Studio 6 - Liza Marklund - E-Book

Studio 6 E-Book

Liza Marklund

0,0
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Mordfall, mitten im Sommerloch – diese Nachricht könnte für die noch unerfahrene Journalistin Annika Bengtzon den großen Durchbruch bedeuten. Die Tote war eine Tänzerin in Stockholms berüchtigtstem Nachtclub, dem Studio 6. Annika stürzt sich in die Recherche. Und taucht immer tiefer ein in die Stockholmer Unterwelt, in einen Sumpf aus Sex und Gewalt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Annika Bengtzon nimmt in der Stockholmer Redaktion des Abendblatt einen anonymen Anruf entgegen: Auf einem Friedhof hat man eine Frauenleiche gefunden. Das Opfer war Tänzerin im Stripteaseclub »Studio Sex«, der pikanterweise auch von Politikern frequentiert wird. Die Journalistin begibt sich in Gefahr, als sie – ganz eigenmächtig – Nachforschungen anstellt.

Die Autorin

Liza Marklund, geboren 1962 in Piteå, arbeitete als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Fernsehsender, bevor sie mit der Krimiserie um Annika Bengtzon international eine gefeierte Bestsellerautorin wurde.

www.lizamarklund.se

Von Liza Marklund sind in unserem Hause bereits erschienen:

Olympisches Feuer Kalter Süden Weißer Tod (HC-Ausgabe)

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Dieser Roman erschien erstmals im Jahr 2001 auf Deutsch.

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2013 © für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Alle Rechte an der Übertragung ins Deutsche bei Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © 1999 by Liza Marklund

Published by agreement with Salomonsson Agency

Titel der schwedischen Originalausgabe: Studio Sex (Corduplagget, Stockholm)

Titelabbildung: © FinePic®

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0382-6

VORBEMERKUNG

»Studio 6« ist ein Roman aus der Serie um die Kriminaljournalistin Annika Bengtzon. Er spielt fast acht Jahre vor den Ereignissen in »Olympisches Feuer«. Wir begegnen Annika, als sie gerade als junge Aushilfe bei der Zeitung Abendblatt begonnen hat. Ich wünsche Ihnen spannende Unterhaltung.

Hälleforsnäs, im Juli 1999

Liza Marklund

PROLOG

Zuerst sah sie nur die Unterhose, die in einem Strauch hing. Sie schwang sanft hin und her, leuchtete lachsrosa vor dem taubeschwerten Grün. Augenblicklich empfand sie Wut. Dass die jungen Leute aber auch vor nichts Respekt hatten. Nicht einmal die Toten durften ihre Ruhe haben.

Sie versank in Grübeln über den Verfall der Gesellschaft, während der Hund weiter am Metallzaun entlangzog. Als sie dem Tier an der Südseite des Friedhofs um die kleinen Bäume herum gefolgt war, sah sie das Bein. Ihr Unmut wuchs, diese unverschämten Leute! Abends konnte sie die Frauen sehen, wenn sie über den Gehsteig promenierten, leichte Kleidung und laute Stimmen, und die Kerle einluden. Es war keine Entschuldigung, dass es warm war.

Der Hund setzte am Zaun eine lange Wurst ins Gras. Sie schaute weg und tat, als hätte sie nichts gesehen. Um diese Zeit war kein Mensch unterwegs. Warum sich dann mit der Tüte rumquälen?

»Komm, Jesper«, lockte sie und zog den Hund zum Auslauf auf der östlichen Seite des Parks. »Komm schon, Alter, Silberherzchen …«

Sie warf einen Blick über die Schulter, als sie sich vom Zaun entfernte. Das Bein war nicht mehr zu sehen, wurde von dem dichten Blattwerk des Parks verdeckt.

Es würde heute wieder ein heißer Tag werden, das konnte sie bereits spüren. Schweiß lief ihr über die Stirn, obwohl die Sonne gerade erst aufgegangen war. Sie atmete schwer, als es bergauf ging. Der Hund zerrte an der Leine. Seine Zunge hing bereits so weit heraus, dass sie übers Gras schleifte.

Wie konnte man nur auf einem Friedhof schlafen, auf der Ruhestätte der Toten? War das der Sinn des Feminismus, sich schlecht und respektlos zu benehmen?

Sie war immer noch erbost, und der steile Hügel machte ihre Laune nur noch schlechter.

Ich sollte den Hund abschaffen, dachte sie und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Um ihre bösen Gedanken zu überspielen, bückte sie sich, um die Leine loszuhaken und das Tier auf den Schoß zu nehmen, aber der Hund befreite sich und rannte einem Eichhörnchen hinterher. Ihre Fürsorge wurde offenbar nicht geschätzt. Mit einem kleinen Seufzer ließ sie sich auf eine Bank sinken, während Jesper versuchte, das Eichhörnchen zu Tode zu hetzen. Nach einer Weile war der Hund völlig erledigt und ließ sich bellend unter einer Kiefer nieder, auf der sich der kleine Nager versteckt hatte. Sie blieb sitzen, bis sie sah, dass der Hund sich ausgeruht hatte, dann stand sie auf und merkte, dass der Stoff des Kleides ihr am Rücken klebte. Der Gedanke an die dunklen Flecken entlang des Rückgrats war ihr peinlich.

»Jesper, mein Junge, Silberherzchen, kleines Hundchen …«

Sie schwenkte eine Plastiktüte voller Hundekuchen, und der kurzbeinige Bullterrier lief auf sie zu. Die Zunge hing heraus und schlackerte hin und her, es sah aus, als würde er lachen.

»Ja, das möchtest du gern haben, das verstehe ich gut, mein Lieber …«

Sie gab dem Hund den ganzen Inhalt der Tüte und hakte dabei schnell die Leine wieder ein. Es war Zeit zurückzugehen. Jesper hatte seinen Teil bekommen. Jetzt war sie an der Reihe, Kaffee und Hefekuchen. Der Hund wollte aber ganz und gar nicht zurückgehen. Er hatte das Eichhörnchen wieder entdeckt, und durch die Hundekuchen gestärkt, war er bereit für eine neue Jagd. Er protestierte laut und wild.

»Ich will nicht länger draußen bleiben«, schimpfte sie. »Komm jetzt!«

Sie nahmen einen Umweg, um nicht die steilen Hügel hinuntergehen zu müssen, die nach Hause führten. Bergauf ging noch, aber bergab tat ihr immer das Knie weh.

Sie hatte gerade die nordöstliche Ecke hinter sich gelassen, als sie den Körper sah. Er ruhte, in das wuchernde Grün des Grabes gebettet, lustvoll hinter einem halb umgefallenen Granitstein ausgestreckt. Das Fragment eines Davidsterns lag direkt neben seinem Kopf. Jetzt erst bekam sie Angst. Der Körper war nackt, allzu still und weiß. Der Hund riss sich los und raste auf den Zaun zu, die Leine tanzte wie eine wütende Schlange hinter ihm her.

»Jesper!«

Er schaffte es, sich zwischen zwei Stangen hindurchzuzwängen, und rannte auf die tote Frau zu.

»Jesper, komm her!«

Sie rief, so laut sie sich traute, sie wollte ja die Leute in den umstehenden Häusern nicht wecken. Viele schliefen in der Hitze bei offenem Fenster, die Häuser in der Innenstadt kühlten über Nacht kaum ab. Sie wühlte wie wild in der Plastiktüte, aber die Hundekuchen waren alle.

Der Bullterrier blieb vor der Frau stehen und betrachtete sie aufmerksam. Dann fing er an herumzuschnüffeln, erst prüfend, dann eifrig. Als er zu ihrem Geschlechtsorgan kam, konnte sie sich nicht länger beherrschen.

»Jesper! Jetzt kommst du aber!«

Der Hund schaute auf, machte aber keinen Ansatz zu gehorchen. Stattdessen lief er zum Kopf der Frau und begann an ihren Händen zu schnüffeln, die am Gesicht lagen. Zu ihrem Entsetzen begann der Hund an den Fingern der Frau zu nagen. Ihr wurde übel, und sie griff nach den schwarzen Eisenstangen. Sie bewegte sich vorsichtig nach links, beugte sich hinab und schaute zwischen den Grabsteinen hindurch. Aus zwei Meter Entfernung starrte sie in die Augen der Frau. Sie waren hell und etwas trübe, stumm und kalt. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als würden die Geräusche um sie herum verschwinden, ein Summton erklang in ihrem linken Ohr. Ich muss mit dem Hund hier weg, dachte sie, und:

Ich darf niemandem erzählen, dass Jesper von ihrer Hand gefressen hat.

Sie kniete sich hin und streckte die Hand so weit wie möglich durch den Zaun. Ihre ausgestreckten Finger zeigten direkt auf die toten Augen. Das Fett auf den Oberarmen drohte zwischen den Stangen stecken zu bleiben, aber sie bekam die Öse des Halsbands zu fassen. Der Hund jaulte, als sie am Lederriemen zog. Er wollte seine Beute nicht loslassen, und der Körper saß fest zwischen den Kiefern des Hundes und bewegte sich ein wenig.

»Du dummer Hund!«

Mit einem Rums und kläffend schlug er gegen den Zaun. Sie zwang den Hund mit zitternden Händen durch die Eisenstangen zurück. Sie trug ihn, wie sie es noch nie getan hatte, mit beiden Händen in einem festen Griff um seinen Bauch. Sie beeilte sich die Straße hinunterzukommen, glitt mit den Absätzen im Gras aus und verrenkte sich die Leiste.

Erst als sie die Tür zu ihrer eigenen Wohnung hinter sich geschlossen hatte und die Fetzen im Maul des Hundes sah, musste sie brechen.

TEIL I

JULI

Siebzehn Jahre, vier Monate und sechzehn Tage

Ich dachte, die Liebe wäre nur für die anderen, für all jene, die gesehen und beachtet werden. Mein Irrtum singt in mir, singt einen Jubel des Glücks. Ich bin es, die er haben will.

Der Rausch, die erste Berührung, die Haare, die ihm in die Augen fielen, als er mich ansah, nervös, überhaupt nicht selbstsicher. Glasklar: der Wind, das Licht, das absolute Gefühl der Vollendung, der Bürgersteig, die heiße Hauswand.

Ich habe den Mann bekommen, den ich haben wollte.

Er steht im Mittelpunkt. Die anderen Mädchen lächeln und flirten, aber ich bin nicht eifersüchtig. Ich vertraue ihm. Ich weiß, dass er mir gehört. Sehe ihn von der anderen Seite des Raumes, helles Haar, das glitzert, die Bewegung, wenn er es zurückstreicht, starke Hand, meine Hand. Die Brust schnürt sich mir zusammen, ein Band des Glücks, ich bin atemlos, Tränen stehen mir in den Augen. Das Licht bleibt bei ihm, macht ihn stark und ganz.

Er sagt, dass er ohne mich nicht klarkommt.

Die Verletzlichkeit liegt direkt unter seiner glatten Haut. Ich liege auf seinem Arm, und er fährt mit seinem Finger über mein Gesicht.

Verlass mich niemals,

sagt er,

ich kann ohne dich nicht leben.

Und ich verspreche es.

SAMSTAG, 28. JULI

»Im Kronobergspark liegt ein totes Mädchen.«

Die Stimme war atemlos, das Lallen der Zunge ließ auf eine regelmäßige Einnahme von Amphetaminen schließen. Annika Bengtzon wandte den Blick vom Bildschirm ab und wühlte im Chaos auf dem Schreibtisch nach einem Stift.

»Woher wissen Sie das?«, fragte sie einigermaßen skeptisch.

»Weil ich neben ihr stehe, verdammt nochmal!«

Die Stimme überschlug sich, und Annika hielt den Hörer ein wenig vom Ohr weg.

»Aha, was heißt denn tot?«, fragte sie und hörte selbst, wie idiotisch das klang.

»Ja, also, verdammte Scheiße, total tot! Wie tot kann man denn sein?«

Annika sah sich verunsichert in der Redaktion um. Spiken, der Nachrichtenchef, saß an seinem Tisch und telefonierte, Anne Snapphane saß am Schreibtisch gleich gegenüber und fächelte sich mit einem Ringbuch Luft zu, und Bild-Pelle stand am Bildtisch und schaltete gerade den Mac ein.

»Aha«, sagte sie und entdeckte in einer leeren Kaffeetasse einen Kugelschreiber, zog ein altes tt-Telex heran und fing an, sich auf der Rückseite Notizen zu machen.

»Im Kronobergspark sagten Sie, nicht wahr?«

»Hinter einem Grabstein.«

»Einem Grabstein?«

Der Mann am anderen Ende brach in Tränen aus. Annika wartete schweigend einen Augenblick. Sie wusste nicht, wie sie verfahren sollte. Das Tipptelefon, das offiziell »Der heiße Draht« hieß, intern aber nur »Idiotentelefon« genannt wurde, wurde meist von Witzbolden oder Verrückten beherrscht. Das hier war offensichtlich ein Kandidat für die letztere Gruppe.

»Hallo …?«, fragte Annika vorsichtig.

Der Mann schnäuzte sich. Er atmete ein paarmal tief ein und erzählte. Anne Snapphane beobachtete Annika von der anderen Seite des Tisches aus.

»Dass du das überhaupt aushältst, immer an dieses Telefon zu gehen«, sagte sie, als Annika aufgelegt hatte. Annika antwortete nicht, sondern fuhr fort, auf dem Telex herumzukritzeln.

»Ich brauche ein Eis, sonst sterbe ich. Willst du was aus der Kantine?«, fragte Anne Snapphane und stand auf.

»Ich muss erst noch was überprüfen«, sagte Annika, hob den Hörer und wählte die Durchwahl der Einsatzzentrale. Es stimmte. Vier Minuten zuvor hatte man die Nachricht von einer Toten an der Kronobergsgatan bekommen.

Annika stand auf und ging mit dem Telex in der Hand zum Newsdesk. Spiken telefonierte immer noch, und seine Füße ruhten auf dem Schreibtisch. Annika stellte sich auffordernd direkt vor ihn. Der Nachrichtenchef sah verwundert auf.

»Mordverdacht, junges Mädchen«, sagte Annika und wedelte mit dem Zettel.

Spiken beendete das Telefonat, indem er augenblicklich auflegte, und ließ dann die Füße auf den Boden fallen.

»Kam das über tt?«, fragte er und klickte seinen Bildschirm an.

»Nein, übers Idiotentelefon.«

»Bestätigt?«

»Die Einsatzzentrale hat es jedenfalls.«

Spiken ließ den Blick über die Redaktion schweifen.

»Okay«, sagte er, »wer ist denn im Haus?«

Annika trat einen Schritt vor.

»Es ist mein Tipp«, sagte sie.

»Berit!«, rief Spiken und stand auf. »Der Sommermord des Jahres!«

Berit Hamrin, eine der älteren Reporterinnen der Zeitung, nahm ihre Handtasche und kam zu ihnen.

»Wo ist Carl Wennergren? Arbeitet er heute nicht?«

»Nein, er hat frei, er segelt die Gotland Rund mit«, sagte Annika. »Es war mein Tipp, ich habe ihn entgegengenommen.«

»Pelle, Foto!«, rief Spiken in Richtung Bildredaktion.

Der Redakteur hielt den Daumen hoch.

»Bertil Strand«, rief er.

»Okay«, sagte der Nachrichtenchef und wandte sich Annika zu, »was haben wir?«

Annika schaute auf ihre krakeligen Notizen und merkte plötzlich, wie nervös sie war.

»Ein totes Mädchen hinter einem Grabstein auf dem jüdischen Friedhof innerhalb des Kronobergsparks auf Kungsholmen.«

»Das muss nicht unbedingt ein Mord sein.«

»Sie ist nackt und erdrosselt.«

Spiken sah Annika abschätzend an.

»Und Sie wollen das selbst machen?«

Annika schluckte und nickte, der Nachrichtenchef setzte sich wieder hin und zog einen Schreibblock heraus.

»Okay«, sagte er, »Sie können mit Berit und Bertil hinfahren. Sehen Sie zu, dass wir gute Bilder bekommen, den Rest können wir später erledigen, aber die Fotos müssen sofort sitzen.«

Der Fotograf warf sich den Rucksack mit seiner Ausrüstung über, während er am Newsdesk vorbeiging.

»Wo ist es denn?«, fragte er Spiken.

»Kronobergshäktet«, sagte Spiken und nahm den Hörer ab.

»Park«, berichtigte Annika und suchte ihre Tasche. »Kronobergspark. Der jüdische Friedhof.«

»Passen Sie nur auf, dass es nicht ein Familienstreit ist«, meinte Spiken und wählte eine Nummer in London.

Berit und Bertil Strand waren schon auf dem Weg zum Fahrstuhl und zur Garage, aber Annika zögerte.

»Was meinen Sie damit?«, fragte sie.

»Was ich sage. Wir wühlen nicht in privaten Familienangelegenheiten herum.«

Der Nachrichtenchef wandte ihr demonstrativ den Rücken zu. Annika wurde wütend.

»Deswegen ist das Mädchen doch nicht weniger tot«, sagte sie.

Spiken hatte am anderen Ende jemanden in der Leitung, und Annika begriff, dass die Diskussion beendet war. Sie schaute sich um, Berit und Bertil Strand waren schon im Treppenhaus verschwunden. Sie ging schnell zu ihrem Platz, zog die Tasche heraus, die unter den Schubladenschrank geraten war, und rannte ihren Kollegen hinterher. Der Fahrstuhl war schon unten, sie nahm die Treppe, Himmel nochmal, warum musste sie immer Streit anfangen? Jetzt verpasste sie fast ihre erste große Sache, weil sie unbedingt den Nachrichtenchef zurechtweisen musste.

»Idiotin«, sagte sie laut zu sich selbst.

Sie holte die Reporterin und den Fotografen am Eingang zur Garage ein.

»Wir arbeiten gleichberechtigt zusammen, bis wir uns aufteilen müssen«, sagte Berit und machte sich im Gehen Notizen auf einem Block. »Ich heiße übrigens Berit Hamrin, ich glaube, wir haben uns noch nicht kennengelernt. Sag einfach Berit.«

Die ältere Frau lächelte Annika an. Sie gaben sich die Hand und setzten sich in Bertil Strands Saab, Annika hinten und Berit vorn.

»Die Tür bitte nicht so heftig zuknallen«, sagte Bertil Strand missbilligend und warf Annika über die Schulter einen Blick zu. »Sie können damit den Lack ruinieren.«

Du meine Güte, dachte Annika.

»Oh, Entschuldigung«, murmelte sie.

Die Reportagewagen der Zeitung wurden von den Fotografen wie ihre eigenen Dienstfahrzeuge behandelt. Fast alle Fotografen nahmen die Pflege der Autos ungeheuer ernst, was vielleicht daran lag, dass sie ausnahmslos Männer waren, dachte Annika. Obwohl sie erst seit sieben Wochen beim Abendblatt arbeitete, war sie bereits von der Heiligkeit der Fotografenautos in Kenntnis gesetzt worden. Mehrere Male waren geplante Interviews verschoben worden, weil die Fotografen sich in irgendeiner Waschstraße aufhielten. Das zeigte natürlich auch, welchen Wert man ihren Artikeln beimaß.

»Ich glaube, es ist am besten, man kommt von der Rückseite zum Park und vermeidet den Fridhemsplan«, meinte Berit, als der Wagen sich an der Kreuzung zum Rålambsvägen einordnete. Bertil Strand drückte aufs Gaspedal und schaffte es noch bei Gelb, fuhr die Gjörwellsgatan hinunter und weiter zum nördlichen Ufer des Mälarsees.

»Kannst du mal erzählen, was du von deinem Informanten bekommen hast?«, bat Berit und drehte sich um, so dass sie mit dem Rücken zur Autotür saß und nach hinten schauen konnte.

Annika fischte das zerknitterte Telex aus der Tasche.

»Also, es ist ein junges Mädchen, das tot hinter einem Grabstein im Kronobergspark liegt. Nackt und wahrscheinlich erdrosselt.«

»Wer hat angerufen?«

»Ein Säufer. Sein Kumpel hat an den Zaun gepinkelt und sie durch die Eisenstäbe entdeckt.«

»Warum meinen sie, sie sei erdrosselt worden?«

Annika drehte das Blatt um und las etwas, das sie auf der anderen Seite notiert hatte.

»Sie war nicht blutverschmiert, hatte die Augen aufgesperrt und Verletzungen am Hals.«

»Das muss nicht heißen, dass sie erdrosselt worden ist, nicht einmal, dass sie ermordet wurde«, sagte Berit und drehte sich wieder nach vorn.

Annika antwortete nicht. Sie schaute durch die Fensterscheiben des Saabs und sah den Rålambshovpark sonnendurchflutet vorbeigleiten. Vor ihr breitete sich glitzernd das Wasser der Riddarfjärden aus. Sie musste die Augen zusammenkneifen, obwohl die Scheiben getönt waren. Zwei Windsurfer waren Richtung Långholmen unterwegs, aber es schien nicht besonders gut zu laufen. Die Luft stand in der Hitze.

»Was für ein schöner Sommer es bislang gewesen ist«, sagte Bertil Strand und bog in die Polhemsgatan ein. »Das hätte man nicht gedacht, als es im Frühjahr so geregnet hat.«

»Ja, ich hatte Glück«, fügte Berit hinzu, »ich habe gerade meine vier Wochen gehabt. Jeden Tag Sonne. Man kann da vor ein paar Häusern direkt hinter der Feuerwache parken.«

Der Saab raste an den letzten Häuserblocks der Bergsgatan vorbei. Berit löste den Gurt, noch ehe Bertil Strand langsamer geworden war, und war draußen, noch bevor er geparkt hatte. Annika beeilte sich hinterherzukommen und keuchte in der Hitze, die ihr entgegenschlug.

Bertil Strand parkte auf einem Wendeplatz, und Berit und Annika machten sich, vorbei an einem roten Ziegelbau aus den fünfziger Jahren, auf den Weg. Der asphaltierte Weg war schmal und wurde von einem Mauersims zum Park hin begrenzt.

»Ein Stück weiter gibt es eine Treppe«, sagte Berit, die schon außer Atem war.

Nach sechs Treppenstufen waren sie im Park. Sie rannten einen asphaltierten Spazierweg entlang, der zu einem aufwendig gestalteten Spielplatz führte.

Zur Rechten standen ein paar barackenähnliche Bauten, Annika las »Spielplatz«, als sie vorbeilief. Hier gab es einen Sandkasten, Bänke, Tische, Klettergerüste, Rutschen, eine Schaukel und andere Dinge, mit denen Kinder spielen und auf denen sie herumklettern konnten. Drei oder vier Mütter befanden sich mit ihren Kindern auf dem Spielplatz. Sie schienen gerade zusammenzupacken. Etwas entfernt standen zwei uniformierte Polizisten und sprachen mit einer weiteren Mutter.

»Ich glaube, der Friedhof liegt etwas weiter unten in Richtung Sankt-Göransgatan«, sagte Berit.

»Wie gut du dich auskennst«, sagte Annika, »wohnst du in der Nähe?«

»Nein«, antwortete Berit, »aber das ist nicht der erste Mord in diesem Park.«

Annika bemerkte, dass die Polizisten eine Rolle mit blau-weißem Absperrungsband in der Hand hielten. Sie waren also dabei, den Spielplatz zu räumen und für die Allgemeinheit abzusperren.

»Wir kommen gerade rechtzeitig«, murmelte sie.

Sie bogen nach rechts ab, folgten einem Weg und gelangten auf einen Hügel.

»Links runter«, sagte Berit.

Annika lief voraus. Sie kreuzte zwei Wege und war da. Sie sah eine Reihe schwarzer Davidsterne, die sich vom Grün absetzten.

»Ich sehe ihn«, rief sie nach hinten und bemerkte im Augenwinkel, dass Bertil Strand Berit einholte.

Es war ein schmiedeeiserner Zaun, schwarz und schön. Die Eisenstäbe wurden durch Kreise und Bögen zusammengehalten, wobei jede Stange von einem stilisierten Davidstern gekrönt war. Sie lief auf ihrem eigenen Schatten, und ihr wurde klar, dass sie sich dem Friedhof von Süden näherte.

Auf dem Hügel oberhalb der Gräber blieb sie stehen, da sie von dort aus einen guten Überblick hatte. Die Polizei hatte diesen Teil des Parks noch nicht abgesperrt, was von Norden und von Westen her bereits geschehen war.

»Beeilt euch!«, rief sie Berit und Bertil Strand zu.

Der Zaun rahmte den kleinen jüdischen Friedhof und seine verfallenen Gräber mit etwa dreißig Grabsteinen aus Granit ein. Die Vegetation hatte fast überhandgenommen, der Ort machte einen wild verwachsenen und vernachlässigten Eindruck. Der eingezäunte Bereich umfasste höchstens dreißig mal vierzig Meter, auf der Rückseite war der Zaun ungefähr eineinhalb Meter hoch. Der Eingang lag westlich zur Kronobergsgatan und zum Fridhemsplan. Sie sah das Reporterteam der Konkurrenz an der Absperrung stehen. Eine Gruppe Männer, alle in Zivil, hielt sich an der östlichen Seite innerhalb der Umzäunung auf. Ihr wurde klar, was sie machten. Dort lag die Frau. Annika rappelte sich auf. Sie durfte ihren ersten richtigen Tipp im ganzen Sommer nicht vermasseln.

Berit und Bertil Strand folgten ihr, und im selben Moment sah sie einen Mann, der an der Kronobergsgatan das Tor öffnete. Er trug eine graue Plane. Annika hielt die Luft an. Sie hatten sie noch nicht zugedeckt!

»Schnell«, rief sie über die Schulter, »vielleicht kriegen wir von hier aus ein Bild.«

Vor ihnen tauchte ein Polizist auf. Er rollte das blau-weiße Absperrungsband aus. Annika rannte auf den Zaun zu und hörte, wie Bertil Strand ihr hinterherstolperte. Der Fotograf nutzte die letzten Meter vor dem Zaun, um den Rucksack abzuwerfen und eine Canon mit Teleobjektiv herauszufischen. Die graue Plane war noch drei Meter entfernt, als Bertil eine Serie Bilder ins Grün schoss. Dann trat er einen halben Meter zur Seite und feuerte noch eine Salve ab. Der Polizist mit der Plastikrolle rief etwas, und die Leute innerhalb der Umzäunung wurden ebenfalls auf sie aufmerksam.

»Wir sind fertig«, sagte Bertil Strand, »wir haben genug Bilder.«

»Hören Sie, verdammt nochmal«, rief der Polizist mit dem Plastikband, »wir sind dabei, hier abzusperren!«

Ein Mann in einem Hawaiihemd und Bermudashorts kam vom Friedhof auf sie zu.

»Jetzt müssen Sie wirklich verschwinden«, sagte er.

Annika sah sich um und wusste nicht, was sie tun sollte. Bertil Strand war bereits zu dem asphaltierten Weg, der zur Sankt-Göransgatan hinunterführte, gegangen. Sowohl der Polizist hinter ihr als auch der direkt vor ihr sahen wirklich wütend aus. Sie sah ein, dass sie bald verschwinden musste, wenn sie nicht wollte, dass die Polizisten ihr auf die Sprünge halfen. Instinktiv bewegte sie sich seitwärts zu der Stelle, von wo Bertil Strand seine ersten Bilder gemacht hatte.

Sie schaute zwischen den schwarzen Eisenstangen hindurch, und dort lag die junge Frau. Ihre Augen starrten Annika aus zwei Meter Entfernung an. Sie waren trübe und grau. Der Kopf war zurückgeworfen, die Oberarme nach oben ausgestreckt, die Unterarme lagen über ihrem Kopf, eine Hand schien verletzt zu sein. Der Mund stand weit offen in einem lautlosen Schrei, die Lippen waren braunschwarz. Ihr Haar bewegte sich leicht in einem unmerklichen Luftzug. Sie hatte einen kräftigen Bluterguss auf der linken Brust, der untere Teil ihres Bauches schien grün zu sein.

Annika nahm das Bild in sich auf, kristallklar, in einem Augenblick. Das strenge Grau des Steins im Hintergrund, das dumpfe Grün, das Schattenspiel des Laubs, die Feuchtigkeit und die Hitze, der ekelhafte Geruch.

Dann kam die Plane und tauchte die ganze Szene in Grau. Sie bedeckten nicht den Körper, sondern den Zaun.

»Jetzt ist es Zeit zu verschwinden«, sagte der Plastikband-Polizist und legte ihr eine Hand auf die Schulter.

Wie routiniert, musste Annika denken, als sie sich umdrehte. Ihr Mund war ausgetrocknet, und alle Geräusche kamen von weit her. Sie schwankte ein klein wenig, als sie zu dem Weg ging, wo Berit und Bertil Strand hinter der Absperrung warteten. Der Fotograf sah erschöpft und unfreundlich aus, aber Berit lächelte flüchtig.

Der Polizist folgte ihr, die Schulter an ihren Rücken gedrückt. Es musste ziemlich warm sein, an einem solchen Tag in Uniform unterwegs zu sein, dachte Annika.

»Hast du etwas sehen können?«, fragte Berit.

Annika nickte, und Berit machte ein paar Notizen.

»Hast du den Kripomenschen im Hawaiihemd etwas gefragt?«

Annika schüttelte den Kopf und kroch mit der freundlichen Hilfe des Polizisten unter der Absperrung durch.

»Schade. Hat er spontan was gesagt?«

»Jetzt müssen Sie wirklich verschwinden«, zitierte Annika, und Berit lächelte.

»Wie geht es dir, bist du okay?«, fragte sie, und Annika nickte.

»Jaja, alles klar. Und sie könnte durchaus erdrosselt worden sein, die Augen sahen aus, als würden sie rausspringen. Sie hat wahrscheinlich versucht zu schreien, ehe sie starb, der Mund stand offen.«

»Dann hat sie vielleicht jemand gehört. Wir können ja später ein paar Nachbarn befragen. War sie Schwedin?«

Annika musste sich setzen.

»Ich hab vergessen zu fragen …«

Berit lächelte wieder.

»Blond, dunkel, jung, alt?«

»Höchstens zwanzig, langes, helles Haar. Große Brüste. Vermutlich Silikon oder Kochsalz.«

Berit sah sie fragend an. Annika sank im Schneidersitz ins Gras.

»Sie standen hoch, obwohl sie auf dem Rücken lag. Sie hatte eine Narbe in der Achselhöhle.«

Annika spürte, wie ihr Blutdruck absackte, legte den Kopf auf die Knie und atmete tief ein.

»Kein schöner Anblick, nicht wahr?«, fragte Berit.

»Schon in Ordnung«, erwiderte Annika.

Nach ein paar Minuten fühlte sie sich besser. Die Geräusche kehrten in voller Lautstärke zurück und schlugen in ihr Gehirn ein, als würde sie in einer auf Hochtouren laufenden Werkstatt stehen: der Verkehr, der auf dem Drottningholmsvägen rauschte, zwei Sirenen, die unabhängig voneinander ertönten, Rufe, die lauter und leiser wurden, das Knattern der Kameras, ein Kind, das weinte.

Bertil Strand hatte sich dem kleinen Aufgebot der Presse angeschlossen, das sich am Eingang versammelt hatte, er stand da und plauderte mit dem Fotografen von der Konkurrenz.

»Wer macht was?«, fragte Annika.

Berit setzte sich neben Annika ins Gras, warf einen Blick auf ihre Notizen und fing an, etwas zu skizzieren.

»Wir müssen davon ausgehen, dass es sich um einen Mord handelt, oder? Dann müssen wir erst mal einen Artikel über die Neuigkeit an sich haben. Das und das ist geschehen, eine junge Frau ist ermordet aufgefunden worden. Wann, wo, wie? Wir müssen rauskriegen, wer sie gefunden hat, und mit ihm reden, hast du seinen Namen?«

»Ein Penner, sein Kumpel hat eine Adresse bei der Fürsorge angegeben, damit er das Geld für den Tipp bekommt.«

»Versuche ihn ausfindig zu machen. Die Einsatzzentrale hat alle Fakten bezüglich des Notrufs«, fuhr Berit fort und hakte ihre Aufzeichnungen ab.

»Hab ich schon.«

»Gut. Dann müssen wir irgendeinen bei der Polizei zu fassen bekommen, der redet. Der Pressesprecher sagt niemals etwas außer der Reihe. Sag mal, dein Hawaiipolizist, wie hieß denn der?«

»Keine Ahnung.«

»Schade. Versuch auch das rauszukriegen. Ich habe ihn noch nie gesehen, vielleicht ist er neu im Gewaltdezernat. Dann müssen wir wissen, wann sie gestorben ist und warum, ob es Verdächtige gibt, in welche Richtung als Nächstes ermittelt wird, alle Punkte, die die Polizei in der Sache untersucht.«

»Okay«, sagte Annika und machte Notizen auf ihrem Block.

»Gott, ist das heiß. Ist es jemals in Stockholm so heiß gewesen?«, fragte Berit und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

»Weiß nicht«, sagte Annika, »ich bin erst vor sieben Wochen hierhergezogen.«

Berit holte ein Taschentuch aus der Handtasche und trocknete sich den Haaransatz.

»Ja, und dann wäre da noch das Opfer«, sagte sie. »Wer war sie? Wer hat sie identifiziert? Wahrscheinlich hat sie irgendwo eine völlig am Boden zerstörte Familie, wir müssen überlegen, ob wir Kontakt zu ihr aufnehmen wollen. Wir brauchen Bilder von dem Mädchen, als es noch lebte. Glaubst du, dass sie über achtzehn war?«

Annika überlegte und erinnerte sich an die Plastikbrust.

»Ja, wahrscheinlich.«

»Dann gibt es vielleicht Abiturfotos von ihr, alle Jugendlichen gehen doch inzwischen aufs Gymnasium, und Abiturbilder sind nie verkehrt. Was sagen ihre Freunde? Hatte sie einen festen Freund?«

Annika schrieb mit.

»Und dann die Reaktionen der Nachbarn«, fuhr Berit fort. »Dieser Ort liegt doch praktisch mitten in der Stockholmer Innenstadt, in den Stadtteilen rundherum wohnen über dreitausend Frauen. Ein solches Verbrechen wird die Sicherheit von allen, das Nachtleben und das Stadtbild beeinflussen. Das sind eigentlich zwei Artikel. Wenn du die Nachbarn nimmst, nehme ich den Rest.«

Annika nickte, ohne aufzuschauen.

»Da ist noch etwas«, sagte Berit und ließ den Block auf ihren Schoß sinken. »Vor zwölf oder dreizehn Jahren geschah eine ganz ähnliche Sache, nur ungefähr hundert Meter entfernt.«

Annika sah sie erstaunt an.

»Wenn ich mich recht entsinne, wurde eine junge Frau auf einer Treppe an der Nordseite des Parks Opfer eines Sexualmordes«, sagte Berit nachdenklich. »Der Mörder wurde nie gefasst.«

»Meine Güte«, erwiderte Annika, »kann es derselbe Typ sein?«

Berit zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich nicht«, meinte sie, »aber man muss den anderen Mord auf jeden Fall erwähnen. Sicher gibt es viele, die sich daran erinnern. Die Frau wurde vergewaltigt und erdrosselt.«

Annika schluckte.

»Was für ein grässlicher Job das im Grunde ist«, sagte sie.

»Ja, das stimmt«, sagte Berit, »aber er wird um einiges leichter sein, wenn du deinen Hawaiipolizisten erwischst, ehe er wegfährt.«

Sie zeigte zur Sankt-Göransgatan hinunter, wo der Mann im Hawaiihemd gerade den Friedhof verließ. Er ging auf ein Auto zu, das an der Ecke zur Kronobergsgatan geparkt war. Annika fuhr hoch, griff ihre Tasche und rannte zur Straße hinunter. Sie sah, wie der Reporter der Konkurrenz mit dem Hawaiihemd zu sprechen versuchte, aber der Polizist winkte ihn nur weg.

Im selben Moment stolperte Annika über einen Bordstein und fiel fast hin. Mit unkontrollierten Schritten raste sie den steilen Hang zur Kronobergsgatan hinunter. Ohne etwas dagegen tun zu können, fiel sie dem Polizisten mit dem Hawaiihemd direkt in den Rücken, woraufhin er auf die Motorhaube seines Autos geworfen wurde.

»Was soll denn das?«, brüllte er und packte Annikas Arme mit einem eisenharten Griff.

»Entschuldigung«, piepste sie, »das war keine Absicht. Ich bin gestolpert.«

»Was machen Sie denn für einen Mist? Sie sind wohl nicht ganz dicht?« Der Mann hatte sich erschrocken und war außer sich.

»Tut mir leid«, sagte Annika mit Tränen in den Augen. Ihr linkes Handgelenk schmerzte.

Der Polizist hatte sich wieder unter Kontrolle und ließ sie los. Er schaute sie kurz an.

»Sie sollten das alles etwas lockerer angehen«, sagte er, setzte sich in seinen weinroten Volvo-Kombi und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

»Verdammt«, flüsterte Annika. Sie blinzelte die ärgerlichen Tränen fort und schaute angestrengt gegen die Sonne, um die Rufnummer auf dem Auto zu erkennen. Sie meinte, eine »1813« auf der Seite erkennen zu können. Zur Sicherheit merkte sie sich auch die Autonummer.

Dann drehte sie sich um und sah, dass die kleine Gruppe von Zeitungsleuten am Eingang sie anstarrte. Sie errötete bis zum Haaransatz. Schnell bückte sie sich und sammelte die Sachen ein, die bei der Kollision aus ihrer Tasche gefallen waren: einen DIN-A5-Block, ein Paket Kaugummi, eine fast leere Plastikflasche mit Pepsi und drei Slipeinlagen in einer grünen Plastikverpackung. Der Stift lag noch in der Tasche. Sie fischte ihn heraus und schrieb schnell die Autonummer und die Telefonnummer auf den Block.

Die Journalisten und Fotografen starrten sie nicht länger an und unterhielten sich weiter miteinander. Annika bemerkte, dass Bertil Strand einen gemeinsamen Einkauf von Eis organisierte.

Sie warf sich die Tasche über die Schulter und ging langsam auf ihre Kollegen zu, die sie nicht weiter zu bemerken schienen. Abgesehen vom Reporter des Konkurrenzblattes, der unter seinen Kriminalartikeln immer mit Foto abgebildet war, kannte sie niemanden. Da war noch eine junge Frau mit einem Kassettenrecorder, auf dem Radio Stockholm stand, zwei Fotografen, die jeder von einer Fotoagentur kamen, der Fotograf der Konkurrenz und drei Reporter, die sie nicht zuordnen konnte. Kein Fernsehsender war gekommen, die Lokalnachrichten des öffentlich-rechtlichen Senders dauerten während des Sommers nur fünf Minuten, das Privatfernsehen hatte bloß Talkshows und Kurznachrichten im Programm. Die Morgenzeitungen würden wahrscheinlich Bilder von den Pressebüros bringen und mit einem Agenturtext ergänzen. Das Echo war nicht da und würde auch nicht kommen, das war ihr klar. Einer ihrer ehemaligen Kollegen vom Katrineholms-Kurier hatte ihr verächtlich erklärt, warum: »Mord und Ähnliches überlassen wir der Boulevardpresse. Wir sind keine Aasfresser.«

Annika hatte damals schon gewusst, dass diese Worte mehr über den Kollegen als über das Echo sagten, aber manchmal geriet sie in Zweifel. Warum war das ausgelöschte Leben einer jungen Frau keine Berichterstattung wert? Sie verstand das nicht.

Die restlichen Leute an der Absperrung waren neugierige Passanten. Sie ging langsam vorbei und löste sich aus der Menschenansammlung. Die Polizisten, sowohl die Kripoleute als auch das technische Personal, waren innerhalb der Umzäunung beschäftigt. Bisher war weder ein Krankenwagen noch ein Leichenwagen eingetroffen. Sie schaute auf die Uhr. Siebzehn nach eins. Es waren fünfundzwanzig Minuten vergangen, seit sie den Tipp durchs Idiotentelefon erhalten hatte. Sie wusste nicht so recht, was sie jetzt tun sollte. Es erschien ihr nicht sinnvoll, mit den Polizisten zu reden, die würden wahrscheinlich nur aus­rasten. Ihr war klar, dass sie noch nicht viel wussten, weder wer die Frau war noch, wie sie gestorben war oder wer sie ermordet hatte.

Sie ging zum Drottningholmsvägen. Vor den Häusern auf der westlichen Seite der Kronobergsgatan hatte sich ein tortenstückgroßer Fleck Schatten gebildet. Sie ging hin und lehnte sich an die Fassade, die rau, grau und heiß war. Die Temperatur lag nur wenig unter der in der Sonne, und die Luft brannte ihr im Hals. Sie war entsetzlich durstig und holte ihre Cola aus der Tasche. Der Verschluss war offenbar undicht gewesen, und die Flasche war jetzt außen klebrig, so dass sie mit den Fingern auf dem Etikett kleben blieb. Welch eine Hitze!

Sie trank das warme, abgestandene Getränk aus und versteckte die Flasche dann zwischen zwei Stapeln Altpapier, die im nächsten Hauseingang lagen.

Die Journalisten an der Absperrung waren jetzt auf die andere Seite der Straße gegangen. Wahrscheinlich warteten sie darauf, dass Bertil Strand mit dem Eis kam. Aus irgendeinem Grund verursachte ihr die Situation Übelkeit. Etwa zehn Meter weiter schwirrten die Fliegen immer noch um die Leiche, während sich hier die Presse auf eine fröhliche Pause freute.

Sie ließ den Blick über den Park schweifen. Er bestand aus steilen, grasbewachsenen Hügeln und vielen großen Laubbäumen. Von ihrem Platz im Schatten aus konnte sie Linden, Buchen, Ulmen, Eschen und Birken unterscheiden. Einige waren riesig, andere neu gepflanzt. Zwischen den Gräbern wuchsen einige gigantische Bäume, vor allem Linden.

Ich brauche bald noch mehr zu trinken, dachte sie.

Sie setzte sich auf den Bürgersteig und lehnte den Kopf zurück. Es musste jetzt bald etwas passieren. Hier konnte sie nicht sitzen bleiben. Sie schaute zu der Gruppe von Journalisten hinüber, die langsam kleiner wurde. Die Frau von Radio Stockholm war gegangen, aber Bertil Strand war inzwischen mit dem Eis zurückgekommen. Berit Hamrin war nicht zu sehen, und Annika fragte sich, wohin sie wohl gegangen war.

Ich warte noch fünf Minuten, dachte sie, dann kaufe ich mir etwas zu trinken und versuche, einen der Nachbarn zu erwischen.

Sie versuchte, sich eine Karte von Stockholm vorzustellen und auszumachen, wo genau sie sich befand. Sie schaute an der Feuerwache im Süden vorbei. Dort lag die Hantverkargatan, die Straße, in der sie selbst wohnte. Im Grunde wohnte sie nicht mehr als zehn Häuserblocks von hier entfernt, im Hinterhaus eines zum Abriss vorgesehenen Hauses am Kungsholmstorg. Trotzdem war sie hier am Kronobergspark noch nie gewesen. Unter ihr lag die U-Bahn-Station Fridhemsplan, mit etwas Mühe konnte sie erahnen, wie die Züge unter ihr durchsausten und sich dabei ihre Vibrationen durch Beton und Asphalt fortsetzten. Geradeaus waren ein großer, kreisförmiger Belüftungsschacht vom Tunnel, ein Pissoir und eine Parkbank zu sehen. Vielleicht hatte dort der Penner, der das Idiotentelefon angerufen hatte, gesessen und sich im Sonnenlicht mit seinem Kumpel, der mal pinkeln musste, geräkelt. Warum benutzte sein Kumpel denn dann nicht das Pissoir, fragte sich Annika. Sie dachte eine Weile darüber nach und musste dann einfach hinübergehen und hineinschauen. Als sie die Tür öffnete, war ihr klar, warum. Der Gestank, der von der Kloschüssel ausging, war unerträglich. Sie trat ein paar Schritte zurück und machte die Tür wieder zu.

Vom Spielplatz her kam eine Frau mit einem Kinderwagen auf sie zu. Das Kind im Wagen hielt eine Flasche mit einer roten Flüssigkeit in der Hand. Die Mutter sah erstaunt auf das Plastikband, das am Gehweg gespannt war.

»Was ist denn hier passiert?«, rief sie.

Annika richtete sich auf und schob ihre Tasche etwas höher.

»Die Polizei hat abgesperrt«, sagte sie.

»Das sehe ich selbst. Warum denn?«

Annika zögerte. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die anderen Journalisten sie beobachteten. Schnell machte sie ein paar Schritte auf die Mutter zu.

»Da drin liegt eine tote Frau«, sagte sie leise und zeigte auf den Friedhof. Die Frau wurde blass.

»Das ist ja schrecklich«, sagte sie.

»Wohnen Sie in der Nähe?«, fragte Annika.

»Ja, gleich um die Ecke. Wir waren unten zum Baden, aber da waren so viele Leute, dass man kaum ein Bein an den Grund bekam, und deshalb sind wir lieber hierhergekommen. Liegt sie noch da?«

Die Frau reckte den Hals und schaute zwischen den Linden hindurch.

Annika nickte.

»Gott, wie furchtbar!«, stieß die andere hervor und schaute Annika mit großen Augen an.

»Kommen Sie oft hierher?«, fragte Annika.

»Ja, jeden Tag. Der Kleine geht in die offene Vorschulgruppe oben am Spielplatz.«

Die Frau konnte die Augen gar nicht mehr von dem Friedhof lassen. Annika beobachtete sie ein paar Sekunden.

»Haben Sie heute Nacht oder heute früh irgendetwas Besonderes gehört? Ein Rufen aus dem Park oder so?«, fragte sie.

Die Frau schob die Unterlippe vor, dachte nach und schüttelte den Kopf.

»Hier in dem Viertel ist ziemlich viel los«, sagte sie. »Im ersten Jahr, als wir hier wohnten, wachte ich jedes Mal auf, wenn die Feuerwehr ausrückte, aber das passiert mir jetzt nicht mehr. Und dann haben wir die Besoffenen unten an der Sankt-Eriksgatan, und damit meine ich nicht die, die hier in die Kneipe gehen, die sind längst weg, wenn es Nacht wird, sondern die richtigen Säufer. Die können einen die ganze Nacht wach halten. Aber am schlimmsten ist die Klimaanlage von McDonald’s. Die läuft Tag und Nacht und macht mich wirklich wahnsinnig. Wie ist sie gestorben?«

»Das weiß noch keiner«, antwortete Annika. »Das heißt, es hat niemand geschrien oder um Hilfe gerufen?«

»Natürlich haben Leute geschrien, am Freitagabend wird hier jede Menge geschrien und gekreischt. Hier, mein Schätzchen, da hast du sie …«

Das Kind hatte die Flasche fallen lassen und jaulte, die Mutter steckte sie ihm wieder zu. Dann wies sie mit dem Kopf auf Bertil Strand und die anderen.

»Sind das die Hyänen?«

»Genau. Der mit dem großen Eis ist mein Fotograf. Ich heiße Annika Bengtzon und komme vom Abendblatt.«

Sie streckte die Hand aus und begrüßte die Frau. Trotz der zuvor geäußerten Verachtung schien sie beeindruckt zu sein.

»Du meine Güte«, sagte sie, »Daniella Hermansson, freut mich. Werden Sie darüber schreiben?«

»Ja, oder ein anderer von der Zeitung. Ist es okay, wenn ich ein paar Notizen mache?«

»Ja klar.«

»Darf ich Sie zitieren?«

»Ich werde mit zwei ›l‹ und zwei ›s‹ geschrieben, wie man es spricht.«

»Sie sagen, dass es hier immer ziemlich laut ist.«

Daniella Hermansson stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, auf Annikas Block zu schauen.

»Ja«, erwiderte sie, »entsetzlich laut, vor allem am Wochenende.«

»Das heißt, wenn jemand um Hilfe rufen würde, dann würde niemand reagieren.«

Daniella schob wieder die Unterlippe vor und schüttelte dann den Kopf.

»Na ja, es kommt natürlich darauf an, um welche Uhrzeit«, sagte sie. »So ab halb fünf hat sich meist alles beruhigt. Dann hört man nur noch den Ventilator. Ich schlafe das ganze Jahr über mit offenem Fenster, das ist gut für die Haut. Aber ich habe nichts gehört …«

»Gehen Ihre Fenster zur Straße oder zum Hof raus?«

»Beides. Wir wohnen in der Zweizimmerwohnung ganz rechts im zweiten Stock. Das Schlafzimmer liegt zum Hof hinaus.«

»Und Sie kommen hier jeden Tag vorbei?«

»Ja, ich bin ja immer noch im Erziehungsurlaub mit dem Kleinen, alle Mütter der Gruppe treffen sich vormittags auf dem Spielplatz im Park. Ach komm, Schätzchen …«

Das Schätzchen hatte die rote Flüssigkeit ausgetrunken und begann laut zu schreien. Seine Mutter beugte sich über ihn und steckte ihm mit einer routinierten Bewegung den Zeigefinger hinten in die Windel und roch daran.

»Aber hallo«, sagte sie, »wir müssen wohl mal raufgehen. Eine neue Windel und dann ein kleines Schläfchen, oder, mein Schätzchen?«

Das Kind wurde still, als es ein Band von der Mütze fand, auf dem es kauen konnte.

»Könnten wir wohl ein Bild von Ihnen machen?«, beeilte sich Annika zu fragen.

Daniella Hermansson riss die Augen auf.

»Von mir? Nun ja, also, ich möchte ja nicht …«

Sie lachte und fuhr sich mit einer Hand übers Haar. Annika sah sie unverwandt an.

»Die Frau zwischen den Grabsteinen ist wahrscheinlich ermordet worden«, sagte sie. »Es scheint mir daher wichtig, das Viertel auf die richtige Weise zu beschreiben. Ich wohne selbst unten am Kungsholmstorg.«

Daniella Hermansson riss die Augen noch weiter auf.

»Mein Gott, ermordet? Hier im Viertel?«

»Man weiß noch nicht, wo sie gestorben ist, aber sie wurde hier gefunden.«

»Aber ausgerechnet hier, wo es immer so ruhig ist«, sagte Daniella Hermansson, bückte sich und hob ihr Schätzchen auf den Arm. Das Kind verlor das Band, auf dem es gekaut hatte, und fing wieder an zu schreien. Annika griff ihre Tasche fester und ging hinüber zu Bertil Strand.

»Warten Sie hier«, rief sie Daniella über die Schulter zu.

Der Fotograf war noch dabei, die Innenseite seiner Eistüte auszulecken, als Annika zu ihm kam.

»Könnten Sie mal kurz kommen?«, fragte sie leise.

Bertil Strand knüllte das Papier langsam zusammen und zeigte mit der Handfläche auf den Mann neben ihm.

»Annika, das hier ist Arne Påhlson, Reporter bei der Konkurrenz. Kennen Sie sich schon?«

Annika schaute zu Boden, streckte die Hand aus und murmelte ihren Namen. Arne Påhlsons Hand war warm und feucht.

»Sind Sie fertig mit dem Eis?«, fragte sie säuerlich.

Bertil Strands Sonnenbräune verdunkelte sich um ein paar Grad. Es gefiel ihm nicht, von einer Sommervertretung zurechtgewiesen zu werden. Statt zu antworten, bückte er sich und nahm seinen Rucksack.

»Wohin gehen wir?«

Annika wandte sich um und ging zurück zu Daniella Hermansson. Sie warf einen Blick zum Friedhof hinüber, wo die Beamten in Zivil standen und miteinander sprachen. Das Schätzchen schrie immer noch, aber seine Mutter kümmerte sich nicht um ihn. Sie war dabei, Lippenstift aufzutragen, den sie aus einer kleinen hellgrünen Lippenstiftdose mit Spiegel auf der Innenseite der Klappe geholt hatte. »Was ist das für ein Gefühl, zu erfahren, dass vor Ihrem Schlafzimmerfenster eine tote Frau liegt?«, fragte Annika und machte sich Notizen.

»Es ist entsetzlich«, antwortete Daniella Hermansson. »Wenn man bedenkt, wie oft meine Freundinnen und ich hier spätabends auf dem Heimweg von der Kneipe vorbeigekommen sind. Es hätte ja genauso gut eine von uns sein können.«

»Werden Sie in Zukunft vorsichtiger sein?«

»Ja, auf jeden Fall«, erwiderte Daniella Hermansson mit Nachdruck. »Ich werde nie wieder abends durch den Park gehen. Nein, mein kleiner Kerl, bist du so traurig …«

Daniella bückte sich, um ihren Sohn wieder auf den Arm zu nehmen. Annika schrieb derweil und spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam. Das hier war richtig gut. Das konnte man sogar für die Schlagzeile verwenden, wenn man es ein wenig kürzte.

»Haben Sie vielen Dank«, sagte sie schnell. »Könnten Sie mal eben zu Bertil schauen? Wie heißt das Schätzchen? Wie alt ist er? Wie alt sind Sie selbst? Und wie wollen Sie tituliert werden …? Im Erziehungsurlaub, okay. Vielleicht sollten Sie nicht so fröhlich gucken …«

Daniella Hermanssons eingeübtes Filmsternchenlächeln, das sie wahrscheinlich auf allen Urlaubs- und Weihnachtsbildern trug, erstarb. Stattdessen sah sie jetzt verwirrt und unbeholfen aus. Bertil Strand knipste wie mit einem Maschinengewehr und bewegte sich dabei mit vorsichtigen Tanzschritten um die Frau und das Kind herum.

»Kann ich Sie später nochmal anrufen, falls noch Fragen auftauchen? Wie ist Ihre Telefonnummer? Und der Türcode? Nur für den Fall, dass …«

Daniella Hermansson drückte ihren laut schreienden Sohn in den Kinderwagen und wippte ihn an den Absperrungen der Polizei vorbei. Zu ihrem Entsetzen sah Annika, wie Arne Påhlson von der Konkurrenz auf Daniella zuging und sie begrüßte, als sie vorbeikam. Glücklicherweise schrie aber das Kind dermaßen, dass die Frau nicht stehen bleiben konnte, um sich noch einmal interviewen zu lassen. Annika atmete auf.

»Sie werden mir nichts über meinen Job beibringen«, sagte Bertil Strand.

»Wie gut«, erwiderte Annika. »Und was wäre gewesen, wenn sie die Leiche rausgetragen hätten, während Sie unterwegs waren, um für die Konkurrenz Eis zu kaufen?«

Bertil Strand sah sie voller Verachtung an.

»Draußen im Feld sind wir keine Konkurrenten, hier sind wir Kollegen.«

»Ich glaube, da täuschen Sie sich«, sagte Annika. »Journalisten jagen nicht in Rudeln. Wir sollten uns mehr auf unsere Seite konzentrieren.«

»Das bringt keinem was.«

»Doch, den Lesern und der Glaubwürdigkeit.«

Bertil Strand schulterte seine Kameras.

»Wie gut, dass Sie mir das erklären. Ich arbeite ja erst fünfzehn Jahre bei dieser Zeitung.«

Verdammte Scheiße, dachte Annika, als der Fotograf zu seinen »Kollegen« zurückging, dass ich aber auch nie die Klappe halten kann! Plötzlich war ihr schwindelig, und sie fühlte sich kraftlos. Ich muss schnell etwas trinken, dachte sie. Zu ihrer großen Freude sah sie Berit aus der Hantverkargatan hinaufkommen.

»Wo warst du?«, rief Annika und ging auf sie zu.

Berit stöhnte.

»Ich habe im Auto gesessen und telefoniert, die Zeitungsausschnitte von dem anderen Mord aus dem Archiv bestellt und mit ein paar Polizeikontakten geredet.«

Sie versuchte vergeblich, sich abzukühlen, indem sie mit der einen Hand wedelte.

»Ist was passiert?«

»Ich habe nur mit einer Frau aus dem Viertel geredet.«

»Hast du was getrunken? Ich finde, du siehst etwas blass aus.«

Annika wischte sich den Schweiß von der Stirn, und plötzlich war ihr zum Weinen zumute.

»Ich habe gerade ein paar ziemlich blöde Sachen zu Bertil Strand gesagt«, sagte sie gedämpft. »Dass man am Ort des Geschehens nicht mit den Konkurrenten rummachen sollte und so.«

»Ganz meine Meinung. Aber Bertil Strand ist da anderer Ansicht, das weiß ich«, sagte Berit. »Es ist manchmal etwas schwer, mit ihm zurechtzukommen, aber er ist ein ziemlich guter Fotograf. Geh und kauf dir was zu trinken. Ich halte die Stellung.«

Dankbar verließ Annika die Kronobergsgatan und ging den Drottningholmsvägen hinunter. Sie stand gerade in der Schlange am Kiosk am Fridhemsplan, um sich ein Mineralwasser zu kaufen, als sie den Leichenwagen nach links in Richtung Kronobergspark abbiegen sah. »Um Himmels willen«, rief sie, rannte einfach über die Straße – ein Taxi machte eine Vollbremsung – und lief quer über die Sankt-Eriksgatan zurück zum Park. Als sie wieder oben war, wurde sie fast ohnmächtig.

Der Leichenwagen war in der Sankt-Göransgatan stehen geblieben, und ein Mann und eine Frau stiegen aus.

»Warum bist du so außer Atem?«, fragte Berit.

»Das Auto, die Leiche«, keuchte Annika und stützte die Hände auf die Knie.

Berit beruhigte sie:

»Der Leichenwagen wird hier eine ganze Weile stehen. Die Leiche verschwindet nirgendwohin. Du musst nicht so nervös sein, wir verpassen schon nichts.«

Annika stellte ihre Tasche auf den Bürgersteig und richtete sich auf. »Entschuldigung«, sagte sie.

Berit lächelte.

»Geh und setz dich in den Schatten. Ich hole dir jetzt was zu trinken.«

Annika verzog sich in den Schatten. Sie kam sich vor wie ein Idiot.

»Das wusste ich nicht«, murmelte sie, »ich habe keine Ahnung.«

Sie setzte sich auf den Bürgersteig und lehnte sich wieder gegen die Hauswand. Der Boden brannte durch den dünnen Rock heiß auf ihrem Hintern.

Der Mann und die Frau aus dem Leichenwagen standen vor den Absperrungen, direkt am Eingang, und warteten. Drei Männer hielten sich immer noch innerhalb der Umzäunung auf, wahrscheinlich waren zwei von ihnen Kriminaltechniker und einer ein Fotograf. Sie bewegten sich vorsichtig, bückten sich, hoben etwas vom Boden auf. Richteten sich wieder auf. Die Entfernung war zu groß, um zu erkennen, was sie da eigentlich machten. Ist es immer so langweilig am Tatort?, fragte sie sich.

Berit kam nach ein paar Minuten zurück und hatte eine große, eiskalte Cola dabei.

»Hier, da ist Zucker drin und ein paar Sorten Salz, genau das, was du jetzt brauchst.«

Annika schraubte den Deckel ab und trank so schnell, dass die Kohlensäure im Hals aufstieg und durch die Nase herauskam. Sie hustete, schnaufte und verschüttete etwas Cola auf ihren Rock. Berit setzte sich neben sie und nahm eine eigene Flasche aus der Tasche.

»Was machen die da jetzt eigentlich?«, fragte Annika.

»Sie sichern Spuren«, sagte Berit. »Es sind so wenige wie möglich, und sie bewegen sich so wenig wie möglich. Oftmals sind es nur zwei Techniker und vielleicht noch ein Ermittler von der Kripo.«

»Kann das der im Hawaiihemd gewesen sein?«

»Vielleicht«, sagte Berit. »Wenn du genau hinschaust, siehst du vielleicht, dass der eine Techniker die Hand an den Mund hält. Er geht mit einem kleinen Kassettenrecorder herum und spricht alles auf Band, was er am Fundplatz der Leiche sieht. Das kann eine Beschreibung sein, in welcher Position die Leiche liegt, das Aussehen der Kleidung und so weiter.«

»Sie hatte keine Kleider an«, sagte Annika.

»Dann liegen vielleicht Kleidungsstücke um sie herum, das wird dann auch dokumentiert. Wenn sie fertig sind, wird die Leiche in die Rechtsmedizin nach Solna gebracht.«

»Zur Obduktion?«

Berit nickte.

»Dann werden die Techniker hierbleiben und den ganzen Park durchkämmen. Sie werden ihn Zentimeter für Zentimeter durchgehen und Spuren von Blut, Speichel, Haaren, Fasern, Sperma, Fußabdrücken, Autoreifen, Fingerabdrücken sichern, was immer man sich denken kann.«

Annika saß einen Augenblick still da und beobachtete die Männer. Sie hatten sich zu der Leiche hinuntergebeugt, sie sah ihre Köpfe bei der grauen Wand des Plastiksacks zusammenkommen.

»Warum haben sie den Zaun überdeckt und nicht den Körper?«, fragte sie.

»Sie decken die Leiche am Fundort nicht zu, wenn die Gefahr besteht, dass dabei Spuren verwischt werden«, antwortete Berit. »Es geht immer nur um die Spuren, sie wollen so wenig wie möglich zerstören. Den Plastiksack haben sie nur aufgehängt, damit man nicht hineinschauen kann. Ziemlich schlau …«

Die Techniker und der Fotograf erhoben sich gleichzeitig.

»Jetzt ist es so weit«, sagte Berit.

Sie standen gleichzeitig mit den Journalisten, die ein Stück entfernt saßen, auf. Alle gingen wie auf ein geheimes Signal zur Absperrung vor. Die Fotografen brachten ihre Kameras in Anschlag und hängten sich ein paar Apparate mit unterschiedlich großen Objektiven über. Es hatten sich noch weitere Journalisten der Gruppe angeschlossen, Annika zählte schnell fünf Fotografen und sechs Reporter, einer von ihnen, ein junger Mann, trug einen Laptop bei sich, auf dem das Logo des schwedischen Nachrichtensenders stand, eine Frau hatte einen Block von der Südschwedischen Zeitung dabei.

Der Mann und die Frau öffneten die Hecktüren des Leichenwagens und holten eine eingeklappte Bahre heraus. Mit ruhigen, methodischen Handgriffen klappten sie sie auseinander und sicherten sie an verschiedenen Haken. Annika bekam eine Gänsehaut. Kohlensäure stieg aus ihrem Magen auf, und ihr wurde übel. Jetzt würden sie bald die Leiche vorbeirollen. Sie schämte sich für ihre morbide Aufregung.

»Könnten Sie bitte etwas beiseitetreten?«, fragte die Frau mit der Bahre.

Annika blickte auf die Bahre, die vorbeirollte. Sie vibrierte, als die Räder über die Unebenheiten des Asphalts ratterten. Obenauf lag eine blaue Plastikplane, ordentlich zusammengefaltet. Das Leichentuch, dachte Annika und spürte, wie ihr ein kalter Schauer den Rücken herunterlief.

Der Mann und die Frau zwängten sich unter der Absperrung hindurch. Das orangegelbe Schild, auf dem »Gesperrt« stand, schaukelte noch lange hin und her.

Die Träger waren jetzt bei der Leiche. Die Männer und die Frau standen zusammen und diskutierten. Annika spürte, wie die Sonne auf die Unterseite ihrer Arme brannte.

»Warum dauert das so lange?«, flüsterte sie Berit zu.

Berit antwortete nicht. Annika zog die Cola aus der Tasche und trank ein paar Schlucke.

»Ist doch furchtbar, oder?«, fragte die Frau von der Südschwedischen Zeitung.

»Ja, allerdings«, erwiderte Annika.

Dann breiteten die Leichenträger ihre Plane über die Bahre, das blaugraue, glänzende Plastik flatterte zwischen den Blättern. Sie legten die junge Frau auf die Trage und wickelten sie in Plastik ein. Annika stiegen plötzlich Tränen in die Augen. Sie sah den lautlosen Schrei der Frau, ihren trüben Blick, die blaugeschlagene Brust.

Ich darf jetzt nicht weinen, dachte sie und starrte auf die verwitterten Grabsteine. Sie versuchte Namen oder Jahreszahlen abzulesen, doch die Inschriften waren auf Hebräisch. Die verschnörkelten Zeichen waren von Wind und Zeit fast ausgelöscht worden. Alles war plötzlich sehr still. Sogar der Verkehr auf dem Drottningholmsvägen schien für einen Moment innezuhalten. Die Sonne blitzte durch die Kronen der mächtigen Linden und tanzte über den Granit. Der Friedhof war schon hier, als die Stadt noch gar nicht so weit reichte, dachte Annika. Die Bäume waren schon da, als die Toten begraben wurden. Sie waren damals kleiner und dünner, aber ihre Blätter sandten dasselbe Spiel von Licht und Schatten über den Granit, als die Gräber frisch gegraben waren.

Die Tore wurden aufgestoßen, die Fotografen fingen an. Einer von ihnen drängte sich an Annika vorbei und rammte ihr einen Ellenbogen in den Bauch, so dass sie einen Moment lang nach Luft ringen musste. Erstaunt stolperte sie zurück und verlor die Bahre aus dem Blick, war aber schnell wieder vorn.

Ich frage mich, in welche Richtung wohl der Kopf liegt, dachte Annika. Sie werden sie ja wohl kaum mit den Füßen vor­aus fahren. Die Fotografen folgten der Bahre entlang der Absperrung. Die Motoren der Kameras ratterten unrhythmisch, das eine oder andere Blitzlicht war zu sehen. Bertil Strand sprang hinter seinen Kollegen herum, hielt die Kamera mal über und dann wieder zwischen sie. Annika hielt die Hecktür des Leichenwagens fest umklammert, der Lack brannte unter ihren Fingern. Durch die blinden Flecken, die die Blitze hervorriefen, sah sie das Paket der toten Frau auf sich zurollen. Der Fahrer des Leichenwagens blieb zwanzig Zentimeter vor ihr stehen. Er drückte eine mechanische Vorrichtung, und Annika konnte sehen, dass er verschwitzt und gestresst war. Sie schaute auf das Plastik hinunter.

Ich frage mich, ob die Sonne sie warm gehalten hat, dachte sie.

Ich frage mich, wer sie war.

Ich frage mich, ob sie wusste, dass sie sterben würde.

Ich frage mich, ob sie noch Angst haben konnte.

Plötzlich liefen die Tränen. Sie ließ die Tür los, wandte sich um und ging ein paar Schritte fort. Der Boden schwankte, ihr war, als müsste sie sich erbrechen.

»Das ist der Geruch und die Hitze«, meinte Berit, die plötzlich an ihrer Seite war, sie an der Schulter fasste und vom Leichenwagen wegzog.

Annika trocknete die Tränen.

»Jetzt fahren wir in die Redaktion«, sagte Berit.

Patricia erwachte mit dem Gefühl zu ersticken. Es gab keine Luft im Raum, sie konnte nicht atmen. Langsam wurde sie sich ihres Körpers bewusst, glänzend nackt auf der Matratze. Als sie den linken Arm hob, lief der Schweiß die Rippen hinunter und in den Bauchnabel. Himmel, dachte sie, ich brauche Luft! Und Wasser!

Sie erwog einen Moment, Josefine zu rufen, aber aus irgendeinem Grund überlegte sie es sich anders. Es war völlig still in der Wohnung, entweder schlief Jossie noch, oder sie war ausgegangen. Patricia stöhnte leise und drehte sich halb um. Wie spät war es wohl? Josefines schwarze Gardinen schlossen den Tag aus und tauchten den Raum in ein muffiges Dunkel. Es roch nach Schweiß und Staub.

»Das ist ein schlechtes Omen«, hatte Patricia gesagt, als Josefine mit dem dicken schwarzen Stoff nach Hause gekommen war. »Man kann keine schwarzen Vorhänge haben. Das macht Trauerränder an die Fenster, dann können die positiven Energien nicht frei fließen.«

Josefine war ärgerlich geworden.

»Das ist mir scheißegal«, hatte sie gesagt. »Du musst es ja nicht anschauen. In meinem Zimmer will ich es jedenfalls dunkel haben. Wie sollen wir nachts arbeiten, wenn wir tagsüber nicht schlafen können, hast du darüber schon mal nachgedacht?«

Natürlich bekam Jossie, was sie wollte, so war es meistens. Patricia setzte sich langsam auf. Das Laken hatte sich zu einer feuchten Nabelschnur mitten im Bett gewunden.

Ärgerlich versuchte sie es zu glätten.

Jossie ist dran mit Einkaufen, dachte sie, deshalb ist wahrscheinlich nichts im Haus.

Sie stand auf und ging aufs Klo. Dann lieh sie sich Josefines Morgenmantel aus und kehrte ins Zimmer zurück, um die Vorhänge aufzuziehen. Das Licht stach ihr wie mit Nägeln in die Augen und ließ sie die Vorhänge schnell wieder zuziehen. Stattdessen machte sie ein Fenster weit auf und stellte einen Topf dazwischen, damit es nicht wieder zufiel. Die Luft war draußen zwar fast noch wärmer als drinnen, aber sie roch nicht so schlecht.

Sie ging langsam in die Küche, füllte ein Bierglas mit Wasser aus dem Hahn und trank gierig. Die Küchenuhr zeigte fünf vor zwei. Patricia war zufrieden. Sie hatte nicht den ganzen Tag verschlafen, obwohl sie bis fünf Uhr früh gearbeitet hatte.

Sie stellte das Glas zwischen einen leeren Pizzakarton und drei Tassen mit festgetrockneten Teebeuteln auf den Spültisch. Jossie war einfach nicht dazu zu bewegen, sauberzumachen. Patricia seufzte und räumte auf, warf Müll weg, spülte und wischte, ohne nachzudenken, die Arbeitsplatten ab.

Sie war gerade auf dem Weg zur Dusche, als das Telefon klingelte.

»Ist Jossie da?«

Es war Joachim. Ohne dass es Patricia bewusst war, stellte sie sich gerade hin und konzentrierte sich darauf, strenger zu wirken.

»Ich bin gerade erst aufgestanden, ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht schläft sie.«

»Kannst du sie bitte mal wecken?«

Er sagte es kurz, aber freundlich.

»En seguida, Joachim, warte einen Augenblick.«

Sie ging leise den Flur hinunter zu Josefines Zimmer und klopfte vorsichtig an den Türrahmen. Als sie keine Antwort bekam, machte sie die Tür einen Spalt weit auf. Das Bett war ebenso ungemacht wie gestern, ehe Patricia zur Arbeit gegangen war. Schnell schlich sie zum Telefon zurück.

»Nein, tut mir leid, ich glaube, sie ist unterwegs.«

»Wohin? Mit wem trifft sie sich?«

Patricia lachte nervös.

»Mit niemandem oder vielleicht mit dir? Ich weiß es nicht. Sie ist dran mit Einkaufen …«

»Hat sie denn zu Hause geschlafen?«

Patricia versuchte beleidigt zu klingen.

»Natürlich hat sie das. Wo sollte sie denn sonst schlafen?«

»Das ist ja gerade die Frage, Pattilein. Hast du eine Idee?«

Er legte in dem Moment auf, als Patricia sich ihrer Wut bewusst wurde. Sie hasste es, wenn er sie so nannte. Das tat er, um sie zu erniedrigen. Er mochte sie nicht, denn er meinte, sie würde zwischen ihm und Josefine stehen.

Patricia ging langsam zu Josefines Schlafzimmer zurück und schaute noch einmal hinein. Das Bett sah wirklich genauso aus wie am Abend zuvor, die Decke lag auf der linken Seite des Bettes auf dem Boden und Josefines roter Badeanzug auf dem Kissen. Jossie war nicht zu Hause gewesen.

Der Gedanke beunruhigte sie.

Die Luft in der Eingangshalle des Zeitungsgebäudes schlug ihnen wie ein nasses, kaltes Handtuch entgegen. Auf dem Marmorfußboden schimmerte die Feuchtigkeit und ließ die Bronzebüste des Zeitungsgründers glänzen. Annika fröstelte und klapperte mit den Zähnen. In der verglasten Rezeption saß der Hausmeister Tore Brand und meckerte.

»Ihr habt es gut«, rief er, als die kleine Gruppe auf dem Weg zum Fahrstuhl an ihm vorbeikam, »ihr dürft ab und zu mal raus und euch aufwärmen. Hier drin ist es so verdammt kalt, dass ich den Heizlüfter holen musste, um mir nicht die Füße abzufrieren.«

Annika versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Tore Brand durfte dieses Jahr seinen Sommerurlaub erst im August nehmen, was er als Ungerechtigkeit an der Grenze zur vorsätzlichen Quälerei empfand.

»Ich muss aufs Klo«, sagte Annika, »fahrt ruhig schon rauf.«

Sie ging um Tore Brands Tisch herum und roch, dass er auf seinem Posten mal wieder heimlich geraucht hatte. Nach kurzem Zögern nahm sie die Behindertentoilette und nicht die gewöhnliche Damentoilette. Sie wollte ihre Ruhe haben und sich nicht mit anderen verschwitzten Frauen um ein Waschbecken drängen.

Tore Brands klagende Stimme folgte ihr bis in die Toilette. Sie verschloss die Tür und sah sich selbst im Spiegel an. Sie sah furchtbar aus. Ihr Gesicht war flammend rot und die Augen ebenfalls gerötet. Sie drehte den Hebel nach links, beugte sich vor, hielt ihre Haare hoch und ließ sich das kalte Wasser über den Nacken laufen. Das Porzellan an ihrer Stirn war eiskalt. Ein Rinnsal bahnte sich einen Weg ihr Rückgrat hinunter.

Warum tue ich mir das an?, fragte sie sich. Warum liege ich nicht am Tallsjön im Gras und lese eine Frauenzeitschrift?

Sie drückte den roten Knopf am Händetrockner und versuchte, sich die Achselhöhlen zu trocknen, was nicht besonders gut klappte.

Der Platz von Anne Snapphane war leer, als Annika in die Redaktion hinaufkam. Auf dem Tisch standen noch zwei Becher mit eingetrocknetem Kaffee, aber die Cola war weg. Annika zog daraus den Schluss, dass Anne einen Auftrag bekommen hatte.

Berit stand am Newsdesk und redete mit Spiken. Annika sank auf ihren Stuhl und ließ die Tasche auf den Boden fallen. Ihr war schwindelig, und sie war erschöpft.

»Na, wie war es denn da draußen?«, rief Spiken und sah auffordernd zu ihr hinüber.

Annika beeilte sich, den Block herauszufischen, und ging dann zum Newsdesk.

»Jung, nackt, Plastiktitten«, sagte sie, »viel Schminke. Sie hatte geweint. Keine direkte Verwesung, sie kann nicht besonders lange da gelegen haben. Soweit ich sehen konnte, keine Kleider in der Nähe.«

Sie schaute vom Block auf, und Spiken nickte ihr aufmunternd zu.

»Sieh mal einer an«, sagte er, »irgendwelche vor Schreck versteinerten Nachbarn?«

»Eine neunundzwanzigjährige Mutter eines Kleinkindes, die Daniella heißt. Sie wird nie wieder abends durch den Park gehen. ›Das hätte ich sein können‹, sagt sie.«

Spiken machte sich Notizen und nickte erfreut.