Sturmnomaden - Kira Vinke - E-Book

Sturmnomaden E-Book

Kira Vinke

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Beschreibung

Klimaflucht: Wenn die Heimat nicht mehr bewohnbar ist Die Klimakrise wird Millionen die Lebensgrundlage entziehen. Schon heute versuchen Menschen sich durch Migration anzupassen und neue Existenzen aufzubauen. Die meisten Klimamigranten finden in ihren eigenen Ländern Zuflucht, doch auch der Druck auf europäische Grenzen wird steigen, wenn die Klimaschutzbemühungen zu kurz greifen. Kira Vinke gibt in ihrem bahnbrechenden, von Forschung und weltweiten Recherchen getragenen Buch den bedrohten Menschen Gesicht und Stimme. Sie macht deutlich, welche Veränderungen schon heute unumkehrbar sind – und welche Möglichkeiten wir noch haben, dem Klimawandel zu begegnen und den Betroffenen ein Bleiben oder eine Abwanderung in Sicherheit und Würde zu ermöglichen.

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Kira Vinke

Sturmnomaden

Wie der Klimawandel uns Menschen die Heimat raubt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für meine Eltern

Vorwort – Eure und unsere Migration

Mitten in der Nacht muss sie aufbrechen, zusammen mit den Kindern wagt sie eine abenteuerliche Flucht. Sie ist sich der großen Gefahr bewusst, dass ihre Aktion scheitern kann. Angst und Zweifel begleiten ihren riskanten Weg. Aber sie setzt ihr eigenes und das Leben ihrer Töchter und Söhne aufs Spiel, um in Sicherheit zu leben.

 

Wessen Fluchtgeschichte ist das?

 

Die ukrainischer Kriegsgeflüchteter? Eine syrische Familiengeschichte? Der Versuch, dem Teufelskreis von Armut und Gewalt in Burkina Faso zu entkommen? Die Flucht vor einem Supersturm in Bangladesch? Ihre eigene?

Aktuell gibt es etwa 100 Millionen Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Denn gegenwärtig sind mehr Menschen denn je auf der Flucht, über 100 Millionen, wie das UN Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) im Mai 2022 bekanntgab.

Auch historisch betrachtet prägen zahlreiche Fluchtgeschichten unsere Identität und Werte bis heute. Etwa die mutiger DDR- Bürger:innen, die in Freiheit leben wollten und unter Lebensgefahr ihr Land verließen. Ein kleines Unterkapitel unserer jüngsten deutschen Geschichte, das uns Bewunderung abringt.

Flucht und Migration verbinden uns als Menschen eher, als dass sie uns trennen – auch wenn die Kategorien »Flüchtling« oder »Migrant:in« etwas anderes vermuten lassen. Obwohl Flucht und Migration Teil unserer historischen DNA sind, blicken viele mit Entsetzen auf die Geschehnisse im Mittelmeer, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko oder in der Sahara und fragen sich, was Menschen dazu treibt, sich – und nicht selten auch ihre Kinder – einem so extrem gefahrvollen Wagnis auszusetzen. Ein Bild, das wohl niemand mehr vergessen wird, der es gesehen hat, ist das der Leiche des kleinen Alan Kurdi. Der knapp dreijährige syrische Junge kam bei der Flucht übers Mittelmeer 2015 ums Leben, sein lebloser Körper wurde an einen türkischen Strand gespült und von einem Polizisten geborgen. Was passiert in den Herkunftsländern, dass Menschen bereit sind, alles, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat, zurückzulassen für eine ungewisse Zukunft? Es ist wichtig, dies genau zu analysieren, denn Flucht hat viele unterschiedliche Gründe.

2022 passiert das Unbegreifliche. Russland, unter der Führung Wladimir Putins, greift die Ukraine an. Bomben fallen auf die Hauptstadt Kiew, die Hafenstadt Mariupol, auf Charkiw und andere Städte. Auch Lwiw, nahe der polnischen Grenze, wird bombardiert. Millionen fliehen aus dem Land, weitere Millionen werden zu Binnenvertriebenen. Wie ihr Leben weitergeht, ob sie nach Beendigung der Gefechte wieder zurückkehren können oder dauerhaft in der Fremde Fuß fassen müssen, ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buchs offen.

Dass neben kriegerischen Auseinandersetzungen, von denen wir kaum unsere Aufmerksamkeit lösen können, auch andere Faktoren Menschen zu Flucht und Migration zwingen, zeigt der 2021 erschienene Bericht der Fachkommission Fluchtursachen der Bundesregierung »Krisen vorbeugen, Perspektiven schaffen, Menschen schützen«. Die Kommission kommt zu dem Schluss, dass nur selten – wie im Fall der Ukraine – ein einzelner Anlass zur Flucht einer Person, einer Familie führt. Vielmehr entsteht der Druck meist aus einem Geflecht direkter Treiber wie Krieg, Verfolgung, Gewalt und Armut sowie indirekter Treiber. Zu ihnen gehört der Klimawandel, der mit seinen verheerenden Folgen Lebensgrundlagen zerstört und Menschen enormen Risiken aussetzt.

Um die Auswirkungen klimatischer Extreme auf Flucht und Migration geht es in diesem Buch, das acht Jahre Forschung in sich vereint. Dabei thematisiere ich nicht nur unmittelbare Umweltveränderungen, sondern auch, wie diese Veränderungen sich in unseren Gesellschaftssystemen niederschlagen und auf welche Weise Regierungen Anpassungen an den Klimawandel fördern oder erschweren können. In zahlreichen Ländern habe ich mit Menschen gesprochen, die selbst aufgrund von Klimafolgen ihre angestammte Heimat verlassen mussten, mit Menschen, die sie zu unterstützen versuchen, und auch mit solchen, die Migration verhindern wollen. Aus diesen Interviews ist ein Kompendium wissenschaftlicher Arbeiten entstanden, aber auch ein komplexes Gesamtbild und zugleich ein persönlicher Eindruck vom Zustand unserer Erde und den Menschen, die auf ihr leben.

Dieses aus vielen Einzelstücken zusammengesetzte Bild, dieses Mosaik möchte ich mit Ihnen teilen und dabei den Menschen, die bereits heute in den Kampf mit den Naturgewalten eingetreten sind, eine Stimme geben. Viele von ihnen sind zu heimatlosen Wanderern geworden, deren Zuhause zerstört wurde und deren Zukunft ungewiss ist – auch weil zunehmende Stürme, Dürren und Überflutungen sie wiederholt vertreiben könnten. Diese »Sturmnomaden« haben die Schäden, die sich aus der Atmosphäre auf unsere Lebenswelten niedergeschlagen haben, unmittelbar vor Augen. Ihr Zeugnis ist eine eindringliche Warnung. Denn ohne ein stabiles Weltklima kann es keine menschliche Entwicklung geben. Ohne Klimaschutz keinen Frieden. Ohne konsequenten Wandel keine Hoffnung. Nur durch einen schnellen Ausstieg aus den fossilen Energien und eine Transformation zur Nachhaltigkeit in allen Sektoren können die Schäden noch begrenzt werden. Schon jetzt sind viele Ökosysteme durch eine jahrzehntelange politische Klimalethargie belastet. Klimaflucht und -migration haben sich im vergangenen Jahrzehnt gehäuft, auch bei uns in Europa. Welches Szenario erwartet uns in den kommenden Jahrzehnten? Migration ist Teil unserer Geschichte, der Geschichte der Menschheit. Über das nächste Kapitel entscheiden wir.

 

Zur Struktur des BuchsIm Folgenden möchte ich Ihnen die verschiedenen Dimensionen von Klimamigration vorstellen. Zunächst wird es um ganz bestimmte Migrationsmuster gehen: um Migration innerhalb des eigenen Landes oder über Grenzen hinweg, um freiwillige oder erzwungene, saisonale oder dauerhafte Migration sowie um die Frage, inwieweit sich der Klimawandel auf unser Gesellschaftssystem auswirkt (Kapitel 1). Im nächsten Schritt gehe ich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Frage ein, mit welchem Schutz die Menschen, die ihre Heimat verlassen, rechnen können (Kapitel 2). Dann nehme ich Sie mit an ganz unterschiedliche Orte der Welt, um Ihnen einen Eindruck von der menschlichen Seite der Klimakrise zu geben. So erfahren Sie von existenzbedrohenden Klimafolgen durch den Meeresspiegelanstieg auf den Kleininselstaaten (Kapitel 3); von gewaltsamen Konflikten vor dem Hintergrund hydroklimatischer Extreme im Sahel (Kapitel 4); von Superstürmen auf den Philippinen und in Bangladesch (Kapitel 5); von der Vernichtung der Artenvielfalt und den zahlreichen Folgen des Klimawandels im Amazonasregenwald (Kapitel 6); von den Herausforderungen, denen sich bestimmte Lebensräume in Deutschland und der Schweiz gegenübersehen (Kapitel 7). Im Anschluss an diese geografisch ausgerichtete Betrachtung folgen ein konkreter Vorschlag, wie besonders bedrohte Personen unterstützt werden können (Kapitel 8), sowie Fragmente der Hoffnung, die mit Innovationen, Projekten und zivilgesellschaftlichen Initiativen Auswege aus dem Klimachaos aufzeigen (Kapitel 9).

Brechen wir also auf …

Kira Vinke

1 Aufbruch ins Ungewisse – Klimamigration im 21. Jahrhundert

Vertrieben im eigenen Land • Migrationsmuster in Zeiten des Klimawandels • Dekaden der Klimamigration • Small Data, Big Data, No Data? • Die Nomadisierung unserer Lebensweise • Was Klimamigration mit uns zu tun hat • Gefangen im Klimachaos • Corona und das Klima • Zukunftsaussichten

An einem drückend heißen Tag in Neu-Delhi, während draußen der Asphalt schmolz und Zebrastreifen zu schlangenartigen Aquarellen wurden, diskutierte ich in einem etwas heruntergekommenen Gästehaus mit meiner Mitbewohnerin über die Situation der Wanderarbeiter:innen in Indien. Sie kommen aus ländlichen Gebieten, wo sie ursprünglich als Bäuerinnen und Bauern, oft auch nur als Pächter:innen ohne eigenes Land gearbeitet haben und kaum Möglichkeiten hatten, ihre Rechte einzufordern. Millionen Binnenmigranten schuften in Indiens Boomstädten, zumeist unter extremen Bedingungen – Schwerstarbeit. Ohne Arbeitsschutz erbringen sie tagtäglich körperliche Höchstleistung und dienen, volkswirtschaftlich gesehen, als Schattenmotor eines insgesamt wachsenden Wohlstands. An manchen Sommertagen ist die Hitze unerträglich, die Luftverschmutzung schnürt einem zusätzlich die Kehle zu, aber auf den Baustellen herrscht kein Stillstand – sie sind voller Menschen, die sich irgendeinen Lohn verdienen müssen. Wir fragten uns, was genau sie antreibt und bewegt, in die Städte zu strömen. Ist es tatsächlich »nur« der Wunsch nach einem besseren Leben und ökonomischen Aufstieg, wie das Narrativ der Urbanisierung so oft gestrickt wird? Wollen sie der Abwärtsspirale aus ländlicher Armut und knappen Ressourcen entkommen? Oder bleibt ihnen vielleicht gar nichts anderes übrig, als ihre Heimat zu verlassen? Zwingt womöglich der Klimawandel sie dazu? Zu diesem Zeitpunkt, 2013, forschte ich in Delhi an der Teri-Universität (The Energy and Resources Institute) zum Thema Wassersicherheit und transnationales Flussmanagement. Nach dem Gespräch fing ich an, mich mit Klimamigration zu befassen.

Recherchiert man im Internet den Begriff »Klimamigration«, wirft die Ecosia-Suchmaschine etwa 15 800 Ergebnisse aus. Kein Wunder: Die Tatsache, dass ein Zusammenhang zwischen Klima und Migration besteht, dass eine Folge des Klimawandels auch Migration ist, setzte in den vergangenen Jahren viele wissenschaftliche und mediale Debatten in Gang. Klimaflucht ist ein Thema, das Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dabei stehen oft theoretische Fragen der Definition und waghalsige Projektionen zukünftiger Migrationsströme im Vordergrund. Nicht selten driftet die Debatte in eine Angstkampagne ab, in deren Zentrum es um die Frage geht: »Wie viele Menschen werden zu uns kommen?« Dahinter versteckt sich die Sorge: »Werde ich etwas von meinem Wohlstand abgeben müssen?«

Wenig Aufmerksamkeit wurde bisher denjenigen Menschen zuteil, die bereits heute, bei knapp 1,2 °C über der Normaltemperatur, bedroht sind und abwandern. Dies liegt auch an der komplexen Gemengelage. Migration ist – wie die meisten menschlichen Handlungen – multikausal. Das heißt, Menschen migrieren aus vielerlei Gründen: etwa, weil sie nach besseren Arbeitschancen suchen, weil der Bevölkerungsdruck zunimmt oder auch wegen familiärer Schwierigkeiten – doch können Klimafolgen auf bestimmte Treiber von Migration Einfluss nehmen,[1] etwa wenn Stürme und Fluten die Ernten von Kleinbauern zerstört haben oder Hitzewellen die Arbeit unter freiem Himmel unerträglich machen.

Bisher ist der Klimawandel noch nicht der dominierende Faktor in den globalen Migrationsbewegungen. Der Weltklimarat (IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change) hat uns jedoch 2021 nicht zum ersten Mal deutlich vor Augen geführt, dass uns in allen Emissionsszenarien schwierige Zeiten bevorstehen. Diese schmerzhafte Einsicht bleibt uns nicht erspart: Es gibt für die junge Generation kein Zurück mehr in das Klima, in dem ihre Großeltern aufgewachsen sind. Selbst wenn wir rasch aus den fossilen Energien aussteigen und bedeutende Sektoren wie die Landwirtschaft und den Verkehr transformieren, wird es erst einmal wärmer werden, bevor wir den globalen Mitteltemperaturanstieg begrenzen können. Das hängt sowohl mit der Trägheit unseres Weltwirtschaftssystems zusammen, das keineswegs von heute auf morgen dekarbonisiert, also klimaneutral,[2] gestaltet werden kann, als auch damit, wie das Erdsystem auf einen veränderten CO2-Gehalt in der Atmosphäre reagiert. Die Chance, frühzeitig der Erwärmung gegenzusteuern, wurde längst vertan. Das bedeutet: Klimafolgen, die bisher nur ein Nebenrauschen in der Bandbreite von Faktoren waren, die Migrationsentscheidungen und Migrationsrouten beeinflussen, könnten künftig zu einem viel größeren Faktor werden. Gleichwohl liegt es noch immer in unserer Hand, das Schlimmste abzuwenden und zivilisationsbedrohende Klimarisiken zu minimieren.

Bei meinen Forschungsreisen in Hotspotregionen des Klimawandels in Südasien, Lateinamerika, Subsahara-Afrika und im Pazifik konnte ich erfahren, wie tiefgreifend die Veränderungen heute bereits sind und welche Folgen die Abwanderung für die Migrant:innen selbst, aber auch für Sende- und Empfängergemeinden hat.[3] Hinter steilen Temperaturkurven und komplexen Schaubildern verbergen sich menschliche Schicksale, die kaum Eingang in die Diskussionen um Klimaschutzpläne auf nationaler und internationaler Ebene gefunden haben. Doch auch hier in Europa zeigt sich bei Gesprächen mit Landwirt:innen oder Fischer:innen schnell: Die Normalität bröckelt, auch wenn die Oberfläche noch intakt zu sein scheint.

Heute, 2022, steht fest, nichts ist mehr wie früher. Das Klimasystem gerät immer mehr aus dem Gleichgewicht.[4] Waldbrände, Sturmfluten und desaströse Dürren bestimmen inzwischen Nachrichten von nah und fern. Nach extrem heißen Sommern, warmen Wintern und verheerenden Überflutungen ist der Klimawandel auch in Deutschland angekommen, und an der Erkenntnis, dass die Zeit eines stabilen Weltklimas vorbei ist, besteht kein Zweifel mehr. In manchen Diskussionen heißt es: »Menschen sind schon immer gewandert, um sich Veränderungen anzupassen.« Das ist richtig, aber der Wandel, der sich gegenwärtig vollzieht, ist dramatisch und präzedenzlos in den vergangenen paar tausend Jahren. Der Meeresspiegel steigt so schnell wie nie zuvor in den letzten 3000 Jahren.[5] Die CO2-Konzentration in der Atmosphäre ist höher, als sie es in den letzten mindestens zwei Millionen Jahren war – das bedeutet: Wir sind die ersten Menschen, die mit einer solch hohen CO2-Konzentration in der Atmosphäre leben und umgehen lernen müssen. Den Homo sapiens gibt es erst seit etwa 300 000 Jahren. Wir befinden uns damit inmitten eines von uns selbst begonnenen globalen Experiments mit ungewissem Ausgang. Gleichzeitig hat die Weltbevölkerung einen Höchststand erreicht, im Gegensatz zu früher sind heute viele Gebiete dicht besiedelt und die Ressourcen begrenzt. Die Migration, die als Reaktion auf diesen Wandel vollzogen werden muss, ist also eine Menschheitsherausforderung.

Vertrieben im eigenen Land

Der Fluchtweg von Menschen, die aus ihrer vertrauten Gegend aufbrechen, um sich an einem weniger bedrohten Ort eine neue Existenz aufzubauen, verläuft größtenteils innerhalb von Landesgrenzen oder führt – wie Daten des UN-Flüchtlingskommissariats UNHCR[6] belegen – für 86 Prozent aller Geflüchteten in (benachbarte) Entwicklungs- und Schwellenländer. Das bestätigt auch die Metaanalyse meines Kollegen Roman Hoffmann, in der er die Ergebnisse einer Vielzahl anderer Studien zusammengefasst und statistisch aufbereitet hat.[7] Nur die wenigsten Personen zieht es demnach in die Ferne, etwa in Richtung Europa oder Nordamerika. Die meisten möchten in der Nähe ihres Heimatorts und Kulturkreises bleiben.

Hans Joachim Schellnhuber, Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, entlarvt in diesem Zusammenhang in seinem Buch ›Selbstverbrennung‹ die vielgebrauchte Wassermetapher der »Flüchtlingswelle« beziehungsweise des »Flüchtlingsstroms« nach Europa. So kommt »die große Flucht eher einer Sickerbewegung durch die ärmeren Regionen der Welt gleich, wobei gelegentlich auch ganze Ethnien in die Sackgasse geraten«, schreibt er in seinem umfassenden Werk.[8] Anderen wiederum ist es gar nicht möglich, über längere Distanzen zu migrieren. Ihnen fehlen dafür die finanziellen Ressourcen oder ganz einfach der Zugang zu Transportmitteln – aber dazu später mehr.

Das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC), das Daten zur Binnenvertreibung sammelt, auswertet und analysiert, verzeichnete für 2020 einen Höchstwert: 40,5 Millionen neue Binnenvertriebene.[9] Dieser traurige Rekord hat nicht ausschließlich und unmittelbar, aber indirekt mit den Folgen des Klimawandels zu tun, denn ein Großteil (30,7 Millionen) der Menschen floh vor Naturkatastrophen, während 9,8 Millionen vor bewaffneten Konflikten Schutz suchten.[10]

Die verzeichneten Naturkatastrophen waren überwiegend wetterbedingt. Auf Erdbeben oder Vulkanausbrüche, die nicht im Zusammenhang mit Klimawandelfolgen stehen, entfielen lediglich etwa 655 000 Vertreibungen. Zwar sind bei Weitem nicht alle Extremwetterereignisse auf Klimafolgen zurückzuführen, doch der Klimawandel lässt solche Ereignisse immer häufiger und in größerer Intensität in Erscheinung treten. Besonders besorgniserregend ist, dass in vielen Gebieten bereits kleinere Überflutungen, Stürme oder Dürren zu katastrophalen Konsequenzen für die Bevölkerung führen, weil die Infrastruktur fragil ist. Am härtesten trifft es dann jene, die in der »Geburtenlotterie« ohnehin nicht das große Los gezogen haben. Sie leben in Armut – ohne Zugang zu guter Bildung, Gesundheits- und Daseinsvorsorge. Diese Menschen arbeiten auf dem Land als Subsistenzbauern und Fischer oder in städtischen Slums als Bauarbeiter:innen und Rikschafahrer. Die Zahl, über 30 Millionen neue Binnenvertriebene aufgrund von Naturkatastrophen, ist schwer zu fassen, sind es doch vor allem Einzelschicksale, die uns berühren, uns ahnen und verstehen lassen, in welchem Überlebenskampf sich ein Teil der Menschheit bereits befindet.

Migrationsmuster in Zeiten des Klimawandels

Wie in einem feinen Teppich ist Migration mit unserem Leben verwoben. Ortswechsel sind für viele von uns selbstverständlich geworden. Man zieht um, findet eine neue Arbeit, eine neue Umgebung. Immer weniger Menschen verbringen ihren Lebensabend dort, wo sie geboren wurden. Aber es gibt auch ganz andere Arten der Migration, auch Flucht, Vertreibung oder Umsiedlung zählen dazu – mit jeweils eigenem Migrationsmuster, das entlang von drei Kontinuen beschrieben werden kann: dem Grad der Freiwilligkeit (war die Abwanderung erzwungen oder erfolgte sie aus freien Stücken?), dem zeitlichen Aspekt (verlassen die Menschen dauerhaft, mittel- oder nur kurzfristig ihre Heimat und kehren sie möglicherweise wieder zurück?) und der geografischen Dimension (welche Entfernung legen die Menschen zurück und überschreiten sie dabei nationale Grenzen?).

Zwischen diesen verschiedenen Polen gibt es Mischformen, die eine harte Kategorisierung und Abgrenzung weitgehend ausschließen. Die ursprünglich saisonal angelegte Migration etwa kann sich nach und nach über einen immer größeren Zeitraum erstrecken und schließlich zum Dauerzustand werden. Und auch die Frage, inwieweit Migration tatsächlich aus freiem Willen geschieht, wenn doch Armut oder Perspektivlosigkeit den Alltag prägen, lässt sich oft nicht eindeutig beantworten. Der Großteil der Migration liegt daher eher im Graubereich.

Klimamigrant:innen gehen gewissermaßen einen Risikotausch ein. Der drohende Hunger auf dem Land aufgrund von Ernteverlusten wird unter Umständen gegen die existenzielle Unsicherheit in der Stadt, wo das Geld zum Kauf von Lebensmitteln fehlt, eingetauscht. Das Risiko von Sturmschäden steht gegen das Risiko, in dichtbesiedelten Slums in extremer Hitze unter einem Wellblechdach leben zu müssen. Tatsächlich sind Migrant:innen im Nachhinein oft noch schlechter gestellt als zuvor. Und doch gehen sie das Wagnis ein, das oft von anderen mitgetragen wird: von der Familie, dem Partner oder der Partnerin, der Dorfgemeinschaft, die vielleicht Geld zusammenlegt, um den Exodus überhaupt erst zu ermöglichen. Am Zielort leben eventuell Menschen, die den Neuankömmling in Empfang nehmen, eine Diaspora, die beim Ankommen hilft. Migration ist somit nicht nur die reine Fortbewegung von A nach B, sondern Teil eines Gesellschaftssystems – sie ist die Quelle kollektiver Hoffnung, ein Antrieb auf der Suche nach einem besseren Leben.

Neben Menschen, die auf eigene Faust migrieren, gibt es auch solche, die durch Regierungsprogramme umgesiedelt werden. Solche Maßnahmen führen meist zu tiefen Zäsuren, zerstören soziale Bindungen und lassen Strukturen in den Gemeinden zerbrechen. Nicht selten verlieren die Betroffenen sogar ihre ökonomische Lebensgrundlage. Historische Beispiele umfangreicher Umsiedlungsprogramme belegen, wie brutal diese Entwurzelung sein kann und mit welchen Menschenrechtsverletzungen sie einhergeht, insbesondere, wenn autoritäre Regime sie veranlassen. In der DDR haben zum Beispiel in der Lausitz Umsiedlungen ganzer Dörfer für den Kohlebergbau tiefe Narben hinterlassen. Trotzdem werden bis heute in Deutschland Dörfer abgerissen, um Kohle zu baggern.

Die Möglichkeit zu migrieren ist global gesehen äußerst ungleich verteilt. Mit einem deutschen oder amerikanischen Pass ist zumindest die touristische Einreise in viele Länder problemlos realisierbar. Normalerweise. Diese scheinbar selbstverständliche Freiheit wurde durch Infektionsschutzmaßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie stark eingeschränkt. Plötzlich wurden selbst innerhalb der Europäischen Union Grenzen wieder spürbar, und die Mehrheit der Bevölkerung beschränkte ihre Bewegungen auf einen sehr kleinen Radius. Ein Gefühl der Unfreiheit breitete sich aus.

Ein großer Teil der Menschheit hat aber ganz unabhängig von der Pandemie eine sehr eingeschränkte Reisefreiheit und ist mit einem Pass ausgestattet, der komplizierte und oft undurchsichtige Visaverfahren verlangt und bei der Einreise nur selten ein freundliches »Willkommen« auslöst. Somit werden Migrationsrouten nicht nur durch den Willen und die Fähigkeit zu migrieren bestimmt, sondern insbesondere auch durch Grenzen, die politisch gesetzt und zunehmend scharf verteidigt werden.

Dekaden der Klimamigration

Die Schätzungen, wie viele Menschen in Zukunft klimabedingt wandern werden, klaffen weit auseinander, sie reichen von der Annahme, dass Klimamigration ein Mythos sei, bis zu einer Milliarde Vertriebenen bis Mitte dieses Jahrhunderts. Sowohl wissenschaftlich untermauerte als auch unseriöse Projektionen sind dabei im Umlauf. Woher kommt diese Unsicherheit, und welche Zahlen und Untersuchungen sind hilfreich, um entwicklungspolitische Entscheidungen treffen zu können? Die Weltbank projiziert in einem pessimistischen Szenario über 200 Millionen Klimabinnenvertriebene bis zum Jahr 2050 in sechs Weltregionen.[11] Je nachdem, wie stark der Klimawandel gebremst wird, kann sich die Zahl halbieren oder sogar noch weiter verringern. Zwar ist der Weltbankreport unter den überregionalen Studien methodisch mit am weitesten entwickelt, dennoch bleiben viele Unsicherheiten. So ist höchst fraglich, ob sich eine Verschiebung von über 200 Millionen Menschen tatsächlich innerhalb von Landesgrenzen abspielen kann oder ob sich dadurch nicht weitere Migrationsdynamiken über Landesgrenzen hinweg entfalten.

Eine einfache Fortschreibung der Gegenwart in die Zukunft ist aufgrund der Komplexität der Bewegungen nicht möglich. Je weiter man nach vorne blickt, desto schwieriger wird es, Klimamigrationsdynamiken vorherzusagen. Sie hängen davon ab, welche Entwicklungspfade wir jetzt und in den kommenden Jahrzehnten einschlagen werden. Wird die globale Erwärmung gebremst? Wenn ja, wie stark? Können ärmere und ländliche Regionen am Weltwirtschaftswachstum teilhaben? Welche Arbeitsmarktregulationen treten in Kraft? Welche Bildungs- und Arbeitschancen werden Frauen haben? Wie entwickelt sich die Weltbevölkerung? Diese und andere Faktoren beeinflussen die Dynamik von Klimafolgen und Migration in fundamentaler Weise. Menschen werden tendenziell von niedrigliegenden Gebieten in höhere Lagen wandern, um die zunehmenden Temperaturen abzupuffern und sich vor dem steigenden Meeresspiegel zu schützen.

Historisch betrachtet, haben sich Menschen schon immer bevorzugt an Küsten und entlang von Flüssen und fruchtbaren Deltas niedergelassen. Genau diese Gebiete sind nun besonders gefährdet. In den Niederlanden zeigt sich, wie durch Infrastrukturmaßnahmen, Deichbau, adaptive Architektur und ausgewiesene Überflutungsflächen Gebiete bewohnbar gehalten werden können, die sonst den Fluten zum Opfer fallen würden. Aber nicht überall lassen sich solch innovative Maßnahmen technisch durchführen oder finanziell stemmen. In ärmeren Staaten, wo es an allem fehlt, ist schwer vorstellbar, dass in den nächsten Jahren oder auch Jahrzehnten Investitionen in mehrstelliger Milliardenhöhe getätigt werden können, um Gebiete zu schützen. Gerade um den tropischen Gürtel leben große Bevölkerungsgruppen, die aufgrund von Armut den Klimafolgen wehrlos ausgesetzt sind. Die Erwärmung der Erde und der Anstieg des Meeresspiegels können perspektivisch dazu führen, dass sich die Bevölkerung vom tropischen Gürtel hin in Richtung Polkappen, in gemäßigtere Gebiete, verschiebt – mit all den gesellschaftlichen Umbrüchen, die eine solche Umverteilung der Menschheit mit sich bringt.

Small Data, Big Data, No Data?

Dass die Beobachtungen und Projektionen zur Klimamigration von Unsicherheiten geprägt sind, hat auch mit der schlechten Datenlage zu tun. Schauen wir uns zuerst die Migrationsseite an. Weltweit wird zu unterschiedlichen Zeitpunkten Migration erfasst, vor allem durch nationale Zensus, also Volkszählungen, bei denen in der Regel Fragen zum Wohnortwechsel gestellt werden. Eine einheitliche Definition für Migration gibt es aber nicht. Mancherorts wird bereits ab sechs Monaten Abwesenheit vom Heimatort von Migration gesprochen, woanders erst ab zwölf Monaten. Saisonale Wanderungen werden oft gar nicht registriert. Hinzu kommt, dass Volkszählungen nur in großen Abständen durchgeführt werden, da mit ihnen ein erheblicher Aufwand verbunden ist. In Deutschland fanden die beiden letzten Zensus 2011 und 2022 statt. Wie sich kurzfristige Naturkatastrophen zwischen diesen Zeitscheiben auswirken, kann aus den Daten also kaum abgelesen werden. Darüber hinaus wird manchmal gar nicht nach den Gründen für die Migration gefragt, und wenn doch, fehlt »Naturkatastrophe« als Antwortoption. Sie wird unter »ökonomischen« oder »anderen« Kriterien subsumiert. In vielen Weltregionen finden Volkszählungen noch seltener und unregelmäßiger als in Deutschland statt. In entlegenen Gebieten ist die Erfassung bestenfalls mangelhaft. Dabei können gerade dort Klimafolgen bei Migrationsentscheidungen eine wichtige Rolle spielen. Neben landesweiten Erhebungen gibt es subnationale Umfragen, die beispielsweise auf lokaler oder regionaler Ebene durchgeführt werden. Doch auch hier stellen sich viele Definitionsfragen, die einen Vergleich über Regionen und längere Zeiträume hinaus schwierig machen.

Migrationswissenschaftler:innen erheben zudem eigens für ihre Forschung Daten, etwa durch Umfragen oder verschiedene Interviewformate, um spezifische Forschungsfragen zu beantworten. Eine neue Datenquelle bilden Handys, deren Metadaten anonymisiert analysiert werden können und so extrem hochaufgelöste Informationen über Migration nach Naturkatastrophen liefern. Erste auf diese Weise generierte Ergebnisse liegen bereits vor.[12]

Damit können sich Hilfsorganisationen und Regierungen nach einer Katastrophe ein besseres Lagebild verschaffen. Allerdings bleibt ein bitterer Nachgeschmack: Vor allem in Ländern mit schwachen Datenschutzrichtlinien werden diese Informationen häufig von ausländischen Wissenschaftler:innenteams ausgewertet. Schlimmstenfalls könnten Handydaten von autoritären Regierungen missbraucht werden, um Menschen auszugrenzen, zu überwachen oder zu verfolgen – auch wenn bei den anonymisierten Angaben sich nicht zurückverfolgen lässt, wer genau das Endgerät benutzt. In jedem Fall sollten solche Daten nur unter strengen Auflagen freigegeben werden.

Bei genauer Betrachtung der Daten zu den Klimafolgen ergeben sich große regionale Unterschiede. So sind in zahlreichen Entwicklungsländern weitaus weniger Beobachtungsdaten vorhanden als in Industrienationen. In den vergangenen Jahrzehnten wurden vielerorts Wetterstationen abgebaut. Das bedeutet, dass die Projektionen weniger genau und damit auch weniger eindeutig und belastbar sind. Außerdem ist die Klimaforschung anderswo insgesamt nicht so gut ausgestattet wie in Europa und den USA. Auf dem afrikanischen Kontinent etwa gibt es nur wenige Universitäten, die beispielsweise Klimaphysik als Studienfach anbieten und entsprechend fähige Wissenschaftler:innen ausbilden. Zudem ist für die Absolvent:innen solcher Studiengänge der nationale Jobmarkt nicht immer erfolgversprechend.[13] Deshalb sind viele Länder auf das Wissen, das in wenigen Industriestaaten produziert wird, angewiesen, um eine eigene Planung zur Klimaanpassung zu entwickeln. Diese Unsicherheit hinsichtlich regionaler Klimafolgen betrifft auch die Klimamigrationsforschung. Aber in beiden Bereichen, Klima und Migration, gibt es eine immer dichtere Datenbasis und eine wachsende Forschungsgemeinschaft, die daran arbeitet, Lücken zu schließen und solides Wissen über die komplexen Wirkungszusammenhänge in und zwischen den zwei Feldern aufzubauen.

Heiß, heißer, Afrika

Wie bedrohlich die Situation bereits ist, beschreibt der nigerianische Poet, gelernte Architekt und alternative Nobelpreisträger Nnimmo Bassey in schockierender Eindringlichkeit in seinem Buch ›To Cook a Continent‹ (›Wie man einen Kontinent kocht‹). Für ihn ergibt die Kombination von Klimakrise und Ausbeutung fossiler Rohstoffe den perfekten Sturm, der die Ökosysteme des afrikanischen Kontinents zerstört und die dort lebenden Menschen mit ihm. So könnte ein Anstieg der globalen Mitteltemperatur um 2 °C regional einen deutlich höheren Mitteltemperaturanstieg zur Folge haben: in Nordafrika um 2,5 °C, in Ländern wie Ägypten oder Libyen sogar um 3 °C. Ein globaler Anstieg von 4 °C würde für die Region vielleicht zu über 7 °C führen. Kaum denkbar, dass dort dann noch die gleiche Anzahl an Menschen ausharren und überleben könnte. Eine Stadt wie Kairo etwa wäre einer solchen dramatischen Herausforderung kaum gewachsen. Für den gesamten Kontinent steht daher alles auf dem Spiel, wenn es um die Frage geht, wie stark wir den Klimawandel noch eindämmen können.

Wir, das sind vor allem Menschen in den Industriestaaten und den globalen Mittel- und Oberschichten. Fakt ist: In Subsahara-Afrika liegt der durchschnittliche CO2-Fußabdruck bei 0,8 Tonnen pro Jahr[14]  – manchen Berechnungen zufolge ist er niedriger als der eines großen fleischfressenden Hundes in Europa. Viele Lebensstile in der Region sind klimaneutral, teils schlicht wegen der Armut, durchaus aber auch aufgrund der traditionellen Lebensweise, die im Einklang mit der Natur steht. Zum Vergleich: In der EU liegt der durchschnittliche CO2-Fußabdruck bei 6,4 Tonnen, in Deutschland bei etwa 8,5 Tonnen pro Jahr. Das heißt: Wir kolonialisieren die Atmosphäre, wir verdrecken den Himmel, der allen gehört!

Bassey hat in seiner Heimat, dem ölreichen Nigerdelta in Westafrika, miterlebt, wie internationale Konzerne im Verbund mit korrupten Eliten Regionen ausbeuten. Fruchtbare Böden werden durch undichte Pipelines, die offenbar den Aufwand nicht wert sind, repariert zu werden, langfristig kontaminiert und unbrauchbar gemacht. Von den Erdölgewinnen profitieren nur Einzelne. Die Armut ist trotz des Ressourcenreichtums groß.

Ob wir nun Benzin tanken, Heizöl nutzen oder erdölbasiertes Plastik kaufen: Wir alle sind Komplizen dieser Entwicklung – und zwar unweigerlich, denn aus dem System der erdölbasierten Wirtschaftsweise gibt es kein Entrinnen, es sei denn, wir überwinden es als Gesellschaft. Als Individuum bleiben wir darin gefangen.

Für die nigerianische Bevölkerung kommt noch hinzu, dass sie nicht nur unter den Folgen der Erdölförderung leidet, sondern auch unter der grassierenden Hitze, unter Dürren, Extremniederschlägen und dem Anstieg des Meeresspiegels – allesamt Phänomene, die durch das Verbrennen von Erdöl in Fahrzeugen oder Heizungen weiter begünstigt werden. Und als wäre das nicht schon genug, wird immer mehr Druck erzeugt, die Fehler des Westens im Bereich der industriellen Landwirtschaft zu wiederholen – mehr Pestizide und mehr Dünger münden in weniger Artenvielfalt und mehr Landnutzungsemissionen.

Dem allem stellt sich Bassey als Umweltaktivist mit seinem Thinktank Home of Mother Earth Foundation (HOMEF) mutig entgegen. Mit scharfen Worten analysiert er ausbeuterische Strukturen und organisiert lokale Weiterbildungsangebote zum Thema Nachhaltigkeit. Durch wachsendes zivilgesellschaftliches Engagement dieser Art können Perspektiven für eine andere, selbstbestimmte Entwicklung des Konti-nents entstehen.

Die Nomadisierung unserer Lebensweise

Auch wenn noch nicht genau feststeht, wie schwerwiegend zukünftige Klimafolgen sein werden, besteht kein Zweifel daran, dass durch die Verschiebungen im Klimasystem Migration zu einem unausweichlichen Mittel der Anpassung werden wird. Menschen werden saisonal in fruchtbareren Gegenden in der Landwirtschaft arbeiten oder besonders heiße Orte in den Sommermonaten verlassen. Viele Bewohner:innen der vom Klimawandel besonders betroffenen Gebiete werden durch das komplexe Zusammenwirken von Armut, demografischer Entwicklung und Klimafolgen zur Migration gezwungen. Bereits heute befinden sich Menschen permanent auf der Flucht. Von ihren Heimatorten vertrieben, siedeln sie in andere Gebiete um, wo sie in behelfsmäßigen Unterkünften mehr hausen als wohnen oder in riesigen Flüchtlingscamps unterkommen, wie beispielsweise in Dadaab in Kenia. Eine Rückkehr in die Heimat wird sowohl aus klimatischen Gründen als auch aufgrund ihrer zerstörten Lebensgrundlagen immer schwieriger.[15]

Manche Geflüchtete, mit denen ich gesprochen habe, wussten nicht oder konnten nicht sagen, wie lange sie an einem Ort bleiben würden. Sie hatten vor auszuharren, bis ein metaphorischer oder tatsächlicher physischer Sturm ihr Leben aus der Bahn warf und sie zwang, in die nächste Stadt oder das nächste Dorf weiterzuwandern. Der ständige Wechsel und die große Unsicherheit, die damit einhergehen, sind Teil ihres Lebens geworden.

Die zunehmende Nomadisierung ist ein globaler Prozess. Diesen Trend illustriert auch Weltbürger Parag Khanna in seinem Buch ›Move‹. Darin beschreibt er eindrücklich und oft mit schicksalsergebenem Optimismus die wachsende Bereitschaft, aber auch die Notwendigkeit zur Migration. »Der Klimawandel ist so komplex, dass wir nirgendwo allzu sicher sein können, von extremen Wetterereignissen verschont zu bleiben«, so Khanna. Im Schlussteil seines Buches folgert er aus den demografischen und klimatischen Entwicklungen: »Bei der bevorstehenden Migrationswelle geht es nicht nur um Menschen, die unterwegs sind. Sie sind Teil einer wesentlich weitreichenderen Entwicklung, eines epochalen Wandels der globalen Zivilisation. Gegenwärtig öffnet sich ein historisches Möglichkeitsfenster – das letzte Möglichkeitsfenster –, um das Überleben möglichst vieler Menschen sicherzustellen.«

Zu der verstärkten Nomadisierung haben allerdings auch die »Errungenschaften« der letzten Jahrzehnte in den Mittel- und Oberschichten beigetragen, etwa die erhöhte Mobilität, die in etlichen Berufszweigen erforderliche Flexibilität und der vielerorts vereinfachte Zugang zu anderen Ländern. Gleichzeitig sind durch weniger beständige Arbeitsverhältnisse und volatile Weltmärkte auch größere Unsicherheiten in urbane Lebensstile eingekehrt. Der Ortswechsel vieler Menschen geschieht deswegen nicht immer freiwillig. Die große Unbekannte in den Prognosen der menschlichen Mobilität bleibt der Klimawandel. Er könnte bald zum Gamechanger in globalen Migrationsbewegungen werden und bisherige Umbrüche noch in den Schatten stellen.

Was Klimamigration mit uns zu tun hat

Auch wenn andere Länder härter vom Klimawandel betroffen sind als Deutschland, können wir uns vor Gefahren, die sich fern von uns entfalten, kaum abschotten. Das hat die Covid-19-Pandemie in aller Deutlichkeit gezeigt. Die Übernutzung von Ressourcen, so wie etwa durch den Wildtierhandel in China, betrifft letztlich auch Menschen in Bremen, München oder Rüsselsheim. Umgekehrt schlägt sich der Braunkohlebergbau in der Lausitz auf die Lebensgrundlagen im Mekong- oder Ganges-Brahmaputra-Delta nieder. Unser Lebensstil wirft lange Schatten – bis auf die Marshallinseln im Westpazifik und nach Bangladesch in Südasien. Menschen, die am stärksten vom Klimawandel betroffen sind, haben kaum zu seiner Entstehung beigetragen. Diese Interdependenzen zu erkennen, ist unsere einzige Chance, als Zivilisation zu überleben. Insofern enthalten die Geschichten in den kommenden Kapiteln aus verschiedenen Ländern der Welt auch Warnsignale und Stoppschilder. Der Verlust einer gesamten Kultur, wie sie beispielsweise einigen flachliegenden Inselstaaten droht, sollte uns nicht nur betroffen machen, sondern uns zum raschen Umdenken und Umlenken bewegen. Ein »weiter so wie bisher« führt direkt gegen eine mächtige Wand – und diesen Aufprall möchte niemand, unabhängig von politischer Gesinnung oder Wohlstandsniveau, erleben.

Würden alle 25-Jährigen die CO2-Schulden ihrer Vorväter und -mütter seit Beginn der Industrialisierung erben, so ergäben sich extrem hohe Pro-Kopf-Emissionen in den Industriestaaten. Eine hohe historische Emissionslast haben Deutschland, aber auch andere Staaten, wie die USA, Belgien, Großbritannien oder Tschechien. Besonders erschreckend ist jedoch, dass auch China mit seiner großen Bevölkerungszahl und relativ kurzen fossilen Industriegeschichte rasant aufgeholt hat. Folgten alle Staaten der Entwicklung Deutschlands, würde das Erdsystem in einen völlig anderen Zustand überführt werden. Aus der Klimakrise würde eine Klimakatastrophe. Schon heute sind die Umweltveränderungen gerade in den Staaten gravierend, die wenig zu den globalen Emissionen beigetragen haben, wo also die historische CO2-Schuld gering ist.

Wie sich Binnenmigration aufgrund dieser Veränderungen auf internationale Migration auswirkt, ist nicht immer sofort erkennbar. Auch wenn die Flucht- oder Migrationsgeschichten der Menschen, die in Deutschland, Europa oder den USA ankommen, kaum von Superstürmen oder Hochwasser erzählen, steht ihre Migration über kaskadische Effekte möglicherweise in einem indirekten Zusammenhang mit zunehmenden Klimafolgen. So kann Migration aus ländlichen Gebieten in nahe gelegene mittelgroße Städte zu einer Wettbewerbssituation führen, in der Neuankömmlinge aus der Not heraus mit sehr niedrigen Lohnforderungen lokale Arbeitskräfte unterbieten. Die wandern dann womöglich in die Hauptstadt ab, wo sich diese Situation wiederholt. Infolgedessen fühlen sich dort gut ausgebildete Fachkräfte durch die Migrant:innen unter Druck gesetzt und emigrieren ins Ausland. Eine klassische Spiralentwicklung. Dennoch wird der ausgebildete Ingenieur seine Migration kaum im Zusammenhang mit Klimafolgen sehen, selbst wenn es derlei indirekte Wirkungsketten gibt. Unstrittig ist, dass aufgrund des demografischen Wandels der Wohlstand in Deutschland ohne Zuwanderung langfristig nicht bewahrt werden kann.

Aber ob es überhaupt zu den eben beschriebenen kaskadischen Effekten kommt, hängt auch von Arbeitsmarktdynamiken ab. Gibt es einen großen Bedarf an Arbeitskräften, muss kein Migrationsdruck aus einer Wettbewerbssituation entstehen – im Gegenteil, dann buhlen Unternehmen eher darum, kluge Köpfe zu halten. In vielen Ländern, gerade in Subsahara-Afrika, herrscht jedoch gegenwärtig eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Junge Menschen, die ihr volles Potential für eine bessere Zukunft einsetzen könnten, sind gezwungen, sich mit Gelegenheitsjobs auf dem Schwarzmarkt über Wasser zu halten. Um die Chancen für einen wirtschaftlichen Aufstieg von Niedriglohnarbeitern ist es in vielen Städten der Welt sehr schlecht bestellt. Städtische Slums und informelle Siedlungen sind nur ein Beispiel von urbanen Armutsspiralen, in denen Migrant:innen oft das letzte Glied in der Kette bilden.

Die Auswirkungen des Klimawandels auf unser Gesellschaftssystem sind noch nicht genügend erforscht. Aber es gibt Anhaltspunkte dafür, dass etwa durch extreme Hitze die Gewaltbereitschaft und die Kriminalitätsraten steigen.[16] Diese dem Klimawandel nicht unmittelbar zuzuordnenden Sekundärfolgen werden zu weiteren Treibern von Migration.

Gefangen im Klimachaos

Nicht fliehen zu können, wenn Gefahr droht, ist noch verhängnisvoller, als zur Migration gezwungen zu sein. Der Klimawandel kann bei bestimmten Bevölkerungsgruppen auch eine erhöhte Immobilität verursachen. Wenn Menschen zum Beispiel in einem Sturm alles verlieren, haben sie manchmal gar nicht mehr die Ressourcen, die Flucht zu ergreifen. Vor allem vulnerable Gruppen wie ältere Menschen, extrem arme Personen, Menschen mit Behinderung oder solche, die sich Verletzungen zugezogen haben, sind häufig von unfreiwilliger Immobilität betroffen. Sie sind gefangen im Klimachaos, an Orten, an denen es nichts mehr gibt, bis auf das Leben selbst.

Der schreckliche Vorfall 2021 während des Hochwassers in der Eifel, als zwölf Personen in einer Einrichtung für behinderte Menschen starben, weil sie nachts nicht schnell genug vor der Flutwelle in Sicherheit gebracht wurden, ist nur ein Beispiel dafür, wie sehr der Grad der Gefährdung von Faktoren wie Wohnort, Geschlecht, körperlichen Fähigkeiten, Ethnizität und Staatsangehörigkeit abhängt. Diese Faktoren können über Leben und Tod entscheiden.

Gleichzeitig gibt es Menschen, die selbst angesichts außergewöhnlicher Risiken ihre Heimat nicht verlassen wollen. Der Verlust ihrer Traditionen, des Bodens, auf dem sie aufgewachsen und in dessen Erde ihre Vorfahren begraben sind, wiegt für sie schwerer als das Risiko, in einem verheerenden Unwetter ums Leben zu kommen. Sie bestehen auf ihrem Recht zu bleiben, komme, was wolle. Manche ahnen auch, dass ihr Leben sich durch eine Abwanderung eher noch verschlechtern könnte. Davon erzählte mir meine Kollegin Himani Upadhyay nach ihrer Rückkehr von einem Feldforschungsaufenthalt im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand an den Ausläufern des Himalaya. Die Frauen in den entlegenen Gebieten entschieden sich bewusst gegen die Abwanderung, obwohl die Arbeit immer beschwerlicher wurde und Gletscherschmelze wie auch veränderte Wettermuster ihre traditionelle Landwirtschaft beeinträchtigten.[17] Ein halbwegs lebenswertes Leben in der Heimat gegen ein bloßes Überleben im Slum einzutauschen, war für sie keine Option. Der verzweifelte Kampf von Menschen gegen die Naturgewalten, um die eigene Heimat zu verteidigen, ist ebenfalls Teil dieses Buchs.

Corona und das Klima

In Indien, wo meine Reise zum Thema Klimamigration begann, geschah indessen während der Coronapandemie etwas zuvor Unvorstellbares. Auf dem Subkontinent kehrten sich zumindest kurzzeitig die Migrationsströme um. Millionen von Wanderarbeiter:innen verloren aufgrund von Lockdown und Infektionsschutzmaßnahmen ihre Arbeit und damit ihr Einkommen und gingen in ihre Heimatdörfer zurück. Dort bestand trotz großer Armut immerhin die Möglichkeit, durch den Anbau von Getreide und anderen Nahrungsmitteln sich selbst zu versorgen. Gleichzeitig trug die massenhafte Rückkehrmigration zur Verbreitung von Covid-19 bei – eine fatale Aufeinanderfolge, denn in den entlegenen Gebieten ist die Gesundheitsversorgung in der Regel noch schlechter als in den Städten. So entstanden Coronavirushotspots im ganzen Land. Die temporäre Umkehr der Migrationsströme in Indien verdeutlicht, dass externe Schocks unvorhersehbare und weitverzweigte Folgen nach sich ziehen. Während die meisten Wissenschaftler:innen derzeit davon ausgehen, dass der Klimawandel existierende Migrationsdynamiken wie die Land-Stadt-Wanderungen verstärken wird, können auch ganz neue Korridore entstehen, wenn beispiellose Extremereignisse eintreten.

Die Frage ist, wo stehen wir selbst? Wir, die wir uns noch ein Stück Normalität leisten können? Verharren wir im Status quo oder bereiten wir uns auf eine vom Klimawandel bestimmte Zukunft vor und nehmen die damit verbundenen Herausforderungen an? Bewegen wir uns oder bleiben wir stehen im Lichtkegel der Klimakrise?

Zukunftsaussichten

Wie könnte die globale Klimamigration in der Zukunft aussehen? Um dies zu veranschaulichen, möchte ich, wohl wissend, dass viele andere Entwicklungen denkbar sind und beleuchtet werden könnten, für die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts zwei mögliche Szenarien aufzeigen, einen pessimistischen und einen optimistischen Ausblick. Diese beiden Szenarien sollen die Dimension des Problems und die Bandbreite der Entwicklung veranschaulichen.

Szenario 1) Der Sprung in den Abgrund

Kippkaskaden, Bevölkerungswachstum, verschärfte Grenzregime

 

Würden mehrere zentrale Ökosysteme der Erde kollabieren, wären die Lebensgrundlagen unzähliger Menschen bedroht. Ernährung, Gesundheit, Sicherheit, Unterkünfte – all dies stünde auf dem Spiel. Subsistenzbauern könnten in weiten Teilen der Welt nicht wie bisher ihre Feldfrüchte anbauen. Viele Gebiete würden wegen anhaltender Hitzeextreme, häufiger tropischer Wirbelstürme und wegen des steigenden Meeresspiegels unbewohnbar. Küstenstriche und Inseln könnten nicht mehr ausreichend geschützt werden, weil die Katastrophenherde in ihrer Vielzahl Gegenmaßnahmen weitgehend unmöglich machen würden, ganz zu schweigen von den materiellen, finanziellen und politischen Ressourcen, die schnell aufgebraucht wären.

Das Szenario verdüstert sich weiter. Schwere Konflikte in Bezug auf den Zugang zur Grundversorgung wären unvermeidbar, denn die Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten stark gewachsen. Sofern lokale Ressourcen überhaupt vorhanden sind, müssten sie auf immer mehr Köpfe verteilt werden. Die schwindenden Lebensgrundlagen in ländlichen Gebieten würden in der Folge zu verstärkter Land-Stadt-Migration führen. Wenn aber der urbane Arbeitsmarkt nicht genügend Kapazitäten hat, würden die Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, in eine Armutsspirale geraten. Slums würden weiter in Gebiete hineinwachsen, die durch den Klimawandel bereits gefährdet sind, etwa in Berghänge oder Überschwemmungszonen. So würde das Elend nach und nach auch die Innenstädte erfassen, die zunehmend von Gewalt geprägt wären. Einzelne Länder würden daher versuchen, auch die Binnenmigration zu stoppen, um das Wachstum informeller und schwer regierbarer Gebiete zu unterdrücken. Viele Menschen wären gezwungen, in Gefahrenzonen zu bleiben oder zu versuchen, die Grenzen ihres Landes zu überwinden. Allerdings könnten viele Staaten das Grenzregime verschärfen, die Einreise erschweren oder gar verhindern, sodass immer mehr Menschen ihr Leben verlören.

In einem solchen Negativszenario würde das im Großen geschehen, was uns in Bezug auf das Gesundheitssystem während der Coronapandemie bereits deutlich vor Augen geführt wurde: Wenn Prävention fehlschlägt – oder nie ernsthaft betrieben wurde – und bestimmte kritische Punkte überschritten werden, sind Schäden durch Anpassungsmaßnahmen, die zu spät erfolgen, nur noch einzudämmen, aber nicht mehr abzuwenden. Exponentiell wachsende Krisen überfordern dann auch Industriestaaten. Migration als Überlebensstrategie würde ungeahnte Ausmaße erreichen, ihre Dynamik verändern und könnte in Chaos und Gewalt enden.

Szenario 2) Der Tanz an der Klippe

Pariser Klimaabkommen wird gerade noch eingehalten, Weltbevölkerung stabilisiert sich, Klimafolgen werden als Fluchtgrund anerkannt

 

Würde das Pariser Klimaabkommen eingehalten, sodass sich die Temperaturen bei 1,5 bis maximal 2 °C über dem vorindustriellen Niveau stabilisieren könnten, stünden noch weitreichende Handlungsoptionen für die Bewältigung von Klimafolgen offen. So könnten durch eine nachhaltigkeitsorientierte Modernisierung der Agrarwirtschaft Lebensgrundlagen in ländlichen Gebieten gesichert werden, auch wenn sich Regenfallmuster verändern. Wiederbewaldungsmaßnahmen würden lokal die Erwärmung abpuffern und könnten auch die Wasserverfügbarkeit verbessern. Schwere Klimafolgen blieben auf besonders fragile Ökosysteme, wie tropische Korallenriffe, begrenzt. Inselstaaten und Küstenzonen könnten durch große infrastrukturelle Anpassung weitgehend geschützt werden. Trotzdem wären in vielen Weltregionen Umsiedlungen notwendig. Die davon betroffenen Menschen müssten mit gesonderten Schutzrechten ausgestattet werden, die es ihnen ermöglichen, nach dem Verlust ihrer Heimat in anderen Ländern ohne Visum zu leben und zu arbeiten.

Investitionen in erneuerbare Energien würden durch die dezentrale Energieproduktion eine polyzentrische Urbanisierung fördern, die wiederum für eine gleichmäßigere Verteilung der zugewanderten Menschen über mehrere Zielorte sorgen und neue Arbeitsmärkte erzeugen würde. Gleichzeitig würde durch Energieexporte in Bildung und Entwicklung reinvestiert. Würde dies zu einem weniger beschleunigten Wachstum der Weltbevölkerung führen, wäre der Bevölkerungsdruck in dichtbesiedelten Gebieten wie Bangladesch auch ein weniger relevanter Faktor für Migrationsentscheidungen. Somit bliebe zwar die Klimamigration für bestimmte Regionen ein Thema, könnte aber durch entwicklungspolitische Maßnahmen in ihren negativen Auswirkungen eingedämmt werden und so für einige Bevölkerungsgruppen zur effektiven Form der Anpassung an den Klimawandel werden.

These

Die globalen Treibhausgasemissionen haben zu einem stark veränderten Weltklima geführt, auch wenn das Ausmaß der Erderwärmung sich noch begrenzen lässt. Durch Migration können Betroffene überleben, nicht aber ihre gewohnte Lebensweise aufrechterhalten.

2 Schutzlos auf der Flucht – Recht und Unrecht in der Klimakrise

Flüchtlingskonvention schützt nicht gegen Klimafolgen • Das Prinzip der Nichtzurückweisung • Klimavertreibung innerhalb von Ländern und über Grenzen hinweg • Mensch oder Migrant? Warum unter dem Schutzmantel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nicht alle Platz haben • Klimaklagen und das Menschenrecht auf eine saubere Umwelt • Ökozid – ein Verbrechen gegen den Frieden? • Staat ohne Territorium?

Rennen in Todesangst, Schreie und die stille Suche nach Verstecken vor Grenzern: Während meiner Feldforschung in Bangladesch erzählen mir Menschen, dass sie beim Versuch, die Grüne Grenze nach Indien illegal zu überqueren, angeschossen wurden. Sie wollten ohne Papiere nach Ostindien gelangen, weil tropische Zyklone ihnen ihre Heimat geraubt hatten.

Jedes Jahr sterben Dutzende Bangladeschis an dem Grenzstreifen zu Indien, viele von ihnen sind Migranten, die alles für ein besseres Leben riskieren. Sie versuchen, die Grenze illegal zu überwinden, weil sie zu formalen Visa praktisch keinen Zugang haben. Mit einem europäischen oder US-amerikanischen Pass hingegen verlangt die Einreise nach Indien oder Bangladesch nur Behördengänge oder eine Reihe von Formularen. Lebt man an der Armutsgrenze in Bangladesch, stellen Grenzen unüberwindbare Hürden dar. Die Trennlinie zwischen Indien und Bangladesch ist dabei nur einer von vielen tödlichen Grenzverläufen auf unserem Erdball.

Grenzen sind Hotspots für Menschenrechtsverletzungen. Ihre unbarmherzige Verteidigung ist in unserer Gesellschaft zum politischen Streitpunkt geworden. »Auch Demokratien sind in der Lage, mit brutaler Gewalt Flüchtlinge an ihren Grenzen von der Einreise abzuhalten«, konstatiert der Politikwissenschaftler Gerald Knaus.[18] Als ein historisches Beispiel führt er die Zurückweisung Zehntausender jüdischer Schutzsuchender durch die Schweiz im Zweiten Weltkrieg an. Auch wenn viele Akten vernichtet wurden, ist davon auszugehen, dass ein großer Teil dieser europäischen Migrant:innen von den Nazis ermordet wurde. Zahlreiche historische und zeitgenössische Beispiele zeigen: Undurchlässige Grenzen verletzen die Menschenwürde und führen im schlimmsten Fall zum Verlust von Leben und menschlichem Potential.

Was aber bedeuten das heutige Grenzregime und Asylrecht für Klimamigrant:innen? Für Menschen, die aufgrund von Klimafolgen migrieren müssen, gelten internationale Grenzen als besonders undurchlässig. Denn sie haben weder einen eigenen Schutzstatus noch ein Anrecht auf Asyl. Dies hängt auch mit der Definition des Begriffs »Flüchtling« zusammen, die vor mehr als 70 Jahren in der Genfer Flüchtlingskonvention, dem »Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge«, aufgenommen wurde.

Flüchtlingskonvention schützt nicht gegen Klimafolgen

Die Genfer Konvention ist das zentrale völkerrechtliche Instrument zum Schutz von Geflüchteten. Entstanden als Antwort auf große transnationale Flucht, ausgelöst durch den Zweiten Weltkrieg, wurde die Verfolgung aus politischen, rassistischen, sozialen oder religiösen Gründen als entscheidendes Kriterium für den Anspruch auf Schutz festgelegt. Ein Flüchtling ist demnach eine Person, die

aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.[19]

Wie aus der Definition ersichtlich wird, lassen sich die Kriterien für den Erhalt des Flüchtlingsstatus nicht auf Menschen anwenden, die vor den Folgen des Klimawandels Schutz suchen, weil sie nicht politisch oder anderweitig verfolgt werden. Wenn allerdings Klimafolgen so gravierend sind, dass sie ein Land destabilisieren und beispielsweise die Rechtsstaatlichkeit aushebeln, ist denkbar, dass die Genfer Konvention hier zur Anwendung kommt. Dann wären jedoch nicht die physischen Klimafolgen als solche anerkannter Fluchtgrund, sondern die daraus resultierenden Sekundärschäden am politischen oder gesellschaftlichen System, die zu einer Verfolgung von Personen führen könnten.[20] Die Anforderungen hierfür sind jedoch immens hoch. Nicht einmal Kriegsgeflüchtete fallen automatisch unter die Definition der Genfer Konvention. Es müsste also aufgrund der aus Klimafolgen resultierenden Sekundärschäden etwa zur Gefahr eines Genozids kommen oder gewisse Gruppen müssten systematisch verfolgt werden, um als »Flüchtling« im Sinne der Genfer Konvention zu gelten. Da der Flüchtlingsbegriff so strikt definiert ist und zumindest theoretisch mit gesonderten Schutzrechten einhergeht, spricht die Mehrheit der Wissenschaftler:innen auch nicht von Klimaflüchtlingen, sondern von Klimamigrant:innen oder umschreibt die Flucht mit dem sperrigen, aber etwas gefälligeren Begriff der »menschlichen Mobilität im Kontext des Klimawandels«.

Auch wenn der Charakter vieler Arten von Migration oft mit fluchtartigen Bewegungen gleichzusetzen ist, spielen für das Anrecht auf Schutz die Gründe der Flucht eine entscheidende Rolle. So ist die Verfolgung durch den eigenen Staat ein rechtlich anerkannter Grund, Schutz in einem anderen Land zu erhalten, lebensbedrohende Armut oder ein alles zerstörender Sturm jedoch nicht. Das ist gerade in Bezug auf das Prinzip der Nichtzurückweisung (auch Non-Refoulement-Prinzip, dazu später mehr) problematisch. Und ein weiterer Punkt muss bedacht werden: Zwar beschränkt sich der überwiegende Teil der heutigen Klimamigration auf Ortswechsel innerhalb nationaler Grenzen, aber es ist keinesfalls auszuschließen, dass bei zunehmenden Klimaschäden auch die Versuche, Grenzen zu überwinden, zunehmen werden. Mit Blick auf die Verteilung der Ursachen für Klimafolgen, also die globalen Treibhausgasemissionen, erscheint es da als ein legitimer Wunsch von Menschen, deren Lebensumfeld durch Klimafolgen unbewohnbar wurde, in Staaten Schutz zu suchen, die diese maßgeblich mit zu verantworten haben.

Eine ethische Schutzverantwortung leitet sich hier nicht nur aus dem humanitären Imperativ ab, also der Maßgabe, Menschen zu helfen, die sich in einer Notlage befinden; sie ergibt sich auch aus dem Verursacherprinzip. Im Kern bedeutet das, dass diejenigen, die Schäden verursachen, für diese auch aufkommen müssen. Der Zwang zur Migration kann ein Folgeschaden der globalen Erwärmung sein. Würdevolle Migration als Anpassung an den Klimawandel zu ermöglichen, ist somit eine Frage der Klimagerechtigkeit. Nur gibt es für diese moralische Verpflichtung noch keinen rechtlichen Mechanismus, der eine solche Migration legalisieren würde. Geltendes Recht und Gerechtigkeit klaffen in diesem Fall gegenwärtig weit auseinander.

Dass Änderungen an der Genfer Flüchtlingskonvention dennoch selbst von den entschlossensten Aktivist:innen nicht gefordert werden, hat einen guten Grund. Die Genfer Konvention in ihrer jetzigen Fassung wird immer wieder von Politiker:innen attackiert, steht also unter ständigem Beschuss. Daher ist die Gefahr groß, dass im Verlauf einer solchen Verhandlung eher weitere Einschränkungen des bestehenden Flüchtlingsschutzes erlassen werden würden, statt den Schutz auf andere Gruppen wie zum Beispiel Klimamigrant:innen auszuweiten. Die Undurchlässigkeit von Grenzen durch Gewaltanwendung an den Außengrenzen der EU ist bittere Realität.

Das Prinzip der Nichtzurückweisung

Eines der zentralen Rechte gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ist das Recht auf Nichtzurückweisung:

Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.[21]

Nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gilt zudem:

Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.

Und das Völkerrecht legt fest, dass Menschen nicht in ihr Heimatland deportiert oder zurückgewiesen werden dürfen, wenn sie dort Menschenrechtsverletzungen erwarten. Trotzdem berichten Betroffene und NGOs immer wieder von »Pushbacks«, also dem gewaltsamen Zurückdrängen von Migrant:innen an Außengrenzen der EU. Dieser Begriff wurde zum Unwort des Jahres 2021 erklärt. Die Begründung lautete, es werde »ein menschenfeindlicher Prozess beschönigt, der den Menschen auf der Flucht die Möglichkeit nimmt, das Menschen- und Grundrecht auf Asyl wahrzunehmen«.[22] Von den Pushbacks an der griechischen und kroatischen Grenze beispielsweise gibt es Belege für sexualisierte Gewalt und die Anwendung von Peitschen und Schlagstöcken. Die Wahrung der Menschenwürde und die Achtung des geltenden Rechts werden also durch eine europäische Grenzpolitik unterminiert, die Gewalt und Entmenschlichung Schutzsuchender duldet. Zumindest wurde Fabrice Leggeri als Frontex-Chef zum Rücktritt gedrängt, weil er die rechtswidrigen Praktiken vertuschen wollte. Er räumte seinen Posten im April 2022.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte 2021, dass die Zurückweisung einer afghanischen Familie an der kroatischen Außengrenze vier Jahre zuvor rechtswidrig war. Der Fall hatte besondere Aufmerksamkeit erregt, da ein sechsjähriges Mädchen von einem Zug erfasst wurde, nachdem die Grenzpolizei der Familie befohlen hatte, entlang der Schienen in der Nacht in Richtung Serbien zurückzulaufen.[23] Trotzdem gehen die Pushbacks weiter, etwa 2021 an der polnisch-belarussischen Grenze. So hatte das belarussische Lukaschenko-Regime für Geflüchtete aus Syrien und dem Irak Anreize für die Reise nach Minsk geschaffen, von wo aus sie weiter in die EU gelotst werden sollten. Die Migrant:innen wurden praktisch für eine neue Form der Kriegsführung benutzt, mit dem Ziel, die EU unter Druck zu setzen, nachdem diese zuvor Sanktionen gegen Weißrussland verhängt hatte. Die jedoch ließ sich nicht darauf ein.

Die polnische Regierung zeigte sich – mit Rückendeckung der EU – von ihrer härtesten Seite und wies selbst Schutzberechtigte zurück. Oberstes Bestreben war, den Machtspielen des belarussischen Autokraten nicht zu unterliegen. Leidtragende dieser Auseinandersetzung waren allerdings die Geflüchteten, die in klirrender Kälte im Grenzgebiet ausharren mussten und deren Schutzgesuche ohne Erfolg blieben.

Kommt es bei Anklagen gegen solch menschenverachtende Handlungen zu Schuldsprüchen, werden meist nur einzelne Grenzpolizisten suspendiert oder entlassen. Die politische Strategie hinter den Pushbacks bleibt davon unberührt. Doch der Pfeiler des Flüchtlingsschutzes gerät ins Wanken, wenn Migrant:innen politisch instrumentalisiert werden. Die grausame Logik der demonstrativen Zurückweisung zum Zwecke der Abschreckung steht den Werten entgegen, die innerhalb der Grenzen der EU als hohes Gut ausgelobt werden.

Welche Rolle spielt nun das Prinzip der Nichtzurückweisung bei schwerwiegenden Klimafolgen? Einige Jurist:innen argumentieren, dass das Nichtzurückweisungsprinzip auch durch klimatische Risiken ausgelöst werden kann, etwa wenn Lebensgefahr besteht. Der UN-Menschenrechtsausschuss erkennt diese Möglichkeit generell an, aber bisher scheiterten die Versuche, das Prinzip in diesem Kontext gerichtlich einzufordern.[24] Der Nachweis über die das Individuum bedrohenden Klimafolgen ist schwierig, weil es sehr aufwendig ist, juristisch wasserdichte Kausalketten zwischen den Schäden an der Umwelt und einer durch eine Rückkehr in die Heimat gegebenen direkten Lebensgefährdung herzustellen. Zudem liegt die Beweislast gegenwärtig bei den Betroffenen. Generell schwierige Lebensbedingungen aufgrund klimatischer Veränderungen ins Feld zu führen, die auch die Allgemeinheit betreffen, reicht hier als Fluchtgrund nicht aus.[25] Vielmehr muss die konkrete Bedrohungslage für den Einzelnen nachgewiesen werden. Illegale Pushbacks können zudem im Einzelfall verhindern, dass Migrant:innen im Ankunftsland überhaupt die Chance bekommen, eine Prüfung ihres Asylantrages zu beantragen. Überdies gewährleistet die mögliche Schaffung eines Rechts auf Klimaasyl noch nicht zwangsläufig dessen Durchsetzung.

Die bestehenden Lücken im Schutzmechanismus bedeuten für diejenigen Menschen, die aufgrund von Naturkatastrophen über nationale Grenzen hinweg versuchen, sich einen neuen Lebensraum zu erschließen, dass sie keinerlei rechtlichen Anspruch auf Aufnahme