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Stress E-Book

Urs Willmann

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Beschreibung

Ein Leben ohne Stress ist nicht möglich: Der Mensch begegnet diesem Phänomen schon bei der Geburt, danach lässt es ihn nicht mehr los. Lange Zeit galt Stress als Belastung, die krank macht. Doch allmählich ändert sich unser Blick auf den Stress. Die Neurowissenschaften haben herausgefunden, dass Stress ein Motor für Spitzenleistungen ist. Spitzenköche, Ärzte, Schauspieler, Leistungssportler und viele andere mehr setzen diese Erkenntnis in ihrem Alltag längst um. Für sie ist Stress ein Lebensmittel, dessen positive Kraft sie bewusst nutzen – wie auch der Autor Urs Willmann. Er ist ein Energie-Junkie, der leidenschaftlich arbeitet und extreme sportliche Herausforderungen sucht, am liebsten beim Marathonlauf und in den Bergen.

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Seitenzahl: 385

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Urs Willmann

STRESS

Ein Lebensmittel

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Über dieses Buch

Ein Leben ohne Stress ist nicht möglich. Der Mensch begegnet diesem Phänomen schon bei der Geburt, danach lässt es ihn nicht mehr los. Doch wenn wir ihm zu lang und in hoher Dosierung ausgesetzt sind, macht er uns krank – so die herrschende Auffassung. Es ist Zeit, dass wir uns von dieser Vorstellung verabschieden, fordert Urs Willmann. Er selbst spürt es Tag für Tag: Stress setzt Kräfte frei, die wir nutzen können, um in allen Lebensbereichen Bestleistungen zu erbringen. Zahlreiche medizinische und psychologische Studien bestätigen diese Erfahrung mittlerweile.

Inhaltsübersicht

WidmungÜber dieses Buch1 Annäherungen1.1 Süchtig nach Stress1.2 Brauchen wir Stress?1.3 Der Tiger von Bramstedt1.4 Vom Stress zum Burnout1.5 Stress, positiv betrachtet1.6 Auf dem Rasen1.7 Gang zum Schafott1.8 Motor der Entwicklung1. 9 Kontrollverlust abgewendet2 Was die Wissenschaft weiß2.1 Jeder Mensch ein TDI2.2 Wo der Stress beginnt2.3 Informationsaustausch2.4 Die zweite Achse2.5 Im dauerhaften Widerstand2.6 Stress und die körperlichen Folgen2.7 Stress und Gefühle2.8 Stress und Gedächtnis2.9 Doping fürs Hirn3 Grenzerfahrungen3.1 Die große Lust auf Angst3.2 Achterbahn statt Wildnis3.3 Die Süchtigen von Lauterbrunnen3.4 Eingeschlossen3.5 Jagdszenen3.6 Stress stimuliert3.7 Experimentelle Erkundungen der Identität4 Zumutungen4.1 Der Mörder und ich4.2 Angst macht Lust4.3 Quälende Kunst4.4 Schnelle Schläge5 Lebensmodelle5.1 Abschied von einem Mythos5.2 Das Rezept der Ruhe5.3 Existenz im Ruhelosen5.4 Ein Arzt, der Mut macht6 Perfekt leben – mit StressDank
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Für Ana

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Über dieses Buch

Ich frage mich, wie Sie dazu kommen, ausgerechnet dieses Buch zu lesen. Wovon es handelt, das mögen die meisten Menschen nämlich überhaupt nicht. Oder mögen Sie etwa Stress? Als das Meinungsforschungsinstitut Forsa zum Jahresbeginn in einer Umfrage ermittelte, was sich die Deutschen für das Jahr 2016 wünschen, gab es einen klaren »Sieger«. 62 Prozent erhofften sich ein »stressfreieres Leben«. Kein einziges Anliegen stand häufiger auf den Wunschzetteln. Statistisch betrachtet wünschen sich die Deutschen also nichts mehr als weniger Stress.[1]

Stress ist nicht nur unbeliebt, er wird regelrecht verabscheut. Eine ganze T-Shirt-Kollektion gibt es mit dem Motto »I hate stress«. Und natürlich ein gleich lautendes Facebook-Portal. Sogar zu Drohzwecken eignet er sich. Im November 2015 wehrten sich die Mieter im Hamburger »Schanzenhof« gegen die Vertreibung durch den Eigentümer des Areals. Auf einem Transparent war in großen Buchstaben zu lesen: »Wer uns vertreiben will, muss Stress mögen!«

Offenbar bedeutet Stress Ungemach. Sein Image ist nachhaltig beschädigt. Wer in Buchhandlungen nach Lektüre zum Thema Stress sucht, der findet Dutzende Ratgeber. Alle wollen sie helfen, ihn auszutreiben. Wie einen Teufel.

Der Grund dafür ist, dass wir nicht mehr wissen, wozu diese Reaktionsmöglichkeit des Körpers, die wir als »Stress« bezeichnen, überhaupt gut ist. Wenn wir über Stress sprechen, meinen wir meist eine drohende oder bereits existierende Phase psychischer Überforderung. Wir bezeichnen damit oft sowohl den Auslöser als auch die Reaktion auf Überlastung. Wir sagen zum Beispiel »Arbeit ist Stress« oder »Arbeit macht Stress«.

Eine korrekte Definition für alle im Alltag erlebten Formen von Stress lautet: »Stress ist das, was Stresssysteme aktiviert.« In der Natur, wo sich die einen Wesen von anderen Wesen ernähren, handelt es sich bei dieser Aktivierung meist um eine kurzzeitige Reaktion des Gesamtorganismus. Die Antilope erhöht auf diese Weise ihre Leistungsfähigkeit, um die Chancen zu verbessern, den Zähnen und Krallen eines heranrauschenden Geparden zu entkommen. Der US-amerikanische Stressforscher Robert Sapolsky kommt daher zum Schluss: »Für 99 Prozent aller Spezies auf diesem Planeten bedeutet Stress drei Minuten Schrecken in der Savanne: Danach ist es vorbei, oder es ist mit dir vorbei.«

Als Kulturwesen haben wir Menschen unsere Umwelt verändert. Da Konflikte mit Fressfeinden selten geworden sind, unterscheiden sich unsere Stresserfahrungen von denen freilaufender Tiere. Stressphasen sind für uns Zeiträume in der Kategorie von Wochen, Monaten oder Jahren. Die Stressoren sind diffuser als Raubkatzen auf Samtpfoten, sie sind meist körperlos, heißen Termine, Steuererklärung, Chef oder Kochen für Gäste. Kein Wunder, dass wir das Gespür für die kurzzeitige Stressreaktion verloren und die bizarre Vorstellung entwickelt haben, dass Stress schlecht für uns sei und nachhaltig unsere Gesundheit ruiniere.

Mit dieser Ansicht liegen wir falsch. Ein Blick in die Wildnis, der wir kaum mehr angehören, erzählt anderes. Denn Stress ist Teil einer Erfolgsgeschichte. Die Stressreaktion dient in Fauna und Flora auf unterschiedliche Weise dazu, das Individuum zu schützen. Die Antilope sprintet mit plötzlich aktiviertem Organismus in Höchstgeschwindigkeit in die Sicherheit. Die Weinbergschnecke gerät durch hohe Metallbelastungen in Umweltstress, passt sich an und wird widerstandsfähiger.[2] Attackieren Raupen eine Pflanze, gerät sie in Stress und wehrt sich, indem ihre Zellen mit Hilfe von Calziumionen miteinander kommunizieren und den Widerstand gegen den Fressfeind organisieren.[3] Sogar der Schimmelpilz Eurotium rubrum ist imstande, hohe Salzkonzentrationen im Toten Meer zu überleben, indem er sich aktiv an seine lebensfeindliche Umwelt anpasst – mit Hilfe einer gepflegten Stressreaktion.[4]

Aber ausgerechnet wir Menschen als angebliche Krone der Schöpfung behaupten einerseits mit Stolz, eine Leistungsgesellschaft aufgebaut zu haben – und verteufeln andererseits jenes biologische Instrument, das unsere physische Leistung und unser Denkvermögen erhöht. Wir halten den Stress für einen Feind statt für eine Möglichkeit, uns gegen Gefahren zu wehren.

Mit dieser Einstellung haben wir ein Missverständnis so sehr kultiviert, dass viele Zeitgenossen gar nicht mehr erkennen, wie der Stress ihre Widerstandskraft erhöht. Nicht anders als im Falle von Pflanze, Schimmelpilz und Antilope rettet Stress unser Leben, lässt es gesunden. Außerdem machen wir uns etwas vor, wenn wir behaupten, Stress nicht zu lieben. Gehen Sie ins Kino oder auf den Rummelplatz! Sie werden unzählige Gleichgesinnte finden, die aus demselben Grund wie Sie diesen Ort aufgesucht haben: weil nichts ihre Leidenschaft mehr entfacht als Stress. Das Missverständnis, mit dem wir dem Stress begegnen, will ich ergründen. Um dieses Buch zu schreiben, begab ich mich auf eine Spurensuche durch die Gesellschaft. In Fußballstadien fahndete ich nach den Ingredienzien einer Stresskultur, die längst zur Massenbewegung geworden ist. In den Laboren der Stressforscher brachten mich Stresstests an die Grenzen meiner Belastungsfähigkeit. Anschließend erklärten mir die Wissenschaftler, warum Stress den Körper trainiert, das Immunsystem stärkt, die Denkleistung erhöht – und er sich sogar als beste Waffe gegen die chronischen, ungesunden Formen von Stress eignet.

Ganz zu Beginn meiner Arbeit an diesem Buch las ich, was zwei meiner ZEIT-Kollegen über die Schwierigkeiten geschrieben hatten, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen: »Das Schlimme daran ist nicht nur die Hetzerei, der Druck, die ewige Überlastung. Mindestens ebenso hässlich ist, was der Stress mit uns macht. Er macht uns ruppig und dick. Blass und müde. Kurzatmig und gereizt. Und, das vor allem: Er macht uns stumm.«[5]

Heute weiß ich, dass man sich ein völlig anderes Bild vom Stress machen muss, um ihn für ein besseres Leben nutzen zu können. Der Stress, den ich kennengelernt habe, macht nicht ruppig, sondern fröhlich. Er macht nicht dick, sondern schlank. Er macht uns nicht blass und müde, sondern frisch und wach. Nicht kurzatmig und gereizt, sondern fit und tiefenentspannt. Und vor allem macht er uns nicht stumm. Sondern richtig schön laut.

Bei der Recherche faszinierte mich, wie groß sein Einfluss auf die menschliche Entwicklung war. Ohne Stress wäre unsere Spezies nie entstanden, und es gibt kaum einen Bereich des Lebens, in dem der Stress nicht in Erscheinung tritt. Seinen Platz hat er im Berufsalltag und in der Freizeit, an der Börse und in der Kita, im Sport, bei der Balz, in der Liebe. Und er sorgt für Leistung wie für Wohlbefinden.

Krank machen kann er natürlich auch – aber nur, wenn er missbraucht wird. Ein Krankmacher per se ist er deswegen noch lange nicht. Es gibt gute Gründe, ihn als eine Art Würze zu sehen. Ich versichere Ihnen: Stress ist das Beste, was uns im Leben passieren kann.

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1 Annäherungen

1.1 Süchtig nach Stress

So schnell, wie die Angst mich packte, konnte ich nicht reagieren. Diese Angst war die spontane Reaktion auf eine quälend heiße Dampfwolke. Sie war so heiß, dass ich die Hitze nicht nur auf der Haut spürte. Einen Moment lang bekam ich keine Luft. Es brannte in der Nase und tief drinnen in den Bronchien. Panisch begann mein Gehirn die möglichen Folgen der Temperaturattacke in Betracht zu ziehen: Versengt sie mir die Haut? Kollabiert die Lunge? Verliere ich die Kontrolle?

Ich war nicht in die Hitzehölle eines Waldbrands geraten. Auch nicht in die Nähe eines isländischen Geysirs. Und nach Sekunden war die plötzliche Angst wie weggeblasen. Ich spürte, wie ich in den Normalzustand zurückkehrte – und fuhr entspannt fort mit dem morgendlichen Wellnessprogramm in meinem Hamburger Spa.

Schuld an der Sekundenpanik war René gewesen. Er machte in der Sauna den Elf-Uhr-Aufguss. René ist der entschlossenste Aufgießer meines Fitnessstudios. Wenn er aromatisiertes Wasser auf die glühend heißen Steine schüttet, dann mit dem Fächer die Saunabesucher anschwitzen lässt, bis die ganze Haut mit Schweißperlen bedeckt ist, und schließlich, nach dem zweiten Schwall, mit dem Handtuch den Saunagästen die kochende Luft ins Gesicht peitscht und die Schweißperlen zu Sturzbächen werden: dann kann man Angst bekommen. Obwohl alle – und das ist der irritierende Punkt an der ganzen Geschichte, und deshalb erzähle ich sie – freiwillig da sind. Immer wieder. Es gibt Menschen, die lieben das Saunen, und ich gehöre dazu. Ich setze mich grundsätzlich in die heißesten Kabinen in der Wellnessabteilung meiner Muckibude, dort immer auf die oberste Etage, wo die quälendste Hitze den Körper martert, und ich bleibe immer länger drin als alle andern, eine Viertelstunde pro Durchgang. Ich sitze in diesen mit Holz ausgekleideten Zellen, obwohl dort mit meinem Körper Dinge passieren, die der im Grunde genommen überhaupt nicht lustig findet – und angesichts dessen, was dort geschieht, in Stress gerät.

An jenem Morgen, von dem ich erzählt habe, geriet der Stress so heftig, dass ich tatsächlich Angst bekam. Ich war drauf und dran, vor den höllischen Dämpfen zu flüchten. Was, wenn plötzlich mein Herz stillstünde? Meine Augen könnten platzen, meine Nieren versagen.

Heute wundere ich mich nicht mehr darüber, dass ich mich freiwillig in enge Räume setze, in denen lebensfeindliche Bedingungen herrschen und ich mit Angstattacken rechnen muss. Während der Recherche zu diesem Buch bin ich vielen Menschen begegnet, die sich willentlich und immer wieder in Stresssituationen begeben. Ein solches Verhalten ist keineswegs ungewöhnlich. Der Mensch setzt es variantenreich um. Skifahrer und Snowboarder wählen statt sicherer Pisten Routen, auf denen sie sich den Hals brechen könnten. Millionen stürzen in Vergnügungsparks auf raffinierten Fahrgeschäften mit angstvoll verzerrten Mienen wie im freien Fall der Erde entgegen. Partygänger setzen sich Technorhythmen aus, deren Beats so hochfrequent auf das Gehör einwirken, dass sie Körper und Geist ausrasten lassen. Bereits Kinder wählen von möglichen Alternativen oft jenes Freizeitvergnügen, das den meisten Nervenkitzel verspricht – und überspielen die Angst mit fröhlichem Kreischen.

Die Sauna, so stelle ich fest, ist eine der moderatesten Möglichkeiten, um jener Leidenschaft nachzugeben, die offenbar fast jeden Menschen ab und zu packt: Wir setzen uns mit Kalkül Situationen aus, die uns stressen. Wir lieben Angst. Wir suchen Extrembelastungen, wir schielen nach Risiken.

Eine Stressreaktion beginnt nie grundlos, im Gegenteil. Das Gehirn muss von den Sinnesorganen Signale geliefert bekommen, deren Auswertung Gefahr vermeldet. Dann versucht es, den Organismus zu schützen. Allgemein gesagt: Ohne die Wahrnehmung einer Bedrohung gibt es keinen Stress. Die Stress-Reaktion ist die Antwort unserer ausgeklügelten körpereigenen Alarmanlage auf bedrohliche Herausforderungen.

Zugegeben, Wellness steht nicht primär für eine gefährliche Umgebung, in der man an Belastungsgrenzen stößt, sondern für Sanftheit, Ruhe und Entspannung. Trotzdem loten wir, oder zumindest einige von uns, auch dort das Maß des Erträglichen aus. Die Reaktion meines Körpers auf Renés Hitzeschwaden war ein Indiz, dass Körper und Geist die Sauna meines Fitnessstudios nicht als Ort der Ruhe wahrgenommen hatten. Sie hatten ein lebensbedrohliches Milieu erkannt – zumindest in diesem einen kurzen Augenblick.

War die Gefahr real? Ein krasser Fall zeigt, was passieren kann, wenn Saunagänger über ihre physiologischen Grenzen hinausgehen. Er ereignete sich im Sommer 2010 in der südfinnischen Stadt Heinola. Wettkämpfer aus aller Welt trafen sich zur Saunomisen Maailmanmestaruuskilpailut, auf Deutsch: zur Sauna-Weltmeisterschaft. Bei diesem Wettbewerb handelte es sich um eine jährlich wiederkehrende, traditionellerweise spaßige Veranstaltung, die wie ein Volksfest begangen wird.

Am Finaltag, dem 7. August, ist es mit dem Spaß jedoch vorbei. Im letzten Saunagang soll der Weltmeister ermittelt werden. Zu Beginn liegt die Temperatur bei 110 Grad Celsius. Alle 30 Sekunden wird ein halber Liter Wasser auf die rotglühenden Steine des Ofens geschüttet. Die Temperatur in der Kabine steigt, ebenso die relative Luftfeuchtigkeit – und sorgt dafür, dass der Körper die Hitze umso mehr spürt. Ein physikalisches Phänomen, das mit der Leitfähigkeit des Wassers zu tun hat. Denn Wasserdampf leitet besser als trockene Luft und überträgt daher die Hitze aus dem Ofen quasi direkt auf die Haut. Hinzu kommt das Phänomen, dass bei Trockenheit fast jeder die Sommerhitze erträgt. Wird es dagegen schwül, geht das Gejammer los. Der Grund: Feuchte Luft nimmt kaum Wasser auf. Dies behindert die Thermoregulation der Haut durch Schwitzen.

Nach fünf Minuten haben die meisten Finalisten die Kammer verlassen. Nur zwei sind nun noch übrig, der Russe Wladimir Ladyschenski und der Finne Timo Kaukonen. Ein Amateurringer aus Nowosibirsk gegen einen Metallarbeiter aus Lahti – Letzterer ist fünffacher Weltmeister und ein hitzeerfahrener Mann.

Die beiden bleiben einfach sitzen, während außerhalb der Kabine, hinter der Glasscheibe, die Sorge wächst. Auf Nachfrage der Juroren nach ihrem Befinden strecken die beiden verbliebenen Finalisten siegesgewiss den Daumen nach oben. Noch bei 116 Grad und 23,2 Prozent Luftfeuchtigkeit weigern sie sich, auf den Hitzestress ihres Körpers mit Abbruch zu reagieren – und beginnen, bei lebendigem Leib und vor laufenden Fernsehkameras zu verbrennen.[6]

Beide verlieren das Bewusstsein, Ladyschenski stirbt. Die Obduktion wird ergeben, dass er sich mit einem Schmerzmittel gedopt hatte, das normalerweise Tätowierer ihren Kunden auf die Haut reiben, um sie unempfindlich zu machen. Große Hautfetzen haben sich von Ladyschenskis Muskulatur abgelöst.

Auch Kaukonen kommt nicht heil aus der Sauna heraus. Die Nieren blockieren, die Lunge nimmt Schaden, 70 Prozent seiner Haut sind verbrannt. Mehrere Wochen lang wird er im künstlichen Koma gehalten. Nach Monaten erst entlassen ihn die Ärzte mit schweren bleibenden Schäden aus dem Krankenhaus. Noch heute spricht er mit heiserem Klang – seine Stimmbänder hat er beim Versuch, zum sechsten Mal Weltmeister zu werden, versengt.

Nach dem verunglückten Wettstreit um die Saunakrone beschließt die Stadt, die Veranstaltung nicht mehr durchzuführen. Der Wettbewerb, so schreibt der Gemeinderat von Heinola in einer Pressemitteilung, könne infolge der traurigen Ereignisse nicht mehr »im gleichen unbeschwerten Geiste« stattfinden.

Als ich damals in Hamburg Renés vergleichsweise moderaten Aufguss bei etwas mehr als 90 Grad überlebte, registrierte ich danach weder Nierenschäden noch Verbrennungen in und an meinem Körper. Nicht einmal eine viertelstündige Rekonvaleszenz oder zumindest Lethargie wollte sich einstellen. Vielmehr lösten Renés thermische Konvektionen eine heftige Euphorie aus. Ja, ich applaudierte, wie alle anderen an diesem Morgen, die Renés Tortur bis zum Ende ausgehalten und nicht die Flucht ergriffen hatten.

Eine Stunde später entschied ich, noch einen Saunagang über mich ergehen zu lassen. Wer kam wohl um die Ecke, um den Aufguss zu machen? René. Ich zuckte zusammen, als ich ihn sah. Wieder dieser Quälgeist. Sollte ich mich erneut diesem Stress aussetzen? Der Angst um Lunge und Herz, der Angst, das Haupthaar zu versengen, der Angst, dass meine Augen platzen?

Es gibt viele Möglichkeiten für eine Stressreaktion. Die Sauna liefert einen eindeutigen, gut nachvollziehbaren Anlass. Wie jeder lebendige Organismus besitzen wir ein Temperaturoptimum. Wird dieses Optimum massiv überschritten, gerät der Organismus in Hitzestress. Nur wer sich oder anderen etwas beweisen will (oder verbissen um den Sauna-Weltmeistertitel fightet), überhört diese Signale absichtlich.

Krämpfe können die Folge sein. Hält die Hyperthermie, die Überwärmung des Körpers, an, kommt es zu einer Hitzestarre, zum Hitzekoma, schließlich zum Hitzetod. Schon während der Hitzestarre laufen irreversible Prozesse ab. Proteine und Enzyme gerinnen – genau dies war den beiden Finalisten der Sauna-WM in Heinola passiert: sie garten buchstäblich.

Aus der Gastronomie wissen wir, dass diese Prozesse, vor denen uns das Gehirn warnen will, schon bei rund 50 Grad Celsius langsam in Gang kommen. Aus diesem Grund können wir mit niedrigen Temperaturen Fleisch zubereiten. Zuerst gerinnt das Muskeleiweiß, ab 67 Grad Celsius lösen sich auch die Kollagene auf, die Strukturproteine des Bindegewebes.

Auf unserem Körper verhindert der Schweiß, indem er verdunstet, solche »Garprozesse«. Erst wenn diese »Wasserkühlung« an ihre Grenze stößt, realisiert das Gehirn eine unverträgliche Hitze, eine ungesund hohe Körpertemperatur – und warnt uns vor dem Schicksal der Sauna-WM-Finalisten im finnischen Heinola, indem es uns die Gefahr spüren lässt: Wir fühlen uns unwohl (oder zumindest wähnen wir uns an der Grenze zum Unwohlsein), wir spüren Schmerz und geraten in Stress.

Wie nun kommen Menschen dazu, immer wieder und mit Absicht das Sicherheitssystem des Körpers in Alarmzustand zu versetzen? In der Sauna löst die Hitze Stress aus. Bei einem Technokonzert veranlasst der Lärm die Sinnesorgane, Nachrichten ans Gehirn zu schicken, die Stress auslösen. Raucher nehmen freiwillig Nikotin zu sich, obwohl der Stoff ein chemischer Stressauslöser ist. Ebenso wie Alkohol – ein hochwirksames Nervengift. Hitze, Lärm, Gifte: All das sind Stressoren, denen wir uns oft genug unbewusst oder bewusst aussetzen. Und wir fühlen uns auch noch wohl dabei.

Fragt man uns allerdings, was wir aus unserem Leben verbannen möchten, ist die häufigste Antwort: Stress. Er gilt als »Kollateralschaden« des modernen Alltags, als unvermeidlicher Begleiter eines zeitgemäßen Lebens – und als Ursache zahlreicher Krankheiten. Stress wird dafür verantwortlich gemacht, wenn wir nicht mehr schlafen können, obwohl wir todmüde sind. Stress ist schuld, wenn Muskeln verspannt, das Gemüt gereizt und die Libido erschlafft ist. Stress macht depressiv, er führt in das Burnout. So lautet die häufige Diagnose. Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat den Stress zu »einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts« erklärt. Vier von fünf Bundesbürgern geben an, zumindest gelegentlich unter Stress zu leiden. Und jeder Dritte glaubt gar, häufig oder sogar ständig einer Überlastung durch Stress ausgesetzt zu sein – verbunden mit dem Gefühl, gegen diesen unangenehmen und bedrohlichen Zustand nichts oder nicht genug ausrichten zu können.[7]

 

Wer die zahllosen Ratgeber zum Umgang mit dem Phänomen Stress liest, begibt sich auf eine deprimierende Reise. Denn es geht immer nur um eines: Stressvermeidung! Kein Autor, kein Arzt empfiehlt: mehr Stress! Kein Reisebüro verkauft Urlaub mit täglichen Stresserlebnissen. Kein Test empfiehlt die 10 besten Stressoren.

Und doch, in scheinbarem Kontrast dazu, gieren Menschen nach dem angeblichen Krankmacher. Sie suchen nach psychischer und physischer Tortur, setzen sich Höhenangst und Hitzestress aus. Manche sind gar süchtig nach dem ursprünglichsten aller Stressoren, dem körperlichen Schmerz. Ein Widerspruch?

Stress ist zunächst eine kurzfristige Erregungsreaktion. Hormone werden ausgeschüttet, Energie wird bereitgestellt, das Herz schlägt schneller. Das befähigt uns zu Höchstleistungen – um der Stressquelle zu entfliehen oder den Kampf mit ihr aufzunehmen.

1.2 Brauchen wir Stress?

Warum bekommen wir keine Luft, sobald wir uns vor Menschen hinstellen, um eine feierliche Ansprache zu halten? Warum haben wir Platzangst in einem Kernspintomographen? Warum entfällt uns vor lauter Aufregung in der mündlichen Physikprüfung der Wert für die Beschleunigung senkrecht fallender Körper?

Hätten die europäischen Behörden Zugriff auf den Stress, er wäre längst aus dem Leben verbannt wie das Blei aus dem Benzin, die Asbestfaser aus der Eternitplatte und die Fluorchlorkohlenwasserstoffe aus der Sprühdose.

Argumente, die die Bedeutung von Stress als körpereigene Alarmanlage betonen, ließe die zuständige Behörde garantiert nicht gelten. Ihre Begründung: Der ursprüngliche Grund für die Einführung der Stressreaktion sei weggefallen. Anders als die Menschen in der steinzeitlichen Wildnis, wo Stressreaktionen vor alltäglichen Gefahren wie Raubtieren und Bedrohungen durch die Natur schützten, lebten wir schließlich bedrohungsfrei. In der modernen Welt sei der Stress nur Fluch und niemals Segen.

Schuld an der fehlenden Wertschätzung für den Lebensretter Stress ist das Phänomen des Burnouts. Stress gilt schlechthin als Hauptursache für diese Zeitgeistkrankheit. Das Erschöpfungssyndrom ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Massenphänomen innerhalb eines globalen Trends geworden: Der Mensch definiert sich zunehmend als krank. Den Hang zur Hypochondrie belegte 2015 die Untersuchung The Global Burden of Diseases, Injuries, and Risk Factors Study (GBD), veröffentlicht im medizinischen Fachblatt Lancet. Danach bezeichnet sich nur noch einer von 20 Menschen als gesund. 95 Prozent der Weltbevölkerung klagen über mindestens ein Gebrechen. Jeder Dritte zählt gar mehr als fünf Beschwerden auf.[8]

Einerseits hat die Lebenserwartung mittlerweile erstaunliche Werte erreicht – ein heute in Deutschland geborener Junge kann mit 78, ein Mädchen mit 83 Lebensjahren rechnen –, andererseits halten sich so viele Menschen wie noch nie für krank. Das klingt paradox, ist es aber nicht. Denn womöglich ist genau das die Ursache: Wir müssen heute nicht mehr um unser physisches Überleben kämpfen; an die Stelle des Todes (den wir fast vollständig aus unserem Alltag verbannt haben) ist die Krankheit getreten, und die medizinisch-pharmazeutische Industrie tut das ihre, um jede Abweichung von einer wie auch immer definierten Norm als »krank« zu denunzieren.

In der Burnout-Gesellschaft hat der Stress deshalb schlechte Karten und kann seine lebensrettenden Qualitäten nur mehr selten beweisen. Die Wildnis ist gezähmt, die biologischen Feinde sind ausgerottet oder in Reservate und Zoos verbannt, die heutigen Gefahren haben andere Ursachen – und sie treffen uns in anderer Form.

Lassen Sie uns an dieser Stelle dennoch kurz darüber nachdenken, was es mit Blick auf die Evolution bedeuten würde, wäre die Stressreaktion für den Körper tatsächlich nur belastend. Würde der Stress, als böser Mr. Hyde ohne den guten Dr. Jekyll, dann die Organismen nicht »unfit« für den Überlebenskampf machen? Im Prinzip ja. Nach Darwinscher Lehre würde die Veranlagung zu krankmachendem Stress wohl im Laufe von Generationen eliminiert – oder zumindest in ihrer Bedeutung zurückgedrängt. Schließlich pflanzen sich kranke Wesen meist seltener fort als ihre fitten Zeitgenossen.

Aber die jüngste Gegenwart ist schlichtweg zu kurz, um die genetische Disposition entscheidend modifiziert zu haben. Gute wie schlechte Errungenschaften bleiben, haben sie sich einmal etabliert, lange erhalten. Evolution braucht Zeit, Schnelligkeit ist nicht ihre Sache. So ist unser Erbgut nahezu identisch mit dem von Familie Feuerstein. Selbst weltumspannende Modeerscheinungen wie Burnout haben nicht die schöpferische Wucht, um zeitnah für massive genetische Veränderungen zu sorgen. Obwohl die Wissenschaftsdisziplin der Epigenetik mittlerweile annähernd erklären kann, wie Umwelteinflüsse und Lebensstile sich im Erbgut niederschlagen, können wir trotzdem davon ausgehen, dass uns die Fähigkeit zur Stressreaktion noch lange erhalten bleibt.

Und das ist gut so. Denn der Blick auf die Evolution des Menschen erklärt, warum sich der Mechanismus zuverlässig in unserer Art etabliert, in unseren Genen manifestiert hat. Seit er die Welt betrat, hat der Homo sapiens über 6000 Generationen hinweg von seinen Stressreaktionen profitiert. 200000 Jahre lang war diese Fähigkeit kein Fortpflanzungsnachteil, sie schützte jene Individuen, die sie besaßen – und daher auch vererben konnten. Die Fähigkeit, Stress zu erleben, war offenbar ein Vorteil beim Kampf ums Überleben.

Einen wesentlichen Unterschied von früher zu heute gibt es allerdings: Während wir Stress heute im Zusammenhang mit permanenter Überarbeitung definieren, als einen durch langfristige Belastung herbeigeführten Dauerzustand, handelte es sich ursprünglich um ein meist kurzfristiges Ereignis. Stress war selten ein Dauerphänomen, er hielt womöglich etwas länger an, wenn Ressourcen knapp wurden, wenn Gewässer austrockneten, die Bäume keine Früchte trugen oder sich in der Savanne wochenlang keine Beute zeigte. Doch meist war das Leben der Steinzeitjäger nur Momente lang aufregend (ich stelle es mir sogar sehr öde vor – wobei mir für diese These allerdings die Belege fehlen).

Kurzzeitige Stressreaktionen erlebten die Hominiden, die vor der letzten Eiszeit lebten, im Streit, bei der Jagd, beim Durchqueren eines reißenden Stroms. Bedrohte sie ein Raubtier, wehrten sie sich mit blitzschneller Reaktion und ungeahnten Kräften. Der Stress ermöglichte dabei eine kurze Reaktionszeit in Sekundenbruchteilen und mobilisierte die Kraftreserven für einen erfolgreichen Gegenangriff oder die Flucht.

Heute hingegen begegnet uns Stress als nervtötende Langzeitbelastung, der wir uns weder durch Flucht noch durch Kampf entziehen können.

Nicht plötzliche Attacken oder unwägbare Naturgewalten aktivieren unsere Alarmanlagen, vielmehr handelt es sich um diffuse Ereignisse, die Stress auslösen: der Druck der vielen Termine, der uns das typische Dauerstress-Symptom eines hohen Blutdrucks beschert, das subtile Mobbing der Kollegen, der eigene Ehrgeiz, schlechte Planung …

Selten bekommen wir noch Gelegenheit, bereits bei der allerersten Konfrontation mit dem Stressor das archaische Reaktionsmuster deutlich an uns zu beobachten: Wenn ein Silvesterböller neben uns explodiert oder – dieses Ereignis liegt gefühlt etwas näher an der einstigen Hominidenwirklichkeit – wenn uns auf einer österreichischen Almwiese eine Mutterkuh attackiert, dann kapiert unser Verstand sofort, warum der Körper Alarm schlägt.

Dasselbe erleben wir, wenn wir in einen Verkehrsstau geraten. Die Reaktion auf dieses Ereignis ist seltsamerweise die gleiche wie auf eine Schwarze Mamba, die vor uns auftaucht. Dabei befinden wir uns nicht in der Wildnis, sondern auf einer sicheren, schlaglochfreien Asphaltpiste. Wir sitzen in einem Auto mit Airbag, Seitenaufprallschutz und Navigationsgerät, haben einen Vorrat Kekse im Handschuhfach und befinden uns womöglich sogar im Urlaub.

Trotzdem geraten wir aufgrund der Tatsache, dass wir bremsen, also für einen Moment gezwungen sind, unser Leben zu verlangsamen, in höllischen Stress: Das Gehirn ist in Aufruhr, der Blutdruck unter der Schädeldecke, das Herz im Hochgeschwindigkeitsmodus, der Körper geflutet von Stresshormonen – alles nur wegen einer kurzfristigen Temporeduktion.

Sind wir verrückt geworden?

Nicht auszuschließen. Doch sogar das absurde Verhalten im Stau entspricht unserer menschlichen Natur. Diese Natur entwickelte sich zwar in der Steinzeit, und sie passt natürlich nicht immer zum modernen Alltag. Aber letztlich fahren wir mit ihr nicht schlecht.

Auch wenn wir im Alltag kaum mehr erkennen, wie der Stress unsere Überlebenschancen erhöht – seine vielfältigen Wirkungen können wir trotzdem erleben –, weil die Maxime »ohne Bedrohung kein Stress« nicht zutrifft. Es genügt, wenn ein Mensch sich fühlt, als sei seine Unversehrtheit in Gefahr. Bereits dann reagiert er: emotional, physisch, mit Gedanken und Verhalten. Es spielt keine Rolle, ob eine Bedrohung objektiv gegeben ist oder subjektiv so interpretiert wird.[9]

Aus diesem Grund beobachten wir die uralte Reaktion sogar im gefahrlosen Alltag immer und immer wieder. Doch während die Steinzeit eine vergleichsweise ereignisarme Zeit war, in der die Jäger ausreichend Zeit zur Muße hatten und nach Stressreaktionen vollständig regenerieren konnten, stehen wir heute vor der Frage, wie es um unsere Fähigkeit steht, die Folgen von Stress zu verarbeiten.

1.3 Der Tiger von Bramstedt

Ich sitze in einem kleinen fensterlosen Raum der »Schön Klinik« Bad Bramstedt, nördlich von Hamburg, in Schleswig-Holstein. Es handelt sich um die größte psychosomatische Klinik in Deutschland. 3300 Fälle werden hier pro Jahr behandelt: Menschen vor allem, die der Stress krank gemacht hat.

Neuankömmlinge landen bei Nele Puschzian. Sie untersucht, ob die aus der Balance geratene Psyche überhaupt noch fähig ist zu einer »normalen« Reaktion. Ich selbst zähle mich durchaus zu den Menschen, die häufig Stress erleben. Es gab Zeiten, da beobachtete ich an mir typische Symptome, die Stresspatienten charakterisieren: verspannter Nacken, Schlafstörungen, innere Unruhe, Rückenschmerzen, erhöhte Reizbarkeit. Jetzt bin ich neugierig, was die Analyse der Verhaltenstherapeutin ergibt. Zeige ich eine korrekte Stressreaktion? Und danach: Beruhige ich mich, wenn der Reiz weg ist?

Nele Puschzian bindet Messsonden um meine Fingerkuppen. Sie messen die Leitfähigkeit meiner Hautoberfläche, zunächst im unaufgeregten Zustand. Die Daten erscheinen auf dem Bildschirm als Zackenkurve. Elektroden am Nacken messen zusätzlich die Muskelspannung. Auf dem Monitor sind regelmäßige Ausschläge zu sehen: Es ist der Herzschlag, der als kurzzeitiges, wiederkehrendes Ereignis einmal pro Sekunde seine deutliche Spur hinterlässt.

Plötzlich klatscht Nele Puschzian neben meinem rechten Ohr in die Hände. Ich erschrecke. Sofort schlägt sich meine Reaktion in den Aufzeichnungen nieder, die Kurven schlagen aus. Offenbar ist Schweiß aus meinen Poren ausgetreten; er hat die Leitfähigkeit der Haut verdoppelt, der Strom fließt schneller als zuvor. »Da haben Sie schon ihre natürliche Reaktion«, sagt die Therapeutin. Ihre Biofeedback-Apparatur hat körperliche Anspannung sichtbar gemacht. Sie zeigt: meine Stressreaktion.

Schon unerwartetes Klatschen setzt mich in Alarmbereitschaft, wie einst den Urmenschen, wenn er plötzlich einem Tiger gegenüberstand. Zumindest ansatzweise, denn es bedürfte wohl noch stärkerer Stressoren, um die komplette Kaskade auszulösen, mit der seit ewigen Zeiten Wirbeltiere reagieren, wenn sie blitzschnell gefordert sind – von Beutejägern oder rivalisierenden Artgenossen.

Unabhängig, ob wir uns dann für Attacke oder Flucht entscheiden, auf beides bereitet uns die Stressreaktion vor. Sie aktiviert die Atmung und das Herz-Kreislauf-System und stellt Energie in Form von Fett und Zucker bereit. »In Stress geraten, das ist für Sie kein Problem«, sagt Puschzian.

Doch oft sitzen in ihrem kleinen Raum Patienten, bei denen sich der erhöhte Herzschlag als Ereignis nicht im Diagramm abzeichnet – weil bereits die Durchschnittserregung so hoch ist, dass die Signale im heftigen Impulsgewitter der verspannten Muskulatur verschwinden.

Solche Menschen sind im Dauerstress. Ihr Körper zeigt eine permanente Reaktion auf Umzingelung durch die modernen Varianten des Tigers: An die Stelle des pelzigen Stressors sind neuzeitliche Arbeitsbelastungen, Termindruck, ein mobbender Chef oder nervende Nachbarn getreten. Statt Nahrungsknappheit wie bei unseren steinzeitlichen Vorfahren stressen uns heutige Menschen womöglich das permanente Loch in der Haushaltskasse. Nicht das Gift in unbekannten Lebensmitteln (Pilzen, Beeren oder Wurzeln) setzt uns zu, sondern Toxine in den Alltagsdrogen, die wir ab und an im Übermaß konsumieren.

Zu häufige, lang anhaltende Stressereignisse bringen viele Menschen gesundheitlich aus dem Lot, machen sie zu Burnout-Patienten. Denn die gute Reaktion Stress, Lebensretterin der Urzeitmenschen, verliert ihre schützende Funktion und wird selbst zur Bedrohung, wenn sie ununterbrochen gegenwärtig ist. Der jüngste Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin legt dar, welchen Stresssituationen die Bevölkerung im (Arbeits-)Alltag am häufigsten ausgesetzt ist: 58 Prozent müssen oft mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen (Multitasking), 52 Prozent stehen unter Termin- und Leistungsdruck, 50 Prozent empfinden die Monotonie ihrer Arbeit als psychische Herausforderung, und 44 Prozent erledigen Jobs, in denen sie ständig gestört und unterbrochen werden. Die Folgen: eine Zunahme an Kreislauferkrankungen, Autoimmunleiden, Depressionen, Demenz.[10]

Die »Schön Klinik« in Bad Bramstedt ist spezialisiert auf die Behandlung von Krankheiten, bei denen Körper und Seele in Abhängigkeit voneinander leiden. Ausgebrannte, Borderliner, Computersüchtige oder Essgestörte kommen zur Genesung ins Holsteiner Auenland. Hier können sie sich bei Therapien, Wellness und Golf erholen, umgeben von Mooren, Wäldern, Wiesen.

Die Befunde der Ärzte dokumentieren Bluthochdruck, eine verhärtete Muskulatur oder Kopfschmerzen. Doch den meisten Patienten fehlt die Fähigkeit, die Symptome zu registrieren und richtig einzuschätzen – geschweige denn, auf sie zu reagieren. Mit verspannter Nacken- und Kiefermuskulatur und kaltschweißigen Händen sitzen sie vor Nele Puschzian. Mit einem Stechen in der Brust, mit Schwierigkeiten, entspannt zu atmen. Dann bringt ihnen die Therapeutin bei, die Schultern hochzuziehen, anzuspannen und entspannt hängenzulassen. Sie setzt sie mit Bildern, Zahlenreihen oder Stadt-Land-Fluss-Fragen (»Wie heißt nochmal die Hauptstadt von Kenia?«) unter Stress, um danach mit ihnen einzuüben, wie sie sich davon wieder erholen.

»Nairobi«, antworte ich.

Beim Biofeedback lernen Patienten, Körperfunktionen zu beeinflussen, oft am Computer. Ihren »Grübelschleifen-Patienten« setzt Puschzian mit Fragen zu, die jene Gedankenexplosionen auslösen, die Gestresste oft stundenlang nicht einschlafen lassen – um ihnen dann mit »klarer Ausrichtung der Gedanken« oder Achtsamkeitsübungen im freien Gelände dabei behilflich zu sein, das Hirngewitter zu beruhigen. Stressmigränepatienten lernen dank Puschzians Denkanleitungen, die Gefäßstruktur zu verändern: »Die Arterie dehnt sich und zieht sich zusammen.« Angstpatienten zeigt sie, wovor sie sich fürchten (Hunde, düstere Tunnels, Menschenmassen, riesige Wasserflächen).

Um danach entspannen zu können, blickt mancher gern auf ein Motiv, das Ruhe ausstrahlt, wie etwa die Ansicht einer Burg, die als sicherer Ort wahrgenommen wird. Andere beruhigt der Anblick eines hell erleuchteten Platzes oder einer Naturidylle. »Bilder von Anglern kommen auch gut an«, sagt Puschzian.

Ich habe mich von ihrer Klatschattacke noch nicht ganz erholt. Wir können also nun gemeinsam prüfen, ob ich ebenso zurück in die Entspannung finde wie der Homo erectus im Pleistozän, nachdem er vom Säbelzahntiger nicht gefressen wurde. Dazu mache ich den Lotosblütentest. Die zwittrige Samenpflanze erscheint verschlossen auf dem Bildschirm. Puschzians Auftrag lautet, die Blüte kraft meiner Entspannung zu öffnen. Ich soll also dafür sorgen, dass die Sensoren an meinem Körper Signale übertragen, die der Computer als das Gegenteil von Stress interpretiert – worauf die virtuelle Knospe sich entfaltet.

Nach Wochen erst, sagt Nele Puschzian, gelingt es vielen, die Lotosblüte zu öffnen. So lange brauchen sie, um wieder jene natürliche Reaktion hinzubekommen, die bei unseren Vorfahren einsetzte, wenn der Gefahrenherd beseitigt war. Ich starre auf die lilafarbene Blume und warte. Hoffentlich nicht wochenlang.

Zwei Monate bleiben die meisten Stresspatienten hier. Von Nele Puschzian haben sie gelernt, dass sie Stresssymptomen gegenüber nicht machtlos sind, sondern »fähig, sie aktiv zu beeinflussen«. Viele setzen die Therapie danach fort – im Idealfall so lange, bis sie nicht nur die Symptome, sondern auch die Ursachen ihres Dauerstresses unter Kontrolle haben.

Ich frage mich, ob ich es schaffe, mich gänzlich ohne Drogen, sphärische Musik oder den Anblick von Anglern und Burgen in diesem funktional eingerichteten Untersuchungszimmer der Burnout-Klinik so zu entspannen, dass eine wohlige innere Ruhe sich in Körper und Geist ausbreitet.

Nach einiger Zeit zeigt die Lotosblüte erkennbar Anzeichen, sich öffnen zu wollen. Ich scheine mit einem »psychosomatischen Störungsverständnis« ausgestattet zu sein, wie Puschzian ermunternd anmerkt. Die Blätter beginnen, sich nach außen zu neigen. Ich betrachte so entspannt wie möglich die Regale voller psychosomatischer Fachliteratur – wie ein Engel, ein ermatteter Seehund, ein schnurrender Kater.

Dann rücke ich auch noch den Kopf bewusst in die Balance. Vielleicht hilft es, die Schultern hängen zu lassen. Ich stelle die Füße flach auf den Boden, lockere die Zehen, lockere die Finger und meditiere Herzfrequenz und Blutdruck herunter. Mit Erfolg. Die Blume öffnet sich, Millimeter um Millimeter, bis sie schließlich den Blick freigibt auf ihr Innerstes, die leuchtend gelben Staubblätter. »Ihr Reaktionsvermögen ist intakt«, sagt Puschzian, »wir müssen Sie nicht hierbehalten.«

1.4 Vom Stress zum Burnout

Ein verkohltes Streichholz ist zum Symbol der Moderne geworden. Es steht gekrümmt zwischen aufrechten, noch nicht entflammten Schwefelhölzern. So prangt es auf den Titelseiten von Zeitschriften und auf den Buchdeckeln der Ratgeberliteratur. Die Werke heißen »Burnout-Watcher«, »Schutz vor Burnout«, »Burnout«, »Der erschöpfte Mensch«, »Erfolgreich ohne auszubrennen« oder »Burnout überwinden für Dummies«. Nur vereinzelt haben sich die kreativen Cover-Gestalter ein anderes Motiv einfallen lassen: ein gerade reißendes Seil, eine ausgepresste Zitrone, einen luftleeren Ballon.

Mit der Streichholz-Metapher lässt sich das Burnout offenbar am überzeugendsten illustrieren: Energie verbraucht – abgebrannt – alles Asche. Das dürre schwarze Mahnmal entdeckt man beim Gang durch die Psychologieecken der Freihandbibliotheken so häufig, dass sich aus der Fülle unschwer die Bedeutung des Burnouts für die gegenwärtige Menschheit ablesen lässt: Offenbar fühlen sich Teile der Gesellschaft ausgebrannt.

Wer aber lässt von einer geplagten Menschenseele nur Verbranntes übrig? Die Suche nach dem Schuldigen endet immer beim Faktor Stress: Er ist am Anfang des 21. Jahrhunderts angeklagt als gemeingefährlicher Übeltäter, der die Menschen dazu bringt, all ihre Energien zu verheizen. Burnout als Massenphänomen gilt als das Produkt der angeblich zerstörerischen Kräfte von Stress.

Zu seinem Namen kam das Leiden im Jahr 1974. In zwei US-amerikanischen Fachzeitschriften erschienen Artikel des Psychoanalytikers Herbert J. Freudenberger und des Verwaltungswissenschaftlers Sigmund G. Ginsburg. Beide wählten denselben Begriff, worauf »Burnout« rasch populär wurde.[11]

Jahre zuvor hatte allerdings schon die Bezeichnung Flameout kursiert.[12] Sie beschrieb psychische und physische Leistungsdefizite unter den Beratern amerikanischer Hilfsorganisationen. Freudenberger wiederum thematisierte in seinem Artikel die chronische Erschöpfung von Menschen in helfenden Berufen, darunter Krankenschwestern und Altenpfleger.

Dass sich Burnout als Bezeichnung durchsetzte, dürfte auch an dem Schriftsteller Graham Greene gelegen haben. Seine Aussteigergeschichte über einen erfolgsmüden Architekten, der sein Glück im afrikanischen Dschungel sucht, war 1960 unter dem Titel A Burnt-Out Case (dt: Ein ausgebrannter Fall) erschienen.

Laut Definition handelt es sich bei Burnout um eine »fortschreitende Erschöpfungsreaktion nach chronischem psychosozialem Stress ohne angemessene Entlastungsmöglichkeiten«.[13] Als Folge davon nimmt die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit ab. Der Betroffene wird gleichgültig, und als reizbares Nervenbündel belastet er die Beziehungen zum Umfeld. Im fortgeschrittenen Stadium ist das Leiden nicht von einer Depression zu unterscheiden.

Das Krankheitsbild ist extrem diffus. Aus diesem Grund hat der Hamburger Psychologe Matthias Burisch einst den aus der Mengenlehre entliehenen Begriff »randunscharfe Menge« vorgeschlagen, um die Schwierigkeiten zu erläutern, auf die man stößt, wenn man das Phänomen Burnout definieren will. In seinem Buch Das Burnout-Syndrom empfiehlt er, sich an einem Vorschlag niederländischer Arbeitsmediziner und Psychologen zu orientieren. Diese sprechen von Burnout, wenn es sich erstens um eine Fehlbelastung handelt, zweitens die Beschwerden seit mehr als sechs Monaten anhalten und drittens Gefühle von Müdigkeit und Erschöpfung deutlich im Vordergrund stehen.[14]

Burisch selbst hat sich die Mühe gemacht, nur jene Symptome aufzulisten, die in der Fachliteratur häufig genannt werden. Allein da kam er schon auf mehr als 130. Wenige Beispiele aus der seitenlangen Symptome-Liste genügen, um die Vielfalt des Phänomens anschaulich zu machen: Gefühl der Unentbehrlichkeit, Unausgeschlafenheit, größere innere Distanz zu Klienten, Betonung von Fachjargon, Zynismus, Fluchtphantasien, Konzentration auf die eigenen Ansprüche, Selbstmitleid, Neigung zum Weinen, Suizidgedanken, Nörgeleien, Verlegen von Dingen, Eigenbröteleien, sexuelle Probleme, Langeweile, Rückenschmerzen, Gewichtsveränderungen, Hoffnungslosigkeit.[15]

Zwar hat es das Burnout bislang nicht geschafft, von maßgeblichen Instanzen als Krankheit akzeptiert zu werden, aber das Internationale Diagnoseklassifikationssystem (International Classification of Diseases), herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation WHO, hat das Syndrom immerhin in den erweiterten Kreis berufen. Es ist unter dem Diagnoseschlüssel »Z73.0« aufgeführt. Das »Z« steht quasi für »Sonstiges« und bedeutet, dass das Leiden Faktoren enthält, »die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen«.[16]

Die WHO hält damit das Burnout-Syndrom für einen Einflussfaktor, nicht aber für eine eigenständige Krankheit. In Fachpublikationen ist die Vokabel, sofern sie überhaupt auftaucht, oft in Anführungszeichen gesetzt. Manche verstehen darunter nichts anderes als eine Depression. Wiederum andere diagnostizieren Teilbereiche – ohne sie einem vagen Krankheitskonzept wie dem Burnout zuzuordnen. Ihre Patienten haben Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Rücken- und Nackenschmerzen, sie haben Magengeschwüre, Schlafstörungen, Asthma, chronische Kopfschmerzen: alles mögliche Symptome, die auf chronischen Stress zurückgeführt werden.

Die größte Aufmerksamkeit erhielt das Burnout nach der Jahrtausendwende. Seither haben sich viele prominente Erschöpfungsopfer dazu bekannt: der Fernsehhoch Tim Mälzer, der Skispringer Sven Hannawald, die Hochschulprofessorin Miriam Meckel und der Fußballtrainer Ralf Rangnick machten ihre Depression oder ihr Burnout publik. Rangnick allerdings revidierte 2013 seine Einschätzung. Er hält die eigene Schwächephase im Nachhinein weniger für die Folge von zu viel Stress, sondern für ein Symptom, das er auf falsche Ernährung zurückführt: »Ich behaupte, dass ich in den letzten zehn Jahren zu 80 Prozent ungesund gegessen habe. (…) Hätte ich nicht die Reißleine gezogen, hätte entweder mein Hirn oder mein Herz reagiert – mit Herzinfarkt oder Schlaganfall. Rückblickend wäre es bei meiner Ernährung kein Wunder gewesen.«[17]

Um ein neues Phänomen handelt es sich bei Burnout nicht. Die modernen Arbeits- und Lebensumstände mögen die Fallzahlen vervielfacht, die medialen Kanäle das Krankheitsbild popularisiert haben. Aber als Leiden kennt der Mensch ähnliche oder identische Erschöpfungsformen seit Jahrtausenden – unter anderen Namen. Das Alte Testament berichtet im 1. Buch der Könige von der großen Müdigkeit des Elias: Der Prophet hat sich beim Umsetzen von Wundern im Auftrag Gottes wohl überarbeitet. Lange agierte er erfolgreich, doch als sich eine Niederlage abzeichnete, stürzte er in Verzweiflung. Elias flüchtete »in die Wüste eine Tagereise weit … und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich zu sterben«.[18] Die Symptome der »Elias-Müdigkeit« unterscheiden sich nicht vom klassischen Burnout-Syndrom.

Auf ein »noch viel schlagenderes Beispiel« ist Psychologieprofessor Burisch bei seiner Bibellektüre gestoßen. Ihn erinnert Moses stark an ausgebrannte Exponenten aus Politik, Verwaltung oder Betriebsräten. Als der Anführer – er befindet sich gerade mit seinem Volk Israel auf dem Weg ins Gelobte Land – eines Abends arg angeschlagen wirkt, mahnt ihn sein Schwiegervater Jetro, besser auf seine Gesundheit zu achten: »Es ist nicht gut, wie du das tust. Du machst dich zu müde, dazu auch das Volk, das mit dir ist. Das Geschäft ist dir zu schwer, du kannst es allein nicht ausrichten.«[19]

Ein wenig lernt Moses die Kunst des Delegierens – heutzutage empfohlen als unerlässliches Element eines gelingenden Zeit-Managements. Aber als er wieder unter Druck gerät, alle Probleme seines Volkes (es will Fleisch statt immer nur Manna) lösen zu müssen, wendet sich Moses zutiefst deprimiert an den, der über ihm ist, an Gott: »Warum bekümmerst du deinen Knecht? Und warum finde ich keine Gnade vor deinen Augen, dass du die ganze Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? Habe ich denn all das Volk empfangen oder geboren, dass du zu mir sagen könntest: Trag es in deinen Armen, wie eine Amme ein Kind trägt, in das Land, das du ihren Vätern zugeschworen hast? Woher soll ich Fleisch nehmen, um es all diesem Volk zu geben? Sie weinen vor mir und sprechen: Gib uns Fleisch zu essen. Ich vermag all das Volk nicht allein zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Willst du aber doch so mit mir tun, so töte mich lieber, wenn anders ich Gnade vor dir gefunden habe, damit ich nicht mein Unglück sehen muss.«[20]

Vor rund 700 Jahren beschrieb der Mystiker Meister Eckhart die Figur eines Leidenden, der sich offenbar zu stark mit seinen Aufgaben identifiziert und sich innerlich von ihnen auffressen lässt: Wer nämlich »gleichsam innerlich von den Dingen besetzt ist, (dem) treten sie dauernd als Sorge vor Augen und behindern ihn: er ist sorgenvoll«.[21]

Ähnliche Zustände beklagten auffallend viele Menschen nach Beginn der industriellen Revolution. Daraufhin begründete im 19. Jahrhundert der New Yorker Elektrotherapeut George Miller Beard als Diagnose die Neurasthenie, die »das Zentralnervensystem entphosphort«.[22] Diese »Nervenschwäche« wies deutliche Züge einer depressiven Störung auf.

Natürlich fehlt es auch in der Literatur nicht an Beispielen. Thomas Mann beschrieb in seinem Roman Buddenbrooks – Verfall einer Familie den lupenreinen Fall eines Burnouts: Senator Thomas Buddenbrook spürt in sich den gänzlichen »Mangel eines aufrichtig feurigen Interesses, das ihn in Anspruch genommen hätte, die Verarmung und Verödung seines Inneren – eine Verödung, so stark, dass sie sich fast unablässig als ein unbestimmt lastender Gram fühlbar machte«. Wochenlang, monatelang »unaussprechlich müde und verdrossen« fühlt sich der arme Buddenbrook: »Die phantasievolle Schwungkraft, der muntere Idealismus seiner Jugend waren dahin.«[23]

Auch das Phänomen der Managerkrankheit umschreibt ähnliche bis identische Störungen. Sie machte nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Spitzenkräfte zu Maladen. Doch wie die Neurasthenie nach dem Ersten Weltkrieg, so verschwand auch die Managerkrankheit in den 1960er Jahren aus dem Repertoire der Diagnostiker. Und gibt es eigentlich die Midlife-Crisis noch?

Die Vielfalt der Leiden, die mit stressartigen Erregungsreaktionen in Zusammenhang gebracht werden, führt man sich am besten vor Augen, wenn man die Angebotspalette im größten psychosomatischen Behandlungszentrum Deutschlands anschaut. Die 3300 Menschen, die die »Schön Klinik« in Bad Bramstedt pro Jahr wieder ins Gleichgewicht bringt, haben sich durch unterschiedlichste Faktoren dauerstressen lassen. Eingeliefert werden sie mit den Diagnosen Depression, Burnout-Syndrom, Trauma und Posttraumatische Belastungsstörung. Nach Bramstedt kommen Agoraphobiker mit ihrer Angst vor öffentlichen Plätzen, hier treffen sich Klaustrophobiker mit Angst vor engen Räumen, Hypochonder mit Angst vor Krankheit, Sozialphobiker mit Angst vor Menschen. Stressen lassen sich Bramstedter Patienten auch durch ihren Symmetriezwang, ihren Ordnungszwang oder ihren Waschzwang. Sie sind Borderliner oder Computer- und Internetsüchtige. Die Adipösen lernen, weniger, und die Magersüchtige lernen, mehr zu essen. Sie kommen hierher, um ihre Ess-Brech-Sucht (Bulimie), ihre allgemeinen (Binge Eating Disorder) oder ihre nächtlichen Fressattacken (Night Eating Disorder) in den Griff zu bekommen.

»Wer zu mir nach Bad Bramstedt zur Kur kommt, steckt meist in einer Situation, für die er oder sie keine Lösung findet«, sagt Gernot Langs, Chefarzt für Psychosomatik. »Ein 100-Millionen-Euro-Problem können wir nicht beheben, aber wenn die Stressursache berufliche oder familiäre Schwierigkeiten sind, helfen wir dem Patienten, etwas zu ändern.«

Erzieher und Lehrer, die permanent Verantwortung tragen, landen in seiner Klinik. Ebenso Manager, die lernen müssen, Besprechungen so zu gestalten, dass der Druck erträglich bleibt; Mütter, die unter der Last des Alltags zusammengebrochen sind; aber auch ehemalige Spitzensportler, die »erzieherisch auf Leistung getrimmt« sind und von dieser Schiene nicht herunterfinden. Oft seien es verschärfte Bedingungen, die Menschen überfordern: »Wenn von zehn Ingenieuren nur noch drei da sind, ist das für den Einzelnen zu viel«, sagt Langs. Außerdem brauche jeder für den inneren Ausgleich »einen Puffer« – zum Beispiel zu Hause einen »Partner zum Anpflaumen«.

Die Leiden, die in Bad Bramstedt behandelt werden, wurden nicht durch kurze Stressereignisse ausgelöst. Krank macht Stress allenfalls als chronischer Stress. Er tritt dann auf, wenn die Reaktion auf einen Stressor bestehen bleibt, wenn also Geist und Körper sich dessen, was sie unter Druck setzt, langfristig nicht erwehren können. Dann bleiben sie im Ungleichgewicht.

Insofern lässt sich über den Stress dasselbe sagen, wie über jedes Genuss-, Heil- oder Lebensmittel: Die Dosis macht das Gift, im konkreten wie übertragenen Sinn. Wasser ist gesund – man kann sich damit aber auch problemlos umbringen (wenn man 10 Liter trinkt). Ein guter Wein ist ein hoher Genuss – aber Gift für diejenigen, die ihn ohne jedes Maß trinken. So verhält es sich auch mit Stress: Er ist die Würze des Lebens – aber diese Würze kann Köstliches verderben.

Wenn wir unseren Körper tage-, wochen-, monate- oder gar jahrelang Stress aussetzen und den Stress als Treibstoff für permanenten Antrieb verwenden, missbrauchen wir dieses Potenzial des Körpers. Weder im Einzeller noch im Fadenwurm, weder im Urzeitfisch noch im frühen Säugetier war diese Fähigkeit für den Dauerbetrieb angelegt oder vorgesehen.

Ist er deshalb böse, der Stress? Hat er damit verwirkt, dass wir uns seine Qualitäten vergegenwärtigen? Und sie positiv nutzen?

Wer sich umhört, stellt fest, dass alle gegen Stress sind. Die Ablehnung von Stress hat bizarre Formen angenommen – das ist deutlich zu sehen an den Dingen, die Menschen sich ausdenken, um gegen den angeblichen Unhold gewappnet zu sein. Antistress-Tee trocknet in jeder WG-Küche vor sich hin. Einen Markt für Antistress-Badesalz, Antistress-Duftöl und sogar Gesundheitskapseln mit »Mikronährstoffen für Belastungssituationen« kann man sich irgendwie vorstellen. Aber offenbar ist auch der abwegigste Gegenstand nicht davor geschützt, in einer speziellen Antistress-Variante noch einmal erfunden zu werden: als spezielles Antistress-Kuschelkissen im Katzen-Design, als Häkeleule oder Plastikschneemann. Globus, Edelsteinwasser, Augenmaske – all das ist als analoge Anti-App zu erwerben, der Paketdienst bringt es nach Hause. Antistress-Nagellack gibt es übrigens auch. Sogar eine Art Psycho-Handjob kann man sich gönnen: mit dem Anti-Stress-Knet-Penis »Squeeze« (für 4,19 Euro). Die Alternative dazu: »Anti-Stress-Möpse« (für 7,10 Euro). Und mit »Rieker Antistress« kann man sich zu guter Letzt selbst Schuhe gegen Burnout um die Füße schnüren. Das Traditionsunternehmen hat sich mit einer ganzen Produktpalette dem Kampf gegen den Stress verschrieben.