Stroh zu Gold - Nicole Schweiger - E-Book

Stroh zu Gold E-Book

Nicole Schweiger

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Beschreibung

Mit Blick auf ihr eigenes Leben stellt Nicole Schweiger fest: "Immer dann, wenn ich das Gefühl hatte, dass das immer gleiche Einerlei sich wie ausgedroschenes, trockenes Stroh anfühlt, nimmt Gott mein Alltagsstroh und verwandelt es in strahlendes Gold." Offen und ehrlich nimmt sie ihre Leserinnen und Leser mit auf die Suche nach dem Gold in ihrem Leben: nach dem, was wirklich Sinn und Halt gibt, dem Besonderen und Schönen. Ermutigend, reflektierend und lebensnah schreibt die Bloggerin, Pädagogin und Mutter über ihre Familie, ihren Glauben, ihre Werte und ihre Lebenserfahrungen. Anhand persönlicher Beispiele lädt sie dazu ein, selbst auf Entdeckungsreise zu gehen und nach bisher ungehobenen Schätzen im eigenen Leben zu suchen. Ein inspirierender Erfahrungsbericht über Wertschätzung, Lebensorientierung, Ermutigung und Motivation.

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Nicole Schweiger Stroh zu Gold

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die verwendeten Bibelstellen wurden entnommen aus:

Lutherbibel (LUT), revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe

© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Gute Nachricht Bibel (GNB), revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe

© 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Hoffnung für alle (HfA), © 1983, 1996, 2002 by Biblica Inc®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von 'fontis – Brunnen Basel. Alle weiteren Rechte weltweit vorbehalten.

© 2019 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Agentur 3Kreativ, Essen, unter Verwendung zweier Bilder

von © Shutterstock/Iuzvykova Iaroslava (Abb. Hintergrund)

und © Shutterstock/Big Foot Productions (Abb. Stroh)

Hintergrundgrafik: © kjpargeter - de.freepik.com

Bilder im Innenteil: © bei der Autorin

Lektorat: Anja Lerz, Duisburg

DTP: Breklumer Print-Service, www.breklumer-print-service.com

Verwendete Schrift: Scala Sans, FF Scala

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG

ISBN 978-3-7615-6665-7 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

Ein paar Worte zu Beginn

„Ach“, antwortete das Mädchen, „ich soll das ganze Stroh bis morgen zu Gold spinnen, aber ich weiß nicht wie.“1

Es gibt eine schöne Metapher, deren Ursprung ich nicht kenne. Unser Leben wird mit einem gewebten Teppich verglichen. Die Rückseite scheint chaotisch und verworren. Ein Muster ist nur schwer zu erkennen. Hier und da hängen Fäden heraus. Dreht man den Teppich um, zeigt sich seine wahre Schönheit. Ein einzigartiges, individuelles Muster. So sind wir Menschen. Unser Leben lang knüpfen wir mit Gottes Hilfe an unserem Teppich. Und oft sehen wir nur die chaotische Rückseite, fragen uns nach dem Wie und Warum. Während wir versuchen, die Fäden zu entwirren, wird unser Lebensteppich weitergewebt. Manchmal mit hellen, fröhlichen Farben, manchmal mit dunkleren, melancholischen. Manchmal mit einem klaren, regelmäßigen Muster, manchmal auch ungleichmäßig. Und ab und zu findet man goldene Fäden. Hier und da blitzt ihr Glanz auf. Kleine goldene Fäden, von Gott in unser Leben gewoben. Erstaunlicherweise tauchen sie an unerwarteten Stellen auf. Zum Beispiel dort, wo eigentlich dunkle Farben vorherrschen. Lebensabschnitte, in denen wir schwere Zeiten durchmachen. Zeiten von Verlust und Trauer, Angst und Unsicherheit. Wenn wir diese Täler durchschreiten und das Erlebte in unsere Persönlichkeit integrieren, erwächst daraus etwas Wertvolles. Wir haben erlebt, dass Gottes Liebe trägt, und wir sind in der Lage, anderen Menschen in ähnlichen Situationen beizustehen.

Aber auch die scheinbar unauffälligen, oft langweilig wirkenden Flecken unseres Lebensteppichs sind von Goldfäden durchwirkt. Wo Tage und Monate sich wie Kaugummi ziehen, wo wir im Babyalltag zwischen Brei kochen und Haushalt stundenlang im Wartezimmer des Kinderarztes verbringen und nichts Aufregendes in unserem Leben passiert. Oder sich ein Arbeitstag an den anderen reiht und kein Ende in Sicht ist. Gerade hier schimmert es golden. In Zeiten geistlicher Durststrecken, in denen wir tagein, tagaus unseren unaufgeregten Alltag leben, während Gott uns begleitet und formt, nicht selten, ohne dass wir es bemerken.

Wie oft haben wir nichts anderes als Stroh zu bieten. Ausgedroschene trockene Halme, scheinbar zu nichts nutze. Und dann nimmt Gott unser Alltagsstroh und verwandelt es in Gold. Wie Rumpelstilzchen im gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm. Aber im Gegensatz zu diesem kleinen, koboldhaften Wicht fordert Gott keine Gegenleistung von uns.

Mit vierzig plus in der Lebensmitte angekommen, trete ich einen Schritt zurück und betrachte meinen Teppich einmal von beiden Seiten. Ich führe kein außergewöhnliches Leben. Die spannendsten Stellen meiner Biografie lassen sich in der Kindheit finden. Danach wird es ruhig. Keine Auslandsaufenthalte, abgesehen von den jährlichen Familienurlauben. Keine missionarischen Einsätze, keine Promotion. Mein Leben gleicht eher einem ruhigen Fluss. Aber auch ich entdecke Gold in meinem Teppich. #Wonder in the little things. Wenn ich in Ruhe reflektiere, sehe ich sie, die Wunder. „Für die Welt bist du irgendjemand, aber für irgendjemand bist du die Welt“, lautet ein beliebter Postkartenspruch. Es kommt also darauf an, alles in die „richtige“ Perspektive zu rücken. Bei Gott gibt es keine Hierarchien, keine Wettbewerbe. Er widmet sich jedem einzelnen Lebensteppich mit derselben Hingabe. Der Hausfrau, dem Professor, der Theologin und dem Krankenpfleger. Alle Lebensgeschichten sind einzigartig und wertvoll. Egal, wer du bist, ob dein Leben gerade spannend verläuft oder unspektakulär: Ich möchte dich einladen, dir deinen Lebensteppich genauer anzusehen und die Goldfäden darin zu entdecken. Und wenn du möchtest, nehme ich dich mit auf meine Entdeckungsreise. Zu Heimatwechsel und kindlichen Prägungen, durch turbulente und ruhigere Familien- und Arbeitszeiten. Und weil der Teppich ja noch nicht fertig gewebt ist, zu ein paar Zukunftsvisionen. Im Vertrauen darauf, dass es Gott ist, der die Fäden in der Hand hält.

1. Aufbruch und Reise

„Das Leben ist eine Reise, die heimwärts führt.“2

Leipziger Hauptbahnhof, 3. April 1984: Unter den Rundbögen aus Stahl und Glas warteten am späten Abend sechs Menschen auf die Bahn Richtung Nürnberg. Meine Oma, mein Onkel und ein Freund der Familie waren gekommen, um meine Eltern und mich zu verabschieden. Ich war ein achtjähriges Mädchen, das mit seinen Eltern einen Zug ins Ungewisse bestieg und bei aller Nervosität auch vorfreudig und mit Hoffnung erfüllt war. Nach meinem damaligen Kenntnisstand sollte ich meine Freunde und Verwandte erst wiedersehen, wenn wir alle Rentner waren, denn dann wurden Besuchsanträge von Ost nach West bewilligt.

Wie hat diese Erfahrung von Abschied und Trennung, aber auch von Aufbruch und Neubeginn mein Leben geprägt? „Woher komme ich? Was bin ich? Wohin gehe ich?“3 Die sogenannte Biografiearbeit beschäftigt sich mit genau diesen Fragen, die dabei helfen sollen, den roten Faden in der eigenen Lebensgeschichte zu entdecken. Diese bewusste Selbstreflexion unterstützt die Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Sie kann Antworten auf Fragen geben, wie „Warum bin ich heute so wie ich bin, warum fühle/verhalte ich mich so und nicht anders?“4.Bei der Biografiearbeit geht es darum, die Lebenserfahrungen der Vergangenheit so in die Gegenwart zu integrieren, dass sie mir dabei helfen, sowohl mein heutiges Leben gut zu gestalten als auch eine positive Perspektive für meine Zukunft zu entwickeln.

In diesem Buch steckt viel von meiner Lebensgeschichte. Es spannt einen weiten Bogen von den Wurzeln in der Kindheit über mein heutiges Leben in Familie, Beruf und Gemeinschaft bis hin zu den Plänen für meine Zukunft. Es ist deshalb sehr persönlich geschrieben. Vermutlich sieht dein eigenes Leben völlig anders aus. Schau es dir doch einmal genauer an. Es gibt viele Anlässe dafür. Vielleicht bist du gerade Mutter geworden und willst dir deine eigenen Prägungen bewusst machen, bevor du Spuren im Leben deines Kindes hinterlässt. Oder du befindest dich – wie ich – in der Mitte des Lebens und hast das Bedürfnis, mal eine Bestandsaufnahme zu machen. Vielleicht haben dir auch deine Enkel eines dieser Bücher mit Titeln wie „Oma, erzähl mal“ in die Hand gedrückt. So ein Rückblick kann schmerzhaft sein, und manchmal ist es sinnvoll, sich dafür seelsorgerliche Unterstützung zu holen. Ich verspreche dir aber, dass es eine echte Bereicherung für dein Leben ist. Eine Entdeckungsreise. Bei mir führte sie zu intensivem Austausch mit meinen Eltern, in dem ich das erste Mal bewusst ihre Perspektive einnahm, ihre Lebensleistungen würdigte und einiges besser verstand. Auch meinem inneren Kind schenkte ich Aufmerksamkeit. Ich entdeckte goldene Fäden in meinem Leben: die Stärke, irgendwo in der Fremde ganz von vorne anzufangen. Die tiefe, enge Verbundenheit mit meiner Familie, die den dringend nötigen Halt dafür gab, später aber auch die Abnabelung beim Erwachsenwerden erschwerte. Durch das Verstehen und Akzeptieren meiner Lebensgeschichte gewinne ich eine verständnisvollere, gelassene Haltung mir selbst gegenüber. Ich kann mich bewusst entscheiden, einige Verhaltensweisen beizubehalten und andere zu verwerfen. Stroh wird zu Gold.

„Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“, heißt es in Hebräer 13,14.

Zu DDR-Zeiten in Leipzig geboren, verbrachte ich knapp neun Jahre Kindheit im „Osten“. Dann wurde der Ausreiseantrag meiner Eltern nach langer Wartezeit und diversen Schikanen bewilligt. Ich weiß, dass die Entscheidung meiner Eltern, sich von ihrer Heimatstadt zu verabschieden und einen völligen Neuanfang zu wagen, auch mit mir zu tun hatte. Es ging ihnen weniger um die Reisefreiheit und den „goldenen Westen“ als vielmehr um ein Leben in Demokratie, wo sich jeder Mensch nach seinen Möglichkeiten entfalten kann. Meine Mutter hatte nicht studieren dürfen, weil ihr Vater im „kapitalistischen Ausland“ lebte und sie keiner Partei angehörte. Da sollte es mir – dem einzigen Kind – besser gehen. Im Oktober 1979 war mein in Bremen lebender Großvater, den ich nie kennengelernt hatte, gestorben. Meine Mutter und ihr Bruder durften nicht zur Beerdigung ihres Vaters reisen. Zu diesem Zeitpunkt reifte der Entschluss meiner Eltern, einen Ausreiseantrag zu stellen. Sie begründeten ihre Entscheidung mit dem Wunsch nach „Familienzusammenführung“, weil ein großer Teil unserer Familie in Bayern lebte. Dabei beriefen sie sich auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975)5 und Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UNO (1948), wonach

1) jeder das Recht hat, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, und

2) jeder das Recht hat, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren.6

Mit der Antragstellung begann für meine Eltern eine ungewisse Wartezeit. Meinem Vater wurde seine Arbeitsstelle als Lehrmeister in der Maurerausbildung gekündigt. Auch meine Mutter war „für einen sozialistischen Betrieb untragbar“ geworden. Dieser Staat, dessen Stärke darin bestand, niemanden ohne Arbeit auf der Straße seinem Schicksal zu überlassen, hatte keine Verwendung mehr für meine Eltern, wollte unsere Familie aber auch noch nicht aus seinen Klauen entlassen.

Ich weiß nicht, wann der Spruch „Jeder ist seines Glückes Schmied“ zum Lebensmotto meiner Eltern wurde. Aber dieser Zeitpunkt könnte der Anfang gewesen sein. Unsere Kernfamilie wurde noch enger zusammengeschweißt. Wir drei waren eine Einheit, unabhängig von System oder Heimatort. Meine Eltern verließen sich auf keinen Staat, sondern ausschließlich auf sich, und sie arbeiteten in den folgenden Jahren hart, um uns eine neue Existenz aufzubauen. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, heißt es. Rückblickend würde ich sagen, dass uns Gott ziemlich viel geholfen hat. Bis zu unserer Ausreise, die immerhin erst vier Jahre später erfolgen sollte, fand mein Vater Arbeit in einem der wenigen privaten Betriebe der DDR und darüber hinaus einen guten Freund in seinem neuen Vorgesetzten.

Vier Jahre Leben auf Abruf. Ich kann es mir nicht wirklich vorstellen. Die Entscheidung zu gehen war getroffen, aber niemand wusste, wie lange es bis zur Bewilligung des Ausreiseantrags dauern würde. Eine völlig ungewisse Zeit zwischen Abschied und Aufbruch. Jahrelang Alltag in dem Wissen, dass es jeden Tag losgehen kann. Das muss schwer gewesen sein.

Wie oft sitzen wir in unserem Leben auf gepackten Koffern? Nicht mehr hier und noch nicht dort. Die Entwicklungspsychologie spricht bei diesen besonderen Übergängen von Transitionen. „Es sind Lebensphasen, die von hohen Anforderungen, Veränderungen der Lebensumwelten und einer Änderung der Identität geprägt sind“7, ausgelöst durch einschneidende Ereignisse. Beginnend in der Kindheit, wenn die Kleinen in Krippe oder Kindergarten das erste Mal regelmäßig für mehrere Stunden von ihren Eltern getrennt sind, bis hin zur späteren beruflichen Biografie (Wechsel der Arbeitsstelle). Negative Erlebnisse wie Scheidung, der Tod einer nahestehenden Person oder Arbeitslosigkeit fordern uns heraus, aber auch positiv besetzte Situationen – die eigene Hochzeit oder die Geburt eines Kindes. Je nachdem, wie wir diese Umstände durchleben, können sie uns überfordern oder in unserer Persönlichkeitsentwicklung voranbringen. Es heißt, in jeder Krise liegt eine Chance. Erkennen wir das Gold, das im Stroh glitzert?

Beim Entschluss meiner Eltern, einen Ausreiseantrag zu stellen, war ich vier Jahre alt, acht bei unserem Umzug. Um mich nicht zu belasten, hatten sie mich erst informiert, als der Umzugstermin tatsächlich feststand. Ich befand mich in einem Gefühlstaumel. Es war aufregend, plötzlich im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. So viele Abschiede, alle waren wahnsinnig lieb und ich bekam viele kleine Geschenke als Andenken. Doch es stand auch diese Trennung für eine ungewisse Zeit im Raum. Der Abschied von den Freunden, meinem Zuhause, unserem Garten. Kurz vor Bewilligung des Ausreiseantrags wurde unsere Familie in die Abteilung Inneres der Staatssicherheit einbestellt. Dort befragte man mich eingehend, ob ich wirklich mit meinen Eltern die Heimat verlassen wollte. Ich glaube, das Gespräch war nur kurz und mir hat auch niemand etwas getan. Aber ich habe es so empfunden, als hätten diese Menschen die Macht, mich von meinen Eltern zu trennen, und das machte mir Angst. Bis vor Kurzem war ich der festen Überzeugung, ich wäre für die Befragung von meiner Familie getrennt worden, was aber (so erzählen es meine Eltern) nicht der Realität entspricht. Verrückt, wie Erinnerungen trügen können.

Nachdem wir im März 1984 diese Vorladung bekommen hatten und meine Eltern einen „Antrag auf Verlegung des Wohnortes in ein nicht sozialistisches Land“ stellen durften, erhielten sie am 3. April die Ausbürgerungsurkunde. Damit war unsere Familie staatenlos und hatte die DDR innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Am selben Abend, um 22.04 Uhr, sollte unser Zug Richtung Nürnberg gehen. Als wir mit unseren Koffern auf dem Leipziger Bahnhof standen, lagen turbulente Wochen hinter uns. Meine Eltern hatten in kürzester Zeit ihren gesamten Hausstand aufgelöst: Möbel, Auto, Einrichtungsgegenstände verschenkt oder verkauft. Später habe ich erfahren, dass diese Schritte schon lange geplant und organisiert waren. Ich glaube, mit Stellen des Ausreiseantrags vier Jahre zuvor, denn man wusste ja nie, wann es so weit sein würde.

Dieser Umzug war kein normaler. Kein Abschied von Freunden, die man in den Ferien mal eben in das neue Zuhause einladen konnte. Ich habe den Bruch wohl verarbeitet, indem ich mich innerlich ziemlich radikal von Leipzig verabschiedete. Das war eine unbewusste Entscheidung, die mir erst klar wurde, als ich bemerkte, dass ich mich an viele Orte und Erlebnisse kaum mehr erinnern konnte, obwohl sie noch gar nicht so lange zurücklagen. Manches kam Jahre später wieder. Als ich in Nürnberg studierte, weckte das Quietschen der Straßenbahnen beispielsweise behagliche Heimatgefühle in mir, denn ich war ja einst ein Großstadtkind gewesen. Ich habe skurrile Erinnerungen an das Schlangestehen vor dem Supermarkt (der Konsum hieß), weil es Ketchup zu kaufen gab. Alle Familienmitglieder anstellen, bloß nicht sagen, dass man verwandt ist, und auf diese Weise möglichst viele Flaschen abbekommen. Im Gedächtnis ist mir auch der Schulanfang meiner Cousine, zu dem ich mein Lieblingskleid trug, bis ich mich im Taxi übergeben musste und mich den Rest des Tages in einem fremden, kratzigen Kleid unwohl fühlte. Meines war aus samtweichem Stoff und ich hatte es das erste Mal zu meiner Taufe getragen. Da war ich sieben. Christsein wurde in der DDR ja ziemlich misstrauisch beäugt und eher geduldet als gefördert. Als ich den Kindergarten besuchte, hatten sich meine Eltern mit einer Erzieherin angefreundet, deren Familie in der Kirchengemeinde aktiv war. Ich denke, eine Mischung aus dem Wunsch, Freunde zu treffen und einer Protesthaltung gegen das Regime bewog meine Eltern, sich die Gethsemane-Gemeinde mal genauer anzusehen. Und für ein paar Jahre wurde das unsere geistliche Heimat. Die Pfarrersfamilie war im Alter meiner Eltern. Ihr Sohn wurde, ebenso wie der Sohn meiner Erzieherin, gemeinsam mit mir eingeschult. Allerdings kamen wir nicht alle drei in dieselbe Klasse. Zu viele christliche Kinder auf einem Haufen waren dem Staat wohl nicht ganz geheuer. Unglaublich, welche Angst man dann doch davor hatte, dass die Kirche zu mächtig werden könnte. Viel Stroh, wenig Gold.

Es gibt etliche schöne Erinnerungen an meine Geburtsstadt und Umgebung. Manche waren mir immer präsent, andere kamen zurück, als ich die Orte meiner Kindheit wiedersah: Unser Garten, das Stöbern in der Bücherei, die vielen Kirchen und Pfarrhäuser, die wir an Wochenenden besuchten, weil meine Eltern Ahnenforschung betrieben und Informationen in alten Kirchenbüchern suchten. Der große Stein (ein Betonblock um ein Fernwärmerohr), der Lieblingsspielplatz aller Kinder, die in unserer Straße wohnten, mein Schulanfang … Ich mag Leipzig und bin gerne zu Besuch dort. Es ist die Stadt, in der ich geboren wurde, und sie wird für mich immer eine besondere bleiben. Dennoch würde ich sie nicht als meine Heimat bezeichnen. Vielleicht, weil ich nicht lange genug dort gelebt habe, vielleicht auch wegen der Besonderheiten des Umzugs.

Meine Oma väterlicherseits, ebenfalls eine gebürtige Leipzigerin, hat viele Jahre in München gelebt und sehr daran gehangen. Sie liebte es, in die Berge zu fahren, über den Viktualienmarkt zu bummeln, hatte eine schöne Wohnung und Freunde. Doch war immer klar, dass sie im Alter nach Leipzig zurückkehren würde, weil keiner ihrer Söhne in der Nähe von München wohnt. Sie war zwischen den beiden Städten zerrissen und kämpfte lange mit dem Abschied. Soweit ich es beurteilen kann, ist sie inzwischen aber gut in der neuen, alten Heimat angekommen. Leipzig hat sich in den Jahren ihrer Abwesenheit natürlich stark verändert. Aber der Menschenschlag, die Gewürze in der Wurst, das Sächsische, all das weckte alte Heimatgefühle wieder und erleichterte ihr das Einleben. Heimat eben. Mich freut das sehr für sie, denn wir hatten schon Bedenken. Einen alten Baum verpflanzt man nicht. Das Zurückpflanzen hat aber geklappt. Bei mir fühlt sich das anders an. Leipzig ist eine wichtige Station meiner Lebensreise, die erste überhaupt. Hier liegen meine Wurzeln, doch mein Zuhause ist woanders.

2. Zwischenzeit

„Aller Dinge Anfang ist ein Tag im Frühling.“8

Am späten Abend des 3. April hatten wir Leipzig in Richtung neue Heimat verlassen. Gegen ein Uhr nachts stoppte der Zug am Grenzübergang Hirschberg und wurde von DDR-Grenzbeamten und ihren Hunden durchsucht. Ich weiß, dass ich im Vorfeld große Angst um meinen Stoffhund Schlappi gehabt hatte. Meine Eltern und dieses Plüschtier, ohne das ich nicht schlafen konnte, waren auf der großen Reise ins Unbekannte mein Halt und meine Sicherheit. Es gab Geschichten von Grenzsoldaten, die Plüschtiere aufschnitten, um nachzusehen, ob etwas eingenäht war. Und davor hatte ich mich gefürchtet. Den großen Moment des Grenzübertritts verschlief ich dann aber. Als die Beamten ins Abteil meiner Eltern kamen und meine Mutter mich wecken wollte, sagte einer von ihnen nur: „Lassen Sie das Kind schlafen.“ Manchmal schickt Gott seine Engel in völlig unerwarteter Gestalt.

Ich glaube, es wäre traumatisch für mich gewesen, Schlappi zu verlieren, denn er war in dieser Umbruchsituation so viel mehr als ein Plüschtier. In den ersten Kindergartenwochen gibt man den Kleinen oft einen vertrauten Gegenstand, wie ein Schnuffeltuch, mit. Es riecht wie zu Hause, stellt eine Verbindung zwischen Bekanntem und Unbekanntem her und vermittelt damit Sicherheit, die das Kind jetzt so nötig braucht. Schlappi und natürlich meine Eltern waren für mich so ein sinnbildlicher Anker, der dafür sorgte, dass mich Wind und Wellen in dieser stürmischen Zeit nicht fortrissen.

Nahestehende Bezugspersonen und besondere, emotionsbesetzte Gegenstände können Kindern helfen, Herausforderungen besser zu bewältigen. Aber wie ist es, wenn wir erwachsen sind? Die Gewissheit, dass meine Familie für mich da ist, gibt mir Kraft und Stärke. Aber manchmal stehen wir gemeinsam mitten im Sturm und brauchen einen Anker. Für mich ist das mein Glaube. Es gibt eine Bibelstelle, die das sehr schön ausdrückt: „Diese Zuversicht ist wie ein starker und vertrauenswürdiger Anker für unsere Seele.“9

In der Nacht des Grenzübertritts hatte es geschneit und so konnten meine Eltern zunächst nicht erkennen, ob sie noch in Ost- oder schon in Westdeutschland waren, nachdem der Zug sich wieder in Bewegung gesetzt hatte. Sie standen im Gang und guckten nach draußen, als meinem Vater auffiel, dass die Laternen anders aussahen. „Guck mal, alles ist so hell. Und da fährt ein VW-Bus. Wir haben es geschafft. Wir sind im Westen!“, sagte er zu meiner Mutter und beide weinten vor Glück und Erleichterung, während ich einfach weiterschlief. Gegen sechs Uhr morgens kamen wir in der mittelfränkischen Kleinstadt an, in der meine Oma, ihre Schwester und deren Mann lebten. Das Einzige, woran ich mich bewusst erinnere, sind Unmengen von Schnee. Und das war ja schon mal ein guter Anfang.

In den folgenden Wochen wohnten wir dort. Meine Eltern in der Einraumwohnung meiner Großmutter, Omi und ich im Gästezimmer von Omis Schwester, gleich im Haus nebenan. „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“, heißt es in meinem Lieblingsgedicht „Stufen“ von Hermann Hesse10. Es war tatsächlich eine besondere Zeit. Meine Eltern mussten sich um viele Dinge kümmern, Behörden- und Ämtergänge erledigen und dergleichen. Sie waren im Bundesnotaufnahmelager in Gießen und auch viel in Nürnberg unterwegs, wo sie ab und zu bei meinem Onkel und seiner Frau übernachteten. Dann schliefen Omi und ich in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung und machten uns die Welt, wie sie uns gefällt. Ich kann es meiner Oma gar nicht hoch genug anrechnen, wie liebevoll sie sich in dieser Zeit um mich gekümmert hat.

Wenn man Kinder hat, weiß man, dass diese in einem bestimmten Alter Rollenspiele lieben. Das ist wichtig für ihre Entwicklung. Sie versetzen sich dadurch in andere Menschen, lernen Empathie und probieren sich aus. Während sie im reellen Leben häufig fremdbestimmt werden, dürfen sie sich im Spiel ihre eigene Welt kreieren und erleben sich als selbstwirksam. Egal, ob Mutter-Vater-Kind, Schule oder Friseur, es braucht Mitspieler dafür. Und leider hatte ich zu diesem Zeitpunkt keine. Ich war noch nicht wieder in der Schule angemeldet und kannte niemanden.

Ich erinnere mich noch gut an diese Phase bei meinen Töchtern, und ich war immer froh, dass es ihnen an Spielpartnern nicht mangelte. Stundenlang in eine Fantasierolle zu schlüpfen und so zu tun als ob, war als Mutter nie mein liebster Zeitvertreib. Ich weiß, dass auch andere Erwachsene normalerweise wenig begeistert von Rollenspielen sind. Omi aber hat diesen Part wie selbstverständlich übernommen. Wir spielten, was das Zeug hielt, gaben uns andere Namen, andere Identitäten. Omi wollte Simone heißen; das weiß ich, als wäre es gestern gewesen. Ich glaube, unsere Spielzeiten hatte etwas Heilsames. Nicht umsonst ist Spieltherapie ein anerkannter psychologischer Ansatz.

Meine Oma half mir mit viel Liebe und dem richtigen Gespür für meine Bedürfnisse, die Zeit des Umbruchs gut zu überstehen. Wenn das Kind Nici spielen wollte, war sie Spielkameradin für mich. Auf der anderen Seite nahm sie mich ernst und brachte mir Wertschätzung entgegen wie einer Erwachsenen. Ob herausfordernde Situationen als Krisen oder als Chance erlebt werden, hängt von vielen Faktoren ab. Einer davon ist die „individuelle Begleitung und Unterstützung“.11 Hier sprang Omi zuverlässig ein, wann immer meine Eltern mit Ämtergängen und Wohnungssuche beschäftigt waren. Ich glaube, sie war glücklich, endlich die komplette Familie in ihrer Nähe zu wissen, und das strahlte sie aus. Dennoch hat es ihr beschauliches Rentnerleben sicherlich etwas auf den Kopf gestellt, plötzlich für ein achtjähriges Kind verantwortlich zu sein. Ich hatte aber nie das Gefühl, ihr zur Last zu fallen. Wenn ich mich in die Lage meiner Eltern versetzte, war meine Oma Gold wert. Sie konnten frei agieren und wussten ihr Kind in guten Händen. Omi hatte von den Ausreiseplänen meiner Eltern gewusst, aber auch sie musste sich von einem auf den anderen Tag auf uns einstellen.