeichnet sich ab, dass die Wachstumsdynamik moderner Gesellschaften nicht mehr stabilisierend wirkt, sondern selbst zum Krisentreiber geworden ist. In diesem Band diskutieren die Philosophin Nancy Fraser und die Soziologen Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, was dies für die Gegenwart und die Zukunft der Demokratie bedeutet und welche Konzeptionen und Wege hin zu einer demokratischen Transformation vorstellbar sind. Aus ihrer demokratietheoretischen Perspektive intervenieren Viviana Asara, Banu Bargu, Ingolfur Blühdorn, Robin Celikates, Lisa Herzog, Brian Milstein, Michelle Williams und Christos Zografos.

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Seitenzahl: 412

Veröffentlichungsjahr: 2019

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3Was stimmt nicht mit der Demokratie?

Eine Debatte mit Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa

Herausgegeben von Hanna Ketterer und Karina Becker

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Hanna Ketterer und Karina Becker

:

Einleitung: Was stimmt nicht mit der Demokratie?

I

. Beiträge und Kommentare

Klaus Dörre

:

Demokratie statt Kapitalismus oder: Enteignet Zuckerberg!

Michelle Williams

:

Die schwierige Ehe der Demokratie mit dem Kapitalismus: Überlegungen zu Klaus Dörres Beitrag

Christos Zografos

:

»Enteignet Zuckerberg«, um die Demokratie vor dem Kapitalismus zu retten! Ja, aber wie?

Nancy Fraser

:

Die Krise der Demokratie: Über politische Widersprüche des Finanzmarktkapitalismus jenseits des Politizismus

Banu Bargu

:

Die Krise der Demokratie pluralisieren

Brian Milstein

:

Über das Ergänzungsverhältnis von Krisenbewusstsein und Demokratie: Eine Anmerkung zum politischen Widerspruch des Kapitalismus

Stephan Lessenich

:

Die Dialektik der Demokratie. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen im Wohlfahrtskapitalismus

Viviana Asara

:

Die Grenzen der liberalen Demokratie: Aussichten auf eine Demokratisierung der Demokratie

Ingolfur Blühdorn

:

Die Dialektik der Emanzipation. Kritische Soziologie in der Endlosschleife

Hartmut Rosa

:

Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung

Robin Celikates

:

Kampf um Demokratisierung oder Resonanzgeschehen? Kritische Anmerkungen zu Hartmut Rosas resonanztheoretischer Demokratiekonzeption

Lisa Herzog

:

Konkrete Demokratie wagen

II

. Kontroverse

Ein Gespräch zwischen Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa und Karina Becker und Hanna Ketterer

Literaturverzeichnis

Über die Autorinnen und Autoren

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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7Einleitung: Was stimmt nicht mit der Demokratie?

Hanna Ketterer und Karina Becker

Dass die Demokratie in der Krise sei, ist in aller Munde. Vom rechten bis zum linken Rand des politischen Spektrums, in den Medien wie im alltäglichen Gespräch auf der Straße, auf lokaler und globaler Ebene scheint ausgemacht, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt mit der Demokratie. Seit der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 verzeichnen populistische, in erster Linie rechtspopulistische Bewegungen und Parteien in den Zentren der kapitalistischen Produktion und im globalen Süden brisante Erfolge mit Blick auf ihre Mitgliederzahlen sowie Wähler*innenstimmen und auf Kosten historisch gewachsener »Volksparteien«. Diesen Kräften ist es zum Teil auch gelungen, sich zu parlamentarisieren und zum Taktgeber einer nationalen Innen- wie Außenpolitik zu werden, die zunehmend restriktive, autoritäre und exkludierende Züge trägt. Zudem haben wir es vielerorts, beispielsweise in Ungarn, der Türkei oder den USA, mit der Durchsetzung autokratischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse und der graduellen effektiven Ausschaltung der Gewaltenteilung zu tun sowie mit einer durch internationale Akteure wie den IMF oder die EU vorangetriebenen Austeritätspolitik, welche die Souveränität demokratisch legitimierter Macht, zum Beispiel im Fall von Syriza, mehr als in Frage stellt. Diese Entwicklungen vollziehen sich im Kontext eines entgrenzten, politisch induzierten Finanzmarktkapitalismus, der die souveränen Handlungsmöglichkeiten nationaler Politiken mehr und mehr zu beschränken scheint. Die Situation spitzt sich durch eine säkulare Stagnation zu, die sich zumindest in den frühindustrialisierten Zentren der kapitalistischen Produktion klar abzeichnet: Wo sich niedrige Wachstumsraten einstellen, stagnieren Löhne, werden Verteilungsspielräume tendenziell kleiner und wird soziale Ungleichheit größer. Hinzu kommt, dass sich diese Entwicklungen innerhalb nicht-nachhaltiger gesellschaftlicher Naturverhältnisse vollziehen und dabei ihre natürlichen und sozialen Reproduktionsbedingungen untergraben.

Handelt es sich also genuin um eine Krise der Demokratie? Oder 8anders gefragt: Inwiefern haben wir es mit einer umfassenderen Krise moderner kapitalistischer Gesellschaften zu tun? In welchem Verhältnis stehen Demokratie und Kapitalismus zueinander? Worin wurzelt jene Krise, die wir diagnostizieren, und welche Wege hin zu demokratischeren beziehungsweise sozial-ökologisch nachhaltigen Zukünften können wir beschreiten? Mit Fokus auf dem globalen Norden beziehungsweise den Zentren kapitalistischer Produktion widmet sich der vorliegende Band im Rahmen einer gesellschaftstheoretischen wie -kritischen Analyse von Demokratie diesen Fragen. Das bedeutet, den Diskurs von der Krise der Demokratie nicht affirmativ zu reproduzieren, sondern ihn im Gegenteil kritisch zu dekonstruieren und zu fragen, wer oder was in der Demokratie und warum die Demokratie in der Krise sei. Einerseits bieten wir eine tiefergehende Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsstrukturen an, die den Krisensymptomen des Demokratiediskurses zugrunde liegen. Andererseits werden dadurch aber auch eine Reihe grundsätzlicher Fragen aufgeworfen, etwa die nach der Möglichkeit der Bewältigung der gegenwärtigen Herausforderungen innerhalb der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse und mittels der Verfahren und Instrumentarien der Demokratie.

Die gesellschaftstheoretische Analyse der aufgeworfenen Demokratiefragen stützt sich auf die Methode der Konstruktiven Kontroverse.[1] Diese zielt auf Innovation, Integration differenziellen Wissens und Konfliktbearbeitung. Hierfür macht sie den Dialog zum methodischen Prinzip: In der dialogischen Konfrontation entgegengesetzter Thesen zu einem Gegenstand sollen die Teilnehmer*innen der Konstruktiven Kontroverse ihre eigenen Thesen und die der anderen hinterfragen, herausfordern und möglicherweise verwerfen (Antithese). Das individuelle Erleben eines kognitiven Konflikts wird dabei als Ausgangspunkt für den individuellen wie kollektiven 9Lernprozess betrachtet, welcher über die Auslösung individueller Wissensbedürfnisse in ein besseres Verständnis der zentralen Fragestellung münden soll (Synthese).

Der vorliegende Band präsentiert eine Konstruktive Kontroverse zur Frage der Krise der Demokratie, die im dialogischen Austausch von ausgewiesenen Expert*innen in den Bereichen der Gesellschaftstheorie, Soziologie, Kapitalismuskritik und Demokratietheorie ausgetragen wurde. Den Kern des dialogischen Austauschs bildete ein eintägiger Workshop im Mai 2018 in Jena, der die im ersten Teil des vorliegenden Bandes versammelten Aufsätze von Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa zum Gegenstand hatte. Die zwei zentralen Fragestellungen der Autor*innen sind dabei: (1) Was stimmt nicht mit der Demokratie? (2) Wie lässt sich eine tragfähige Demokratie (wieder-)herstellen beziehungsweise wie wird sie wieder stimmig? Zudem wurden im Vorlauf zum Workshop zu jedem Beitrag jeweils zwei kritische Kurzkommentare von Expert*innen der Demokratietheorie verfasst, welche in die Organisation und Moderation der Tagung durch die Herausgeberinnen einflossen. Die Kontroverse in Jena, an der sich nicht nur Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa, sondern auch einige Kommentator*innen und eine interessierte soziologische Öffentlichkeit beteiligten, wurde aufgezeichnet, transkribiert und findet sich in gekürzter Fassung im zweiten Teil dieses Bandes. Die Kurzkommentare von Michelle Williams und Christos Zografos zu Klaus Dörre, von Banu Bargu und Brian Milstein zu Nancy Fraser, von Viviana Asara und Ingolfur Blühdorn zu Stephan Lessenich und von Robin Celikates und Lisa Herzog zu Hartmut Rosa sind den jeweiligen Beiträgen im ersten Teil dieses Bandes direkt nachgeschaltet. Bevor wir eine selbstreflektierende Vorschau der wesentlichen Ergebnisse der Konstruktiven Kontroverse[2] geben, sollen im Folgenden die Ausgangsthesen zur Krise der Demokratie, wie sie Klaus Dörre, Nancy Fraser, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa in den entsprechenden Einzelbeiträgen vorlegen, knapp dargestellt werden.

10Was stimmt nicht mit der Demokratie? Eine Antwort in vier Thesen

Klaus Dörre stellt seinem Beitrag »Demokratie statt Kapitalismus oder: Enteignet Zuckerberg!« die Zeitdiagnose demokratischer Nichtdemokratien beziehungsweise ent-demokratisierter Demokratien voran. Aus dem Landnahmetheorem im Anschluss an Rosa Luxemburg argumentierend und einer mittleren Linie zwischen systemkonformem Reformismus und leninistischen Revolutionskonzeptionen folgend, konstatiert Dörre, dass »die demokratische Herrschaftsform auf dem Altar eines expansionistischen Kapitalismus geopfert«[3] werde. Das führt ihn zu dem Schluss, dass die Demokratie nur Bestand haben kann, wenn ihre Inhalte, Verfahren und Institutionen auf Felder und Sektoren ausgeweitet werden, die von Mitbestimmungs- und Entscheidungsprozessen ausgeschlossen sind. Dies ziele auf eine Politik der substanziellen Gleichheit, die verfassungsrechtlich und institutionell verankert ist und den Anspruch einer transformativen Demokratie zum Programm macht, die nicht nur sozial restaurativ ist, sondern auch eine sozial-ökologisch transformative Wirkung zeitigt. Die transformative Demokratie rücke die Selbstregierung des demos ins Zentrum, gebe sozial-ökologischer Nachhaltigkeit Verfassungsrang und verfolge eine inklusive demokratische Klassenpolitik – zunächst auf nationalstaatlicher, perspektivisch auf EU- und internationaler Ebene. Transformativ sei sie aber vor allem aus einem Grund: Fragen nach dem Wie, Was, Wozu der Produktion würden zum Gegenstand kollektiver Aushandlungsprozesse. Mit der Infragestellung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse untergrabe die »neo-sozialistische Option« das Fundament des Kapitalismus.

Nancy Frasers Beitrag »Demokratische Krise als Krise des Kapitalismus: Jenseits des Politizismus« setzt einen Kontrapunkt zu hegemonialen demokratietheoretischen Erklärungsversuchen, welche eine Krise der Demokratie diagnostizieren und diese allein auf die Dysfunktionalitäten ihrer Institutionen und Verfahren zurückführen. Aufbauend auf den Theorieperspektiven von Karl Marx und Karl Polanyi und den Erkenntnissen der feministischen Theorie, zeigt Fraser, dass die Krise der Demokratie nur ein Strang einer 11»allgemeinen Krise« der kapitalistischen Gesellschaft ist. Jede Phase des Kapitalismus, vom staatlich organisierten Monopolkapitalismus bis zum gegenwärtigen finanzialisierten Kapitalismus, sei geprägt von einem politischen Widerspruch, der seinen Ursprung darin hat, dass die Kapitalakkumulation auf öffentliche Gewalten angewiesen ist, gleichzeitig diese jedoch ständig untergräbt und destabilisiert. So kommt Fraser zu der zweifachen Schlussfolgerung, dass die Demokratie im Kapitalismus erstens notwendig »schwach und begrenzt« sein muss. Auswege aus der demokratischen Krise erschlössen sich zweitens nicht, wenn nicht die Strukturen und Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft selbst neu gedacht würden.

Stephan Lessenichs Beitrag »Die Dialektik der Demokratie. Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen im Wohlfahrtskapitalismus« problematisiert die »inhärente Dialektik der Demokratie«,[4] welche in strukturellen Be- und Entgrenzungen besteht und dem normativen Anspruch von Demokratie als »verallgemeinerte[r] Gegenseitigkeit der Anerkennung als Gleiche und Gleichberechtigte«[5] entgegenläuft. In der Tradition der Spätkapitalismustheorie nach Offe und erweitert um seine Arbeit zur Externalisierungsgesellschaft,[6] zeichnet Lessenich nach, wie die Demokratie, die sich in der Nachkriegszeit des »sozialen Kapitalismus«[7] entwickelt hat, demokratische auf soziale Teilhabe verengt. Teilhabe sei in der wohlfahrtsstaatlichen Demokratie von soziokulturellen Begrenzungen kompromittiert, die sowohl entlang der vertikalen Achse als auch entlang der horizontalen Achse sozialer Herrschaftsbeziehungen verlaufen. Würden bei Ersterem Teilhaberechte von oben gegen unten verteidigt, würden bei Letzterem Teilhaberechte qua Staatsbürger*innenschaft von innen gegenüber »Nachzügler*innen und Neuankömmling*en aller Art«[8] von außen in Anschlag gebracht. Zudem verweist Lessenich auf eine sozial-ökologische Entgrenzungsdynamik, die quer zur Oben-Unten- und zur Innen-Außen-Dialektik liegt. Diese wirke 12destruktiv auf die Reproduktionsfähigkeit der Natur. Demokratie, im normativen Sinn, sei nur verwirklichbar durch die »Demokratisierung der Demokratie«.[9] Erforderlich seien »neue demokratische Subjektivitäten«,[10] die gesellschaftliche Verantwortung für progressive, inklusive und nachhaltige Geschlechter-, Natur- und Weltverhältnisse übernehmen.

Hartmut Rosa deutet in seinem Beitrag »Demokratie und Gemeinwohl: Versuch einer resonanztheoretischen Neubestimmung« die aktuelle Krise der Demokratie als Resonanzkrise, deren Ursache er in der dynamischen Stabilisierung moderner Gesellschaften sieht. Letztere ist die Gesellschaftsdiagnose, die in der Zusammenarbeit Rosas mit Dörre und Lessenich im Kontext des Jenaer DFG-Kollegs Postwachstumsgesellschaften entwickelt und verfolgt wurde, obgleich differierende Ausdeutungen der Diagnose stattgefunden haben. Nach Rosa konstituiert sich das demokratische Gemeinwesen nicht etwa über geteilte Werte, sondern über die Resonanzbeziehungen seiner Bürger*innen. Zu einer gelingenden Demokratie gehörten Gemeinsinn und Gemeinwohl als komplementäre wechselseitige Voraussetzungen. Mit Gemeinsinn ist dabei die Resonanzfähigkeit und -willigkeit der Bürger*innen gemeint, das heißt die individuelle Fähigkeit, die Stimme eines Anderen zu hören, zu antworten und sich dabei selbst zu verändern. Gemeinwohl werde dort verwirklicht, wo sich soziale, materiale und vertikale Resonanzachsen gegen institutionelle und strukturelle Steigerungszwänge durchsetzen. Institutionelle Ermöglichungsbedingungen der Demokratie als Resonanzsphäre sieht Rosa in Ansätzen der aleatorischen Demokratie und der Ausweitung sowie Sicherung einer intakten Sphäre des Öffentlichen mittels »bürgerschaftlicher Begegnungsräume« und starker öffentlich-rechtlicher Medien.

Ergebnisse der Kontroverse

Dass das »Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile«, wurde sehr deutlich im direkten dialogischen Austausch während des Jenaer Workshops. Obschon der Ansatz der Konstruktiven Kontroverse 13eine methodisch strengere Implementierung vorsieht,[11] ermöglichte unser Vorgehen einen Dialograum zur Klärung und Schärfung theoretisch-analytischer Differenzen und Gemeinsamkeiten gleichermaßen.[12] Im Ergebnis wurden nicht nur die einzelnen Positionen und Abgrenzungen deutlicher, sondern auch erste neue Synthesen, individuell wie kollektiv, formuliert. An dieser Stelle sei der Hinweis für die Leser*in erlaubt, dass sich die Kontroverse, die im zweiten Teil dieses Bandes abgedruckt ist, durchaus ohne Kenntnis der Einzelbeiträge von Dörre, Fraser, Lessenich und Rosa im ersten Teil des Bandes erschließt. Zugleich hoffen wir, dass die Lektüre der Kontroverse das Interesse an den Einzelbeiträgen zusätzlich weckt. Als Herausgeberinnen möchten wir betonen, dass die acht Kurzkommentare im Transkript der Kontroverse nicht in dem Maß repräsentiert werden wie die vier umfangreicheren Einzelbeiträge.[13] Sie gehen durchaus über die Debatte der vier Hauptdiskutant*innen hinaus und erhellen zentrale demokratietheoretische Diskurslinien, die ohne sie in diesem Band unterbeleuchtet wären.

Was sind also aus unserer Sicht die zentralen Ergebnisse der Konstruktiven Kontroverse um die Krise der Demokratie? In drei Punkten halten wir fest: Es besteht weitgehend Konsens, dass wir es mit einer Krise zu tun haben, jedoch weniger mit einer Krise der Demokratie als mit einer des Kapitalismus. Kontrovers ist vor allem die Frage danach, was eine gelingende demokratische Praxis auszeichnet. Sie entwickelte sich entlang der Prozesskategorien Interessenpolitik/Konflikt versus Gemeinwohlorientierung/Resonanz. Konsens ist dort zu finden, wo die Ziele einer zukünftigen 14transformativen Demokratie verhandelt wurden: die transformative Demokratie soll zur Wiedereinbettung wirtschaftlichen Handelns in die Gesellschaft führen.

Erstens, zu Diagnose und Diskurs der Krise: Rosas Diagnose der Demokratiekrise als Resonanzkrise wird in der Kontroverse stärker an ihre strukturellen Ursachen rückgebunden. Zugespitzt formuliert Rosa in der Kontroverse, dass ein struktureller Widerspruch zwischen dem Versprechen der Demokratie nach gemeinsamer Gestaltung des Gemeinwesens und dem Zwang der Kapitalakkumulation besteht. Obschon Dörre den Diskurs von der »Krise der Demokratie« aus analytischen wie normativen Gründen ablehnt, deckt seine Analyse gleichwohl eine Krise auf. Diese wurzelt aber vielmehr in der finanzmarktkapitalistischen Landnahme der repräsentativen parlamentarischen Demokratie als in der Eigenlogik demokratischer Institutionen und Verfahren. Ähnlich gelagert sind die Analysen Frasers und Lessenichs: Wo Lessenich von einem Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie spricht, sieht Fraser einen grundsätzlichen Widerspruch an der Schnittstelle von ökonomischer und politischer Sphäre und geht damit von einer grundsätzlichen Krisentendenz des Kapitalismus aus. Hier wirft Banu Bargus Kommentar ein kritisches Licht auf Frasers analytische Annahmen zur Demokratie: Wie Bargu herausstellt, geht Fraser von der Demokratie »als solcher« aus und spricht ihr dabei die Komplexität ab, die sie dem Kapitalismus in seinen historischen Ausprägungen zuschreibt. Bargu mahnt an, die Demokratie sei eine »ungleiche und differenzierte Geografie«, weshalb ein adäquates Verständnis der Krise der Demokratie nur durch die Pluralisierung des Konzepts erreicht werden kann. Des Weiteren intensiviere sich im direkten Austausch die Auseinandersetzung um die Rolle sozialer Akteure in der Krisendiagnose. Wie Brian Milsteins Kommentar in diesem Zusammenhang herausstellt, wird eine Krise erst dann zur Krise, wenn soziale Akteure wahrnehmen, dass ihre demokratischen Rechte der Selbstbestimmung in Gefahr sind und daher akuter Handlungsbedarf besteht. Das Krisenbewusstsein der Akteure sei dabei keineswegs ein Produkt des Kapitalismus, sondern vielmehr der Moderne. Milstein kommt zu dem Schluss, dass der Kapitalismus für seine Reproduktion in erster Linie auf demokratisch legitime und nicht auf effektive Gewalt angewiesen ist.

15Zweitens, zur Praxis gelingender Demokratie: Den Auftakt für einen der zentralen Kristallisationspunkte der Kontroverse macht Lisa Herzog in ihrem Kommentar zu Rosa. Sie wirft die Frage auf, inwiefern – entgegen Rosas Skepsis – eine Revitalisierung der Interessenpolitik nicht doch möglicherweise das Gebot der Stunde sei und »vielleicht sogar […] Voraussetzung für eine darüberhinausgehende Gemeinwohlorientierung?«.[14] Robin Celikates indes argumentiert, dass der von Rosa relational umgedeutete Wertekonsens republikanisch-kommunitaristischer Tradition in einer durch einen tiefen Pluralismus gekennzeichneten Gesellschaft »weder nötig noch zu erwarten«[15] sei. Schließlich gehen entscheidende Impulse für eine Demokratisierung der Demokratie von außerinstitutionellem Protesthandeln, von marginalisierten oder exkludierten Gruppen, auch in Form zivilen Ungehorsams, aus. Als Protagonisten des Antagonismus Interessenpolitik versus Gemeinwohlorientierung traten Dörre und Rosa während des Jenaer Workshops hervor. Durch moderierende Interventionen durch Fraser und Lessenich konnte dieser jedoch teilweise gebrochen werden und führte zu neuen Synthesen: Wo Rosa die Interessenpolitik und den Klassenantagonismus als Folge einer Fehlkonstruktion der parlamentarischen Demokratie betrachtet, welche Resonanzbeziehungen in der demokratischen Sphäre verunmöglichten, da sie auf dem Modus des »Kämpfens« anstelle des »Hörens und Antwortens«[16] beruhten, bekräftigt Dörre seine eigene Auffassung, dass die Demokratie den Konflikt voraussetze und der antagonistische Interessenkampf der Modus für die gesellschaftliche Aushandlung dessen sei, worin das Gemeinwohl substanziell bestehen soll. Wo Dörre die Argumentation Rosas einer generellen Kritik an deliberativen Demokratietheorien unterzieht, wirft Fraser die Frage nach dem spezifisch Demokratischen des »Hören und Antworten« in Rosas Analyse auf und fordert eine Reflexion des formulierten Anspruchs an die Demokratie als kollektiver Wiederaneignung der Welt.[17] Fraser weist auf den Unterschied hin zwischen einer links-hegelianischen Perspektive, welche sich mit der kapitalistischen Gesellschaft auseinandersetzt, wie sie aktuell ist, und einer 16normativen Perspektive, wie sie zukünftig sein sollte. Als Mittelposition zwischen Rosa und Dörre schlägt Fraser vor, vom »allgemeinen Interesse« anstelle von »Gemeinwohl« zu sprechen, was bei Lessenichs Versuch einer Neuinterpretation des Interessenbegriffs in Abgrenzung von herrschenden liberalökonomischen Konzeptionen als »die freie Entfaltung jedes Einzelinteresses […] [als] Bedingung für die freie Entfaltung aller Interessen«[18] auf Resonanz stößt.

Drittens, zum Ziel transformativer Demokratie: Wenngleich umstritten bleibt, welche Praktiken im Kern eine zukünftige, gelingende Demokratie ausmachen würden, finden wir doch ein großes Maß an Übereinstimmung hinsichtlich konkreter institutioneller Reformvorschläge und des Ziels einer transformativen Demokratie. Bei allen Visionen zukünftiger Demokratien – von der »Demokratisierung der Demokratie« (Lessenich) über die »transformative Demokratie« (Dörre) und die »gemeinsame Gestaltung des Gemeinwesens« (Rosa) bis zum »Antikapitalismus« (Fraser) – geht es im Kern um die Wiedereinbettung der kapitalistischen Wirtschaft in Gesellschaft und in demokratische Entscheidungsprozesse. Dabei geht es für Fraser auch darum, grundsätzlich das Verhältnis von politischem Gemeinwesen zu Ökonomie beziehungsweise von Reproduktion zu Produktion zu reflektieren und neu zu definieren. Für alle drei, Fraser, Dörre und Rosa, ist von entscheidender Bedeutung, dass das demokratische Gemeinwesen darüber entscheiden können soll, wie und was produziert und konsumiert und wie das Mehrprodukt verteilt werden soll. Zugleich geht es um Politiken der Existenzsicherung, die basale Existenzrechte in monetäre wie nichtmonetäre individuelle Ansprüche übersetzen, wobei deren relative Gewichtung unter den Beteiligten nicht abschließend geklärt werden konnte. Wie Michelle Williams in ihrem Kommentar zu Dörre kritisch anmerkt, sollte jede Form der demokratischen Neuorientierung der Tatsache Rechnung tragen, dass die relative Stabilität von Demokratien im Zentrum der kapitalistischen Produktion immer schon auf Nichtdemokratien in der Peripherie des Kapitalismus beruhte. Enteignung und Ausbeutung von Menschen und Natur im globalen Süden seien immer schon Voraussetzung des Wohlstands und der demokratischen Stabili17tät von Ländern des globalen Nordens gewesen. Eine Reduktion des materiellen Produktions- wie Konsumptionsniveaus sei die zwingende Folge für den globalen Norden. Mit einer ähnlich gerichteten kritischen Stoßrichtung hebt Christos Zografos in seinem Kommentar auf die Vielzahl offener Fragen ab, mit welchen Dörres Idee der EU als »sozial-ökologischer Union« konfrontiert wären: Wie genau und warum sollte die EU zur Protagonistin globaler sozial-ökologischer Rechte werden, wenn dies doch bedeutete, dass sie sich von ihrem materiellen Wohlstandsniveau verabschieden müsste? Den Herausforderungen des Transformationsprojekts angemessener erscheinen Zografos sowohl andere Akteure als auch eine andere Ebene der Transformation: internationale soziale Bewegungen sowie radikal sozial-ökologische Initiativen auf Gemeindeebene. An kritische Einwände dieser Art schließt unter anderem Lessenichs Forderung einer »neuen moralischen Ökonomie« an, in welcher globale Ungleichheitsverhältnisse kollektiv wie unter Inverantwortungsnahme derer, die Machtpositionen besetzen, bearbeitet werden müssten, sowie Frasers Plädoyer für ein Lernen vom »anderen Umweltbewusstsein« und für die Ausweitung globaler sozialer Rechte.

Die Wiederaneignung des gesellschaftlichen Mehrprodukts im Sinne der Wirtschaftsdemokratie bedeutete – wie Dörre auf den Punkt bringt – einen Bruch mit den gegenwärtigen kapitalistischen Verhältnissen. Mehr noch: sie bedeutete ebenfalls einen Bruch mit den liberal-demokratischen Verhältnissen – wie Viviana Asara in ihrem Kommentar zu Lessenich argumentiert. Eine transformative Demokratie, die eine gemeinschaftlich-substanzielle Idee des Guten Lebens verfolgte, würde liberale positive Freiheiten einschränken und sich in kollektiver Selbstbegrenzung üben. Letzteres sei nicht innerhalb bestehender formal-prozeduralistischer demokratischer Verfahren realisierbar. Ebenfalls ein Bruchszenario vor Augen, jedoch ohne Aussicht auf eine tragfähigere Demokratie, stellt Ingolfur Blühdorn in seinem Kommentar zu Lessenich klar: Falls wir es tatsächlich mit einer »Dialektik der Demokratie« (Lessenich) zu tun haben, muss das Ende der Demokratie beziehungsweise ihre Aufhebung in einem neuen Projekt in Rechnung gestellt werden. Bestimmend für die Zukunft der Demokratie sei die Dynamik der Emanzipation, die ein mehrfach entgrenztes Freiheits- und Subjektivitätsverständnis verfolge, welche die Demokratie mit ihren 18inhärenten Begrenzungen »dysfunktional – kontraproduktiv und funktionsuntüchtig« –[19] mache.

Wer der Dialektik der Demokratie auf den Grund gehen möchte, darf sich auf den folgenden Seiten über einen reichen Fundus analytischen wie normativen Werkzeugs freuen. Die Leser*in wird gleichsam auf eine Vielzahl konkreter Perspektiven für die Demokratie sozial-ökologisch nachhaltigerer Gesellschaften stoßen. Diese sind auch das Produkt einer Methode, die auf die Stärken kollektiver Sozialimagination setzt und ohne die jeder gesellschaftlichen Transformation eine wichtige Inspiration fehlte.

Jena, im Februar 2019

Hanna Ketterer & Karina Becker

19I. Beiträge und Kommentare

21Demokratie statt Kapitalismus oder: Enteignet Zuckerberg!

Klaus Dörre

Was läuft falsch mit der Demokratie? Nichts oder nicht sehr viel, lautet die knappste der möglichen Antworten. Das mag überraschen, denn die Krise der Demokratie ist in aller Munde. »Is Democracy Dying?«, fragt das renommierte US-Magazin Foreign Affairs.[1] »Demokratie unter Druck: Polarisierung und Repression nehmen weltweit zu«, echot die Bertelsmann-Stiftung mit Blick auf 129 Entwicklungs- und Schwellenländer. Zwar lebten die meisten Menschen (4,2 Milliarden) noch immer in demokratisch verfassten Staaten, doch die Zahl derer, die sich mit autokratischen Systemen konfrontiert sähen, nehme zu (3,3 Milliarden). Noch bedenklicher sei, »dass in immer mehr Demokratien Bürgerrechte beschnitten und rechtsstaatliche Standards ausgehöhlt« würden. Seit Beginn der Erhebungen (2006) hätten 40 Staaten, darunter solche mit langer demokratischer Tradition, den Rechtsstaat beschädigt, in 50 Ländern seien politische Freiheiten eingeschränkt worden.[2]

In solchen Daten scheint ein Trend zum Autoritären auf, der die rechtspopulistische Revolte in den alten kapitalistischen Zentren noch gar nicht berücksichtigt. Aber ist das bereits Beweis genug, um von einer Krise der Demokratie zu sprechen? Ich bezweifele das. Moderne Massendemokratien mit pluralen, ausdifferenzierten Zivilgesellschaften, egalitären politischen Rechten und aus freien Wahlen hervorgegangenen Regierungen, die Völkerrecht und Menschenrechte grundsätzlich respektieren, sind trotz unbestreitbarer Schwächen noch immer die beste aller bisher bekannten 22Herrschaftsformen. Deshalb ist die verbreitete Rede von einer Krise der Demokratie in einem normativen Sinne bedenklich. Suggeriert sie doch zumindest unterschwellig, demokratische Institutionen und Verfahren seien den neuen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht mehr gewachsen. Dergleichen zu behaupten ist aber auch analytisch problematisch. Es gibt keine Krise der Demokratie. Vielmehr wird die demokratische Herrschaftsform auf dem Altar eines expansionistischen Kapitalismus geopfert, der zwecks Bestandssicherung zunehmend auf autoritäre Praktiken angewiesen ist.

Eine dadurch in Gang gesetzte Transformation des Staates bedeutet keine rasche Ablösung des demokratischen Kapitalismus durch autoritäre Staatsformen. Vielmehr erleben wir den Übergang zu unterschiedlichen Varianten entdemokratisierter Demokratien oder demokratischer Nichtdemokratien. So kann die griechische Bevölkerung in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit gegen die europäische Austeritätspolitik votieren und eine Regierung wählen, die dann doch gegen ihre erklärte Absicht das Austeritätsdiktat der europäischen Institutionen erfüllen muss. Das ist die Konstellation einer entdemokratisierten, weil im Grunde nicht mehr entscheidungsbefugten Demokratie. Oder ein Wahlvolk stimmt – wie in Ungarn, Polen, Russland oder der Türkei – mehrheitlich für eine Regierung, die sogleich beginnt, elementare demokratische Rechte auszuhebeln. Solche Fälle offenbaren eine Entwicklung hin zu demokratisch legitimierten Nichtdemokratien. Noch anders gelagert sind Fälle der Selbstentmündigung von Demokratien. Als Reaktion auf islamistischen Terror und mit mehrheitlicher Unterstützung des Wahlvolks verhängte die französische Regierung den Ausnahmezustand und machte so die Einschränkung demokratischer Rechte zugunsten der inneren Sicherheit zur Vorbedingung für den Erhalt von Demokratie. Schließlich kommt es zur schleichenden Zerstörung demokratischer Öffentlichkeiten durch die Geschäftspraktiken smarter Technologiekonzerne – eine Entwicklung, für die der Facebook-Gründer Mark Zuckerberg zu einer schillernden Symbolfigur geworden ist.

Wie lässt sich diese facettenreiche Tendenz zur Aushebelung demokratischer Rechte und Institutionen mit Hilfe demokratischer Verfahren erklären? Nachfolgend skizziere ich den Grundriss einer Antwort. Die Demokratie ist, so meine These, von einem für Markterweiterung und Kapitalakkumulation relativ kompatiblen 23Anderen zu einem Objekt finanzkapitalistischer Landnahmen geworden. Deshalb stellt sie selbst in den alten Zentren nicht länger die präferierte politische Staatsform dar, in welcher sich ein expansiver Kapitalismus optimal entfalten kann.[3] Daraus folgt, dass die Demokratie auf Dauer nur Bestand hat, wenn ihre Inhalte, Verfahren und Institutionen auf Felder und Sektoren ausgeweitet werden, die für demokratische Willensbildung bisher verschlossen waren. Demokratisierung läuft deshalb letztendlich auf einen Bruch mit dem Kapitalismus hinaus. Ich begründe diese These mit demokratietheoretischen Überlegungen (1), analysiere das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie (2), skizziere den Prozess der Entdemokratisierung (3) und befasse mich schließlich mit der Zukunft einer transformativen Demokratie (4).

1. Was ist Demokratie?

Demokratie ist ein Begriff, der theoretisch wie politisch höchst unterschiedlich gefüllt werden kann. Dem Wortstamm nach vereint Demokratie das griechische dēmos (Volk) mit kratein (herrschen). Demokratie bedeutet demnach Volksherrschaft, Herrschaft der Mehrheit oder der Vielen.[4] Ideengeschichtlich lässt sich der Begriff bis in die Antike zurückverfolgen. Doch moderne Massendemokratien sind etwas völlig anderes als jene frühen Gemeinwesen, die trotz Ausschluss der Sklaven bäuerliche Produzentendemokratien waren.[5] In ihrer modernen Gestalt ermöglicht Demokratie die Teilhabe von großen und sozial heterogenen Bevölkerungen am politischen Prozess. Sie impliziert eine widersprüchliche Vergesellschaftung des Politischen, die allerdings auf der Privatisierung von Wirtschaft und sozialer Reproduktion beruht. Die Vergesellschaftung des Politischen findet in den frühindustrialisierten Ländern 24im Rahmen von demokratischen Institutionen statt, die den Kernbestand demokratischer Verfassungsstaaten ausmachen. Zu ihnen gehören Volkssouveränität; politische Gleichheit von Individuen und Assoziationen unabhängig von Konfession, Rasse und Geschlecht; allgemeines gleiches Wahlrecht und umfassende Partizipation der Citoyens sowie Schutz vor staatlicher Willkür. Über die realen Ausprägungen dieser Herrschaftsform ist damit aber noch wenig gesagt. Zwischen einer Regierung im Namen des Volkes und der Selbstregierung des Volkes existiert eine große Bandbreite an möglichen Regierungsweisen.

Ideengeschichtlich wie institutionell beruhen Demokratien auf einer Verbindung von mindestens zwei Traditionslinien: dem Liberalismus mit seiner Betonung von Freiheit und Pluralismus einerseits sowie einem republikanischen Egalitarismus, der Gleichheit und Volkssouveränität priorisiert, andererseits. Beide Linien versehen die Programmatik der bürgerlichen Revolution, zusammengefasst in der Losung Liberté, Égalité, Fraternité, mit sehr unterschiedlichen Akzenten. Die Geister scheiden sich vor allem an der Égalité. An dieser Stelle ist es nicht möglich, die Genealogie von liberaler und sozialer Demokratie auch nur ansatzweise nachzuzeichnen, weshalb ein kursorischer Blick auf die Nachkriegsentwicklung genügen muss. Trotz restaurativer Tendenzen, die eine tiefgreifende wirtschaftsdemokratische Neuordnung ausschlossen, hatte die Gleichheit in den kontinentaleuropäischen Kapitalismen der Nachkriegsära insofern ihren Platz, als Klasseninteressen der Lohnabhängigen in den wohlfahrtsstaatlichen Regimen, wenngleich asymmetrisch, institutionalisiert wurden.[6] Demokratie war damit mehr als liberaler Pluralismus. Sie beinhaltete soziale Bürger*innenrechte, organisierte Arbeitsbeziehungen, tarifliche Normen und Mitbestimmungsmöglichkeiten. In unterschiedlichen Variationen handelte es sich um Staaten, die Lohnabhängige mit einem Kollektiveigentum zu privater Existenzsicherung ausstatteten und so Sozialkosten internalisierten.[7] Demokratie und Kapitalismus 25schienen versöhnt, weil ein integraler Staat Kompromissbildungen zwischen Kapital und Arbeit, oder umfassender: zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, zu optimieren in der Lage war. Die Formel vom demokratischen Kapitalismus[8] trägt diesem Umstand Rechnung.

Im Gefolge der Implosion des staatsbürokratischen Sozialismus und der bereits früher einsetzenden Krise der wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismen hat sich der Demokratie-Diskurs jedoch eindeutig in Richtung der liberalen Tradition verschoben. Das ist keineswegs allein der Dominanz marktradikaler Paradigmen geschuldet, wie sie in zahlreichen Untersuchungen thematisiert wird.[9] Unter dem Eindruck der Umwälzungen in Osteuropa, in denen sich Demokratisierungsforderungen oppositioneller Bewegungen mit der Einführung kapitalistischer Wirtschaftsformen verbanden, aber auch getrieben von den Erfahrungen neuer sozialer Bewegungen und deren Protestformen wurden der Eigenwert und die Wandlungsfähigkeit demokratischer Institutionen und Verfahren zu einem zentralen Fokus demokratietheoretischer Debatten.[10] Wer es nicht bei einer Affirmation liberaler Vorstellungen belassen wollte, orientierte sich an Spielarten einer deliberativen, verfahrensorientierten Demokratie.

Der Eigenwert demokratischer Verfahren, der in der Marx’schen Theorie unterbelichtet geblieben ist und vor allem in (post-)stalinistischen und nominalsozialistischen Regimen sträflich missachtet wurde, ist ein Vermächtnis, hinter das die kritische Demokratietheorie im 21. Jahrhundert nicht zurückfallen darf. Selbiges vorausgesetzt, spricht dennoch einiges dafür, dass die Theorien der deliberativen Demokratie in gewisser Weise das Kind mit dem Bade ausschütten.[11] In der Logik einer primär verständigungsorientierten, verfahrensbasierten Demokratie bleibt der Platz dessen, was in demokratischen Verfahren behandelt wird, leer. Der Souverän, das Staatsvolk, entscheidet mit Mehrheit, wie das Vakuum poli26tisch gefüllt werden soll. In einer solchen Demokratie könne, wie Jürgen Habermas argumentiert, »die Leerstelle des positiven Gesetzesbegriffes normativ nicht mehr mit einem privilegierten Klasseninteresse ausgefüllt werden«. Vielmehr müssten »die Legitimitätsbedingungen für das demokratische Gesetz in der Rationalität der Gesetzgebungsverfahren selber aufgesucht werden«.[12]

Was Habermas hier als Privilegierung bezeichnet, ist nichts anderes als die Festschreibung kollektiver Interessen der von Löhnen abhängigen Klassen im Verfassungsrecht. Ebendies hatte der marxistische Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth in seiner Auseinandersetzung mit dem konservativen Verfassungsinterpreten Ernst Forsthoff am Beispiel des westdeutschen Grundgesetzes begründet.[13] Habermas hält Abendroths Konzeption einer auf antagonistischer Vergesellschaftung beruhenden Demokratie für eine Fortschreibung von Hintergrundannahmen der marxistischen Geschichtsphilosophie, in die das Vertrauen wie bei »jeder anderen Geschichtsphilosophie weitgehend geschwunden« sei.[14] Habermas’ Verzicht auf die – vermeintliche – Privilegierung von Klasseninteressen, die in der sozialen Realität allenfalls subdominant sind, ist theoretisch folgenreich. De facto wird damit die demokratische von der sozialen Frage entkoppelt. Dadurch erfährt die Égalité unausgesprochen eine demokratietheoretische Abwertung. Sie kann sich als Resultat verständigungsorientierter Verfahren durchsetzen, muss es aber nicht. Der Souverän entscheidet. Demokratie wird damit auf ihre Verfahren und Legitimationen reduziert. Ihr Kraftquell ist eine kommunikative Vernunft, die im Prozess der Verständigung bereits angelegt ist.

Ein Grundproblem des deliberativen Demokratieverständnisses wurzelt darin, dass es Voraussetzungen der demokratischen Herrschaftsform metatheoretisch auf Dauer stellt, die historisch betrachtet keineswegs jederzeit gegeben sind. Habermas’ Überlegun27gen beruhen auf der stillen Prämisse, rasches Wirtschaftswachstum lasse sich verstetigen, während der Wohlfahrtsstaat für eine einigermaßen gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Mehrprodukts und die »Pazifizierung des Klassenkonflikts«[15] sorge. Entscheidende Voraussetzungen für die Erzeugung von Wirtschaftswachstum und ein relatives Kräftegleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Hauptklassen als Grundlagen für die institutionelle Stabilität von Wohlfahrtsstaat und Demokratie werden nicht mehr problematisiert. Dass die Wirtschaft kontinuierlich wächst und alle einen größeren Anteil vom Kuchen bekommen, gilt als gesetzt. In der Annahme einer engen Koppelung von Wirtschaftswachstum, wohlfahrtsstaatlicher Umverteilung und Stabilität der Demokratie unterscheidet sich Habermas’ Konzept nicht vom Mainstream der liberalen Demokratietheorie. Eine »freie Wirtschaft«, schreibt beispielsweise der Politikwissenschaftler Hans Vorländer, schaffe, »besser als andere Formen des Wirtschaftens, Wohlstand. Und Wohlstand scheint fast eine Garantie für die Demokratie zu sein.«[16]

2. Spannungen zwischen Kapitalismus und Demokratie

Doch was geschieht, wenn die enge Koppelung von Wirtschaftswachstum und Demokratie nicht mehr funktioniert? Diese Frage gilt es zu beantworten, weil die alten kapitalistischen Zentren an einen historischen Umschlagpunkt gelangt sind. Die Volkswirtschaften dieser Länder haben »die Zeit des schnellen Wachstums […] hinter sich gelassen«,[17] sie werden mehr und mehr zu Postwachstumskapitalismen mit vergleichsweise niedrigen Wachstumsraten. Langanhaltende Prosperitätsphasen, die es – wie die Dekade nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 belegt – noch immer gibt, verlaufen regional wie national höchst disparat und sind mit einer zunehmend ungleichen Verteilung des erzeugten Reichtums verbunden. Jede Vergrößerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist unter den Bedingungen einer fossilen Öko28nomie zudem mit einem beschleunigten Energie- und Ressourcenverbrauch sowie mit einer Zunahme klimaschädlicher Emissionen verbunden. Lange Zeit wurde das BIP als Indikator für die Mehrung gesellschaftlichen Reichtums geradezu fraglos akzeptiert, und es wird seitens der politischen Eliten noch immer als Voraussetzung der Stabilität von Gesellschaft und Demokratie betrachtet. Doch die zivilgesellschaftlichen Legitimationen des auf hohem Ressourcenverbrauch, industrieller Produktion und Massenkonsum basierenden Wachstumstyps sind brüchig geworden. Deshalb wird wieder stärker spürbar, was die kapitalistische Wachstumsmaschine für einige Jahrzehnte verdeckte: Expansiver Kapitalismus und territorial verankerte, an die Grenzziehungen des nationalen Wohlfahrtsstaates gebundene Demokratien bewegen sich in einem Spannungsverhältnis.

Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie

Marx, dessen Demokratieverständnis häufig auf die missverständliche und oft missbrauchte Formel von der revolutionären »Diktatur des Proletariats«[18] reduziert wird, hat dieses Spannungsverhältnis hellsichtig mit der systemisch bedingten Unvollständigkeit der Demokratie in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften begründet. Demokratie als »das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen«[19] besitzt für ihn eine Doppelgestalt. Logisch betrachtet eignet sich die demokratische Staatsform bestens, um subalterne Klassen zu integrieren und die Bourgeois-Herrschaft sicherzustellen. Die Demokratie gewährt Spielräume für kreatives unternehmerisches Handeln. Sie trägt damit dem konkurrenzgetriebenen Zwang zur fortwährenden Revolutionierung der Produktionsmittel angemessen Rechnung und fördert zugleich die Mystifikation der kapitalistischen Ausbeutung.[20] Demokratie besitzt jedoch stets auch etwas Überschießendes, denn sie beruht auf einer antagonistischen Vergesellschaftung von Politik. Sie ist nicht nur eine integrative Herrschaftsform, sondern bietet zugleich einen institutionellen Rahmen, der für die 29Emanzipation der Beherrschten und die Überwindung des Kapitalismus genutzt werden kann.[21]

Historisch betrachtet waren es dann auch keineswegs die bürgerlichen Klassen, die Parlamentarismus und Demokratie durchsetzten. Das Bürgertum fürchtete die Dynamik demokratischer Bewegungen und hörte spätestens während der europäischen Revolutionen von 1848 auf, »eine revolutionäre Kraft zu sein«.[22] Allerdings mussten die Verteidiger*innen der sozialen Ordnung fortan lernen, »Politik mit Rücksicht auf das Volk zu machen«.[23] Es bedurfte freilich der Pariser Kommune (1871), um die herrschenden Klassenfraktionen der europäischen Kernländer dazu zu bringen, Parlamente und ein allgemeines Wahlrecht als unvermeidliche Übel zu akzeptieren.[24] In Deutschland war die Novemberrevolution von 1918 nötig, um die Monarchie zu stürzen und elementare politische Freiheiten wie das Frauenwahlrecht durchzusetzen. Selbiges erfolgte im Gleichklang mit elementaren sozialen Rechten wie dem Acht-Stunden-Tag und wurde von organisierten Arbeiterbewegungen getragen, die, ungeachtet aller internen Differenzen, mit sozialistischem oder kommunistischem Selbstverständnis agierten. Während der Entstehung der Weimarer Republik wurden allgemeine, gleiche, freie und geheime Wahlen zur Rückfallposition der herrschenden Eliten, um die Transformation in Richtung von Räterepublik und Diktatur des Proletariats aufzuhalten.[25] Die demokratischen Institutionen blieben jedoch instabil und fielen schließlich einer nationalsozialistischen Herrschaft zum Opfer, in welcher auch das Großbürgertum einem – nunmehr faschistischen – »Bonaparte« unterworfen wurde.[26]

30Wie zuvor der italienische beendete der deutsche Faschismus gewaltsam ein Interregnum, das aus der Sicht der kapitalistischen Eliten eine Revitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft behinderte. Die autoritäre Herrschaftsvariante kam keiner proletarischen Revolution zuvor, wie der kommunistische Häretiker August Thalheimer meinte. Der Faschismus reagierte auf einen mehr oder minder erfolgreichen sozialistischen Reformismus. Innerhalb des demokratischen Rahmens konnte von der »Kapitalistenklasse« nur noch »unter dem ständigen Druck der Arbeiterklasse«[27] regiert werden. Das sollte sich ändern. Als sich die Gelegenheit bot, die Institutionen einer embryonalen sozialen Demokratie zu liquidieren, wurden mit stiller Zustimmung eines erheblichen Teils des Großbürgertums gewaltsam Fakten geschaffen. Der New Deal in den USA und die industrielle Demokratie in Schweden belegen indes, dass andere, demokratische Wege aus der Krise möglich waren.

Die Demokratie, so lässt sich resümieren, ist geschichtlich das Produkt und Medium einer antagonistischen Vergesellschaftung von Politik, und, darin möchte ich Jürgen Habermas widersprechen, sie ist es auch noch in der Gegenwart. Deshalb gibt es in kapitalistischen Gesellschaften keine Bestandsgarantie für demokratische Institutionen und Verfahren. Die Demokratie ist für kapitalistische Eliten dann besonders wertvoll, wenn es antagonistische Kräfte zu integrieren gilt. Demokratietheoretisch gewendet bedeutet dies, dass sich Kapitalismus und Demokratie nicht im Gleichklang entwickeln. Abhängig von den jeweiligen gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, sozialen Kämpfen und politischen Konflikten, gehen sie mehr oder minder feste, von Zufällen beeinflusste Synthesen ein, die sich aber durchaus als revidierbar erweisen.

Das Innen und das Außen der Demokratie

Auch im Falle einer gelingenden Integration potenzieller Antagonist*innen existieren jedoch ein Innen und ein Außen der Demokratie. Die demokratische Herrschaftsform ist nicht für alle Weltregionen und für alle Sektoren kapitalistischer Gesellschaften gleichermaßen kompatibel. Das reflektieren Landnahmetheorien, 31die davon ausgehen, dass der Kapitalismus sich nicht ausschließlich aus sich selbst heraus reproduzieren kann, sondern fortwährend auf die Okkupation eines nichtkapitalistischen Anderen angewiesen bleibt. Historisch betrachtet thematisiert der Landnahmebegriff in der von mir favorisierten Verwendung[28] eine Entwicklung, die während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, dem imperialen Zeitalter, einsetzte. Seit dieser Zeit werden Tempo und Wachstumsdynamik der Weltwirtschaft von kapitalistischen Kernstaaten vorgegeben, die den großen Rest sogenannter rückständiger Länder beherrschen. Das daraus resultierende »Privileg«, in einem reichen Land geboren zu sein, hat über Jahrzehnte hinweg und in wachsendem Maße die Komposition der globalen Ungleichheit bestimmt, und es ist noch immer eine wesentliche Ursache für weltweite Migrationsströme.[29]

Rosa Luxemburg war eine der ersten marxistischen Theoretiker*innen, die diese Gleichzeitigkeit ungleicher Entwicklungen systematisch analysierte. Ungeachtet der zahlreichen Irrtümer und Fehlschlüsse, die Luxemburgs Theorie der Akkumulation und externen Mehrwertrealisierung enthält,[30] begründet ihr Hauptwerk eine Gesellschaftstheorie, die einem linearen Fortschrittsdenken widerspricht und eine Pluralität an Ausbeutungs- und Herrschaftsformen anerkennt. Für Luxemburg besitzt die kapitalistische Akkumulations- und Wachstumsdynamik eine Doppelgestalt. Sie vollzieht sich als permanenter Stoffwechsel zwischen inneren kapitalistischen und äußeren, nicht vollständig kommodifizierten Märkten.[31] Nur die inneren Märkte, die auf dem Austausch von Äquivalenten beruhen, ermöglichen eine enge Koppelung von Kapitalismus und Demokratie. Sie bleiben jedoch auf äußere, nichtkapitalistische Märkte angewiesen, die durch au32ßerökonomischen Zwang, Disziplinierung und ungleichen Tausch strukturiert werden. Äußere Märkte entsprechen nicht einmal der Form nach Beziehungen zwischen Freien und Gleichen.

Die Demokratie als Staatsform und das Recht als Regulation von Markt- und Klassenbeziehungen gründen sich daher auf einem stetigen Stoffwechsel zwischen inneren kapitalistischen und äußeren nichtkapitalistischen Märkten. Rechtliche Kodifizierungen, die in inneren Märkten Kompromisse zwischen Lohnarbeit und Kapital oder anderen Marktteilnehmer*innen fixieren, wirken aus der Perspektive von Akteur*innen in äußeren Märkten – etwa der Bevölkerungen von Kolonien, Sektoren mit außerökonomischen, rassistisch oder sexistisch legitimierten Dominanzverhältnissen oder auch von der Warte rechtloser Fluchtmigrant*innen oder prekarisierter Halbbürger*innen aus – wie ein »Rechtsfetischismus«,[32] hinter dem sich Mechanismen struktureller Gewalt bis hin zu offener Repression verbergen.

Vor dem Hintergrund dieser Doppelgestalt der kapitalistischen Dynamik lässt sich das Spannungsverhältnis von Kapitalismus und Demokratie in zweierlei Hinsicht neu begründen. Erstens wird eine Blindstelle all jener Konzeptionen deutlich, die im Anschluss an Antonio Gramsci oder auch an Hugo Sinzheimer, Hermann Heller und Ernst Fraenkel hegemonietheoretisch argumentieren beziehungsweise den Wohlfahrtsstaat als institutionell variierenden Ausdruck eines rechtlich kodifizierten Klassenkompromisses deuten. Solche Theorien haben in erster Linie einen rationalen Kapitalismus vor Augen, der mit der demokratischen Herrschaftsform halbwegs kompatibel ist. Im integralen Staat beruht demokratische Herrschaft auf Hegemonie, auf einem basalen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten,[33] der aus den sozialen und symbolisch-kulturellen Konflikten der Zivilgesellschaft erwächst. Jeder hegemoniale Konsens ist mit Zwang gepanzert und seine Träger*innen sind klassenübergreifend zusammengesetzte historische Blöcke, deren Projekte Klasseninteressen in die Sphäre der Politik transformieren und so weitgehend unsichtbar 33machen.[34] Zwang meint hier keineswegs offene oder versteckte Gewalt. Solange die kapitalistische Eigentumsordnung als fraglos vorausgesetzt wird, bedarf der stille ökonomische Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft keiner besonderen Legitimation. Deshalb können »außerökonomische Güter« wie soziale Bürger*innen- und Freiheitsrechte relativ egalitär verteilt und die Gleichstellung von Geschlechtern, Ethnien und Nationalitäten gewährt werden, denn sie lassen den Kern der kapitalistischen Herrschaft unberührt.[35]

Im integralen Staat eines halbwegs rationalen Kapitalismus wird das Recht zu einer Regulationsform, die auch Interessen beherrschter Klassen berücksichtigt. Der Kompromisscharakter des Rechts ermöglicht es, wie Wolfgang Abendroth am Beispiel des westdeutschen Grundgesetzes gezeigt hat, sowohl die soziale als auch die transformative Demokratie zu denken. Die basalen Rechtsnormen sind demnach für antikapitalistisch-sozialistische Transformationsstrategien prinzipiell offen.[36] Eine so verstandene transformative Demokratie bedarf keiner geschichtsphilosophischen Begründung. Ihr genügt der Verweis auf die historische Genese und die gesellschaftliche Bedingtheit demokratischer Rechte. Das Problem entsprechender Konzeptionen ist ein anderes. Sie blenden aus, dass die kapitalistische Dynamik keineswegs immer und ausschließlich rationalen Prinzipien folgt. Auch in ihrer wohlfahrtsstaatlichen Gestalt nutzt und (re-)produziert die kapitalistische Vergesellschaftung Regionen, soziale Gruppen, Produktions- und Lebensweisen, die von außerökonomischem Zwang, von offener oder versteckter Gewalt geprägt sind. Diesen diskriminierten, politisch abgewerteten Gruppen in der kapitalistischen (Semi-)Peripherie, aber auch innerhalb der nationalen Kapitalismen bietet die ursprüngliche Idee einer auf antagonistischer Vergesellschaftung beruhenden Demokratie zu wenig, weil sie die soziale Realität äußerer Märkte einigermaßen unbeachtet lässt. Der Kapitalismus existiert eben niemals in seiner reinen, rationalen Gestalt. Er kann sich nur auf Kosten anderer Produktionsweisen und Lebensformen entfalten. Auch in den wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen drehen sich soziale 34Konflikte daher vielfach um die Frage, ob und welche Gruppen, Regionen und Territorien in den – vollständigen – Genuss demokratischer Rechte gelangen.

Deshalb macht es zweitens wenig Sinn, die antagonistische Vergesellschaftung allein auf den Gegensatz von Kapital und organisierter Arbeiter*innenbewegung zurückzuführen. Kapitalistische Landnahmen folgen einem systemisch verankerten Expansionsdrang, der das Leben einer immer größeren Zahl von Menschen, das der Kapitalist*innen eingeschlossen, von Marktimperativen abhängig macht.[37] Der Gegensatz zwischen unendlich gedachter Kommodifizierung und der Begrenztheit jenes nicht marktförmigen Anderen, das – wie der Wohlfahrtsstaat – die Funktionsfähigkeit von Märkten überhaupt erst sicherstellt, strukturiert die antagonistische Vergesellschaftung von Demokratie. Das darin angelegte Spannungsverhältnis enthält den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, wirkt aber umfassender als Reibung zwischen der letztendlich ungezügelten Expansion kapitalistischer Marktimperative einerseits und der demokratisch verfassten Sozialität andererseits. Neben Klassenkämpfen beinhaltet dieses Spannungsverhältnis Auseinandersetzungen um Geschlechtergerechtigkeit oder ethnisch-national gefärbte Beziehungen ebenso wie den ökologischen Gesellschaftskonflikt. All diese Konfliktlinien bewegen sich relativ unabhängig, sie kreuzen einander, entfalten sich aber nach eigenen Mustern. Spannungen zwischen den Kräften der Marktexpansion und den Gegenkräften werden von historischen Blöcken und Klassenallianzen bearbeitet, die – das hat Karl Polanyi eindrucksvoll gezeigt – autoritäre, ja faschistische Züge annehmen können. Die kapitalistische Dynamik vollzieht sich demnach als Doppelbewegung. Einer liberalen Marktöffnung, in deren Gefolge die fiktiven Waren Arbeit, Boden und Geld so behandelt werden, als seien sie Waren wie jede andere, folgen antiliberale Gegenbewegungen. Politisch unterschiedlich gefärbt, besteht deren einzige Gemeinsamkeit darin, dass sie mit dem liberalen laissez faire brechen.[38]

353. Was unterminiert Demokratie?

Geschichte wiederholt sich nicht. Dennoch lassen sich beim Blick auf den derzeit im Gange befindlichen Umbruch Parallelen zum Polanyi’schen Szenario kaum übersehen. Auf eine Phase radikaler, grenzüberschreitender Marktöffnung, die mit der Implosion des staatsbürokratischen Sozialismus zusätzliche Wucht erhielt, folgte spätestens seit der großen Krise von 2008/2009 eine Periode, in welcher antiliberale, globalisierungskritische, überwiegend (rechts-)populistische Formationen die politische Agenda bestimmen. Wie nicht anders zu erwarten, ist die Interpretation dieses Umschlagpunktes wissenschaftlich wie politisch umkämpft. Nach meiner Auffassung handelt es sich weder um eine »gescheiterte«[39] noch um eine »umkämpfte Globalisierung« in dem Sinne,[40] dass ein wenig sozialdemokratisch-grüne »Verlangsamung« der Prozesse den Fortbestand internationaler Verflechtungen sicherstellen könnte. Die vielschichtige Globalisierung ist, so meine Deutung, repulsiv geworden. Mit der zunehmenden Ungleichheit, den niedrigen Wachstumsraten in den früh industrialisierten Ländern, den fortbestehenden Finanzrisiken, der ökologischen Zerstörung und der anschwellenden Fluchtmigration erzeugt sie Rückstoß- und Gegenbewegungen, die in den verursachenden kapitalistischen Zentren strukturbildend wirken.

Das geschieht, weil es sich bei der marktöffnenden Globalisierung um eine Verknüpfung von inneren und äußeren Landnahmen handelt. Bis zur Jahrtausendwende war die expansive, (finanz-)marktgetriebene Globalisierung ökonomisch ein höchst erfolgreiches Wachstumsprojekt. So wie jeder Prosperitätsschub zuvor haben auch die globalen Landnahmen ihre Objekte okkupiert, umgeformt, aufgesogen und auf diese Weise allmählich ruiniert. Allerdings handelt es sich in den alten kapitalistischen Zentren überwiegend um Landnahmen zweiter Ordnung. Damit ist gemeint, dass der Modus Operandi kapitalistischer Expansion an jenen Schutzmechanismen ansetzt, mit deren Hilfe der wohlfahrtsstaatliche Sozialkapitalismus die Funktionsfähigkeit interner Märkte gesichert hatte. Auf die Spitze getrieben, zerstört die 36finanzkapitalistische Landnahme letztlich das Soziale der Demokratie. Ihr Modus Operandi verallgemeinert nicht nur Wettbewerb und Konkurrenz, er weitet zugleich jene Sektoren aus, die sich, weil Marktimperativen gehorchend, demokratischen Entscheidungen entziehen. Wo der Markt und seine Effizienzkriterien herrschen, hat demokratische Politik zu schweigen.

Zu den wichtigsten Repulsionen der Globalisierung gehört die Unterminierung sämtlicher Kräfte und Institutionen, die als soziale Korrektive zur Marktexpansion wirken könnten. In den alten kapitalistischen Zentren sind demobilisierte Klassengesellschaften entstanden, über deren Anatomie wir unter anderem wegen der Klassenvergessenheit der zeitgenössischen Sozialwissenschaften nur wenig wissen. Die Grundtendenz ist jedoch eindeutig. Trotz der längsten Prosperitätsphase seit dem Golden Age entwickeln sich die frühindustrialisierten Länder zu Postwachstumskapitalismen, in denen der erzeugte Wohlstand – angeblich – nicht mehr für alle und alles reicht. Während sich die vertikalen, überwiegend klassenspezifischen Ungleichheiten verstärken, sind die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, die auf der Konfliktachse von Kapital und Arbeit agieren, während der gesamten Nachkriegsgeschichte nie so schwach gewesen wie in der Gegenwart.

Innerhalb des politischen Systems findet die soziale Polarisierung daher keine angemessene Repräsentation. Zwar gibt es in der Bundesrepublik eine Fülle an Auseinandersetzungen und Streiks, ja, eine neue Konfliktformation.[41] Es fehlt aber ein öffentlicher Resonanzraum, der es ermöglichen würde, den angehäuften Problemrohstoff klassenpolitisch produktiv zu verarbeiten. Das ist nicht allein ein Problem der von institutioneller Zerstörung bedrohten Linken. Demobilisierte Klassengesellschaften laufen beständig Gefahr, jene Selbststabilisierungsmechanismen (Kreditsystem, Innovationen, wohlfahrtsstaatlich eingehegte Arbeits-Reproduktions-Netzwerke) zu destruieren, die für eine Entschärfung der Folgekosten ungebremster Marktexpansion sorgen könnten. Eine fortschreitende Zerstörung von Sozialität lässt jene Spielarten entdemokratisierter Demokratien entstehen, die eingangs angesprochen wurden. Wir können vier Mechanismen systemischer Entdemokratisierung unterscheiden.

37Dazu gehören (1) Varianten der marktgetriebenen Entdemokratisierung. Als eine ihrer wichtigsten Repulsionen hat die Globalisierung weltweit eine enorme Zunahme der Vermögens- und Einkommensungleichheit bewirkt. Das rasche Wachstum in großen und kleinen Schwellenländern, das dort Mittelklassen expandieren lässt, geht teilweise zulasten von beherrschten Klassenfraktionen in den alten Metropolen. Hauptgewinner*innen der Globalisierung sind vermögende Eliten, die überwiegend noch immer in den reichen Gesellschaften des globalen Nordens leben. 44 Prozent des Einkommenszuwachses, der zwischen 1988 und 2008 erzielt wurde, entfielen auf die reichsten fünf Prozent, nahezu ein Fünftel auf das reichste eine Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung. Die aufstrebenden Mittelklassen in den Schwellenländern erhielten lediglich zwei bis vier Prozent der absoluten Zuwächse.[42] Für die Verlierer*innen, hauptsächlich die Industriearbeiter*innenschaft und das wachsende Dienstleitungsproletariat der alten Zentren, entfällt damit zunehmend, was Branko Milanović als Ortsbonus der Vermögensverteilung bezeichnet. In einem reichen Land geboren zu sein schützt nicht mehr vor sozialem Abstieg. Während die Unterschiede zwischen Nord und Süd geringer werden, gewinnt die Klassenzugehörigkeit innerhalb der nationalen Gesellschaften für die Verteilung von Lebenschancen weltweit wieder an Bedeutung.

Die Ungleichheit hat ein solches Ausmaß erreicht, dass sie selbst zur Wachstumsbremse geworden ist.[43] Daraus entsteht ein Teufelskreis. Bleiben die Wachstumsraten niedrig und umverteilende Maßnahmen aus, nimmt die Vermögenskonzentration immer weiter zu.[44] An der Spitze der sozialen Hierarchie expandiert gleichwohl eine winzige Gruppe superreicher Vermögensbesitzer*innen, die in einer eigenen Welt mit besonderen Regeln lebt. Riesige Privatvermögen reizen die Geldelite beständig zu Versuchen, »sich zu bereichern, indem sie politischen Einfluss ausüben, um ihren Anteil am vorhandenen Kuchen zu vergrößern, statt zur Wertschöpfung 38der Wirtschaft beizutragen und auf diese Weise den Gesamtkuchen zu mehren«.[45] Weil der neue Geldadel seine Privilegien schützen will, behindert er eine wirkungsvolle Regulation des Finanzsektors. Die Anlage überschüssigen Geldkapitals im Finanzsektor und die Bereitschaft zu hochspekulativen Geschäften konservieren ein internationales Finanzsystem, dessen fortlaufende Betriebsstörungen jederzeit neue Eruptionen auslösen können.[46] Bisher hat jede Finanzkrise die Umverteilung von unten nach oben forciert. Auch dadurch bedingt, sind am unteren Ende der sozialen Hierarchie Unterklassen mit einem Anteil von 10 bis 15 Prozent an der Bevölkerung entstanden, die nahezu vollständig aus der geschützten Erwerbsarbeit und den kollektiven Sicherungssystemen herausfallen. In der untersten wie der obersten Etage der Einkommens- und Vermögenspyramide haben sich somit soziale Großgruppen herausgebildet, deren Lebensformen und soziale Lagen vom Wirtschaftswachstum nahezu vollständig entkoppelt sind. Während die einen das politische System zu ihren Gunsten manipulieren können, üben sich die anderen in einem überdurchschnittlichen Ausmaß in politischer Abstinenz. Sie verzichten auf ihr Wahlrecht und reagieren auf ihre alltäglichen Ohnmachtserfahrungen mit einem Selbstausschluss aus dem politischen System. Auf gegensätzliche Weise, aber über einen finanzkapitalistischen Kausalmechanismus miteinander verbunden, konstituieren beide Klassen(fraktionen) ein je besonderes Außen der Demokratie.

Marktexpansion und Deregulierung erzeugen als ihre Kehrseite (2) Mechanismen einer bürokratischen Entdemokratisierung, die dem Prinzip der »Akkumulation von Macht«[47] folgen. Wie sich anhand der von den europäischen Institutionen diktierten Austeritätspolitik zeigen lässt, benötigt auch ein auf Perfektionierung ausgerichteter bürokratischer Kontrollmodus beständig neues Material. Mit ihrem hohen Verflechtungsniveau und einer noch embryonalen Zivilgesellschaft verkörpern Europäische Union (EU) und Eurozone eine Mischform aus Imperium und transnationalem 39Staat, in deren Apparaten der Marktfundamentalismus fest verankert ist. Marktradikale Rezepturen werden auch dann verordnet, wenn dies – wie im Falle der südeuropäischen Krisenländer und insbesondere Griechenlands – gegen jegliche wirtschaftspolitische Vernunft geschieht.



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