Studien zu Buch und Sprache des Deuteronomiums - Georg Braulik OSB - E-Book

Studien zu Buch und Sprache des Deuteronomiums E-Book

Georg Braulik OSB

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Beschreibung

Dieser Band vereint wissenschaftliche Beiträge zum Deuteronomium. Am Anfang steht die derzeit jüngste lehrbuchmäßige Einführung in dieses Buch. Die meisten weiteren Studien sind syntaktischen und vor allem semantischen Fragen gewidmet. Zwei umfangreiche Aufsätze sind von besonderer forschungsgeschichtlicher Bedeutung. Der eine rekonstruiert als Quellenschrift des Deuteronomiums und des Josuabuchs eine »deuteronomistische Landeroberungserzählung", ein aus der Joschijazeit stammendes Literaturwerk. Dabei werden auch neuere Hypothesen zum Deuteronomistischen Geschichtswerk diskutiert. Der andere bearbeitet die bisher kaum systematisch untersuchte allgemeine Gesetzesparänese des Deuteronomiums. Bibeltheologisch geht es mehreren Aufsätzen um die Themen der Glaubensgerechtigkeit, der Liebe und der Gotteserkenntnis.

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Seitenzahl: 616

Veröffentlichungsjahr: 2017

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StuttgarterBiblischeAufsatzbände 63

Herausgegeben vonThomas Hieke und Thomas Schmeller

Georg Braulik

Studien zu Buch und Sprache des Deuteronomiums

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart 2016Alle Rechte vorbehaltenwww.bibelwerk.de

Druck: Sowa Sp. z.o.o., WarschauPrinted in Poland

ISBN 978-3-460-06631-1eISBN 978-3-460-51010-4

Der Österreichischen Akademie der Wissenschaftenfür die Verleihung des Wilhelm Hartel Preisesin Dankbarkeit gewidmet.

Inhalt

Vorwort

Das Buch Deuteronomium

In: Erich Zenger – Christian Frevel u. a., Einleitung in das Alte Testament (Kohlhammer Studienbücher Theologie), 9., aktual. Aufl. Stuttgart 2015, 152–182.

Deuteronomium 4,13 und der Horebbund

In: Christoph Dohmen – Christian Frevel (Hg.), Für immer verbündet. Studien zur Bundestheologie der Bibel. Festgabe für Frank-Lothar Hossfeld zum 65. Geburtstag (Stuttgarter Bibelstudien 211), Stuttgart 2007, 27–36.

Der unterbrochene Dekalog.

Zu Deuteronomium 5,12 und 16 und ihrer Bedeutung für den deuteronomischen Gesetzeskodex

In: Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 120 (2008), 169–183.

Deuteronomium 4 und das gegossene Kalb.

Zum Geschichtsgehalt paränetischer Rede

In: Juha Pakkala – Martti Nissinen (Hg.), Houses Full of All Good Things. Essays in Memory of Timo Veijola (Publications of the Finnish Exegetical Society 95), Helsinki – Göttingen 2008, 11–26.

„Die Worte“ (haddebārîm) in Deuteronomium 1–11

In: Reinhard Achenbach – Martin Arneth (Hg.), „Gerechtigkeit und Recht zu üben“ (Gen 18,19). Studien zur altorientalischen und biblischen Rechtsgeschichte, zur Religionsgeschichte Israels und zur Religionssoziologie. Festschrift für Eckart Otto zum 65. Geburtstag (Beihefte zur Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 13), Wiesbaden 2009, 200–216.

Die deuteronomistische Landeroberungserzählung aus der Joschijazeit in Deuteronomium und Josua

In: Hermann-Josef Stipp (Hg.), Das deuteronomistische Geschichtswerk (Österreichische Biblische Studien 39), Frankfurt a. M. 2011, 89–150.

„Worauf ich euch heute eidlich verpflichte“.

Beobachtungen zur Verpflichtungsformel des Deuteronomiums

In: Erasmus Gaß – Hermann-Josef Stipp (Hg.), „Ich werde meinen Bund mit euch niemals brechen!“ (Ri 2,1). Festschrift für Walter Groß zum 70. Geburtstag (Herders Biblische Studien 62), Freiburg 2011, 29–54.

Gott kämpft für Israel.

Zur Intertextualität der Deuteronomistischen Landeroberungserzählung mit Exodus 1–14

In: Biblische Zeitschrift NF 55 (2011), 209–223.

Die „Glaubensgerechtigkeit“ im Buch Deuteronomium.

Ein Beitrag zu den alttestamentlichen Wurzeln der paulinischen Rechtfertigungslehre

In: Theologie und Philosophie 86 (2011), 481–502.

Die Liebe zwischen Gott und Israel.

Zur theologischen Mitte des Buches Deuteronomium

In: Internationale katholische Zeitschrift 41 (2012), 549–564.

Liebe und Gotteserkenntnis.

Zu einer Besonderheit deuteronomischer Theologie

In: Georg Braulik, L ’esegesi anticotestamentaria e la liturgia. Nuovi sviluppi negli ultimi decenni (Leiturgia. Lectiones Vagagginianae 5), Assisi 2014, 258–291.

Die allgemeine Gesetzesparänese und das „paränetische Schema“ im Buch Deuteronomium

In: Stefan M. Attard – Marco Pavan (Hg.), „Canterò in eterno le misericordie del Signore“ (Sal 89,2). Studi in onore del Prof. Gianni Barbiero in occasione del suo settantesimo compleanno (Analecta Biblica Studia 3), Rom 2015, 21–50.

Index

Vorwort

Die Artikel dieses Nachdruckbandes stammen aus den Jahren 2007 bis 2015. Sie schließen an meine vier vorausgegangenen Aufsatzsammlungen zum Deuteronomium in dieser Reihe an. Diesen Zusammenhang möchte auch der allen Bänden gemeinsame Beginn aller Titel mit dem Wort „Studien“ verdeutlichen. Diesmal sind es vorwiegend Arbeiten zur Sprache dieses Buches. Sie untersuchen einzelne Wörter und Wortverbindungen, analysieren Formeln und Schemata, behandeln syntaktische und stilistische Probleme. Ich brauche nicht eigens zu betonen, dass auch sie letztlich der Erforschung der Theologie des Deuteronomiums dienen. Nur der Beitrag „Das Buch Deuteronomium“ fällt aus dieser relativ breiten Thematik heraus. Er diskutiert Einleitungsfragen im Rahmen eines Lehrbuchs, das seit 2015 in der 9., aktualisierten Auflage vorliegt. Die um die Hälfte kürzere Fassung der 3. Auflage von 1998, die in meinem dritten Sammelband (SBAB 33) abgedruckt wurde, ist dadurch überholt; eine Aufnahme der letzten breiten Überarbeitung in das vorliegende Buch erscheint angebracht. Der Einleitungsartikel steht hier an erster Stelle, obwohl er zuletzt verfasst worden ist. Alle anderen Aufsätze sind nach ihrem Erscheinungsdatum gereiht. Die Erstveröffentlichung ist zusammen mit den weiteren Publikationsangaben aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich. Dabei lässt die Herkunft der Beiträge auch erkennen, dass ich mit ihnen keine systematischen Lexem-Forschungen anstellen konnte. Ihre Themenwahl ist vielmehr durch Vorgaben von Kongressvorträgen und Gastvorlesungen, insbesondere durch die Bestimmung für Festschriften bedingt. Der Buchtitel verbindet die vorliegenden Aufsätze also nur locker unter dem gemeinsamen Schwerpunkt „Sprache des Deuteronomiums“.

Der Text der nachgedruckten Beiträge ist weitgehend unverändert geblieben. Nur bei dem Lehrbuchartikel habe ich die Literaturangaben, auf die er sich bezieht, ans Ende gestellt. Durch die Kästchen mit den Seitenanfängen des Erstdrucks ist es möglich, stets diesen zu zitieren. Allerdings habe ich sachliche und sprachliche Fehler korrigiert und auch ein paar formale Verbesserungen vorgenommen. In eckigen Klammern habe ich kurze Ergänzungen eingefügt, die mir als Nachträge später erschienener Veröffentlichungen und als Hinweise für die weitere Diskussion wichtig erscheinen.

Die gesammelten Artikel sind zwar situationsbedingt entstanden. Dennoch bilden sie in gewissem Sinn Begleitstudien zum Deuteronomiumkommentar, den ich gemeinsam mit Norbert Lohfink SJ schreibe. Ihm gilt mein besonderer Dank. Er hat alle Manuskripte vor ihrer Drucklegung kritisch gelesen, öfters auch ihre vorausgehenden Fassungen, und hat sie ausführlich mit mir diskutiert. Nicht zuletzt ist in die Veröffentlichungen manches Material eingegangen, das er für unsere gemeinsame Kommentierung verfasst hatte, ohne dass dies jedes Mal ausdrücklich gekennzeichnet worden wäre. Das gilt vor allem für den Salzburger Tagungsvortrag über „Die deuteronomistische Landeroberungserzählung“, der eine von Norbert Lohfink aufgestellte These umfassender zu begründen versucht.

Bedanken muss ich mich auch bei Prof. Dr. Thomas Hieke, dem Herausgeber der Reihe, für die Aufnahme und umsichtige Betreuung meines Bandes. Zu besonderem Dank bin ich schließlich seiner Mitarbeiterin Frau Dr. Andrea Klug (Mainz) verpflichtet, die das Layout der Artikel und Verzeichnisse erstellt hat.

Georg Braulik OSB

Das Buch Deuteronomium

1Aufbau

155 Unter dem Namen „das fünfte Buch Mose“ beschließt das Dtn den Erzählbogen des Pentateuch und zeigt Mose als das Prinzip von dessen Einheit (vgl. z. B. die Gipfelschau in Gen 13,14–18 mit Dtn 34,1–3.4 oder den Exodus samt der Plagenerzählung mit Dtn 34,11f). Im Judentum wird es nach den Anfangsworten meist debārīm „Reden“ genannt. Der Name „Deuteronomium“ geht auf die Übersetzung der Vg und LXX () von Dtn 17,18 (vgl. Jos 8,32) zurück, wo eigentlich „Abschrift dieser Tora“ (für den König) gemeint ist. Sie interpretiert das Buch als „zweites Gesetz“, das Mose nach Gesetzgebung und Bundesschluss am Sinai (Ex 20–24) als Grundlage eines weiteren Bundesschlusses (Dtn 28,69) im Land Moab vorgetragen hat.

(1) Das Dtn präsentiert sich als Erzählung der Ereignisse vor dem Tod Moses (32,50; 34,5.7), wohl an seinem Todestag (32,48). Es ist der 1.11.40 nach dem Auszug aus Ägypten (1,3), mit dem nach der Zeitstruktur des Pentateuch die liturgische Vorbereitung auf das erste Pascha im Verheißungsland (Jos 5,10) begonnen hat. Der Bucherzähler stellt fast immer nur fest, Mose habe die folgenden Worte gesprochen. Er lässt Mose den Großteil der vorausliegenden Geschichte vortragen. Genau genommen kombiniert das Dtn jedoch nicht nur Erzählung und erzählte Erzählung, sondern zwei Bücher: das Buch Dtn und das Tora-Buch, das Mose innerhalb der Erzählung des Dtn vorträgt und danach aufschreibt (31,9.24). Die Erzählfolge deckt sich in den Mosereden nicht mit der Ereignisfolge, der „Fabel“. In 1–3 wird z. B. schon die gesamte Wüstenzeit behandelt, in 5 erst das Geschehen am Horeb. Auch der Erzähler selbst hält sich nicht immer an die Ordnung der Fabel. Die Versammlung von 29,1 dürfte z. B. mit der von 5,1 identisch sein. Dass sich der Textverlauf so weit von der Fabelfolge entfernt, hängt auch mit der höchst komplizierten Wachstumsgeschichte des Dtn zusammen. 5–28 ist vielleicht deshalb als eigene Größe gestaltet, weil das ursprüngliche Bundes-/Vertrags-dokument trotz aller erst später hineingenommenen Texte in seiner Eigenart bestehen bleiben sollte.

(2) Unter dem narrativen Grundmuster des Buches kommt eine andere umfassende literarische Form zum Vorschein: das Dtn als eine Sammlung von Reden. Insgesamt zitiert der anonyme Erzähler 22 Reden Moses. Nur in 31 und 34 gibt es auch vom Bucherzähler zitierte Gottesreden. Als „Abschiedsreden“ Moses, gleichsam sein „Testament“, beanspruchen die Reden Moses, die letztgültige Verkündigung des Gotteswillens für Israel zu sein. 156 Die „archivierten“ Texte sind mit vier meist Mehrfaches zusammenfassenden „Überschriften“ versehen. Diese nennen die „Textgattung“ der ihnen zugeordneten Dokumente: „Worte“ (1,1), „Tora“ (4,44), „berīt-Worte“ (28,69), „Segen“ (33,1). Daran schließen sich Bemerkungen über die Vortragsweise, Adressaten und Ursprungsumstände an, ferner eine oder mehrere Redeeinleitungen. Dieses Überschriftensystem gliedert das Buch in vier Teile. Nur die Passagen über den Tod Moses in 32,48–52 und 34 werden von ihm nicht erfasst.

1–4

Rekapitulation der Wanderung vom Horeb ins Ostjordanland/Moab als Schuldgeschichte, die begründet, weshalb Mose die Leitung Israels an Josua übergeben muss (1,6–3,29)

Paränese (Mahnrede) über künftige Möglichkeiten und Gefahren im Verheißungsland zur Konstituierung des folgenden Rechtsaktes (4,1–40)

5–28

Vorlage der Bundes-/Vertragsurkunde: Historische Legitimierung der Gesetzgebung am Horeb und Paränesen zum Hauptgebot ausschließlicher JHWH-Verehrung (5–11)

Sammlung von Einzelgesetzen für das Leben im Land, insbesondere der Kultzentralisation, eines gewaltenteiligen Staatskonzepts und einer Sozialutopie (12–26,16)

Protokoll eines Bundes-/Vertragsabschlusses (26,17–19)

Erklärungen der Bundespartner und Aufträge für die Zeit nach dem Jordanübergang, insbesondere zur Sicherung des deuteronomischen Gesetzes als Landesgesetz (27)

Segen und Fluch (28)

29–32

Redetext aus dem Zusammenhang des Bundes-/Vertragsabschlusses (29–30)

Einsetzung Josuas, Offenbarung des Moseliedes und Hinterlegung der Tora (31)

Moselied (32)

33

Mosesegen

(3) Das Schwergewicht dieser viergliedrigen Redenkomposition liegt auf „der Tora“, „der Weisung“ (5–28). Ihr Inhalt wird in der Moserede vermittelt, die der Bucherzähler zitiert (dessen Worte aber in den Redeeinleitungen in 27 ebenfalls in der Tora stehen). In der erzählten Welt bildet die Tora die Urkunde des Bundes/Vertrags, auf die Mose anlässlich des Führungswechsels und der Einsetzung Josuas in Moab Israel vereidigen muss. Was er, um diesen Rechtszustand herzustellen, Israel rechtskräftig präsentiert (1,5), ist die von JHWH empfangene Neuformulierung des schon bekannten göttlichen Rechtswillens (5–26). Er wird jetzt von Mose vermittelt, nicht ausgelegt. Mose kommentiert also in diesen Kapiteln nicht wie ein Schriftgelehrter die Gesetze der vorangehenden Bücher des Pentateuch – sie werden nirgends als „die Tora“ bezeichnet. Formmäßig verbindet die deuteronomische Tora, auf die Mose in Moab Israel einschwört (29,11), trotz ihrer Eigenart als Sozial- und Gesellschaftsordnung des Gottesvolkes Elemente eines altorientalischen Gesetzeskodex mit denen eines Vertrags.

Das Dtn ist also vor allem Gesetz. Die Struktur von 5–28 lässt sich deshalb mit der Struktur einiger altorientalischer Gesetzeskodizes vergleichen.157

Kodex Hammurapi

Dtn Gesetz

Prolog

5–11

„Prolog“

Gesetze

12–26

Gesetzeskorpus

Epilog (mit Segen und Fluch)

28

Epilog (Segen und Fluch)

Nach der Überschrift zur ersten Moserede (1,1–5) fängt Mose an, „dieser Tora Rechtskraft zu verleihen“ (1,5). Die Eröffnungsrede 1–4 hat also innerhalb des Ganzen der Mosereden die Funktion, die Situation der Gesetzesverkündigung zu konstituieren (s. 4,5.26) und geht dem Vortrag der Tora in 5–28 voraus. Dem Dekalog (5,6–21) am Anfang von 5–26 stellt 27 am Ende den „sichemitischen Dodekalog [zwölf Gebote]“ (27,15–26) als Kontrapunkt gegenüber. In 28 sanktionieren Segen und Fluch das Befolgen bzw. Übertreten der Gesetzesbestimmungen. Dagegen beziehen sie sich z. B. im Kodex Hammurapi auf die Zerstörung der Gesetzesinschrift bzw. deren Außerkraftsetzung. Das Korpus enthält vielfältige, das ganze Leben regelnde Gesetze. Das Dtn bezeichnet sie zusammenfassend als ḥuqqīm ūmišpāṭīm „Gesetze und Rechtsentscheide“. Ihre Verkündigung wird in 4,45; 6,1; 12,1 angekündigt und in 26,16 als abgeschlossen erklärt. Zugleich rahmt der Doppelausdruck in 5,1 und 11,32 die grundlegende Paränese, in 12,1 und 26,16 die Einzelgesetze. Ein vergleichbares Rahmungssystem gliedert durch miṣwōt „Gebote“ in 28,1.13 und 28,15.45 das Schlussstück in Segen und Fluch.

4,45

die Satzungen, die Gesetze und Rechtsentscheide

5,1

die Gesetze und Rechtsentscheide

6,1

das Gebot, die Gesetze und Rechtsentscheide

11,32

alle Gesetze und Rechtsentscheide

12,1

die Gesetze und Rechtsentscheide

26,16

diese Gesetze und Rechtsentscheide

28,1.13

seine Gebote

28,15.45

seine Gebote und Gesetze

Im Korpus 12–26 selbst lassen sich drei Gesetzesblöcke und ein Anhang unterscheiden:

12,2–16,17

„Privilegrecht JHWHs“ (von Sozialregelungen durchwobenes liturgisches Recht)

16,18–18,22

„Verfassungsentwurf“ für Israel (gewaltenteilig konzipierte Ämtergesetze über Richter, König, Priester, Prophet)

19–25

„Straf- und Zivilrecht“ (verschiedenen Inhalts)

26,1–15

„Liturgischer Anhang“

Die Einzelgesetze dieser Gesetzesblöcke werden nach Prinzipien systematisiert, die auch sonst im Alten Orient bei Rechtskodifikationen üblich waren, einer modernen europäischen Gesetzesdisposition allerdings fremd sind. Charakteristisch sind etwa die Gliederung des Rechtsstoffes nach Sachgebieten (z. B. Gesetze über die Opfer an der einzigen, von Gott erwählten Kultstätte, dem Jerusalemer Tempel, in 12,4–7.8–12.13–19.20–28; Verführung zum Abfall vom Gott Israels in 13,2–6.7–12.13–19), die Verknüpfung der aufeinander folgenden Bereiche durch verbindende Grenzfälle (z. B. Verbot von Kultbräuchen [vgl. 12] anderer Götter [vgl. 13] in 12,29–31), Gegenüberstellung von Fall und Gegenfall (z. B. Asylstätten für Totschläger in 19,1–10 und Auslieferung eines Mörders aus einer Asylstadt in 19,11–13), Reihung der Gesetze nach der sozialen Stellung der betroffenen Personen (z. B. verheiratete Frau in 22,13–22 – verlobte Frau in 22,23–27 – ledige Frau in 22,28f) oder nach dem zeitlichen Ablauf von Ereignissen (z. B. Frühlingsfest 16,1–8 – Wochenfest 16,9–12 – Laubhüttenfest 16,13–15). Überall kann es zur Attraktion von thematisch verwandtem Gesetzesmaterial kommen, d. h. zu einer durch Stichworte oder Ge- 158 dankenassoziation ausgelösten Einfügung, um eine Sache möglichst an einer Stelle vollständig abzuhandeln. Nach solchen Digressionen (Abschweifungen) wird zum Hauptthema zurückgesprungen. So schließen z. B. an die Gesetze über die Opfer an der einzigen Kultstätte in 12 und ihre Rahmung durch das Fremdgötterverbot die Gesetze über den Abfall vom einzigen Gott Israels in 13 an. Der Loyalität gegenüber diesem für Israel einzigen Gott entspricht das einzigartige Verhältnis, in dem „die Kinder JHWHs“ (14,1) zu ihm stehen. Deshalb formulieren die in 14,1–21 folgenden Gesetze ihre Ritualdifferenz zu den anderen Völkern. Zugleich klären sie, was gegessen werden darf, wenn die profane Schlachtung freigegeben ist (vgl. 12,15.21). Nach dieser Digression kehren die anschließenden Gesetze wieder zum Zentralheiligtum zurück und führen die Opferbestimmungen fort: Hatte 12 die Opfergesetze unter dem Gesichtspunkt des Raumes behandelt (Stichwort „Stätte“), so entfalten die Gesetze in 14,22–16,17 sie unter dem Aspekt der Zeit (Stichwort „Jahr“). Zugleich verbindet sie das Stichwort „essen“ mit den in 14,3–21 unmittelbar vorausgegangenen Gesetzen. Diese Ordnungsgrundsätze dienen auch dem Auswendiglernen. Mehr als sonst im Alten Orient werden im Dtn auch ganze Gesetzesgruppen durch verschiedene stilistische Techniken wie Stichwortverkettung (z. B. durch „Name“ und „Stätte“ in 12,2f und 12,4–7), Rahmung (Zerstörung der Kultinstallation fremder Götter in 12,2–3 und Verbot ihres Kultes in 12,29–31), A-B-Schema (z. B. menschliche und göttliche Eigentumsrechte alternierend in 23,16–26) und palindromischen Aufbau (Ringkomposition [Palindromie] A-B-A [z. B. in 12,2–31]) zu einer rhetorischen Einheit geformt. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass diese Texte einmal als „Bundes-/Vertragsrecht“ für den öffentlichen Vortrag (31,9–13) und die ständige Rezitation in der Familie (6,6f) bestimmt waren. Im Unterschied zu unseren modernen Gesetzbüchern waren die altorientalischen Rechtskodifizierungen wahrscheinlich keine präskriptiven Rechtstexte. Das lässt sich z. B. daran erkennen, dass sich im Alten Orient die Rechtsprechung, die in vielen Prozessurkunden erhalten geblieben ist, bei richterlichen Entscheiden nie auf ein Gesetzbuch berief. Sie beruhte vielmehr auf Gewohnheitsrecht und Präzedenzfällen. Dagegen dienten Rechtssammlungen als deskriptive Texte, wahrscheinlich als Modelle zur Ausbildung der juristischen Elite. Die Problemlösungen, die sie mit Hilfe solcher juristischer Schulbücher lernte, beeinflusste dann indirekt auch die Gerichtsentscheidungen. Eine ähnliche Funktion wie das Keilschriftrecht – kein Gesetzbuch, sondern Lehrbuch – dürfte (zumindest zunächst) auch die deuteronomische Sammlung von Rechtssätzen gehabt haben. Zur Rechtshermeneutik s. auch 2.5.

Die „Tora“ 5–28 ist aber nicht nur von der Form eines Gesetzeskodex, sondern zugleich von der Form eines „Bundes“, d. h. „Vertragsschlusses“, her zu verstehen.

Ein Vertrag ist im Gegensatz zu einem vorgeschriebenen Gesetz grundsätzlich bilateral, erfordert also trotz unterschiedlicher Abstufung des Verhältnisses der Partner eine Zustimmung, die sich im Vertragseid ausdrückt und auch die Konsequenzen von Vertragseinhaltung und Vertragsbruch übernimmt. Segen und Fluch in 28 rufen deshalb Gottes Belohnung für die Einhaltung und Strafe für die Übertretung der eingegangenen Verpflichtung herab. So zeigt zum Beispiel das Grundschema des „hetitischen“ Typs von Vasallenverträgen folgende Gemeinsamkeiten mit dem Aufbau von Dtn 5–28.

Hetitische Vasallenverträge

Kernstück des Dtn

1. Präambel

 

 

2. historischer Prolog

5–11

historischer Prolog und Grundsatzerklärung

3. Grundsatzerklärung

 

 

4. Einzelbestimmungen

12–26

Einzelbestimmungen

5. Liste göttlicher Vertragszeugen

 

 

6. Segen und Fluch

28

Segen und Fluch

159 Präambel und Götterzeugenliste entfallen im Dtn aus je eigenen Gründen. Das Vasallenvertragsschema findet sich auch in kleineren Textbereichen, nämlich in der redaktionellen Form von 5–8 und 9–11 (und außerhalb der „Tora“ in 4 und 29f). Wie und warum sich die Tradition dieses Grundschemas vom Zusammenbruch des Hetiterreiches bis zur Entstehung des Dtn durchhielt, ist noch ungeklärt. Vermutlich spielten die Nachfolgestaaten des Hetiterreiches im syrischen Bereich eine Rolle. Hier müsste die Archäologie in Zukunft noch manches klären. Klarer sehen wir in jüngster Zeit bei den dem Dtn zeitlich wesentlich näherstehenden Thronnachfolgeverträgen des Assyrerkönigs Asarhaddon. Sie spielten zweifellos eine entscheidende Rolle für die Stilisierung der Tora als Vertrag zwischen JHWH und Israel, und zwar so sehr, dass sogar einzelne Textpassagen ins Dtn übernommen wurden – s. dazu 2.72.

26,17–19 – kein Bundesschluss selbst, wohl aber seine juristische Kommentierung – interpretiert 5–28 ausdrücklich als Vertragsurkunde. Der Text resümiert rechtsgültig die spiegelbildlichen Erklärungen der beiden Bundespartner, in denen JHWH und Israel sowohl die eigene „Leistung“ als auch die des Partners zusammenfassen. Das erweckt zwar den Eindruck paritätischer Vertragsvorstellungen, doch setzt JHWH allein den Inhalt der so genannten „Bundesformel“. Er allein bewirkt die Gott-Volk-Beziehung. Israel bringt als seine „Bundesleistung“ den Gehorsam gegenüber dem Gesetz JHWHs ein. Diese beiden Selbstverpflichtungen werden von Mose in 26,17–19 gewissermaßen notariell protokolliert und dann in den Erklärungen in 27,1 (Mose zusammen mit den Ältesten) für Israel und in 27,9 (Mose zusammen mit den Priestern) für JHWH öffentlich vollzogen. Zum „Bundesschluss“ gehört auch der Symbolakt des Schreitens zwischen den gehälfteten Tieren (29,11). Diese Bundeszeremonie in Moab ist keine „Bundeserneuerung“, sondern eine „Bundesbestätigung“. Denn eine Bundeserneuerung setzt eine geschichtliche Katastrophe voraus, die von Propheten auf einen Bundesbruch Israels zurückgeführt wurde. Der fehlt in der deuteronomischen Moabsituation. Eine Bundesbestätigung sollte bei Führungswechsel erfolgen. Auch die öffentliche Verlesung der Tora als Bundestext am Laubhüttenfest jedes Brachjahres durch die Priester und alle Ältesten (31,9–13), die das Wissen um den Bund lebendig halten soll, ist deshalb keine Bundeserneuerung.

Als Erzählung und als vierteilige Redenkomposition mit dem Akzent auf der „Tora“ Moses steht das Dtn in sich selbst. Es präsentiert sich von seinem autarken Anfang an – insbesondere der zitierten Erzählung in Dtn 1–3, die trotz ihrer Erinnerung der Hörer an ihnen Bekanntes ganz auf den Folgekontext ausgerichtet ist – als eigenständiges Werk, nicht als literarische Fortführung. Dagegen verweist die Bezeichnung „Deuteronomium“, also „zweites Gesetz“, auf die Beziehungen (und Unterschiede) dieses Schlussbuches des Pentateuchs zu den Gesetzeskorpora (und Erzählungen) der vorausgehenden Bücher. Die Rolle Josuas und der Könige (Jos 8,32; Dtn 17,18) verdeutlicht zugleich, dass das Dtn als Auftakt der Geschichte Israels in seinem Land sehr stark auf die anschließenden „Vorderen Propheten“ des hebräischen Kanons hin orientiert ist. Die Übergabe der Leitung von Mose an Josua bestimmt auf der Erzählebene die Handlung des Buches sogar von Anfang bis Ende (1,38; 3,28; 31,7f). Diese Aktion ist der eigentliche Anlass für das große Mittelstück, den Moab-„Bundesschluss“. Denn wie sonst im alten Orient der Regierungswechsel ein Loyalitätsversprechen von Seiten des Volkes erforderte, bedingt auch der Führungswechsel von Mose zu Josua eine Bundesbestätigung auf der Grundlage des Gesetzes. Das Dtn muss also auf der kanonischen Textebene innerhalb des großen Zusammenhangs der Bücher Gen bis Kön gelesen werden und gibt diesen dabei eigene Akzente und Deutungen von höchster Autorität aus dem Mund des größten aller Propheten (34,10). 160

2Entstehung

2.1Kriterien und Modelle einer diachronen Analyse des Dtn

(1) Das komplexe Aussagensystem des kanonischen Dtn lässt sich nur aus einer längeren Entstehungsgeschichte verstehen. Doch gibt es unter den Bibelwissenschaftlern über den Werdegang des Buches sehr divergierende Auffassungen. Es besteht nicht einmal Einmütigkeit über die Unterscheidungskriterien, die im Dtn für eine Literar- und Redaktionskritik in Frage kommen.

a) In der Anrede Israels wechselt der Numerus: Einmal sagt Mose „du“, dann wieder „ihr“. Die singularische und pluralische Anrede kann sogar im gleichen Satz mehrfach umspringen. Zeigt das verschiedene Schichten an (so dass z. B. dem ursprünglich singularischen Dtn pluralische Abschnitte hinzugefügt und diese wieder durch singularische Stücke ergänzt worden wären)? Aber selbst wenn das für ältere Teile des Dtn zutreffen sollte: Können spätere Verfasser die „Numerusmischung“ nicht als typisch dtn Stil betrachtet und in ihren eigenen Texten imitiert haben, so dass dort trotz „Numeruswechsels“ keine verschiedenen Schichten vorliegen? Jedenfalls signalisiert der „Numeruswechsel“ einen rhetorischen Code-Wechsel. Der könnte dann z. B. dazu gedient haben, thematische Höhepunkte rhetorisch herauszuheben. Auf der Ebene der im Text selbst sichtbar werdenden Struktur spielt er als Gliederungsmarker bestenfalls eine Nebenrolle, als Signal eines Wechsels zwischen einer Unheils- und Heilsverkündigung Moses ist er unbrauchbar (so z. B. in 4).

b) Die theologischen Schlüsselwörter sind nicht gleichmäßig über das Buch verteilt. Weist das darauf hin, dass im Dtn Texte verschiedenster Herkunft zusammengefügt sind? Dann wäre die Sprachstatistik ein gutes Hilfsmittel. Aber konnten nicht spätere Schichten die typischen Formulierungen älterer Schichten aufgreifen, so dass sich im Sprachgebrauch die Grenzen verwischen? Analoges gilt dann auch für syntaktische Stileigentümlichkeiten und rhetorische Techniken des Dtn, z. B. für die Siebenergruppen vor allem von theologischen Zentralwörtern oder Schlüsselaussagen, die thematisch Zusammengehörendes sowohl innerhalb einer Perikope als auch über große Bereiche des Buches hin vernetzen.

c) In 12–26 gibt es mehrere Formen von Gesetzen: apodiktische, kasuistische Gesetze, Gesetze mit historisierender Gebotseinleitung (z. B. 12,29–31) oder mit bestimmten Formeln (wie „Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen“, z. B. 13,6). Gehörten sie ursprünglich zu getrennten, in sich formal einheitlichen Gesetzessammlungen, oder konnten solche Formen schon immer gemischt auftreten?

d) Gibt es unterschiedliche theologische Ansätze, unterschiedliche „Kerygmata“ (Botschaften), an deren Unvereinbarkeit man verschiedene Schichten erkennen kann? Aber wie weit lassen sich überhaupt nur vom Inhalt her historische und gesellschaftliche Zuordnungen machen?

e) Gehören alle Gesetze, die unter dem Vorzeichen der spezifisch dtn Kultzentralisation stehen, und solche, die eine „Parallele“ im älteren Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) haben, schon deshalb zum Grundbestand? Musste nicht auch sekundär eingefügtes Rechtsmaterial in Einklang mit der Zentralisationsforderung stehen (z. B. die Ämtergesetze in 17f) und können nicht auch Gesetze des Bundesbuches (z. B. in 15* und 21–24) erst durch eine spätere, etwa vorwiegend juristisch orientierte Redaktion novelliert in den dtn Kodex eingebracht worden sein (s. u. 2.44)?

(2) Wenn man Theorien über das Werden des Dtn entwirft, kann man auch mit verschiedenen Ausgangsvorstellungen arbeiten.

a) Soll man mit relativ wenigen Redaktionsprozessen rechnen oder mit einem langen und kom- 161 plizierten Erweiterungs- und Kommentierungsprozess? Vorauszusetzen ist, dass es nur eine einzige Rolle oder höchstens ein paar Exemplare gab, die den autorisierten Text enthielten. Weil aber jede Änderung die Anfertigung einer neuen Rolle erforderte, sind solchen Überarbeitungshypothesen von der Praxis her enge Grenzen gesetzt.

b) Viel hängt davon ab, in welchem Ausmaß man bei Literatur vom Typ des Dtn logische Geschlossenheit erwartet und in welchem Ausmaß man schon bei der Abfassung mit einer juristisch-interpretativen Auflösung anscheinender Widersprüche rechnen darf, die allein durch die systematische Komposition zum Ausdruck kommt. Die Vielfalt literar- und redaktionskritischer Hypothesen deutet darauf hin, dass die dem Dtn eigene Logik und Pragmatik noch nicht voll begriffen wurden.

c) Waren einmal mehrere Parallelausgaben des dtn Gesetzes im Umlauf, die nachträglich vereinigt wurden (z. B. J. WELLHAUSEN [1–4.12–26.27 und 5–11.12–26.28–30], C. STEUERNAGEL)? Wurden verschiedenartige Textblöcke redaktionell zusammengebaut (so z. B. M. NOTH [4,44–30,20 wurden vom Dtr, dem Verfasser des DtrG, um 1–3 (4) und 31*.34* erweitert])? Gab es einen Grundtext, zu dem dann immer neue Erweiterungen und Legalinterpretationen hinzugefügt wurden (an derartige „Fortschreibungen“ wird heute oft gedacht)? Müssen beim Fortschreibungsmodell der Grundtext bzw. andere Vorstadien erhalten geblieben sein (nach N. LOHFINK lässt sich das z. B. in Dtn 12 zumindest nicht nachweisen)? Konnte ein Text nicht auch einfach ersetzt worden oder der frühere Text durch Auslassungen, Umstellungen und Neuformulierungen für uns unrekonstruierbar geworden sein (z. B. 15,12–18)? Ferner: Können Fortschreibungen nicht auch ohne Produktion inhaltlicher Unterschiede, Spannungen, Widersprüche, syntaktischer und stilistischer Unterschiede vorgenommen werden, sodass sich Vorstufen rein textimmanent nicht mehr rekonstruieren lassen? Die Grundtypen der Pentateuchmodelle kehren also wieder: Urkunden-, Fragmenten- und Ergänzungshypothese.

Zu den methodologischen Unsicherheiten kommt nicht selten eine textkritische Sorglosigkeit der Exegeten gegenüber Septuaginta und Samaritanus. Deren Unterschiede erhalten durch die Qumranfunde heute ein viel größeres Gewicht. Ferner gibt es noch zu wenige synchrone Untersuchungen der Rechtstexte des Dtn. Sie sind gefordert, da das Dtn offenbar in einer Art Schlussbearbeitung juristisch systematisiert und sprachlich poliert worden ist.

2.2Sprache des Buches und Milieu seiner Verfasser

Die Sprache des Dtn ist hochrhetorische Kunstprosa. Sie liebt den wogenden Rhythmus weit gespannter, eingeschachtelte Nebensätze überbauender Perioden, kennt eine Art Prosametrum, gliedert den Text rhetorisch in „Sprechzeilen“ (die u. a. noch von den Pausalformen einer vormasoretischen Lesetradition bezeugt werden), arbeitet mit aufeinander abgestimmten Wortmengen, geprägten Wendungen und häufigen Assonanzen. So entsteht ein Eindruck der Harmonie und Feierlichkeit von suggestiver Kraft. Stichwortwiederholungen und Leitwortsysteme strukturieren die einzelnen Textkomplexe und verklammern sie mit anderen. Motivationen und Begründungen werben um den Hörer, es wird höchst rational argumentiert, die zentralen theologischen Themen werden durch regelmäßig wiederkehrende Formeln im Bewusstsein präsent gehalten und vor allem durch eine Siebenzahl von Belegen bzw. ihr Vielfaches unterstrichen. Die Formeln spielen oft auf ältere und wichtige Texte an, setzen sie als bekannt voraus und rufen sie wohl als Ganze in Erinnerung. Zu den Vorstufen der dtn Formelsprache gehö- 162 ren auch viele der sogenannten „dtr“ [deuteronomistischen] Zusätze in Gen bis Num. Das Dtn selbst enthält Rückverweise auf solche Texte. Die „dtr“ Zusätze imitieren also nicht in jedem Fall – wie man oft annimmt – in der Spätzeit die Redeweise des Dtn, sondern sind zum Teil „proto-“ bzw. „prä-dtn“ [proto- bzw. prä-deuteronomisch]. Man müsste also bei Texten außerhalb des Dtn mit der Bezeichnung „dtr“ und mit ihrer Datierung aufgrund sprachlicher Kriterien zurückhaltender sein.

Verschiedenes deutet darauf hin, dass die Verfasser des Dtn in seiner vorexilischen Gestalt in den literarisch wie theologisch und juristisch kompetenten Kreisen der Jerusalemer Führungselite zu suchen sind. Sie gehörten einer Reformbewegung an, die nicht nur Unabhängigkeit von Assur anstrebte, sondern Israel auch zu seiner ursprünglichen Identität zurückführen wollte. So übermittelten der Hauptpriester Hilkija und der Kanzler Schafan, die beiden wichtigsten Beamten, das „Tora-Buch“ (2 Kön 22f) an König Joschija; später war der Prophet Jeremia mit der Schafanfamilie (vor allem mit Gedalja) verbunden. Ferner zeigt die Prosa des Dtn auch Bezüge zum höfischen Redestil und zur Sprache der Weisheitsliteratur, wie sie wohl vor allem in der höheren Beamtenschaft gepflegt wurde. Beziehungen zu einer „Weisheitsschule“ oder gar einem „Stand“ von Weisen lassen sich daraus aber nicht ableiten. Dazu kommt eine inhaltliche wie formale Nähe zur Rhetorik neuassyrischer Rechtstexte, vor allem von Vertragstexten (s. u. 2.72). Diese wurden oft so formuliert, dass sie in öffentlichen Zeremonien vorgetragen werden und auf die Zuhörer wirken konnten. Auch die älteren Teile des Dtn dürften (wie sie es beanspruchen) wörtlich fixierte Rechtsdokumente und liturgische Texte zugleich gewesen sein, die in der ausgehenden Königszeit in einer Volksversammlung wahrscheinlich im Jerusalemer Tempel vorgetragen werden sollten. Spätere Schichten des Dtn (z. B. 4,1–40) mögen zu rein literarischen Zwecken verfasst worden sein. Sie haben aber den vorgegebenen Stil des Dtn weitergepflegt. Einer Gattung „(levitische) Predigt“ lässt er sich nicht zuordnen.

2.3Innerbiblisch auffindbare Voraussetzungen des Dtn

Das Dtn setzt von Anfang an das „Bundesbuch“ (und zwar auch in dessen scheinbar dtr Schichten) oder eine damit verwandte Gesetzessammlung voraus. Das zeigt das Verhältnis des Altargesetzes Ex 20,24–26 zu den ältesten Texten in Dtn 12. Die eigentliche Reform des Bundesbuchrechts erfolgt aber erst in 15* und 19–25, die von der spätesten Redaktion des Dtn stammen (s. 2.44). Vorausgesetzt wird ferner eine Fassung des „Privilegrechts JHWHs“ – d. h. Rechtsbestimmungen, die Verpflichtungen gegenüber JHWH regeln –, die oft als „kultischer Dekalog“ bezeichnet wurde und in Ex 34,*10–26 am besten überliefert ist. Sie ist (natürlich in einer uns nicht mehr erhaltenen Variante) die Grundlage der ältesten Schicht: der Festgesetze von 16 und damit wohl auch der (teilweise späteren) „Zentralisationsgesetze“. Die Bezüge zu Ex 34 sind – im Gegensatz zu denen zum Bundesbuch – auf 12,2–16,17 und 26,1–11 beschränkt. Darüber hinaus dürfte das Dtn auch auf sonst nicht mehr erhaltene Gesetzessammlungen zurückgreifen. Eine Vorgabe von höchster Autorität für das Dtn bildet der sog. „ethische Dekalog“ (in 5,6–21 zitiert). Er trat erst zu einem bestimmten Zeitpunkt in den Horizont des Dtn, prägte dann aber Theologie, Aufbau und Sprache des Dtn entscheidend. 163

So sind 4,15–20; 6,10–15; 7,8–11; 8,7–20; 13,2–19 paraphrasierende Kommentare des ersten Gebots aus verschiedenen Situationen und Zeiten. 5.9f und 28,69 entwickeln die Theorie, dass JHWH beim Bundesschluss am Horeb nur den Dekalog verkündet hat, während er die einzelnen Gesetze dem Mose allein mitteilte. Sie enthalten Einzelrecht zu fast allen Dekalogsgeboten. In einem späten Redaktionsstadium wurde der Dekalogsaufbau sogar zum Dispositionsprinzip für das dtn Gesetz (s. u.). Auch was später die Propheten Israel als JHWH-Wort mitzuteilen haben, wird nach 18,16–18 nur weitere Dekalogsauslegung sein. Sprachlich entstammen einige der häufigsten stereotypen Wendungen des Dtn dem Dekalogsanfang. Die Fassung des Dekalogs, die jetzt in 5,6–21 zitiert wird, dürfte allerdings textgeschichtlich sehr jung sein: Sie ist um den Sabbat herum aufgebaut, der im Dtn sonst jedoch keine Rolle spielt.

Vorausgesetzt sind in allen Schichten des Dtn auch die alten Erzählungen über Exodus, Sinai, Wüstenwanderung und Landnahme, in jüngeren Schichten u. a. die Königs- und Prophetengeschichten, wenn auch natürlich nicht notwendig in der uns jetzt vorliegenden Gestalt.

Nicht zuletzt haben auch Prophetenworte, vor allem des Hosea, Amos, Jesaja und Jeremia, das Dtn beeinflusst.

2.4Entwurf einer literarischen Geschichte des Dtn (nach G. Braulik u. a.)

2.41 Das hiskijanische Ur-Deuteronomium und die joschijanische Kultreform

Vom Dtn wird man zum ersten Mal reden können, als das Privilegrecht mit der Forderung verbunden wurde, den Opferkult für JHWH auf einen einzigen Ort, die „Stätte, die JHWH auswählen wird“, zu beschränken. Diese Formel dürfte aus der Altarformel Ex 20,24 entwickelt worden sein und von Anfang an Jerusalem, das schon früher als „erwählt“ galt, (genauer: seinen Tempel) gemeint haben. Zwar wird die Einzigkeit des Kultorts im Dtn nirgends mit der Alleinverehrung JHWHs oder der Einzigkeit Israels begründet. Dennoch verband das Dtn von Anfang an die Kulteinheit mit der Forderung der Kultreinheit, forderte also die ausschließliche Verehrung JHWHs (6,4f) an der einen, von ihm erwählten Stätte (12*). Von der „Kultzentralisation“ handeln im Endtext des Dtn jetzt folgende Gesetze: 12,4–7.8–12.13–19.20–28; 14,22–27; 15,19–23; 16,1–8.9–12.13–15.16f; 17,8–13; 18,1–8; 26,1–11; 31,9–13. Der Grundbestand (vor allem in 12*) dürfte eine Opferkultzentralisation unter Hiskija von Juda (725–697 v. Chr.) reflektieren und nachträglich legitimieren.

Für die Historizität der Kultreform Hiskijas sprechen neben 2 Kön 18,4 (insbesondere die Beseitigung des auf Mose zurückgeführten Nechuschtan [Kupferschlange]) und 22 auch die neubewerteten archäologischen Befunde von Arad und Tell es-Sebaʿ (zur Neuaufarbeitung der Grabungen s. Z. HERZOG, Perspectives on Southern Israel’s Cult Centralization. Arad and Beersheva, in: R. G. Kratz – H. Spieckermann 2010, 169–199). Die sorgsame „Beerdigung“ des JHWH-Heiligtums in Arad und die Zerlegung wie Verbauung des Hörneraltars auf Tell es-Sebaʿ können nur im ausgehenden 8. Jh. angesetzt werden. Sie gehen nicht auf Eroberungen – z. B. Sanheribs – zurück und sind am besten mit der Kultreform Hiskijas zu erklären. Die Kultstätten in Arad und Tell es-Sebaʿ wurden im 7. Jh. nicht wiederhergestellt. [Auch die Kultstätte von Tel Moza (Jos 18,26) 7 km nordwestlich von Jerusalem wurde im 8. Jh. v. Chr. nicht mehr für den Opferkult genutzt. Die Kultgefäße, Figurinen und Altarreste wurden mit einer dicken Erdschicht bedeckt.] Das Aufgeben regionaler Heiligtümer spiegelt die zunehmende kultische und politische Zentralisierung Judas im 8.–6. Jh. in Jerusalem. Dieses historische Faktum hängt mit militärischen Interventionen der Großmächte und den wirtschaftlichen Ent- 164 wicklungen der Zeit zusammen (vgl. M. PIETSCH 339–342). Hiskija suchte die Landbevölkerung vor einem zu erwartenden assyrischen Angriff, dem man in offener Feldschlacht nicht widerstehen konnte, zu schützen und siedelte sie in die befestigten Städte um. Dazu musste die feste Bindung der bäuerlichen Großfamilie an ihren Boden und den Kult ihrer Ahnen aufgelöst werden. Auch diesem Zweck diente das Zentralisationsanliegen (B. HALPERN). Ferner dürfte Hiskija mit diesen kultpolitischen Aktionen versucht haben, die zahlreichen Einwanderer aus dem ehemaligen Nordreich von einer Rückkehr zum Tempel in Bet-El abzuhalten und an Jerusalem zu binden (I. FINKELSTEIN – N. A. SILBERMAN). Von einem damit verbundenen sozialen Anliegen erzählt die dtr Geschichtsschreibung nichts. Eine zumindest faktische Kultzentralisation der Hiskija-Zeit spiegelt sich auch in der großen Inschrift von Hirbet Bet Layy (BLay1) 8 km östlich von Lachisch in einem Eisen-II-zeitlichen Kammergrab: „JHWH (ist) der Gott der ganzen Erde, die Berge Judas (gehören) dem Gott Jerusalems.“ JHWH ist demnach als höchster Gott, d. h. als Weltgott, zugleich Territorialgott Judas, also Nationalgott, und mit einem wohl neuen Titel der Stadtgott Jerusalems (die Bezeichnung „Gott Jerusalems“ findet sich nur noch 2 Chr 32,19 im Zusammenhang des Sanherib-Feldzugs 701 v. Chr.). Dass er auch als persönlicher Schutzgott des Einzelnen handelt, zeigen die benachbarten Inschriftenfragmente (BLay 3–4). „Die religionsgeschichtliche Realität, dass Jhwh nach 701 einzig noch in Jerusalem einen Tempel besitzt und sich also de facto eine Kultzentralisation angebahnt hat, erfährt hier eine prononcierte theologische Deutung, indem JHWH gleichsam wesenhaft als Gott Jerusalems konzipiert wird.“ (M. LEUENBERGER, Jhwh, „der Gott Jerusalems“ [Inschrift aus Hirbet Bet Layy 1,2]. Konturen der Jerusalemer Tempeltheologie aus religions- und theologiegeschichtlicher Perspektive: EvTh 74, 2014, 245–260, 257f).

Auch Joschija von Juda (640–610 v. Chr.) hat Kultstätten beseitigt (2 Kön 23,4–20). Historisch und sachlich brauchte er dazu keine Legitimation durch einen Buchfund oder Bundesschluss, wie dies 2 Kön 22f erzählerisch (im Gegensatz zu 2 Chr 34 mit der vorausgehenden Entfernung aller Fremdkulte) zunächst nahelegt. Hatten doch schon die judäischen Könige Asa (1 Kön 15,12–14), Joschafat (1 Kön 22,47) und Joasch (2 Kön 11,17f) Götterbilder beseitigt.

Literargeschichtlich lassen sich die Maßstäbe der Kulteinheit und des ersten Gebots in den Königsbeurteilungen nicht diachron scheiden. Ihre äußerst nuancierten Auf- und Abwertungen der Könige des Nord- und Südreichs sind auf Informationen abgestimmt, die offensichtlich an vorgegebenes Material bzw. geschichtliche Erinnerungen gebunden waren. Das gilt auch für die Darstellung der beiden Reformer Hiskija und Joschija. Denn eine bloß literarische Fiktion nach der Katastrophe Jerusalems hätte nur Plausibilitätsprobleme geschaffen, die sich mit dem dazwischen geschobenen Anti-Reformer Manasse nicht ausgleichen ließen (s. E. BLUM, Das exilische deuteronomistische Geschichtswerk, in: H.-J. Stipp 2011, 269–295; ausführlich H.-J. STIPP, Ende bei Joschija, in: a. a. O. 225–267). Zur methodischen Diskussion der Konzepte „Text“ und „Artefakt“ am Beispiel von 2 Kön 22f s. J. SCHAPER, Auf der Suche nach dem alten Israel?: ZAW 118, 2006, 1–21; zur historischen Plausibilität der Kultreform Joschijas s. zuletzt umfassend M. PIETSCH. Die neuassyrisch imperiale Herrschaft dürfte vor allem eine pragmatische, Assurzentrierte ökonomische Politik mit der Devise „gehorchen und zahlen“ betrieben haben, keine „Assyrisierung“ (A. BERLEJUNG, The Assyrians in the West. Assyrianization, Colonialism, Indifference, or Development Policy?, in: M. Nissinen (Hg.), Congress Volume Helsinki 2010 [VT.S 148] Leiden 2012, 21–60). Die Beschränkung aller Opferfeiern und Feste auf das Jerusalemer Heiligtum lässt wenig antiassyrische Tendenzen erkennen und diente mit der Beseitigung aller fremdkultischen Elemente vor allem der eigenen Identität als Volk JHWHs (Dtn 6,4). Das mit der joschijanischen Kultreform verbundene Streben nach politischer Autonomie wurde aufgrund des 165 Schwindens assyrischer Macht über die westlichen Provinzen und Vasallenstaaten möglich. Auch religionsgeschichtlich passen Joschijas Reformmaßnahmen nur in den Kontext des 7. Jh.s und wären in exilischer oder nachexilischer Periode nicht erklärbar. Die Beschränkung der kultischen Verehrung des „Reichsgottes“ auf ein einziges Heiligtum ist – wie die Sonderstellung des Assur-Tempels in der Stadt Assur als des einzigen Ortes der kultischen Verehrung des Königsgottes Assur im assyrischen Reich belegt – nicht ohne Analogie. Dennoch ergab sich das kultpolitische Programm Joschijas aus der spezifischen historischen Konstellation seiner Zeit. Zur Vernichtung der Heiligtümer anderer Götter (zu denen dann auch synkretistisch gewordene JHWH-Heiligtümer/Kulthöhen gerechnet wurden) konnte sich Joschija außerdem auf eine privilegrechtliche Vorschrift berufen (vgl. Ex 34,13; 23,24). Nicht zuletzt ist „ein Pascha zu Ehren JHWHs“ im Tempel von Jerusalem (2 Kön 23,21–23; vgl. 2 Chr 35) unvorstellbar, solange dort fremde oder synkretistische Kulte praktiziert wurden. Onomastik (bezüglich der theophoren Elemente der Eigennamen) und Epigraphik (z. B. der Lachisch-Ostraka) bezeugen für die letzte Epoche des vorexilischen Juda ein Glaubensbewusstsein, das keinen anderen Gott als JHWH kennt (O. KEEL – C. UEHLINGER, Göttinnen, Götter und Gottessymbole, Freiburg 2012, 406–429).

2.42 Das joschijanische Bundesdokument

Joschija hat 622 v. Chr. das Gottesverhältnis Israels vor allem in Anlehnung an assyrische Loyalitätseide als „Bund“, d. h. als Vertrag, gedeutet (s. dazu 2.72) und das (damalige) Dtn zur Grundlage einer eidlichen Selbstverpflichtung gemacht. In 2 Kön 22f ist ein Text verarbeitet, der wohl noch zu Lebzeiten Joschijas abgefasst wurde (22,3–12.13*.14.15–20*; 23,1–3.21–23) und trotz aller Stilisierung im Kern historisch verlässlich ist. Ihm ist zu entnehmen, dass „das“ Tora-Buch, also ein schon zuvor bekanntes offizielles Dokument, im Tempel wiedergefunden wurde. Das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33) kommt dafür nicht in Frage, weil in ihm z. B. die vom Dtn vorausgesetzte Kultzentralisation und zentralisierte Paschafeier fehlen. Auch wird es nirgends als Tora-Schrift bezeichnet. Vielmehr handelte es sich um eine nicht allzu umfangreiche Vorstufe der dtn Tora, die wahrscheinlich mit 6,4f einsetzte (vgl. 2 Kön 23,3 und 23,25*), nach wenigen paränetischen Texten vor allem Kultgesetze und Segen-Fluch-Sanktionen enthalten haben dürfte, jedoch noch keine Sozialgesetze und den Staat betreffenden „Verfassungsbestimmungen“. Dieses literarisch selbständige Ur-Dtn war vermutlich als JHWH-Gesetz (s. Dtn 6,17; 28,45; vgl. 2 Kön 22,19 „ich habe gesprochen“) und noch nicht als von Mose vorgetragenes Gesetz formuliert. Es war ein Gesetz ohne narrative Einbettung. Zu seiner Beobachtung verpflichteten sich Joschija und das Volk in einer Eideszeremonie. So wurde das Dtn (spätestens hier) zur „Bundes-/Vertragsurkunde“ (2 Kön 23,1–3; vgl. V.3 mit Dtn 6,17). Die neue Ordnung wurde durch ein Pascha nach dtn Anweisung (Dtn 16,1–8) gefeiert (2 Kön 23,21–23). Die in 2 Kön 23,4–20 erzählerisch dazwischengeschobene Kultreinigung Joschijas ist vom Torafund sachlogisch unabhängig und begann zeitlich höchstwahrscheinlich schon davor (s. o.). Ihrer vorexilischen Überlieferung zufolge dürften nicht nur synkretistische Bestandteile des JHWH-Kults beseitigt, sondern auch zum Großteil fremde Kulte abgeschafft worden sein. Ein Prophetenwort war dazu nicht erforderlich. Die Delegation, die Joschija zur Prophetin Hulda schickte, sollte wohl ihre Fürsprache für König und Volk erbitten: Gott möge seinen Zorn, der wegen des Ungehorsams der Väter (2 Kön 22,13) 166 entbrannt war, nicht strafend verwirklichen (vgl. ähnliche Delegationen von Hiskija in 2 Kön 19,2–4 und Zidkija Jer 21,1f samt 37,3).

2.43 Die joschijanische Landeroberungserzählung

Als sich Assur aus seinen westlichen Gebieten zurückziehen musste, konnte Joschija an eine Ausdehnung seiner Herrschaft nach Westen und Norden denken. Ihm muss die Wiedergewinnung des Gebietes des alten Zwölfstämmevolks vorgeschwebt sein. Als propagandistische Vorbereitung dieser Politik und als das vielleicht wichtigste Werk der aus der nationalen und kultischen Restaurationsbewegung stammenden Literaturproduktion entstand eine „joschijanische Landeroberungserzählung“ (N. LOHFINK, G. BRAULIK), die später in Dtn 1–Jos 22 aufgegangen ist. Man kann ihren Textbereich u. a. anhand einer ihr eigenen, geprägten Terminologie, verschiedener Handlungsreihen mit gleichbleibendem Verbalgerüst, bestimmter Kleinformen und großräumiger Aussagengefüge rekonstruieren. Diese Darstellung verbindet die Erzählung darüber, was vor und bei der Landeroberung geschah, mit dem, was das Leben im Land bestimmen sollte. Die Geschichte begründete, als sie verfasst wurde, den territorialen Anspruch Joschijas auf das assyrische Provinzgebiet im ehemaligen Nordreichgebiet als Land, das Israel durch königlich-göttliche Übereignung schon längst gehörte. Analog zur Erzählung über die Landnahmezeit machten auch die Rückblenden auf die Horebereignisse in 5 und 9f das dtn Gesetz als Gesellschaftsordnung für das Leben im Verheißungsland in der Urzeit Israels fest. Dazu wurde die Urkunde von 622 jetzt als Moserede beim Moabbund (in Zuordnung zum Horebbund) stilisiert.

Andere literarhistorische Modelle rechnen mit einer erst späteren Verbindung von Dtn und Jos (bzw. deren Vorstufen) und ihrer Einbindung in den größeren Kontext eines Hexa- oder Enneateuch. Eine entscheidende Rolle spielt dabei, wie die Textbezüge von Dtn 1–3 zum vorausgehenden Erzählzusammenhang bewertet werden. Am plausibelsten erscheint noch immer, dass die Kapitel zwar die Kenntnis der alten Tetrateucherzählungen, z. B. der Kundschaftergeschichte in Num 13f*, voraussetzen, aber den autarken Anfang eines literarisch eigenständigen Werkes bilden. Dafür sprechen schon die Auswahl, Anordnung und Wertung des in Num bereits breit Erzählten durch das Dtn: Mose nimmt die Geschichte als Ich-Erzähler unter dem Aspekt seiner Schuld auf und formuliert sie, weil ihm Gott das Betreten des Verheißungslandes versagt hat, im Blick auf die Einsetzung Josuas. Das heißt, Mose resümiert in Kapitel 1–3, was im narrativen Gesamtvorgang des Dtn und für seine rhetorische Zielsetzung unentbehrlich ist. Um das Dtn als Fortführung des Tetrateuch zu präsentieren, musste deshalb später noch eigens der Buchanfang 1,1–5 im Kontext der Pentateuchredaktion neu geschaffen werden.

2.44 Die exilische/frühnachexilische Überarbeitung

Ägypten hatte bereits unter Pharao Psammetich I. (664–610 v. Chr.) praktisch die Vorherrschaft über die assyrischen Provinzen in der Levante übernommen. Joschija scheint das Machtvakuum im Bergland überschätzt und den Rechtszustand unterschätzt zu haben. Pharao Necho II. (610–595 v. Chr.) interpretierte seine Aktionen wahrscheinlich als Treubruch, bestellte ihn als 167 Vasallen nach Megiddo und ließ ihn dort – womit Joschija offenbar nicht gerechnet hatte – 610 v. Chr. als illoyal hinrichten. Joschijas Tod beendete alle seine Projekte. Seine Nachfolger führten die religiöse Reform nicht weiter. 586 v. Chr. erlag Juda dem Ansturm der Neubabylonier. Jerusalem samt dem Tempel wurde zerstört, die Bevölkerung ins babylonische Exil deportiert. Nur das Gebiet von Benjamin nördlich von Jerusalem und das Gebiet zwischen Ramat Raḥel und Bet-Zur südlich der Stadt dürfte davon nicht betroffen worden sein (O. LIPSCHITS, The Fall and Rise of Jerusalem, Winona Lake 2005, 206–257). Nach J. VERMEYLEN haben die Autoren/Redaktoren des DtrG wahrscheinlich in Palästina, nämlich in Mizpa, gearbeitet.

Die dtr Literatur erhielt dadurch fast automatisch ganz neue Akzente: Israel selbst war an der Katastrophe schuld, es hatte den Ausschließlichkeitsanspruch JHWHs auf sein Volk missachtet und nicht nach der im Bund übernommenen Sozialordnung gelebt. Dies wird in den exilischen Neubearbeitungen des DtrG weiter durchdacht und hinterlässt tiefe Spuren im Dtn.

Israels Schuld am Verlust seines Landes wird z. B. in 29,21–27 bewusst gemacht. Bearbeitungsschichten der Exils- oder frühen Nachexilszeit in 4,1–40; *7–9 und *29–30 gelangen zu einer veränderten Bundestheologie, die die Priesterschrift (Pg) bereits voraussetzt. Sie bindet, zum Teil unter Rückgriff auf die Tradition vom Bund mit Abraham und den Erzvätern (vgl. Gen 15,18; 17), JHWHs Bundeszusage nicht mehr an den Gehorsam Israels (4,31; 7,9; 9,5; 30,6). Die Wüsten-Wunder-Erfahrung wird zum Paradigma des Lebens im Land (8; 29,4–6a). Über allem steht reine Gnade.

So konnte man auch neu das zukünftige Leben im wiedergewonnenen Verheißungsland bedenken. In Übereinstimmung mit der dtr Theorie des Königtums in 2 Sam 8 und 12 wurde der gewaltenteilige Verfassungsentwurf von Dtn 16,18–18,22 formuliert. Diese von der Geschichtserfahrung Israels geprägte Realutopie sicherte auch dem freien Charisma im „Propheten wie Mose“ (18,15.18) seinen institutionellen Ort. Jeremia, aber auch Hulda entsprechen diesem Prophetenbild. Konkrete Bedürfnisse der exilischen und nachexilischen Gemeinden führten in 15* und 19–25 zu einer massiven Erweiterung des legislativen Materials. Diese Gesetze stammen mindestens teilweise aus alten Rechtstraditionen, u. a. aus dem Bundesbuch, ferner wahrscheinlich aus dem Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26), das zuvor seinerseits Gesetze des älteren Dtn rezipiert hatte. Durch diese späten Kapitel wird das Dtn eigentlich erst im vollen Sinn zu einem Gesetzbuch. Ob die heimgekehrte Gola es tatsächlich als geltendes Recht betrachtet hat, bleibt allerdings unsicher. Der dtn Kodex wird im Zusammenhang mit der Redigierung von 19–25 der Abfolge der Gebote des Dekalogs entsprechend systematisiert. Deshalb gibt es zwischen bereits vorausgesetzten Kap. 12–18 und dem Dekalog unterschiedlich klare und eher globale Korrespondenzen (u. a. mit dem Dekalogsverweis „wie JHWH, dein Gott, dir befohlen hat“ in 5,12 und 16 auf die das Sabbat- bzw. Elterngebot konkretisierenden Gesetze 14,22–16,17 bzw. 16,18–18,22). Als literarische „Vorbilder“ dieser „dekalogischen Redaktion“ könnten der Gemeindekatechismus in Lev 19 und die katechismusartigen Reihen in Ez 18 gedient haben. [Vielleicht kann man auch die Abweichungen zwischen den Dekalogen in Ex 20 und Dtn 5 nur dann angemessen verstehen, wenn man Dtn 5 mit seiner Auslegung in 12–26 zusammenliest (vgl. B. KILCHÖR).] Die folgende Tabelle gliedert den dtn Kodex nach seiner (vereinfachten) Wachstumsgeschichte in drei Gesetzesblöcke (12,2–16,17; 16,18–18,22; 19,1–25,16) und nennt das Thema der Gesetzesgruppen, unter dem sie die Dekalogsgebote auslegen. 168

Ebenfalls in nachexilischer Zeit ist mit der Einfügung von Dtn 27 (ohne V. 1 und 9f, die zur joschijanischen Bundesurkunde gehören) und 11,29f zu rechnen. Vielleicht hängt sie mit zeitweisen Annäherungen zwischen Jerusalem und Samaria zusammen, die zwar nicht von Dauer waren, aber ihre Spuren hinterließen. Auch Ansprüche der Leviten fanden jetzt ihren Niederschlag (z. B. 10,8f).

2.45 Das Deuteronomium in der Pentateuchredaktion

Spätestens zu Beginn des 4. Jh.s v. Chr. wurde das Dtn von den ihm folgenden Büchern (Vertretern der Hexateuchhypothese zufolge nur von Jos) redaktionell gelöst und markierte nun als fünftes Buch des Pentateuch dessen Abschluss. Die meistens der Priesterschrift zugerechneten oder zumindest davon beeinflussten Traditionen über den Tod Moses in 32,48–52 und 34,1a*.7–9 wurden dabei auf den neuen dtn Zusammenhang zugeschnitten, ganz neu kamen 1,1–5 und das Mose-Epitaph 34,10–12 hinzu. Auch der alte, später überarbeitete „Mosesegen“ (Dtn 33) wurde wohl erst jetzt als Gegenstück zum „Jakobsegen“ (Gen 49) eingesetzt. Zugleich mit Dtn 1,1–5 und 33 wurde auch das umfassende Überschriftensystem geschaffen. 1,1–5 markiert mit den „Worten Moses“ gegenüber 169 den „Geboten und Rechtsentscheiden JHWHs“ der Buchabgrenzung in Num 36,13 einen Neueinsatz. Die Passage ersetzt jetzt den ursprünglichen Buchbeginn des Dtn und dient als Ansage der ersten Moserede 1,6–4,40, weitet von 1,3 an den Blick auf die Mosetora 5–28 und ist als Ganzes zugleich Teil einer weitausgreifenden Rahmung (vgl. z. B. 1,1 mit 32,45 [„diese Worte“] und 34,12 [„vor ganz Israel“]; ferner 1,1b.2 mit 33,2). Tiefe Eingriffe erlaubte man sich nicht mehr: Erzählerische und juristische Wiederholungen oder Widersprüche zwischen Ex–Num und Dtn wurden nicht harmonisiert. Bücher wie Ijob, Spr und Rut bezeugen die hohe „kanonische“ Autorität des Dtn, die jedoch eine kritische (jetzt innerbiblische) Auseinandersetzung durchaus zuließ.

2.5Zur Rechtshermeneutik des Deuteronomiums im Pentateuch

Rechtshermeneutisch bleibt festzuhalten, dass sich der Pentateuch nicht als Kodifizierung von Recht, sondern als Erzählung präsentiert. Er vereinigte in kritischer Stunde das „kulturelle Gedächtnis“ Israels, um durch die archivarische Rettung der Tradition die im babylonischen Exil und in der frühen nachexilischen Zeit höchst gefährdete Identität des Volkes zu bewahren. Später wurde diese „symbolische Sinnwelt“ Israels auch durch einen rituell geordneten, periodischen öffentlichen Vortrag, auf den schon das Dtn explizit hingeordnet war (31,10–13), gesichert.

Die Rechtswelt des Pentateuch bildete damals eine ideelle Gegenwelt zur politischen, gesellschaftlichen und familiären Alltagswelt. Sie beanspruchte kaum von Anfang an, die Rechtsprechung verbindlich zu regulieren, obwohl sie das Gewohnheitsrecht und die forensische Praxis beeinflusst haben mag. Der Pentateuch selbst sieht zwei seiner Gesetzeskomplexe als verpflichtend an: den Dekalog, den Gott ohne Geltungsbegrenzung in Zeit und Raum promulgiert hat, und das Dtn für Israel, solange es in seinem Land ist.

Nur vom Dtn sagt der Pentateuch dann auch (zumindest indirekt), dass sein Recht nach der Heimkehr aus dem Exil weitergelten wird (30,8). Außerdem ist das Dtn im Ablauf der vom Pentateuch erzählten Geschichte der letzte unter den beschworenen Gesetzeskodizes. Es führt das Bundesbuch und das Heiligkeitsgesetz weiter. In der Tat erweist sich das Dtn als das Gesetzeskorpus des Pentateuch, das von der restlichen Literatur des AT am intensivsten rezipiert und später schriftgelehrt diskutiert wurde. Es versteht sich im Rahmen des Pentateuch als Zusammenfassung aller vorausgehenden Bundestexte und göttlichen Gesetze, die zwischen Horeb und Moab erlassen wurden und hat im Zweifelsfall auch das letzte Wort. Doch strebt das Dtn keine Vollständigkeit an. Seine Forderungen sind so formuliert, dass sie sich mit dem inter-textuell anvisierten und uminterpretierten älteren Bundesbuch zu einer rechtssystematischen Einheit zusammenfügen. Analoges dürfte auch für die Beziehung zwischen dem Dtn und dem Heiligkeitsgesetz, vielleicht auch für vieles andere Rechtsmaterial des Pentateuch, gelten. Wie man mit den verbleibenden Spannungen und Widersprüchen, besonders solchen im kultischen Recht, umgeht, muss dann eine Rechtshermeneutik von außen festlegen. Ihre geschichtlich am meisten ausgeprägte Form wurde zweifellos von der jüdischen Halacha entwickelt. 170

2.6Zur Textgeschichte und frühen Nachgeschichte

[Der sogenannte Aristeas-Brief (2. Jh. v. Chr.) bezeugt die Meinung, dass es in Jerusalem eine autoritative Tora-Handschrift gegeben hat, die der griechischen Übersetzung als Vorlage diente. Der Masorentext (M) und teilweise auch der Samaritanische Pentateuch (Sam) weisen ihr gegenüber bewusst eingetragene inhaltliche Textkorrekturen auf. Diese von öffentlicher und bevollmächtigter Hand veranlassten Leitvarianten beanspruchten, die älteren, als falsch erachteten Formen zu ersetzen und einen anderen Textstandard, eine neue Ausgabe, zu schaffen. Konkret bildete die hebräische Vorlage der ursprünglichen Septuaginta (G) in den drei letzten vorchristlichen Jahrhunderten die alte autorisierte Textform, die der Vorläufer des M literarisch umgestaltet und fortentwickelt hat. (A. SCHENKER, Was heißt es, den hebräischen mit dem griechischen Bibeltext zu vergleichen?, in: B. Neuschafer – R. G. Kratz [Hg.], Die Göttinger Septuaginta: ein editorisches Jahrhundertprojekt [MSU 30] Berlin – New York 2013, 155–184). Die revidierte EÜ hält sich an den im Judentum kanonisch gewordenen M. Von den rund hundert größtenteils hebräischen Pentateuch-Handschriften aus der judäischen Wüste entfallen 34 auf das Dtn. Das ist die höchste Zahl von Textbelegen für eine Pentateuchschrift.]

Die wichtigsten Stellen, wo andere Textzeugen als M den älteren Text des Dtn haben, sind die Formel „die Stätte, die JHWH auswählen wird“ (12,5 u. ö.), 27,4 und 32,8.43. In diesen Fällen ist mit bewusster Textänderung innerhalb der (proto)masoretischen Texttradition zu rechnen. Als theologisch wichtiges Beispiel kann 32,8 dienen. In 32,8 lesen M und Sam: „legte er [= der Höchste] die Gebiete der Völker nach der Zahl der Söhne Israels (benê jiśrāʾēl) fest“. 4QDeutj bezeugt die Variante „Söhne der Götter (benê ʾelōhîm)“, während G „nach der Zahl der Söhne der Engel Gottes (hyōn ʾaggelōn theou)“ übersetzt. Die ursprüngliche Lesart dürfte gelautet haben: „legte er die Gebiete der Völker nach der Zahl der Söhne Els (benê ʾēl) fest“. Die Identifizierung des Gottes El mit dem Gott Israels erklärt die Entwicklung der verdeutlichenden Lesarten der Qumran-Handschrift und G. Die Schreiber von M und Sam ändern ihre Vorlage, um polytheistische Vorstellungen zu vermeiden, die das ursprüngliche Moselied noch ohne Bedenken benutzt. Diese Korrektur zu jiśrāʾēl könnte durch Einschieben von drei Konsonanten (jśr) in den Urtext (ʾl) erfolgt sein. Die Verbindung zwischen der Zahl der Söhne der Götter und Israels bildet die Zahl 70. Denn nach verbreiteter Vorstellung gab es 70 Götter, die die 70 Völker der Welt regierten. Aber auch Jakob (= Israel) hatte, als er nach Ägypten zog, 70 Nachkommen (Ex 1,5 vgl. Dtn 10,22 und der Hinweis auf 70 im Targum Pseudo-Jonathan).

Von besonderem Interesse für die frühe Nachgeschichte des Dtn ist die „Tempelrolle“ von Qumran. Sie ist im 2. Jh. v. Chr. kurz vor Anbruch der Hasmonäerherrschaft entstanden und wurde Generationen später von der Qumrangemeinde in ihre Bibliothek aufgenommen. Sie bietet eine utopische Vision vom Tempelbau und entwirft die Grundgesetze für eine neue, kultisch reine Gesellschaft. Dazu wurde das dtn Gesetzeskorpus zum Teil umgestaltet und aktualisiert. Die Tempelrolle verwandelt es in Gottes-rede und verlegt es hinter Ex 34 an den Sinai. Sie beansprucht also eine höhere Autorität und präsentiert sich als hermeneutischer Schlüssel zum Dtn. Damit löst die Tempelrol- 171 le Probleme der Rechtsabstimmung und Rechtsentwicklung, die bei der Pentateuchredaktion offen geblieben waren. Sie ist aber nicht mehr kanonisch geworden.

2.7Der theologiegeschichtliche Kontext

Hier kann nur die für das Dtn wichtigste theologiegeschichtliche Linie, die Entwicklung des Bundesdenkens unter bestimmten politischen, sozialen und religiösen Voraussetzungen, nachgezogen werden. Anderes wie z. B. die Aufnahme des Gedankengutes Hoseas oder das Verhältnis zu Jeremia müssen unberücksichtigt bleiben.

2.71 Identitätskrise Judas und Systematisierung der Überlieferungen

Wissenssoziologisch gesehen ist das dtn Phänomen die theologische Antwort auf eine Identitätskrise Judas als der Gesellschaft JHWHs.

Das Südreich war im 7. Jh. v. Chr. Vasallenstaat des neuassyrischen Reiches. Das bedeutete wirtschaftliche Ausbeutung durch Tributleistungen, außenpolitische Unselbständigkeit und kulturelle wie religiöse Einstrahlung in alle Lebensbereiche. Dadurch verlor der JHWH-Glaube seine gesellschaftliche Plausibilität. Alte religiöse Unterströmungen lebten wieder auf, der eigene Glaube wurde durch fremde Denk- und Handlungsmuster überlagert, die emotionale Bindung an die eigene authentische Tradition verblasste. Auf diesen Kulturschock antwortete Joschija mit einer „konstruktiven Restauration“. Als Stützstrukturen dieser „konservativen“ Reform dienten die Zentralisation des Kultes im Tempel von Jerusalem und ein System theoretischer Schulung (s. u. „Lerngemeinde“) mit dem Dtn als „Lehrbuch des JHWH-Rechts“. Die geographisch breite Streuung von Schriftdokumenten (aber auch von Tonsiegeln und damit indirekt von Papyrusdokumenten), nicht zuletzt auch die Lachisch- und Arad-Ostraka bezeugen einen relativ hohen Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung im vorexilischen Juda.

Das Dtn ließ den JHWH-Glauben wieder einsichtig und attraktiv werden.

(1) Es systematisierte die vielfältigen Überlieferungen Israels auf vierfache Weise (wodurch „Theologie“ im strengen Sinn entstand):

– Geschichtssystematisierung in „Kurzformeln des Glaubens“ („kleines historisches Credo“ 26,5–10; „katechetisches Credo“ 6,20–25)

– ethische Systematisierung im „ethischen Dekalog“ (Vorstufe von 5,6–21)

– theo-logische Engführung (JHWH ist Volksgott)

– sprachliche Vereinheitlichung (dtn Klischeesprache)

(2) Zugleich wurde das Dtn als Dokument der eigenen Identität und Unabhängigkeit in Form eines „Vertrags“ zwischen JHWH und Israel stilisiert und mit einem eigenen Ritual von Vertragsabschluss (26,16–19; 29,9–14) und Vertragsverlesung (vgl. Dtn 31,9–13) versehen. Doch dürften schon ältere israelitische Traditionen, vielleicht auch Rituale, das Gottesverhältnis Israels als „Vertrag“ dargestellt haben. Dafür sprechen

– das Jerusalemer Königszeremoniell (2 Kön 11,17)

– das Privilegrecht (Ex 34*)

– Hos 8,1 (vgl. 6,7). 172

2.72 Vertragskultur und Gottesverhältnis

Man griff zur Vertragskategorie, weil sie in der überlegenen neuassyrischen Kultur dominant und prestigeträchtig war.

Ein ausgebautes Lehens- und Vertragswesen, damit verbundene prächtige Eideszeremonien, hochrhetorische Texte und Inschriften hielten das assyrische Machtsystem zusammen und gaben ihm Glanz. Sogar die Idee eines Vertrages von König und Bevölkerung mit dem Gott Assur oder der Göttin Ischtar ist auf einer Tontafel des Britischen Museums belegt (ein Gottesbund ist jedenfalls in Bauinschriften sabäischer Könige aus dem 8. und 7. Jh. v. Chr. bekannt). In Jerusalem, das nur wenige Kilometer von der Reichsgrenze Assurs entfernt lag, verwahrte man höchstwahrscheinlich auch die Thronnachfolgevereidigungen Asarhaddons (VTE [Vassal Treaties of Esarhaddon]). Mit ihnen versuchte König Asarhaddon die Thronnachfolge zugunsten seines Sohnes, des Prinzen Assurbanipal, festzulegen. Diese Erbfolgeverträge mussten von den Vasallen Assurs beschworen werden. Diese Texte wurden bisher nur in Tempeln gefunden – im Nabu-Tempel von Nimrud/Kalchu und im Tempel der assyrischen Provinzhauptstadt Tell Tayinat/Kunulua (45 km westlich von Antakya/Antiochien [T. P. HARRISON, Recent Discoveries at Tayinat (Ancient Kunulua/Calno) and Their Biblical Implications, in: C. M. Maier [Hg.]. Congress Volume Munich 2013 [VT.S 163] Leiden 2014, 396–425]) –, wo sie wahrscheinlich wie Götterbilder verehrt wurden (vgl. VTE § 35,409). Der Fundkontext lässt vielleicht Rückschlüsse auf die Rezeption des Exemplars zu, auf das König Manasse von Juda seinen Treueeid schwören musste und das er im Tempel von Jerusalem aufgestellt haben dürfte. Vgl. VTE § 35, 406–409: „Wenn ihr die Tafel dieser adê, die mit dem Siegel Assurs, des Königs der Götter, gesiegelt (und) vor euer Angesicht hingelegt ist, nicht wie euren Gott bewahrt“. Die Tafel enthält innerhalb der §§ 54–55 zusätzliche Flüche, in denen Gottheiten aus Ekron und Bethel, dem geographischen Umfeld Jerusalems, aufgerufen werden. Dtn 28,20–44, das weitgehend einheitliche Kernstück des dtn Segen- und Fluchkapitels, hat aus den Thronnachfolgevereidigungen bestimmte Eidesflüche (VTE § 56 und 38A–42, 63–65) literarisch direkt übernommen. Die fast identische Themenabfolge in § 56, dem Fluch bei den großen Göttern des Himmels und der Erde, und Dtn 28,20–44 ist im Alten Orient einzigartig. Im unmittelbar anschließenden § 57, dem von den Vereidigten zu sprechenden Eid, findet sich die Formulierung „Lüge reden“, die in gemeinsamer semitischer Wurzel (s.r.r „lügen, aufwiegeln“) in Dtn 13,6 erscheint. In der Thronnachfolgeregelung verknüpft die Formel „ungute, unziemliche Worte … hören und verheimlichen“ den Eid (§ 57,501f) mit der Stipulation (Bestimmung) in § 10,108f, wo die Prophetengestalt in § 10,116f der in Dtn 13,2–6 entspricht. Hinzu kommt die Vorschrift zur Lynchjustiz in VTE § 12, die ihr Gegenstück im Tötungsgebot in Dtn 13,10 hat. In VTE § 4 schließlich dürfte auch die sogenannte Textsicherungsformel von Dtn 13,1 ihr Vorbild haben. Die Neubearbeitung, nicht direkte Übertragung, der VTE §§ 4 und 10 in Dtn 13,1.2–6.7–12 übertrug die ausschließliche Bindung an das Wort Asarhaddons und den Gehorsam gegenüber Assurbanipal, ferner die Verbote politischer Aufwiegelung und die Warnung vor Untreue auf die Bindung an Gehorsam und Wortlaut des Gesetzes und auf die Apostasie, die Abkehr von JHWH als dem eigentlichen Herrscher Judas. Die Übernahme dieser Texte, die in manchem der modernen Terroristenabwehr gleichen, erklärt auch die gewalttätigen Züge des Dtn. 173

Die Übernahme der gleichen Motivabfolge und außergewöhnlichen Bilder, die sich nicht aus einer allgemeinen altorientalischen Fluchtradition erklären lassen, kann nicht vor 672 v. Chr., dem Jahr des Loyalitätsschwures auf den irregulären Thronfolger Asarhaddons, erfolgt sein und ist nach 612 v. Chr., dem Fall Ninives und Ende der Loyalitätsbindung Judas an das neuassyrische Reich, unwahrscheinlich. Denn eine Übertragung des Treueeids vom assyrischen Großkönig auf JHWH verliert dann ihre Sinnspitze, mit Hilfe der Bundestheologie gegen die assyrische Herrschaftsideologie zu revoltieren. Mit dieser Rezeption eines außer-atl. Textes und ihrer Datierung ist ein absoluter chronologischer Fixpunkt in der Literaturgeschichte des Dtn, ja ein „Angel- 174 punkt des Pentateuch“, gegeben. Das „Dtn“, das Joschija 622 v. Chr. zur Grundlage des Gottesbundes machte, wurde noch zu seinen Lebzeiten in die dtr Landeroberungserzählung („DtrL“) eingebaut (Grundstock von Dtn 1 bis Jos 22 – s. dazu D.II 3.35). Auch für die nun hinzutretenden Elemente des historischen Prologs, des Hinweises auf den zu leistenden Eid und die Nachfolgeregelung für Josua, gab es formale Entsprechungen in assyrischen Verträgen. Allerdings dürfte das ihnen fehlende Element des Segens aus westlichen Vertragstraditionen übernommen worden sein, wo es sich im aramäischen Vertrag von Sefire (8. Jh. v. Chr.) wie schon zuvor in den hetitischen Vasallitätsverträgen des 2. Jt.s v. Chr. findet.

Moderne postkoloniale Theorien erkennen in dieser Übernahme und Umarbeitung von Kulturformen der imperialen Unterdrücker Analogien zu einer Literatur, die mit autonomen Ausdrucksformen auf die Machtausübung eines Großreiches reagiert. Man bezeichnet diesen Prozess, in dem Konzepte und Kulturformen der Kolonialherren zugunsten der eigenen Identität und des Widerstands gegen Fremdherrschaft adaptiert, aber auch umgekehrt werden, als „Hybridität“. Auch das Liebesgebot Dtn 6,5 ist z. B. eine hybride Antwort auf die Erfahrung der Hegemonialmacht Assyriens. Die Vasallenkönige mussten nämlich anlässlich ihrer Vereidigung auf die Thronnachfolgeverträge als Sanktion beschwören: „Wenn ihr Assurbanipal, euren Herrn, nicht liebt wie euer eigenes Leben […]“ (VTE § 24). Auch das Pathos der vorbehaltlosen Ganzheit „von ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzer Kraft“ kommt aus diesem Bereich politischer Loyalität. Denn die Vereidigungen warnen: „Solltet ihr […] nur einen Eid des Lippenbekenntnisses und nicht aus eurem ganzen Herzen schwören […]“ (VTE § 34). Jeder innere Vorbehalt muss ausgeschlossen werden; daher „von ganzem Herzen“. Bei der „Umbuchung“ von Dtn 6,4–5 auf JHWH als „Großkönig“, dem ungeteilte Loyalität geschuldet wird, drückt der Zusatz „mit ganzem Herzen“ seinen Ausschließlichkeitsanspruch auf Israel aus, aber auch eine gefühlvolle Anhänglichkeit. Auch andere altorientalische Vertragstexte und die diplomatische Korrespondenz sprechen übrigens von der Liebe zum Suzerän. Das deuteronomische Liebesgebot wurde also aus der politischen Sphäre auf die religiöse Beziehung übertragen. Dennoch bleibt das in den Hintergrund gerückte Rechtsdenken wichtig. Es überwindet das Kosmisch-Numinose und Zyklisch-Schicksalhafte einer mythischen Religiosität und begreift JHWH als eine in Freiheit und Geschichte wirkende Person.

Indem die Theologen die Israel eigenen Traditionen in die neuassyrisch geprägte Vertragsform gossen, nahmen sie ihnen auch das Altmodische und Überholte, das ihnen in den Augen der Judäer anhaftete, und machten sie wieder verständlich und akzeptabel.

Was zunächst hilfreich war, wurde allerdings zum Problem, als die Katastrophe des Exils bewies, dass das Unheil seinen Lauf so genommen hatte, wie es in den Fluchsanktionen des Vertrags vorherbestimmt war. DtrG versuchte, durch die Darstellung der Sündengeschichte (prospektiv im Dtn, retrospektiv in den folgenden Büchern) und durch die Symptome diagnostizierenden Formeln wie den Abfall zu fremden Göttern eine Gesamttheorie über den Vertragsbruch Israels zu vermitteln. Das diente zwar einer Klärung und einer gewissen Festigung der Glaubenswelt. Aber die entscheidende Frage war doch, ob es für Israel wieder Zukunft geben würde. Die Logik eines zweiseitigen Vertrages, wie sie der „Horebbund“ und der „Moabbund“ enthielten, bot keinen Ansatz zu einem Neubeginn durch das schuldig gewordene Israel. Hoffnung konnte nur vom göttlichen Vertragspartner kommen. Er wird deshalb ganz allein mit der Zukunft Israels betraut. Die in der späteren Exils- oder frühen Nachexilszeit entstandenen Texte des Dtn bleiben zwar traditionsbewusst der alten Begrifflichkeit und dem Vertragsmuster verpflichtet (s. 4,9–31 oder 29f*), spiegeln aber die Auseinandersetzung mit anderen theologischen Denkbewegungen ihrer Zeit (4 und 7–9 z. B. mit der Priesterschrift 175 [Pg], 9,1–7 mit Ez, Dtn 30 mit Jer) wider. Das Vertragsverhältnis wird jetzt so akzentuiert, dass JHWHs Treue über den Abfall Israels hinausreicht, nicht nur in einem einzigen Gnadenakt, sondern grundsätzlich. Gottes Treue braucht nicht mehr dem Verhalten seines Volkes zu entsprechen, weil sie ihren Maßstab letztlich an seiner Treue zu sich selbst nimmt. JHWHs Erbarmen ist umfassender als seine Vergeltung, und seine Gnade währt für alle Geschlechter. Das Gottesverhältnis Israels wird deshalb nicht mehr vom zweiseitigen, also Gott und Volk verpflichtenden Horeb- und Moabbund bestimmt, sondern vom Landverheißungsschwur JHWHs an die Patriarchen