Stunde der Drachen - Drachenkrieg - Ewa Aukett - E-Book

Stunde der Drachen - Drachenkrieg E-Book

Ewa Aukett

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Beschreibung

Die Ereignisse in Sijrevan überschlagen sich.Die Portale zur Zwischenwelt haben sich manifestiert und dem Clan der McCallahans ein erstes Opfer abgefordert.Tavish spürt, dass dies erst der Anfang ist und ihnen noch weit Schlimmeres bevorsteht. Und dennoch … in all dem Leid, in all dem Schmerz über ihren Verlust scheint es auch noch Hoffnung zu geben. Denn ausgerechnet in Anna, die aus der anderen Welt zu ihnen kam und so gar nicht nach Sijrevan zu passen scheint, zeigt sich zögerlich das Erbe ihres Blutes.Während das Land langsam von Dunkelheit überschwemmt wird, machen sie sich auf eine Reise durch die Zeit – unwissend, dass sie das Schicksal aller Welten besiegeln werden."Drachenkrieg" ist der zweite und letzte Band des "Bluterbe"-Zweiteilers  und gleichzeitig das grandiose Finale der "Stunde der Drachen"-Saga.Die "Bluterbe"-Romane können  unabhängig von der Bestseller-Trilogie "Stunde der Drachen" gelesen werden. Auf Fans wartet allerdings ein Wiedersehen mit den Helden aus "Stunde der Drachen 1-3".

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Ewa Aukett

Stunde der Drachen - Drachenkrieg

Bluterbe 2

Elaria80331 München

1. Kapitel

Das Land der McCallahans, Eddas Hütte

Im Nebelung, Anno 1611

 

In seinen Ohren war ein schrilles Pfeifen, das sich mit dem Wehklagen und Weinen seiner Mutter zu etwas Surrealem verband, das jeden klaren Gedanken aus seinem Kopf verdrängte. Etwas, was nicht von dieser Welt war und den schalen Nachhall des Schreies, den das Monster von sich gegeben hatte, in ihm wachhielt. Er fühlte sich wie betäubt und konnte spüren, wie er weiter und weiter rückwärts stolperte, ohne etwas dagegen tun zu können. Hände drückten sich gegen seine Brust, Angst und Panik waberten wie lichter Nebel um ihn herum.

Vor seinen Augen pulsierte das Tor in wilden Farben und er konnte das Bild nicht loswerden, das sich in seine Netzhaut gebrannt hatte. Wulf, ein Krieger groß wie ein Baum, alt, aber trotzdem noch stark wie ein Bär. Wulf, in dessen ungläubig aufgerissenen Augen das Licht erloschen war und durch dessen Brust sich von hinten eine blutbeschmierte, grausame Klaue grub, die ihm das noch schlagende Herz aus dem Leib gerissen hatte.

Es war schnell gegangen, und dennoch war das kein ehrenwerter Tod für einen Highlander wie ihn gewesen. Wulf hätte es verdient mit dem Schwert in der Hand zu sterben, nicht aufgeschlitzt von einem Monster, wie Tavish es noch nie gesehen hatte.

Der Körper dieser Kreatur war der eines Plagua gewesen, doch sein Gesicht … Tavishs Lider flatterten. Er konnte es nicht in Worte fassen, alles in ihm wehrte sich dagegen, dieses Gesicht … Er mochte den Gedanken nicht einmal zu Ende führen und doch: Es hatte etwas seltsam Menschliches gehabt. Etwas, das so nicht sein sollte, – und es hatte seinen Triumph in die Welt hinausgeschrien.

Kräftige Hände packten ihn an den Armen und zerrten ihn herum.

Er registrierte kaum, dass der Dunkelalb vor ihm stand. Das schmale, blasse Gesicht war grau vor Gram und Crafaels Lippen bewegten sich, doch Tavish verstand kein Wort. Jeder Gedanke in seinem Kopf war erloschen und immer noch lähmte ihn das herzzerreißende Schluchzen seiner Mutter. Nie zuvor hatte er sie so weinen sehen, nie zuvor solchen Schmerz in ihrem Gesicht erblickt.

Was war gerade geschehen?

War das Wirklichkeit? War das die Wahrheit?

Tavish blinzelte. Er hatte Menschen aus Annas Welt erwartet, … kein Monster, das einen von ihnen im Augenblick eines Wimpernschlages aus dem Leben riss und mit ihm in diesem Loch verschwand.

Wulf … WULF!

Er bemerkte, dass es nicht seine Gedanken waren, die den Namen immer wiederholten. Es war die Stimme seiner Mutter, die langsam seinen Verstand klärte.

„Wulf!“

Als er den Kopf zur Seite wandte, sah er seine Eltern auf dem Boden hocken. Royces Gesicht war voller Schmerz und Trauer, während er Lee fest mit beiden Armen umschlungen hielt. Die Tränen liefen ihr über das verzerrte Gesicht, sie krümmte sich und nannte in einem fort Wulfs Namen.

Tavish schluckte.

„Junge!“ Crafaels Stimme bahnte sich einen Weg in seine Gedanken. Er hob den Blick und sah dem Dunkelalb in die Augen.

Im Antlitz dieses Mannes stand der gleiche Schmerz wie in den Gesichtern seiner Eltern.

„Warum?“, flüsterte er.

Der Dunkelalb presste die Lippen aufeinander und schloss für den Bruchteil eines Augenblickes seine Lider.  „Es tut mir leid“, wisperte Crafael. „Es tut mir so unfassbar leid.“

Tavish schüttelte den Kopf. „Wieso? Ihr kennt uns nicht.“

Als der Mann vor ihm den Blick hob und Tavish in die Augen sah, verspürte er plötzlich Scham. Crafaels trauriges Lächeln traf ihn bis in die Eingeweide. „Er war mein Sohn.“

Ungläubig starrte er den Dunkelalb an.

„Was? Wulf war ein Findelkind“, raunte Tavish. „Das hat er uns immer wieder erzählt.“

„Das ist eine komplizierte Geschichte“, erwiderte Crafael leise. Sein Blick glitt hinüber zu Lee und Royce und Tavish entging keineswegs, dass seine Augen plötzlich verdächtig glänzten, als er die Arme sinken ließ und sich abwandte.

Er machte einen Schritt auf den Dunkelalb zu. „Warum seid Ihr hier?“

Der Mann zögerte kaum merklich. „Weil Sijrevan mich rief.“

„Das ist nicht der einzige Grund.“ Tavishs Finger bohrten sich in den Arm des Fremden. „Sagt mir, was Euch tatsächlich hergeführt hat.“

Crafaels Schultern sanken hinab und er warf ihm einen bedauernden Blick zu. „Meine Sehnsucht.“

„Wonach?“

Ein neuerliches Lächeln legte sich über das Gesicht des Dunkelalben. Ein Lächeln, so voller Trauer und Schmerz, dass Tavish das Atmen schwerfiel. Crafael blickte abermals hinüber zu Tavishs Eltern – doch er sah nicht Royce an, sondern Lee. „Nach ihr, … aber sie ist gegangen, vor langer Zeit. Ich war zu spät.“

 

 

 

~~~ ~~~ ~~~

 

 

 

Die Rough Hills, Grenze zwischen Highlands und Lowlands

Im Nebelung, Anno 1611

 

Sie fröstelte.

Ein seltsames Gefühl beschlich sie, Unwohlsein und sachte Beklemmung vereinten sich in ihrem Bauch. Unruhig trat sie an den Ausgang der Höhle und blickte hinunter in die Schlucht, die sich zwischen den Bergen hindurch von den Highlands bis hinab zu den Lowlands zog.

Nichts. Keine Menschenseele war an diesem Tag unterwegs. Niemand außer ihr füllte die Stille und Einsamkeit dieses Ortes mit Leben.

Deirdre verzog die Lippen zu einem schmalen Lächeln und sah in den grauen Himmel hinauf. Schon bald würde der Winter kommen. Der Geruch nach Schnee lag in der Luft und die Kälte ließ den Atem sichtbar werden.

Sie sog die Kühle tief in ihre Brust und schloss die Augen. Für einen Moment ließ sie es zu, dass ihre Gedanken sich verselbstständigten, während sie der Ruhe lauschte. Sie verdrängte das Gefühl des Alleinseins, das sie in letzter Zeit zunehmend übermannte. So oft hatte ein Teil von ihr sich schon zurückgewünscht an den Ort ihrer Kindheit … und immer wieder musste sie sich erinnern, dass sie dort nie wirklich daheim gewesen war.

Vor fünf Jahren hatte sie allem den Rücken gekehrt, was sie gekannt hatte. Sie hatte sich der Aufgabe nicht gewachsen gefühlt, die für sie angedacht gewesen war. Zu groß war die Verantwortung, zu groß der Preis. Ihre Freiheit, ihre Seele – all das wäre einem Ort und einem Clan verpflichtet gewesen, dem sie sich nie so verbunden gefühlt hatte, wie sie es hätte sein sollen.

Sie schlug die Augen auf und betrachtete die Wolken, die sich schwer und nass am Himmel ballten und eine undurchdringliche Wand zu bilden schienen. Ihre Mutter war bei Deirdres Geburt gestorben und ihr Vater in dieser grauenvollen Schlacht gefallen. Keinen von beiden hatte sie je kennenlernen dürfen. Familie war nur ein Wort, dessen wahre Bedeutung ihr Geist nicht begreifen konnte.

Nichts als Erzählungen und Mythen waren ihr geblieben. Erinnerungen waren wie die Asche auf einer weiten, brachliegenden Ebene, die zwischen ihren Fingern zu Staub zerrann.

Sie war mit Sorgfalt und Achtsamkeit erzogen worden. Man hatte sie das Kämpfen gelehrt und ihr alles beigebracht, was notwendig war, um in dieser Welt zu überleben, - doch das, was sie sich am meisten ersehnt, wonach ihr Herz gegiert hatte, das hatte ihr niemand geben können … oder wollen.

Zuneigung, Geborgenheit und Liebe waren Sehnsüchte, die Deirdre zu empfinden vermochte, aber die niemand ihr gegenüber erwiderte. So oft hatte sie sich danach gesehnt … nach einer tröstenden Umarmung, einem liebevollen Lächeln … manchmal sogar nach den Schlägen, die sie vom einstigen Schwertmeister des Clans bekommen hatte.

Da war sie zehn gewesen. Sie hatte seine Anweisungen missachtet, sie hatten diskutiert und gestritten und schließlich hatte sie ihm trotzig die beiden Dolche vor die Füße geworfen. Einer hätte ihm fast den linken Knöchel durchbohrt. Er hatte ausgeholt und ihr links und rechts eine Ohrfeige verpasst - danach war er erschütterter gewesen als sie selbst. Stammelnd hatte er sich entschuldigt und war in sein Quartier geeilt.

Sein Handeln war nachvollziehbar gewesen, aber dass er die Hand ausgerechnet gegen sie erhoben hatte … Sie hatten ihn fortgeschickt und danach war alles noch viel schlimmer geworden. Sie hatte früh begriffen, warum alle einen Bogen um sie machten, warum niemand ihr zu nahe kommen wollte, aber alle ihre Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen versuchten.

Sie war die einzige Tochter des in der Schlacht von Fallcoar gefallenen Bearach Kinnon, letzte Überlebende eines aussterbenden Geschlechts … und sie war gezeichnet. Sie war unantastbar durch ihre Herkunft und das Feuermal, das sich über ihr halbes Gesicht und ihren Körper zog.

Sie hatte gelernt eine unsichtbare Mauer um ihr Inneres zu bauen. Eine Mauer, über die niemand zu ihr hereinblicken, niemand ihre Gefühle erkennen konnte. Sie hatte ihr Herz fest in eine kleine, dunkle Kiste in diesem imaginären Kerker geschlossen und den Schlüssel versteckt.

Nichts fühlen zu wollen, war eine Sache, nichts fühlen zu können, eine andere. Sie hatte gelernt zu verdrängen, zu ignorieren und sich selbst zu hassen … also hatte sie irgendwann ihr Bündel geschnürt, die Burg an den östlichen Küstengewässern hinter sich gelassen und sich auf die Suche nach sich selbst gemacht.

Sie wusste, sie war ihrem Ziel noch lange nicht nah – aber sie hatte gelernt die Einsamkeit als Freundin anzunehmen und seit fast einem Jahr lebte sie nun in dieser kleinen Höhle in den Rough Hills, hoch über der Schlucht, die zwei Landstriche miteinander verband, zwischen denen ein Jahrzehnte andauernder Waffenstillstand herrschte.

Mit vierundzwanzig Lenzen verdingte sie sich als bezahlter Herold und lebte das Leben eines Heimatlosen. Das war kein Leben, das sie sich als Kind erträumt hatte, aber sie war zufrieden mit ihrem Los. Niemand verlangte ihr hier mehr ab, als sie zu geben bereit war, und sie hatte nur wenig Kontakt zu anderen Menschen.

Über die Schulter blickte sie in das Halbdunkel ihres Heims zurück. Ein kleines Feuer brannte in der Mitte der Höhle und halb darüber hing ein Kessel voll schmackhaftem Kräutersud.

Each und Faol ruhten beide am äußeren Höhlenrand und schliefen, eng aneinandergedrückt. Ihrem Pferd und ihrem Wolf hatte sie es zu verdanken, dass sie hier draußen nicht durchdrehte. Sie hörten ihr zu, wenn Deirdre reden wollte, sie schenkten ihr vorbehaltlos die Zuneigung, die die Menschen ihr aufgrund ihres Äußeren verwehrten. Sie waren die einzigen Wesen, denen Deirdre wirklich vertraute.

Am Morgen hatte Bran sie erreicht.

Der Rabe hatte vor der Höhle gehockt, mit seinem Schnabel geklappert und einen Zettel an seinem Bein getragen. Sie hatte die geschwungene Schrift sofort erkannt, dennoch hatten die Worte sie überrascht. Ein Botengang in den Norden gehörte nicht gerade zu ihren liebsten Aufträgen, aber für einen Säckel Gold würde sie auch das übernehmen. Zwei Tage, höchstens drei, dann würde der Bote aus Saint Farlane sie erreichen … Sie war neugierig, welches Ziel ihr Auftraggeber für sie vorgesehen hatte.

Als sie sich wieder in ihr Versteck begeben wollte, vernahm sie Hufgetrappel. Stirnrunzelnd wandte sie sich erneut der Schlucht zu und blickte hinüber zu dem Ausgang, der sich in die Lowlands öffnete. Es war kein Reiter zu sehen und sie wäre zugegebenermaßen verwundert gewesen, wenn der Bote bereits jetzt eingetroffen wäre.

Als sie ihren Blick in die andere Richtung lenkte, trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück in den Schatten ihrer Zuflucht.

Was war das?

Sie erkannte einen einzelnen Reiter, aber irgendetwas war seltsam an ihm und seinem Pferd - als würden die Konturen ihrer Gestalten sich an den Rändern auflösen. Dunkler Nebel waberte um sie herum, breitete sich aus und zog sich wieder zurück, als würden dürre, lange Finger den Weg und die felsigen Wände abtasten.

Ein Grollen erklang hinter ihr in der Höhle. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte ihr, dass Faol sich aufgerichtet hatte und die Haare auf seinem Rücken sich aufstellten. Sie gab ihm stumm das Zeichen still zu sein. Ihm war anzusehen, wie widerwillig er ihrer Aufforderung folgte und sich flach auf den Boden legte.

Das wenige Licht des Feuers spiegelte sich in den gelben Augen und ließen sie regelrecht erglühen, während er die Ohren spitzte und stumm dem Geschehen in der Schlucht lauschte.

Deirdre kroch auf allen Vieren wieder nach draußen, presste sich am Ende ihres kleinen Felsvorsprungs auf den Boden und linste über den Rand in die Tiefe hinab. Sie erstarrte.

Der Reiter war stehen geblieben … und er war nicht mehr allein.

Sie mochte ihren Augen kaum trauen, aber der Nebel, den sie eben noch für ein Hirngespinst gehalten hatte, verdichtete sich, wurde fest und zwei weitere, vollkommen identische Reiter tauchten wie aus dem Nichts neben dem ersten auf.

Bei den Göttern! Was ging da unten vor sich?

 

 

 

~~~ ~~~ ~~~ 

 

 

 

Deutschland im Dezember

Gegenwart

 

Frank zog sich die Brille von der Nase, fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht und sah zum Fenster hinüber. Er seufzte.

Halb neun.

Draußen war es stockdunkel. Weil es sich den ganzen Nachmittag bis in den Abend hinein immer wieder zugezogen und der Himmel sich verfinstert hatte, hatte er einfach die Zeit vergessen.

Eigentlich hatte er schon lange Feierabend. Früher hätte Janett ihn bereits erbost angerufen, weil sie mit den Kindern und dem Abendessen auf ihn wartete. Er senkte den Blick auf die Brille zwischen seinen Fingern und holte tief Luft. Dummerweise gehörte das mittlerweile der Vergangenheit an.

Vor einem Monat hatte sie ihm abends den Koffer ins Wohnzimmer gestellt und ihm gesagt, dass er ausziehen solle. Sie hatte die Nase voll davon gehabt, dass er immer zu spät heimkam und selbst die magere Freizeit nicht mehr mit ihr und der Familie verbrachte, sondern allein daheim in seinem Büro hockte.

Sie kamen auch gut ohne ihn klar, hatte sie gemeint. Dabei war ihr Blick voller Enttäuschung und Bitterkeit gewesen.

Frank wusste, dass das alles seine Schuld war. Er wusste, dass er die Verantwortung für diesen Bruch trug. Er hätte mit ihr reden sollen, viel früher schon, aber die Sorgen hatten ihn fast erdrückt und er hatte die Probleme, die die Arbeit betrafen, nicht mit nach Hause nehmen und bei ihr abladen wollen. Er hatte alles allein schaffen wollen, so wie immer.

Dass ihn ausgerechnet das seine Familie kosten würde, damit hatte er nicht gerechnet. Er hatte es ihr an jenem Abend erklären, ihr sagen wollen, was los war, - aber Janett war logischerweise einfach nicht mehr bereit gewesen, ihm zuzuhören.

So viele Wochen hatte sie sich bemüht, war verständnisvoll gewesen und hatte versucht etwas aus ihm herauszubekommen, weil er so still gewesen war, wenn er heimkam. Immer wieder hatte er abgeblockt und gemeint, es sei nichts weiter und werde schon alles gut.

Doch nichts war gut geworden.

Er hatte sich am Stadtrand von Bad Bergschaumm ein winziges, möbliertes Zimmer mit Bad gesucht und seinen Koffer dort in einer Ecke auf den Stuhl gepackt. Da lag er heute noch, aufgeklappt, zur Hälfte hingen die Klamotten raus. Er hatte nicht die Kraft, irgendwas davon ordentlich in den Schrank zu hängen oder die Kommode zu nutzen, die im Zimmer stand. Sein Abendessen war seit vier Wochen eine Mischung aus Instantsuppe und Dosenbier, in der Hoffnung, ein bisschen zu vergessen.

Tagsüber kämpfte er um die weitere Existenz seiner Zeitung und seiner beruflichen Karriere. Aber er war nur noch einen Fingerzeig davon entfernt, dass alles den Bach herunterging, weil die Auflagen im Keller waren und niemand mehr an einem kleinen lokalen Magazin interessiert war. Die Leute wollten ihre Nachrichten online konsumieren und die Leserschaft, die noch das Gefühl von knisternden Zeitungsseiten zwischen ihren Fingern genoss, wurde zusehends kleiner.

Dass sein Privatleben dieser Scheiße zum Opfer fiel, war nicht der Plan gewesen. Blöderweise konnte er aber auch nicht alles hinwerfen und sich dafür entscheiden, nur noch für Janett und die Kinder da zu sein, gerade jetzt nicht … Immerhin hingen von seinem Versagen auch die Existenzen von mehr als einem Dutzend Mitarbeiter und deren Familien ab. DIE interessierte verständlicherweise in erster Linie, ob sie zum nächsten Ersten noch ihren Lohn bekamen und einen Job hatten.

Vor zwei Monaten hatte er einen Grafiker und einen IT-Spezialisten entlassen müssen, die beide noch in der Probezeit gewesen waren. Er hatte sich schwergetan mit der Entscheidung, aber hätte er sich nicht dazu durchgerungen, wären die personellen Ausgaben weiter explodiert. Es hatte Getuschel in der Belegschaft gegeben, doch niemand hatte nachgefragt – sie alle waren froh, dass es überhaupt weiterlief – und ja, er war dankbar dafür, denn sie alle ahnten, wie schlimm es um die Zeitung stand und dass sich etwas ändern musste.

Er stützte den Ellbogen auf die Armlehne, legte die Stirn gegen seine Finger und schloss die Augen. Manchmal war er so müde. Er wollte einfach nur einschlafen und nicht mehr aufwachen.

Der Tag heute hatte unter der Schlagzeile von Dreinaeheim stehen sollen, … stattdessen würde morgen überall zu lesen sein, was tatsächlich passiert war: „Journalistin vermisst! Reporterin des Bergschaummer Anzeigers in gewaltigen Krater in Dreinaeheim gestürzt.“ Das war genau die Art von reißerischer Schlagzeile, die er für seine Zeitung nie hatte ausschlachten wollen, … aber ihm blieb keine Wahl.

Er wollte sich so nicht mehr fühlen, so nutzlos und klein.

Was für eine furchtbare Woche. Als wären das Erdbeben und die Katastrophe in Dreinaeheim nicht schon schlimm genug gewesen, war auch noch Anna verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Natürlich war das Unsinn – sie war in dieses verdammte Loch gefallen und vermutlich lag ihr lebloser Körper zerschmettert zwischen all den zahllosen Trümmern.

Er schüttelte den Kopf bei der Vorstellung. Grauenvoll, einfach nur grauenvoll.

Arme Anna!

Mayas Schweigen im Auto, als sie zurück in die Redaktion nach Bad Bergschaumm gefahren waren, hatte ihm zugesetzt. Sie hatte nichts gesagt, aber er hatte ihren stummen Vorwurf fast körperlich gespürt.

ER hatte Anna nach Dreinaeheim geschickt. ER hatte sie aufgefordert einen Bericht über die scheiß eingestürzte Klinik zu schreiben. Dabei wäre das Rainers Aufgabe gewesen.

Rainer … dieses arrogante Arschloch!

Aber Rainer hatte sich letzte Woche eine Auszeit erbeten. Er hatte gemeint, er wäre da an einer Sache dran, an was Großem, und er müsse recherchieren und dazu brauchte er ein paar freie Tage. Auch wenn dieser Kerl ein Unsympath war, war er gut in seinem Job, und Frank hatte gehofft, wenn Rainer tatsächlich an was Spektakulärem dran war, dann wäre das auch gut für die Zeitung.

Sie brauchten dringend einen aufregenden Artikel, der ihre Auflage steigerte … oder ein Wunder.

Tief durchatmend richtete Frank sich in seinem Drehstuhl auf und fuhr sich mit einer Hand durch das wirre Haar. Für heute war genug. Er schaltete den Computer aus und erhob sich. Er konnte ohnehin nichts tun. Die Einsamkeit war besser in seinen spärlichen vier Wänden zu ertragen, wo er sich mit Bier betäuben und von irgendeinem hirnlosen TV-Programm berieseln lassen konnte.

 

Nachdem er seine Jacke übergeworfen und seine Tasche an sich genommen hatte, schaltete er die Lichter aus und verließ das Büro. Zerstreut lief er den Korridor zu den Fahrstühlen entlang. Die Stille im Gebäude war geradezu erdrückend. Früher war jeden Abend das Reinigungspersonal im Haus gewesen, mittlerweile hatte er das auch auf zweimal die Woche beschränken müssen.

Zum Kotzen!

Der rechte Fahrstuhl wartete bereits auf ihn, als er die Glastür zur Redaktion sorgfältig hinter sich abschloss und im Dunkel des Treppenhauses in den beleuchteten Innenraum der Kabine trat. Ohne hinzusehen, drückte er den untersten Knopf und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die polierte Stahlwand in seinem Rücken.

Die Türen schlossen sich mit leisem Surren und der Lift setzte sich sanft in Bewegung. Wie lang würde er das noch erleben dürfen?

Als er die Redaktion vor fast sechsundzwanzig Jahren übernommen hatte, war der Bergschaummer Anzeiger nicht mehr gewesen als ein Anzeigenblättchen, in dem die Leute ihre ungewollten Haustiere verschenken und ihren Hausrat inserieren konnten. Er hatte dafür gesorgt, dass daraus eine respektable Zeitung geworden war – lokale Nachrichten, fundierte Berichte, unterhaltsame Artikel.

Er war damals so alt gewesen wie Anna heute, fünfundzwanzig, alles schien möglich zu sein und er war so stolz gewesen auf „seine“ Zeitung.

Vielleicht war der Bergschaummer Anzeiger immer noch nur ein lokales Nachrichtenmagazin, aber sie hatten sich durchaus einen bekannten Namen gemacht und waren für lange Zeit in der Region die erste Adresse gewesen, was beachtenswerte Informationen betraf.

Frank war immer wichtig gewesen, dass sie sich nicht durch reißerische Schlagzeilen und irgendwelche Falschmeldungen hervortaten. Er hatte mit seiner Zeitung nie zu dieser Sorte von Revolverblatt werden wollen.

Aber die Zeiten änderten sich. Das Publikum schien heute weit weniger an Fakten und Wahrheit interessiert. Es wollte unterhalten werden und sich in irgendeiner Weise daran aufreiben. Die Aussagen, die teilweise in den Kommentarbereichen und im Gästebuch der Internetseite Bergschaummer Anzeiger auftauchten, sprachen oft genug eine deutliche Sprache.

Hass, Neid und Angst ließen die Menschen jede Art von Anstand und Moral verlieren und die Anonymität, mit der sie sich online durch das Internet zu bewegen glaubten, vermittelte ihnen offenbar ein Gefühl von Sicherheit. Viele wähnten sich in einem rechtsfreien Raum.

Frank seufzte. Als ob der Tag nicht schon grässlich genug wäre, musste sein Kopf sich jetzt auch noch mit diesem Mist beschäftigen.

Das leise Klingeln des Aufzugs riss ihn aus seinen Gedanken.

Er stieß sich von der Wand ab und wandte sich dem Ausgang zu. Doch statt des Foyers sah er den Kellerbereich der Redaktion vor sich.

„Was zur Hölle?“ Irritiert machte er einen Schritt nach vorn und schaute sich um. Hatte er den falschen Knopf gedrückt? Wieso war hier unten alles hell erleuchtet? War noch jemand hier? „Hallo?“ Als er einen weiteren Schritt nach vorn machte, bemerkte er am Ende des Korridors das Fluttor zum Archiv offenstehen.

Hatte nicht irgendjemand gesagt, dass Rainer hier oft Stunden verbrachte, um in alten Unterlagen nach Informationen zu suchen? An welcher Schlagzeile war er dran, dass er bis mitten in der Nacht arbeitete?

Stirnrunzelnd ging Frank zu den Räumen des Archivs hinüber. Er trat durch den Eingang. „Hallo?“ Nichts. „Rainer?“ Keine Antwort. Bis auf das leise Summen der alten Glühbirnen, die unter der Decke hingen, herrschte eine nahezu gespenstische Stille. Frank fröstelte. Irgendwie hatte er die Räume hier unten nicht so kalt in Erinnerung.

Wo war Rainer? Vielleicht hatte er schon Feierabend gemacht und war gegangen. Aber warum ließ er dann das Licht brennen und das Fluttor geöffnet? Es gab die strikte Regel, dass das Archiv immer verschlossen zu sein hatte, wenn es nicht genutzt wurde.

Frank trat langsam zwischen die Regale. Vielleicht hing Rainer auch über den alten Papieren und war so vertieft in seine Recherche, dass er wieder nichts von seiner Umgebung mitbekam. Es war Monate her, da hatte er auch mal hier unten herumgelungert, auf der Suche nach irgendwelchen kryptischen Informationen, die er dann wohl doch nicht gefunden hatte.

Sein Blick wanderte über die Regale voller Kartons, Kisten und Ordner. Hier unten waren unglaublich viele Zeitungsartikel und Notizen gelagert, gesammelt über einen Zeitraum, der weit bis in die 1860er-Jahre zurückreichte. Wonach Rainer auch immer forschte, es war vermutlich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen, denn digitalisiert worden war das Archiv bisher noch nicht.

Als er seine Augen wieder nach vorn wandte, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. „Mein Gott!“

Der Gang war mit zerstreuten Papieren und vergilbten Unterlagen regelrecht zugeschüttet. Ein Teil der Kisten war in den Regalen umgestoßen und Kartons aufgerissen worden, einer sah aus, als hätte jemand mit einem Messer darauf eingehackt und ihn zerfetzt.

„Was ist denn hier los?“

Er legte die letzten Meter im Eiltempo zurück und ging vor dem Chaos in die Hocke. Wer hatte das getan? Seine Finger griffen nach dünnen, alten Zeitungen, die sich schon geradezu porös anfühlten.

Lieber Himmel, das waren teilweise seltene Einzelexemplare aus kleinen Druckauflagen, die in den späten 1930er-Jahren erschienen waren. Zeugen einer dunklen Zeit und ebenso hochbrisant, weil sie einen gefährlichen Mann kritisiert hatten, der sich zum Weltherrscher berufen gefühlt hatte.

Eine der Seiten löste sich in Franks Fingern regelrecht in ihre Einzelteile auf. Ärger machte sich in ihm breit. Diese Unterlagen hatten einen unschätzbaren Wert.

Welcher blöde Idiot hatte dieses Chaos angerichtet?

Er hob den Kopf, blickte den Gang entlang und folgte mit den Augen der Spur der Verwüstung, die sich fast bis zum Ende hinzog. Überall versprengte Papiere. Er wollte gar nicht wissen, was dieser sinnlosen Zerstörungswut noch alles zum Opfer gefallen war.

Stirnrunzelnd bemerkte er, dass das letzte Regal auf der linken Seite fast komplett ausgeräumt und nach vorn gerückt war. Dahinter stand eine alte Tür offen.

Frank stutzte.

Wieso war da eine Tür?

Er kannte dieses Archiv seit mehr als zwei Jahrzehnten. Vor fünfzehn Jahren hatte er selbst mit angepackt, als sie die ganzen morschen, alten Holzregale gegen modernere aus Stahl ausgetauscht hatten. Aber hier war nie eine solche Tür verbaut gewesen.

Oder?

Er schüttelte irritiert den Kopf und stand auf. Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern und ernsthaft, so ein antiquiertes, verwittertes Exemplar wäre ihm doch aufgefallen. Aber wenn sie vorher nicht dort gewesen war, musste sie doch irgendwo herkommen.

Mit langen Schritten versuchte er einen Weg durch die Papiere am Boden zu finden, ohne darauf zu treten und noch mehr Schaden anzurichten. Schließlich hatte er das schlimmste Chaos hinter sich gelassen und seine Finger berührten angejahrtes, raues Holz.

Er war sich hundertprozentig sicher, dass diese Tür ihm noch nie aufgefallen war. Als er den Kopf daran vorbeischob, um nachzusehen, was dahinter lag, stutzte er und starrte verwirrt die seltsame Nische an.

Welchen Sinn machte es, eine Tür vor eine Nische zu bauen? Hatte Rainer irgendwelche seltsamen Ideen gehabt und versuchte hier einen blöden Scherz zu machen?

Frank trat ganz um die Tür herum und musterte die Nische. Ob die schon vorher da gewesen war, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Allerdings waren die quaderförmigen Steine nicht in der gleichen Farbe gestrichen wie die Wände des Archivs. Das war merkwürdig … sehr merkwürdig. Stirnrunzelnd kniff er die Augen zusammen. Ein feiner Riss zog sich von oben rechts nach unten links durch die gesamten Steine. Als hätte das Erdbeben vom Wochenanfang hier einen kaum sichtbaren, aber doch vorhandenen Schaden hinterlassen.

Wirklich merkwürdig!

Etwas streifte eiskalt seinen Nacken und Frank fuhr erschrocken herum. Nichts. Niemand war da. Er war völlig allein in diesem Chaos und mit dieser Tür vor sich.

Ein Zittern überlief ihn.

Es fühlte sich plötzlich falsch an, hier zu sein.

Überhaupt war das alles irgendwie nicht richtig. Sein Blick irrte unstet über die verstreuten Papiere, über Kartons, Regale und weiße Steinwände. Die Luft schien für einen Moment zu flirren. Als wäre das alles hier nur ein Trugbild und unter allem, was er zu sehen glaubte, war nichts als kalter, schwarzer Stein, über den sich eine gallertartige Masse aus finsterem Schleim bewegte.

Frank stolperte einen Schritt rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Kante der Tür. Der Schmerz verscheuchte das beängstigende Bild vor seinen Augen, aber nicht das Gefühl von Furcht, das in ihm heraufkroch.

Er sollte nach Hause gehen, so rasch wie möglich.

Ohne sich weiter um die Tür oder die zerstreuten Zeitungen zu kümmern, hastete er durch das Archiv und zurück zum Fluttor. Er war noch zehn Meter davon entfernt, als das Licht über ihm zu flackern begann und das Tor sich wie von Geisterhand langsam schloss.

Irgendwo zwischen den Regalen schien sich plötzlich etwas zu bewegen und ein leises, rasselndes Geräusch war zu hören – als würde etwas nass und schwer einatmen.

Panik machte sich in ihm breit.

Frank begann zu rennen. Gerade als seine Hände das Tor berührten und er sich mit aller Kraft dagegen zu stemmen versuchte, rastete das Schloss ein und der Weg war ihm versperrt.

Mit weit aufgerissenen Augen drehte er sich um und starrte zurück in das Archiv. Seine Fantasie spielte verrückt. Hier war nichts. Hier war niemand.

Über ihm erlosch das Licht.

2. Kapitel

Saint Farlane, Lowlands von Sijrevan

Im Nebelung, Anno 1611

 

Ein kalter Wind war aufgekommen und fegte unzählige Schneeflocken durch die Straßen der Stadt. Moira zog den Kragen ihres Umhangs enger um die Brust und eilte die dunkle Gasse entlang. Es war erst wenige Stunden her, dass sie das warme Lager mit Ailig geteilt hatte und er danach zu einer geheimen Mission aufgebrochen war.

Sie frohlockte, dass er sich ihnen anschließen würde, doch ihr Herz war schwer. Es war schwer auf eine Weise, die ihr neu war und sie ins Grübeln brachte.

Sie war für gewöhnlich keine Frau, die ihren Gefühlen großes Gewicht gab. Gefühle machten schwach. Sie ließen einen Menschen Dinge tun, die man am Ende bereute. Doch Moira war nicht schwach, sie bestimmte ihren Weg so, wie sie es für richtig hielt, und ließ sich von niemandem beirren.

Das Problem war, dass Ailig sie auf eine Weise berührte wie kein Mann zuvor. Es war nicht nur der körperliche Akt, der ihr den Atem raubte und sie in seinen Armen willenlos werden ließ. Es war seine Art, sie anzusehen, wie seine Stimme klang, wenn er ihren Namen aussprach, und dass er sie wirklich wahrnahm, statt sie nur als hübsches Anhängsel zu betrachten.

Vielleicht war es der Tatsache geschuldet, dass sie das gleiche Blut verband, dass auch in ihm ein Teil ihres Vaters schlummerte. Er mochte keine großen Stücke auf Seumas MacFarlane halten, aber er war ihm möglicherweise so viel ähnlicher als sie alle.

Dass sie miteinander geschlafen hatten, war absolut schändlich, und doch wollte sie nichts mehr als wieder und wieder in seinen Armen diese Lust zu erleben.

Ailig zog ihr den Boden unter den Füßen weg und stellte ihre Welt auf den Kopf. Flann Naughton war immer noch ihr Quell der Verlässlichkeit, aber Ailig Morrison hatte ihr Herz in einer Nacht im Sturm erobert.

Moira verharrte im Schritt. Ihr Atem ging rasch und ihr Blick verlor sich im Schneegestöber. Konnte das sein? Sie hatte sich verliebt? Wärme machte sich in ihr breit und Ailigs Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf. Moira lächelte.

Ihre Mutter hatte sie gewarnt.

„Liebe ist gefährlich, sie macht dich angreifbar und schutzlos“, hatte sie gesagt. Aber was sich so gut anfühlte, konnte unmöglich so schlecht sein, wie Lilias gemeint hatte.

Ja, sie vermisste Ailig, aber er würde bald zurückkehren – sie würden gemeinsam gegen die Unbill des Nordens kämpfen und sich ihre Rache holen, und wenn alles vorbei war, würde sie jeden Tag in seinen Armen liegen.

Kopfschüttelnd strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

Das waren Kleinmädchenträume und sie konnte nicht einmal sicher sein, ob Ailig bereit war, sich an sie zu binden. Aber was hatte sie zu verlieren, es zu versuchen.

Sie war ohne große Erwartungen zu ihm gegangen und hatte so viel mehr von ihm bekommen. Sie konnte ihn immer noch in sich fühlen, ihn schmecken und seinen Duft in ihren Haaren riechen. Ihr Lächeln vertiefte sich und Moira setzte ihren Weg fort.

Sie wusste, wie sie einen Mann verführen und an sich binden konnte. Ailig würde ihr gehören.

 

 

 

~~~ ~~~ ~~~

 

 

 

Callahan-Castle, Highlands von Sijrevan

Im Nebelung, Anno 1611

 

Das Morgengrauen war längst hellem Tageslicht gewichen, als Anna sich unter ihrer Decke hervorgetraut hatte, um sich hastig ihre dreckigen Klamotten anzuziehen und die Kammer zu verlassen, in der sie die Nacht verbracht hatte. Glücklicherweise hatte die gruselige Stimme nicht wieder zu ihr gesprochen und Anna verdrängte jeden Gedanken an diesen seltsamen Moment.

Als sie nun die Galerie betrat, von der eine Freitreppe nach unten in die große Eingangshalle führte, schlug ihr aufgeregtes Stimmengewirr entgegen. Verunsichert blieb sie an dem steinernen Geländer stehen und blickte in die Halle hinab. Unzählige Männer mit wilden Bärten, karierten Röcken oder seltsamen Helmen standen in dem großen Saal.

Annas Blick irrte über jede Menge wirrer Haare, ehe sie Lee McCallahan vor dem großen Kamin entdeckte. Sie stand stocksteif davor und starrte in das Feuer, das darin brannte, während ihr Mann und ihr Sohn mit ernsten Gesichtern den polternden Kriegern entgegenblickten.

„Lasst uns hineingehen“, rief jemand. „Vergeltung für Wulf!“

Zustimmendes Gejohle wurde laut. Lee wandte sich zu der Menge um und schüttelte den Kopf. „Nein.“

Anna hob eine Hand an den Mund, um den erschrockenen Laut zu unterdrücken, der in ihrer Kehle emporkroch. Lee war von Kopf bis Fuß mit einer rotbraunen Flüssigkeit besudelt.

War das Blut?

Großer Gott! Was ging hier vor?

„Wulf ist heute nicht gestorben, damit wir kopflos durch dieses Tor rennen“, mischte Royce sich ein. „Niemand von uns weiß, was sich auf der anderen Seite verbirgt und welche Wesen uns dort erwarten. Dieses Ding, das Wulf getötet hat, war für uns alle neu. Es mochte einem Plagua ähnlich sehen, doch es war keines.“

Wulf? Sie hatte sich gestern kaum gewagt, irgendjemanden länger als nötig anzuschauen, aber das war doch dieser alte Highlander, der sie immer mit diesem unergründlichen Blick musterte und unter dessen wildem Bart sich stets ein amüsiertes Lächeln zu verbergen schien.

Er war tot?

Anna machte einen Schritt zurück in die Schatten. Das Atmen fiel ihr plötzlich schwer und ihr Brustkorb fühlte sich an, als würde er von einem eisernen Ring zerquetscht. Sie kannte diese Menschen hier alle nicht. Wulf war ihr völlig fremd, und trotzdem überkam sie ein unerwartet intensives Gefühl von Beklemmung und Verlust, nun da sie wusste, er war gestorben. Anna zog fröstelnd die Schultern hoch. Sie hatte sich erst einmal in ihrem Leben so gefühlt.

Verflucht. Wieso trauerte sie um einen Fremden, den sie gar nicht kannte?

„Du bist nicht zum ersten Mal hier.“

Entsetzt fuhr sie auf dem Absatz herum und sah die ältere Frau vor sich stehen, die ihr gestern Abend bei der Versammlung schon aufgefallen war. Eine zierliche Frau mit wilden, roten Locken, die von unzähligen grauen Strähnen durchzogen waren. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, doch in ihren blauen Augen war ein steter Ausdruck von Wehmut.

Wie hieß sie noch gleich? Marie? Maggie?

„Ich bin Magaidh“, beantwortete ihr Gegenüber die unausgesprochene Frage.

„Anna“, gab sie automatisch zurück. „Was haben Sie gesagt?“

„Du bist schon einmal hier gewesen – in Sijrevan.“

„Oh!“ Anna konnte fühlen, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Sie flüchtete sich in ein unechtes Lachen. „Nein, ganz sicher nicht. Das wüsste ich.“

„Wir erinnern uns nicht immer klar an unsere alten Leben.“

Alte Leben? „Sprechen Sie von Reinkarnation oder so was?“ Nun war es an Magaidh, den Kopf schief zu legen und Anna verständnislos anzuschauen. Vermutlich war ihr der Begriff unbekannt. Anna räusperte sich leise. „Ich meine … so was wie Wiedergeburt, … man stirbt und die Seele kehrt in einem anderen Körper zurück.“

Magaidh nickte. „Ja, genau davon spreche ich.“

Anna verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte langsam den Kopf. „Na ja, wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht daran.“

Das Lächeln der Älteren vertiefte sich. „Es ist nicht nötig, an etwas zu glauben, damit es wahr wird, - aber es kann hilfreich sein, um es zu akzeptieren.“ Sie deutete auf Anna. „Deine Aura, … sie leuchtet immer stärker, seit du hier angekommen bist.“

Das wurde ja immer kurioser. Maya wäre angesichts von so viel Esoterik vermutlich ausgeflippt. Anna fühlte sich allerdings gerade ziemlich deplatziert. Sie hob abwehrend die Hände und flüchtete sich in eine entschuldigende Grimasse. „Ehrlich, keine Ahnung, was Sie mir gerade sagen wollen, aber ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“

Magaidh schüttelte mit sachter Belustigung den Kopf. „Nicht du sollst mir helfen, ich möchte dir helfen.“

Anna hob eine Schulter. „Tja, wenn Sie einen Weg aus diesem Albtraum kennen, nur her damit.“

„Ich verstehe, dass es dich zurück in deine eigene Welt zieht. Es ist sicher sehr verwirrend, hier zu sein.“

„Das ist nett umschrieben“, murmelte Anna. Sie deutete über die Schulter zu der Menschenansammlung in der Halle. „Wissen Sie, was passiert ist?“

Magaidhs Blick wurde traurig. „Das Tor, das dir und Arieyn Zugang zu Sijrevan gewährt hat, hat sich erneut geöffnet.“ Sie zögerte sichtlich und offenbar fiel es ihr schwer darüber zu reden. „Etwas kam, das nicht kommen durfte. Es hat Wulf getötet und seinen Körper mit sich gerissen in die Dunkelheit.“

Annas Augen wurden groß. „Das gleiche Tor? Aber … wie kann das sein? Das kann doch nichts aus meiner Welt gewesen sein, oder?“

Magaidh schüttelte langsam den Kopf. „Die Tore sind nicht beständig. Sie öffnen sich nicht immer dorthin, wo wir es erwarten.“

„Hat er … gelitten?“ Anna wusste nicht, warum sie diese Frage überhaupt stellte. Das ging sie doch alles gar nichts an. In Magaidhs Miene schien sich etwas unmerklich zu verändern, das Anna sich nicht erklären konnte.

„Sie sagen, es soll ein rascher Tod gewesen sein.“

Anna nickte, vergrub die Hände in ihren Hosentaschen und sah zu Boden. „Es tut mir leid.“

Magaidh schwieg so lang, bis sie den Blick wieder hob. „Obwohl du ihn gar nicht kanntest, trauerst du“, stellte Magaidh fest. Anna zog die Schultern hoch und rang nach Worten. Sie wollte es nicht zugeben, aber sie konnte es auch nicht leugnen. Ein seltsames Lächeln umspielte Magaidhs Lippen. „Es ist dein Blut, das dich mit dieser Welt verbindet. Du bist wie Lee.“

„Was?“ Anna starrte ihr Gegenüber aus großen Augen an. „Ganz sicher nicht.“

„Du empfindest seinen Verlust als Schmerz und dein Herz ist schwer.“ Anna presste die Lippen aufeinander. Magaidhs Worte trafen so viel exakter zu, als sie auch nur ahnen konnte.

Die ältere Frau atmete tief ein. Ihr Lächeln verschwand und zurück blieb ein Ausdruck von endloser Traurigkeit in ihrem Gesicht. „Jedes Leben, das Sijrevan verliert, hinterlässt seine Spuren in unseren Seelen. Wir mögen nicht jeden kennen, nicht jedem vertraut sein, und dennoch lässt ihr Fehlen uns nicht unberührt … sogar nach Jahren können wir immer noch spüren, wie sehr ihre Abwesenheit uns quält.“ Der Blick, mit dem sie Anna bedachte, war intensiv. „Du weißt, wie es ist, jemanden zu Grabe zu tragen.“

Anna schluckte und nickte. „Mein Papa ist vor nicht einmal zwei Jahren gestorben.“

„Er war sehr krank.“

„Ja, er hatte Leukämie …“ Sie stockte. Damit konnte Magaidh sicher nichts anfangen. „Sein Blut war krank. Es gab nichts, das ihn heilen konnte.“

„Du hast ihn sehr geliebt“, stellte Magaidh fest.

Anna holte tief Luft und zog die Schultern hoch. „Er war meine Familie. Alles, was ich hatte. Meine Mutter hat uns verlassen, als ich noch ganz klein war, und er hat mich allein großgezogen.“ Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Aber zum ersten Mal in den vergangenen zweiundzwanzig Monaten seit seinem Tod wollte sie sie nicht wieder wegwischen und so tun, als wäre alles nicht so schlimm. Es war schlimm – auch heute noch. „Er war immer da für mich, hat immer auf mich aufgepasst und mir alles beigebracht. Egal, was war, Papa hat immer einen Rat gewusst.“ Sie schniefte und fuhr sich mit einem Arm über das Gesicht. „Er fehlt mir.“

„Er ist immer noch bei dir.“

Blinzelnd hob Anna das Kinn und musterte Magaidh. Die ältere Frau lächelte sie an. Aber diesmal war da etwas in ihrem Blick, das Anna festhielt. „Was meinen Sie?“

„Es ist schwierig für mich, das zu erklären. Weißt du, ich sehe diese Welt anders, als du es tust – als jeder es tut.“ Magaidh machte einen Schritt auf Anna zu und zum ersten Mal wurde die sich all der feinen, hellen Linien bewusst, die Magaidhs Hals und Hände bedeckten. Waren das Narben? „Ich sehe die Menschen auf eine andere Art, Anna. Ich sehe euer Licht, eure Aura … und es existiert eine zweite Aura, die deine umgibt. Eine, die dich niemals verlässt. Die dich beschützt, dich begleitet und über dich wacht. Ich weiß, du glaubst nicht an diese Dinge, aber ich spüre die Liebe, die dich umgibt.“ Magaidh berührte sacht ihren Arm und Anna fühlte sich plötzlich von seltsamer Wärme durchdrungen. „Du bist nicht allein auf dieser Welt. Du siehst ihn vielleicht nicht mehr, aber manchmal kannst du ihn fühlen. Es ist kein Hirngespinst, wie du denkst, - er ist immer noch da und er hört dir zu, wenn du mit ihm sprichst.“

Anna schlug eine Hand vor den Mund. Das konnte Magaidh nicht wissen. Niemand wusste das, nicht einmal Maya, mit der sie sonst so viele Geheimnisse teilte. Niemand wusste, dass sie jeden Morgen in ihrer kleinen Küche am Fenster stand und mit ihrem Vater redete, während sie in den Himmel hinaufsah.

Auf die Weise hatte sie immer das Gefühl gehabt, mit ihm zu reden, so wie früher … nur dass er eben still zuhörte und ihr nicht mehr antworten konnte. Heute war es das erste Mal seit fast zwei Jahren gewesen, dass sie nicht mit ihm gesprochen hatte. Auch, weil die seltsame Stimme ihr Angst gemacht hatte. Sie schnappte nach Luft.

Das war aber ganz sicher nicht ihr Vater gewesen!

Er war noch hier … der Gedanke wirkte im ersten Moment befremdlich, aber zugleich erfüllte er sie auch mit einem Gefühl, das sie lange nicht mehr gespürt hatte. Es war wie ihre Nacht in diesem fremden Bett. Sie fühlte sich auf merkwürdige Weise umarmt und geborgen.

Konnte das wirklich sein?

Der emotionale Teil von ihr wollte daran glauben. Sie wollte, dass es wahr wäre und ihr Papa immer an ihrer Seite war. Aber ihre rationale Seite schüttelte die ganze Zeit nur verständnislos den Kopf, wie sie so was überhaupt in Erwägung ziehen konnte. Das war Irrsinn, völliger Humbug.

So wie Drachen.

Anna riss erschrocken die Augen auf und drehte sich einmal um sich selbst. Da war sie wieder, diese Stimme. Das war eine Frau gewesen, oder? Es klang jedes Mal mehr wie eine Frau als wie ein Mann, aber war trotzdem nicht wirklich zu spezifizieren.

Sie fuhr zu Magaidh herum.

„Haben Sie das auch gehört?“

Magaidh runzelte die Stirn und legte den Kopf schief. „Was hast du gehört?“

„Diese Stimme …“ Sie zögerte. War es klug, Magaidh davon zu berichten? „Ich weiß nicht. Vergessen Sie es.“

Erneut berührte Magaidhs kleine Hand ihren Arm, doch diesmal schlossen ihre Finger sich auch um den Stoff ihres Pullis. „Du musst hier nicht fürchten, dass wir dich für verrückt halten, Anna. Diese Welt ist anders als deine und sie birgt viele unerklärliche Dinge.“

Vermutlich hatte sie recht damit. Aber für Anna war es immer noch schwer, sich mit dieser neuen Realität zurechtzufinden.

Sie hatte heute Morgen auf einem Nachttopf gesessen – war das zu glauben? Sie hatte sich die Zähne mit einem kleinen Stock geputzt und sich mit kaltem Wasser gewaschen. Ihre Welt war auf den Kopf gestellt. Eigentlich wollte sie nicht über diese seltsame Stimme nachdenken und erst recht nicht reden, – aber offenbar wurde sie sie auch nicht los.

„Ich weiß nicht“, wisperte sie. Angespannt musterte sie Magaidh. „Sie spricht halt mit mir, … als wäre jemand direkt neben mir.“

Magaidh schwieg. Eine Weile verharrte sie schweigend in dieser Position und sah Anna nur an. Schließlich schien sie aus ihrer Erstarrung zu erwachen. „Hast du jemals an Drachen geglaubt?“

Anna zog die Augenbrauen hoch.

Sollte das jetzt ein Scherz sein?

Sie wollte schon vehement verneinen, doch ein Gefühl in ihrem Inneren hielt sie plötzlich ab. Das wäre gelogen gewesen. Es hatte tatsächlich Zeiten gegeben, da war sie geradezu verrückt nach Drachengeschichten und allem, was damit zu tun hatte, … aber das war lange her. Ihr entging nicht Magaidhs fragender Blick.

„Ich … na ja, als Kind, klar.“

„Wann?“

Anna schob wieder die Hände in die Hosentaschen und wich zu der steinernen Balustrade zurück, um sich dagegenzulehnen. „Keine Ahnung, das ist Jahre her.“

„Erzähl mir davon.“

„Puh.“ Sie fuhr sich mit einer Hand durch das dunkle Haar und schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ich war noch klein … fünf vielleicht. Ich habe keine Ahnung, woher das kam, aber ich war einfach verrückt nach Geschichten, die mit Drachen zu tun hatten. Und ich weiß noch, wie entsetzt ich jedes Mal war, weil die Drachen oft als Monster dargestellt wurden, die sie gar nicht waren …“ Anna stockte. Hatte sie das gerade wirklich gesagt?

Gestern war sie in Ohnmacht gefallen, weil der Anblick dieses Wesens sie völlig unvorbereitet traf, - und nun erinnerte sie sich an solche Details aus ihrer Kindheit?

„Ist irgendwann in deinem Leben etwas Seltsames passiert? Vielleicht kannst du selbst dich nicht daran erinnern, aber dein Vater hat dir davon erzählt.“

Anna warf einen überraschten Blick zu Magaidh. „Ja … ja, das gibt es tatsächlich. Ich … hatte einen Unfall, als ich etwa vier war, – ich selbst habe da keine Erinnerung dran. Ich bin aus dem Fenster gefallen, dritter Stock, das waren so ungefähr neun Meter, also schon sehr hoch.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Mein Papa hat nur geschrien, während er durchs Haus und nach draußen gerannt ist, … er dachte, ich sei tot. Tja, und dann kam ich ihm wohl völlig unverletzt entgegengelaufen, bis auf ein paar Kratzer und Schrammen. Papa hat immer erzählt, dass es ein Wunder gewesen sei, denn er hatte gesehen, wie ich auf die Steine gestürzt war, – aber das hätte mir jeden Knochen im Leib zertrümmert. Ich denke, er hat sich in seiner Panik vertan und ich bin glücklicherweise in den Büschen gelandet.“

„Danach hattest du diese Vorliebe für Drachengeschichten?“

„Ich weiß nicht, auf jeden Fall kam es danach irgendwann. Drachen als Kuscheltiere, Geschichten über Drachen, Bilder von Drachen … ich war ziemlich verrückt danach.“

„Dennoch hat es sich verloren.“

„Klar, als ich älter wurde, kamen andere Interessen.“

Magaidh nickte. „Hmm … diese Stimme begleitet dich jedoch erst seit einer kurzen Weile?“

Anna runzelte die Stirn. Sah Magaidh da einen Zusammenhang? „Ja, heute Morgen habe ich sie zum ersten Mal gehört. Ich dachte, jemand wäre vor meinem Zimmer, aber da war nichts.“

„Was hat sie gesagt?“

Anna verschränkte die Arme vor der Brust und zog den Kopf zwischen die Schultern. Irgendwo erklang ein leises Knirschen und sie fühlte sich plötzlich unwohl in ihrer Haut. „Zusammenhangloses Zeug“, murmelte sie. „Als würde sie meine Gedanken kennen und darauf reagieren.“

Gib acht.

Anna zuckte erneut zusammen und ließ die Arme sinken. Fast schon genervt sah sie Magaidh an. „Da ist sie wieder, … sie spricht mit mir und ich verstehe nicht, was sie mir damit sagen will.“

Das leise Knirschen wurde lauter. Irritiert stützte sie sich mit den Händen auf dem Geländer ab und schaute sich um. Als ihr Blick sich der Halle und den anwesenden Highlandern zuwandte, sah sie, dass alle zu ihr emporblickten.

Dann brach der Boden unter ihr weg und Anna stürzte in die Tiefe.

 

 

 

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Nahe Saint Farlane, Lowlands von Sijrevan

Im Nebelung, Anno 1611

 

Der Tag hatte mit grauem Nebel und leichtem Nieselregen gestartet. Doch über Mittag war das Wetter in wildes Schneegestöber übergegangen, das nun vor den Fenstern tobte. Saoirse stand im Salon des Hauses, der ihnen als Empfangszimmer diente, und blickte nachdenklich in das winterliche Treiben hinaus.

Obgleich im Kamin ein wohliges Feuer brannte, war nichts als Kälte in ihrem Inneren. Seit Ailigs Besuch waren erst wenige Stunden vergangen, doch die Unruhe, die sein unerwartetes Auftauchen in ihr ausgelöst hatte, ließ nicht von ihr ab.

Sie hatten sich eine ganze Weile nicht mehr gesehen, weil sein Posten als Hauptmann ihn in Anspruch nahm und Saoirse sich zugegebenermaßen zurückgezogen hatte, seit er sich dem Korps der Stadtwache angeschlossen hatte. Sein Besuch hatte sie überrascht und gleichzeitig war ihr bewusst geworden, wie sehr sie ihren alten Freund vermisste.

Früher hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, sie hatten geredet, geträumt, miteinander gelacht. Ailig hatte sie oft vergessen lassen, welcher Hölle sie entkommen war. Ihr neues Leben war mit ihm so viel leichter gewesen.

Doch dann war seine Mutter gestorben und Ailig hatte sich nach Saint Farlane aufgemacht, um ein Mitglied der Stadtwache zu werden. Es war immer sein Traum gewesen ein Krieger zu sein und das Versprechen, das er seiner Mutter zu ihren Lebzeiten gegeben hatte, keiner Garde oder Garnison beizutreten, war mit ihrem Tode hinfällig geworden.

Er war zielstrebig und ehrgeizig, sodass er in kürzester Zeit zum Hauptmann aufgestiegen war. Er schien völlig in diesem neuen Leben aufzugehen und so hatten sie sich nur noch selten gesehen.

Es war verwirrend gewesen, als er nach all den Monaten wieder vor ihr gestanden hatte, und gleichzeitig hatte es sich angefühlt, als wäre er nie fort gewesen. Als hätten sie gestern erst geplaudert und eine schöne Zeit gehabt.

Doch der Grund seines Besuches war besorgniserregend.

Sie wusste, er war ein starker, pflichtbewusster Mensch, der seinen Weg klar vor Augen hatte, – und er war begabt, nicht nur was seine Talente im Kampf anbelangte, auch was sein planerisches Geschick betraf. Dennoch fürchtete sie, dass er angesichts seiner möglichen Rache sowohl Moira Salassar als auch Glendan Erskine unterschätzen würde. Diese Menschen waren intrigant und bösartig. Wenn sie auch nur ahnten, dass er seine eigenen Ziele verfolgte und sie nur Mittel zum Zweck für ihn waren, würde ihn das teuer zu stehen kommen.

Er mochte der Hauptmann der Stadtwache sein, aber auch er war nicht sicher vor Moiras Einfluss und Glendans Machtspielchen. Auch andere Männer und Frauen, die sich sicher gefühlt hatten, waren ihren Machenschaften zum Opfer gefallen.

Tief durchatmend senkte sie den Blick und wandte sich vom Fenster ab. Ob sie das gegebene Versprechen an Ailig je würde einlösen können, blieb abzuwarten. Natürlich war sie bereit ihm zu folgen, nichts würde sie davon abhalten können – die Frage war, ob sie das am Ende überhaupt noch konnte.

Wenn er tatsächlich seine Rache bekam, würde er noch der Gleiche sein wie vorher? Und was geschah danach?

Eine Reise in die Highlands? Auf ewig geächtet und fern der weiten Ebenen, blühenden Äcker und dichten Wälder, die die Lowlands ausmachten, würden sie nie wieder die sein können, die sie einst waren.

Sie musste sich eingestehen, dass sie ein wenig zerrissen war, was das betraf. Natürlich würde sie weder Saint Farlane noch seinen Einwohnern eine Träne hinterherweinen – und es würde ihr nicht schwerfallen, dieses Leben hier hinter sich zu lassen.

Doch da war noch Brandubh.

Gleichgültig, dass er sich den Plänen dieser Vereinigung anschließen wollte. Einerlei, dass auch er auf Rache gegenüber den McCallahans aus war. Er war ihr kleiner Bruder.

Mochte er auch längst ihrer Obhut entwachsen sein, fühlte sie sich immer noch verantwortlich. Sie wusste, sie hoffte umsonst, dass er irgendwann zur Vernunft kommen würde. Er verehrte seinen toten Vater und dessen Verlust war immer noch etwas, das er nicht verarbeitet hatte.

Ihr Blick wanderte hinüber zu den Flammen im Kamin.

In all den Jahren war Brandubh ihr emotional nie so nahe gewesen wie Ailig. Ihr Bruder kannte sie nicht halb so gut wie ihr bester Freund, und wenn sie wirklich ehrlich war zu sich selbst, dann hatte es immer diese winzig kleine Stimme in ihrem Kopf gegeben, die ihr geraten hatte, sich zurückzuhalten.

Brandubh war seinem Vater in so unendlich vielen Dingen ähnlich, von seiner aufbrausenden Art bis hin zu seiner körperlichen Statur. Das Aussehen hatte er glücklicherweise von ihrer Mutter geerbt, sonst wäre es Saoirse vermutlich unmöglich gewesen, sich in den letzten fünf Jahren seit deren Tod um ihn zu kümmern.

Sie hatte sich immer gesträubt, ihm von dem zu erzählen, was ihr Vater ihr angetan hatte. Es war nicht nur die Furcht vor dem gewesen, wie er reagieren würde, weil sie seinen Vater aus dem Bildnis des Helden abstürzen ließ. Es war auch die Sorge, was das mit ihm machen würde. Sie hatte stets befürchtet, er könnte die Wahrheit nicht ertragen, es würde ihn zerbrechen. Sie hatte ihn beschützen wollen.

Doch nachdem er vor wenigen Tagen entschieden hatte, sich diesem Rachekomplott anzuschließen, war sie nicht mehr sicher, ob es nicht viel mehr die Angst um ihre eigene Sicherheit gewesen war.

Was, wenn Brandubh seinem Vater noch ähnlicher war, als sie bisher befürchtet hatte? Was, wenn er die gleiche Bosheit in sich trug, die nur nach einem Auslöser gierte? Wenn eine solche Beichte ihn zu Dingen bewegte, die er zuvor nicht gewagt hatte?

Sie hatte sich selbst geschworen, dass sich die Vergangenheit niemals wiederholen würde. Nie wieder würde ein Mann sie gegen ihren Willen berühren und ihren Körper auf solch schändliche Weise missbrauchen. Lieber würde sie sterben, als diese Demütigung erneut zu ertragen, - und sie war bereit, ihren Peiniger mit in den Tod zu reißen.

Ailigs Worte gingen ihr nicht aus dem Sinn. „Und wenn er übergriffig wird?“

Brandubh war ihr ein guter Bruder gewesen. Er hatte sie niemals so angesehen, wie ihr Vater es getan hatte. Für ihn war sie nur seine große Schwester, die Frau, die ihn umsorgte, ihn beschützte und ihm ein Heim bot. Sollte sich das in ferner Zukunft auch nur für einen winzigen Moment ändern, sollte etwas in seinem Blick aufflackern, das unnatürlich war, würde sie ihr Bündel schnüren und dieses Haus hinter sich zurücklassen.

Sie schaute zu der Tür hinüber, hinter der sich das Arbeitszimmer ihres Bruders verbarg. Doch zuvor würde sie dieses elende Gemälde in seinem Büro ins Feuer werfen, auf dass es brannte wie ihr Vater im Fegefeuer der Hölle. 

3. Kapitel

Die Wälder der Alben, Caltheras

Im Nebelung, Anno 1611

 

Das Tor und ihre Eskorte waren schon lange hinter ihr zurückgeblieben, als sie endlich die letzten Reihen der Bäume erreichte, die das Land der Alben von dem der McCallahans trennten.

Antheanna zügelte die Stute und ließ sie anhalten. Zwischen den Stämmen war die weite Ebene ersichtlich, die das Grenzgebiet bildete - hier und da unterbrochen von ein paar Büschen oder vereinzelten Baumgrüppchen, die dem kalten Wetter trotzten.

Die Highlands. Sie konnte bereits das Meer riechen und den Wind spüren, der von der Küste herüberwehte. Die Heimat der McCallahans war rauer als das Land der Alben, rauer als der ganze westliche Teil Sijrevans. Während in Caltheras noch milder Herbst herrschte, war in den Highlands längst der Winter eingekehrt.

Antheanna seufzte. Sie gab sich keinen Illusionen hin, selbst wenn sie gut vorankäme, waren es vier oder fünf Tagesritte, ehe sie Callahan-Castle erreichen würde.

Die Albenherrin senkte das Kinn auf die Brust und schüttelte den Kopf. Es war sehr lang her, dass sie diesem Ort einen Besuch abgestattet hatte. Sie wusste, dass Lee und Royce die Burg neu aufgebaut hatten, nachdem sie bis auf die Grundmauern niedergebrannt war, aber sie war nie dort gewesen. Ihr war klar, dass es in ganz Sijrevan kaum einen sichereren Ort als Callahan-Castle gab, dennoch fiel es ihr schwer diese letzte Grenze zu überwinden und Caltheras hinter sich zu lassen.

Der Gedanke, ihrer Heimat den Rücken zu kehren, löste ein Gefühl von tiefer Furcht in ihr aus. Aber welche Wahl hatte sie?

Sijrevan befand sich im Beginn eines massiven Wandels und die Alben würden das Land des Lichts verlassen müssen - mochte es ihr auch das Herz brechen. Wenn ihr Volk nicht in der Dunkelheit vergehen und in Sijrevan weiterleben wollte, blieb ihnen nur dieser Weg … oder sie begaben sich auf die Pfade der alten Lande und das Ende der Alben war gekommen.

Antheanna schloss resigniert die Augen.

Welche Wahl sie auch trafen, nichts würde mehr sein wie zuvor.

Ein dunkles Knurren ließ sie erschrocken zusammenfahren.

Ihr Pferd tänzelte nervös auf der Stelle und begann unruhig zu schnauben. Während sie sich einmal im Kreis bewegten, blickte die Albenherrin sich suchend nach dem Ursprung des unerwarteten Lautes um, doch außer ursprünglicher Landschaft und lichten Wäldern war nichts zu sehen.

Was war das gewesen? Und wo kam es her?

Es war zu nah und laut, um das verirrte Echo eines Donnerhalls zu sein. Für den Bruchteil eines Augenblickes hoffte sie auf das Grollen eines Drachen, der sich in seinem Schlaf gestört fühlte, – doch auch er wäre weiter entfernt gewesen … und ihre Nackenhaare würden sich nicht aufstellen wie in diesem Moment.

Antheanna erstarrte. Ihre Finger krallten sich in die Mähne des Pferdes, das sich unter ihr anspannte. Ihr Herzschlag pochte so heftig in ihrer Kehle, dass ihr das Atmen schwerfiel.

Etwas war in ihrer Nähe.

Etwas, das sie nicht ausmachen, nicht erkennen konnte.

Etwas, das sich verborgen hielt auf wundersame Weise.

Die Stute riss plötzlich den Kopf nach oben und stieß ein panisches Wiehern aus, dann jagte sie mit einem kräftigen Galoppsprung los, der Antheanna fast aus dem Sattel hätte stürzen lassen. Erschrocken grub sie ihre Hände in das strähnige Haar des Pferdes und drückte sich auf den Rücken der Stute hinab.

Etwas verfehlte nur knapp ihre Schulter. Sie konnte spüren, wie messerscharfe Klauen den Stoff ihres Mantels zerteilten und etwas ihren Arm streifte. Dann waren sie daran vorbei und die Stute stürmte auf die weite Ebene der Highlands hinaus.

Antheanna sah zurück zu den Wäldern von Caltheras und konnte fühlen, wie das Blut in ihren Adern regelrecht gefror. Ein lichter Schatten, groß wie ein Bär richtete sich zwischen den Bäumen auf.

Nebel waberte um ihn herum.

Das Wesen schien sich für einen Moment in seine Bestandteile aufzulösen, dann verdichtete es sich vor ihren Augen zu einem grauenhaften Monster, das sich auf alle Viere hinabfallen ließ und ihnen mit schwerfälligen, aber weit ausgreifenden Schritten hinterherjagte.

Die Albenherrin wandte den Blick wieder nach vorn und trieb die Stute zu einem noch schnelleren Galopp an. Wenn dieses Wesen sie erreichte, waren sie des Todes.

Die Stute schnaubte unablässig im Tempo ihrer trommelnden Hufe und der Wind zerrte an ihren Kleidern, während schneebedeckte Wiesen und Felder an ihnen vorbeirauschten. Als Antheanna einen Blick nach hinten wagte, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass das Schattenwesen unweigerlich aufholte.

Noch war es zu weit weg, um ihnen zu schaden, doch wenn sie weiter an Tempo verloren, gab es keinen Ausweg. Der Dolch, den sie bei sich trug, würde diesem Monster kaum etwas anhaben können, und wenn sie ehrlich war, war sie nicht geübt genug mit einer Waffe, um sich gegen ein solches Wesen verteidigen zu können.

Ihre Finger glitten über den Hals der Stute, um sie noch einmal anzutreiben, und berührten etwas Warmes, Klebriges. Erschrocken wandte Antheanna ihren Blick nach unten und bemerkte Blut an ihren Fingern. Als sie sich weiter vorbeugte, sah sie, dass ein Riss im Hals des Pferdes klaffte. Er war nicht so tief, dass das Tier daran verblutete, aber die Wunde schmerzte und kostete es Kraft.

Antheanna fluchte still. Verdammt sollten die feigen Helfer des Herrn der Schatten sein!

Sie hob den Kopf und ihr Herz machte einen weiteren Satz. Ein Reiter kam ihnen entgegen, keine fünfhundert Fuß entfernt, und schwang sein Schwert. Sie würde ihm niemals ausweichen können und es war schlichtweg unmöglich, beiden Gegnern zu entkommen.

So hatte sie sich ihr Ende nicht vorgestellt.

In Bruchteilen von Augenblicken war er heran und Antheanna sah, wie sich das Licht der Wintersonne im Stahl des Schwertes brach. Dann rauschte der Reiter an ihr vorbei und sie hörte hinter sich das Kampfgeschrei eines Highlanders.

Verblüfft ruckte sie im Sattel herum und gewahrte, wie der Fremde das Schattenwesen erreichte, das sich in diesem Moment auf seine Hinterbeine aufrichtete. Das Schwert beschrieb einen halben Kreis in der Luft und in der nächsten Sekunde zerteilte es den Hals des Monsters. Das Ungeheuer aus dem Schattenreich kippte haltlos nach hinten, während sein Kopf in hohem Bogen über den Highlander hinwegflog und mit dumpfem Laut in einer Schneewehe versank.

Antheanna zügelte die Stute und ließ sie in einen langsamen Trab verfallen, ehe sie sie in einer sanften Drehung zurücklenkte. Erst jetzt bemerkte die Albenherrin die Clanfarben auf Kilt und Plaid des Kriegers, der aus dem Sattel glitt und die Leiche des Schattenwesens genauer untersuchte.

Was tat ein Highlander der McCallahans so nah an den Grenzen von Caltheras? Sie war ausgesprochen dankbar für den Umstand seines Auftauchens und dass er ihr das Leben gerettet hatte, doch war es ein seltsamer Zufall, dass sie einander ausgerechnet hier begegneten.

Das Pferd unter ihr kam schnaufend zum Stehen und Antheanna stieg aus dem Sattel, um sich die Wunde genauer anzusehen. Glücklicherweise war der Schnitt nicht so tief wie befürchtet, aber eine weitere Hetzjagd dieser Art würde die Stute nicht überstehen.

„Mylady?“

Antheanna hob den Blick und sah den Krieger eiligen Schrittes auf sich zukommen. In seinen Augen lag der gleiche Ausdruck von Ungläubigkeit, den sie selbst empfand.

„Loarn?“ Überrascht bemerkte sie, dass es sich um den jungen Krieger handelte, der Lee und Royce bei ihrem letzten Besuch vor fünf Jahren begleitet hatte.

Er blieb vor ihr stehen, verbeugte sich knapp und musterte sie mit sichtlicher Verwirrung. „Lady Antheanna, … ich hatte Euch nicht an diesem unwirtlichen Ort zu finden erwartet.“

Sie runzelte die Stirn. „Ihr wart auf dem Weg zu mir?“

Loarn nickte. „Ja, Mylady. Lady Lee entsandte mich vor vier Tagen, um Euch in Caltheras aufzusuchen.“ Er richtete sich auf und streckte den Rücken durch. Sein Gesichtsausdruck war ernst. „Ich sollte Euch die Botschaft überbringen, dass sich ein Weltentor nahe Callahan-Castle manifestiert.“

Antheanna spürte, wie ihre Gesichtszüge entglitten und kalte Angst nach ihr griff. Sie war dankbar gewesen, dass Athdara sich nicht auf der Burg MacBalbraith befunden hatte, als dort in viel zu geringer Entfernung die ersten Anzeichen eines Zeitentores erschienen waren, … doch dass sich nun in Sijrevan ausgerechnet nahe dem Familiensitz der McCallahans ein Tor zur anderen Seite auftat, war erschreckend.