Sturmtöchter - Josephine Pennicott - E-Book

Sturmtöchter E-Book

Josephine Pennicott

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Beschreibung

Eine unheilvolle Lüge. Eine große Liebe. Ein ungeklärter Todesfall. Australien 1945: Als die junge Ginger beginnt, für den Maler Rupert Partridge als Aktmodell zu arbeiten, ändert sich ihr Leben schlagartig. Im Herrenhaus des Künstlers wird sie zu seiner großen Inspiration. Doch dann wird Ruperts Tochter tot in den Wäldern gefunden. Alle verurteilen den Maler als Mörder. Gingers Leben als bewunderte Muse ist schlagartig vorbei. Jahrzehnte später will Ruperts Enkelin Elizabeth herausfinden, was damals wirklich geschah. Sie reist zu dem vernachlässigten Haus ihres Großvaters, um mehr über die faszinierende alte Frau zu erfahren. Doch Ginger ist abweisend. Fragen zur Familiengeschichte weicht sie aus. Elizabeth ist entschlossen, Gingers Vertrauen zu gewinnen. Als sie erkennt, was sie beide verbindet, ist es fast schon zu spät.

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Seitenzahl: 576

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Sturmtöchter

Die Autorin

Josephine Pennicott kam in Tasmanien zur Welt und verbrachte ihre ersten Lebensjahre in Papua-Neuguinea. Wenn sie nicht schreibt, verbringt sie ihre Zeit mit ihrer Tochter Daisy und ihrem Partner David Levell, der ebenfalls Autor ist. Sie leben mitten in Sydney in einem winzigen Backsteinhaus, das sehr alt ist und voller Bücher.

Das Buch

Eine unheilvolle Lüge. Eine große Liebe. Ein ungeklärter Todesfall.

Australien 1945: Als die junge Ginger beginnt, für den Maler Rupert Partridge als Aktmodell zu arbeiten, ändert sich ihr Leben schlagartig. Im Herrenhaus des Künstlers wird sie zu seiner großen Inspiration. Doch dann wird Ruperts Tochter tot in den Wäldern gefunden. Alle verurteilen den Maler als Mörder. Gingers Leben als bewunderte Muse ist schlagartig vorbei. Jahrzehnte später will Ruperts Enkelin Elizabeth herausfinden, was damals wirklich geschah. Sie reist zu dem vernachlässigten Haus ihres Großvaters, um mehr über die faszinierende alte Frau zu erfahren. Doch Ginger ist abweisend. Fragen zur Familiengeschichte weicht sie aus. Elizabeth ist entschlossen, Gingers Vertrauen zu gewinnen. Als sie erkennt, was sie beide verbindet, ist es fast schon zu spät.

Josephine Pennicott

Sturmtöchter

Roman

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Neuausgabe bei RefineryRefinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinFebruar 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, 2019 © 2014 by Josephine Pennicott© der deutschsprachigen AusgabeUllstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014 Published in 2014 by Pan Macmillan Australia, SydneyPublished by arrangement with Joesphine Pennicott Titel der Originalausgabe: Currawong ManorCovergestaltung: Zero Werbeagentur, MünchenAutorenfoto: © privatE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-96048-224-6

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

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Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Widmung

»Wissen Sie überhaupt, wovon Sie da reden? Der Krieg passiert nicht irgendwo dort drüben in Europa. Er ist hier, hier in diesem Zimmer. Überall um uns herum ist Blut, Blut auf allen Dingen. Können Sie es nicht riechen?«

Norman Lindsay

»Der Tod macht uns traurig, aber er kann auch dazu führen, dass wir uns lebendiger fühlen … Ich konnte es kaum erwarten, dorthin zu kommen. Der Geruch machte mir nichts aus. Und Sie sollten mal die Farben sehen – die sind wirklich wunderschön. Wie Wallace Stevens sagt: Der Tod ist die Mutter der Schönheit.«

Sally Mann, Fotografin, aus einem Interview in The Guardian

»Der Tod ist die Mutter der Schönheit. Nur das Vergängliche kann schön sein, weshalb uns künstliche Blumen völlig kaltlassen.«

Wallace Stevens

Prolog

Geheimnisse

Mount Bellwood, Blue Mountains, November 1945

Der Wald bewahrte sorgfältig seine Geheimnisse.

Im wilden Märchengarten von Currawong Manor hüllte sich traumgleich eine Statue der nackten Göttin Diana in den Bergnebel. Ihr steinerner Körper war mit Rosen bedeckt: cremegelbe, rosafarbene, purpurne und scharlachrote Blütenblätter – sie alle verwelkten zu einem einheitlichen Schlammbraun. Diana hielt Pfeil und Bogen gen Himmel gerichtet und bewachte stolz ihr üppig verziertes Reich, während der gleichgültige Blick ihrer leeren Augenhöhlen die Sterne herauszufordern schien. Die in den Sockel eingemeißelten Tiere schienen dem Heulen eines herrenlosen Hundes im Wald zu lauschen. Es war Neumond, die dunkle Phase des Mondes. Die Schatten wurden länger, als der Abend sich an das Anwesen heranschlich. Eine gefährliche Zeit, um draußen unterwegs zu sein, würden die Alten im nahe gelegenen Dorf Mount Bellwood vielleicht sagen. Ein Schwarm bunter Sittiche sauste wie ein Wirbelwind aus grünen, blauen und dunkelroten Tupfen über den Garten hinweg.

Currawong-Würgerkrähen mit schwarzen Schwingen, Krallenfüßen und scharfen, gebogenen Schnäbeln ließen sich mit feierlichem Schweigen auf den Türmen des Herrenhauses nieder. Die Vögel nisteten dort, seit das Haus im Jahr 1855 erbaut worden war. Im Laufe der Jahre hatten die Einwohner von Mount Bellwood die Tatsache, dass die Vögel dort ihre Nester bauten, mit immer phantastischeren Interpretationen ausgeschmückt. Eine große Anzahl von Krähen prophezeite demnach einen gefürchteten Besucher: Der Tod war auf dem Weg nach Currawong Manor, das auch gerne »die Ruinen« genannt wurde.

Der gellende Schrei einer Frau schallte über das Anwesen. Ein schauriger Laut, der sich mehrmals wiederholte. Dann durchschnitten unverständliche Rufe die Luft. Eine Tür wurde aufgerissen, und die schreiende Frau kam herausgerannt. Sie trug ein rotes Seidenkleid mit passender Stola. Immer noch kreischend floh sie in die Owlbone Woods. Und oben auf den Türmen hockten immer noch die Vögel in ihrem unheimlichen vereinten Schweigen.

Die folgende Geschichte würde Lokführer Henry Kelly im Laufe seines Lebens viele Male all jenen erzählen, die sie hören wollten: Es war der Abendzug von Sydney nach Lithgow. Kelly hatte gerade in Blackheath einen Zwischenhalt eingelegt und war nun auf dem Weg nach Mt Bellwood. Als er an den dunklen Waldschatten der Owlbone Woods entlangfuhr, tauchte urplötzlich eine Frau aus dem Nebel auf und lief direkt vor ihm auf die Gleise. In diesen wenigen endlosen Sekunden nahm er ihr weißes Gesicht wahr, den aufgerissenen Mund, schreiend – ein Alptraumgesicht, umweht von einem roten Tuch. Ihre überraschte Miene, als seine Lok über sie hinwegpflügte, verfolgte ihn seither Tag und Nacht. Die arme Frau streckte noch die Arme aus, als könnte sie, durch irgendein göttliches Wunder, den Zug aufhalten. Henry zitterte, wann immer er die Geschichte erzählte – sogar noch als alter Mann mit über neunzig. Doris Partridge zu überfahren hatte sich wie ein Fluch über sein Leben gelegt. Er fing an zu trinken, um jenen Abend zu vergessen, und trotzdem wachte er nach wie vor mit der Erinnerung daran schweißgebadet und schreiend vor Angst auf. Und an alledem war nur dieser Drecksack Rupert Partridge schuld! Ein Teufel von einem Mann, der sein eigenes Fleisch und Blut getötet und damit so viele Leben zerstört hatte. Sein Spitzname war »Der Teufel der australischen Kunst« – was für eine treffende Bezeichnung! Gott sei Dank hatten sie diesen Lumpen aufgehängt. Sollte er doch in der Hölle schmoren!

Es war eine seltsame und bedauernswerte Angelegenheit, da waren sich alle einig. Weshalb jedoch Rupert überhaupt so verrückt wurde, seiner bildschönen kleinen Shalimar etwas Derartiges anzutun, hatte niemand verstehen können. Nie hatte es in den Bergen ein schöneres Kind gegeben – auch da waren sich alle einig. Doch auf Rupert Partridges Anwesen Currawong Manor war es immer schon ein wenig seltsam zugegangen, und wer vernünftig war, hielt sich vom Haus und von den Owlbone Woods fern. Auch Henry Kelly versuchte, die Leute mit seinen betrunkenen Schimpftiraden davor zu warnen, doch die meisten wurden nicht schlau aus dem, was der verrückte alte Mann da faselte. Schließlich brachten ihn seine Kinder nach Katoomba ins Altenheim, wo ihn seine Alpträume weiter plagten, auch wenn die Medikamente sie ein wenig linderten.

Wahrheit, Legenden, zerbrochene Träume und Lügen – sie waren so untrennbar und unbegreiflich miteinander verwoben wie Nebelschwaden in den Bergen, wie Geschichte, Mythologie oder Traum. Die verbotenen Orte schwiegen, und doch verharrten sie abwartend in ihrem Schmerz, hielten sich fest an den Mysterien von Mond und Erde. Bei manchen Geheimnissen tut man besser daran, sie ungestört schlummern zu lassen. Die Tiere des Busches verstanden diese uralte Wahrheit.

Die Nacht war weich und weise. Begleitet vom Abenddunst folgte sie der Dämmerung, wand sich um Diana und ihr regloses steinernes Gesicht, umarmte knochenweiße Eukalyptusbäume. Wie Geisterhüter bewachten die Bäume auf ewig das Land, seine Geschichten und seine Träume, mit ihren mageren Stämmen und ihrer struppigen Rinde, die sich wie Menschenhaut in Schichten löste und ihren reinen, jungfräulichen, im Verborgenen leuchtenden Kern offenbarte.

Der Wald bewahrte sorgfältig seine Geheimnisse.

1. Kapitel

Beerdigung einer Blume

Mt Bellwood, Blue Mountains, Mai 2000

Elizabeth beobachtete die Gruppe von Leuten, die sich vor St Rita’s Catholic Church, der kleinen Steinkirche von Mt Bellwood, im Schneeregen versammelt hatten. Am liebsten würde sie im gemütlichen silbernen Volvo ihrer Freundin Fleur sitzen bleiben, dachte sie bei sich. Es war geplant, dass Fleur sie im Anschluss an die Beerdigung weiter nach Currawong Manor fahren würde, wo Elizabeth die nächste Zeit über wohnen wollte, während sie an einem Fotoprojekt arbeitete. Auf Currawong hatte nämlich Mitte der vierziger Jahre ihr Großvater, der Künstler Rupert Partridge, zusammen mit seiner Familie und seinen drei berühmten Aktmodellen, den sogenannten »Flowers«, gelebt.

»Was für eine hübsche kleine Kirche«, meinte Fleur. »Hast du denn zwischen all den Regenschirmen schon jemanden entdeckt, den du kennst?«

Als Elizabeth den Blick über die mehrheitlich schwarz gekleideten Personen schweifen ließ, war sie erneut dankbar dafür, dass Fleur trotz ihres vollen Terminkalenders angeboten hatte, sie zur Beerdigung einer Frau zu begleiten, die keine von ihnen beiden persönlich gekannt hatte. Kitty Collins war eine der »Blumen« des skandalösen Aktmodelltrios gewesen, und heute fand Kittys Feuerbestattung statt.

Ginger Lawson, ebenfalls ein ehemaliges Flower-Mädchen, sowie Holly Shaw, die jetzige Besitzerin von Currawong Manor, waren es gewesen, die Elizabeth dazu ermuntert hatten, sich als Fotografin für das Buchprojekt Flowers of the Ruins: Die Aktmodelle von Currawong Manor zu bewerben. Es handelte sich dabei um einen aufwendigen Bildband, der im Verlag Dean & Wills erscheinen und Fotos, Tagebuchauszüge, Briefe und Artikel über die drei jungen Frauen enthalten sollte, die dem Künstler Modell gestanden hatten, bevor 1945 der Mord an dessen Tochter Shalimar geschah. Zwei andere Journalisten hatten sich dieses Themas zwar in der Vergangenheit bereits angenommen, aber ihre Bücher waren inzwischen vergriffen. Seit dem Kinofilm Verführung der Sirenen – eine Komödie über den australischen Maler Norman Lindsay und seine Aktmodelle – war das Interesse an der Thematik wiedererwacht. Wie hatte Holly Shaw es scherzhaft formuliert? »Ohne Elle Macphersons Brüste würde sich ja kein Schwein für Norman interessieren. Wir hingegen haben einen echten Mord, eine Hinrichtung und Brüste zu bieten!«

Es kam Elizabeth so vor, als wäre Hollys Angebot, einige Zeit auf dem ehemaligen Anwesen ihres Großvaters zu verbringen, das einzig Gute, was ihr in den vergangenen paar Jahren widerfahren war. Obwohl ihre Arbeiten in der ständigen Sammlung des Museum of Contemporary Art und der Art Gallery of New South Wales in Sydney vertreten waren und die einflussreiche amerikanische Kunstzeitschrift Visions sie als »eine australische Künstlerin, die es im Auge zu behalten gilt« bezeichnet hatte, war sie jüngst von einem führenden Kunstkritiker sowie von Kirchen- und Gemeindeverbänden mächtig an den Pranger gestellt worden. Von Kinderpornographie über Sensationsgier bis hin zu Mediengeilheit hatte man ihr so ziemlich alles vorgeworfen.

Elizabeths geheimnisvolle, traumbildhafte Fotografien, die sie mit ihrer »Linda« aufnahm, einer antiken Kamera ihres Großvaters, hatten inzwischen aber auch eine ganze Menge Anhänger gefunden. Elizabeth verwendete für ihre Fotos bevorzugt Glasplatten statt Filme, wie es im neunzehnten Jahrhundert üblich gewesen war. Es handelte sich um einen mühsamen Prozess, der sich aber der weichen, zeitlosen Aufnahmen wegen lohnte, die sich von den heutigen, meist scharf fokussierten Bildern der Fotoszene deutlich abhoben. Liebhaber ihrer Werke lobten ihr poetisches, elegantes, melancholisches Portfolio aus Landschaften und Porträts in der Kollodium-Nassplattentechnik, die 1851 von Frederick Scott Archer in England entwickelt worden war.

Die schlechte Presse in jüngster Vergangenheit schien dies alles jedoch zu überschatten, vor allem seit ihrer letzten Ausstellung, bei der sie nicht nur Aktfotografien kleiner Kinder und alter Menschen, sondern auch Bilder von Toten im Leichenschauhaus gezeigt hatte.

»Liz, alles klar bei dir?« Fleurs Stimme holte Elizabeth in die Gegenwart zurück, wo der Graupelschauer unvermindert aufs Autodach prasselte. »Du grämst dich doch hoffentlich nicht immer noch, weil dich dieser bescheuerte Kritikerheini und die Kirchenfuzzis als sensationsgeile Kinderpornographin bezeichnet haben?«

Trotz ihrer melancholischen Stimmung musste Elizabeth lachen. »O Gott, so formuliert klingt das echt furchtbar!«

»Ich hoffe sehr, du hast dich aus den richtigen Gründen entschieden, Hollys Angebot anzunehmen«, sagte Fleur geradeheraus, »und willst nicht einfach nur flüchten und dich hier oben verkriechen, weil Lois die ganze Publicity um deine Ausstellung herum so peinlich ist?«

»Du weißt doch, wie sehr meine Mutter alles Makabre und Kontroverse hasst. Sie sieht darin eine Art Verbindung zu Ruperts Werken. Und von allem, was mit den Ereignissen von damals auf Currawong Manor zu tun hat, will sie erst recht absolut nichts wissen. Rupert Partridge ist definitiv eine Leiche in unserem fest versiegelten Familienkeller, die einen ja nie interessieren darf. Für meine Mutter ist ihr Vater ein Perverser und ein Mörder, und die Tatsache, dass er 1950 am Galgen starb, wird von ihr eisern totgeschwiegen. Deshalb hasst sie ja auch die meisten meiner Arbeiten.« Elizabeth spürte, wie die vertraute Bitterkeit sie zittern ließ.

»Liz, ich weiß, dass Lois unheimlich stolz auf dich ist und auf alles, was du erreicht hast«, sagte Fleur leise. »Sie hat mir gegenüber im Lauf der Jahre so oft erwähnt, was für eine begabte Tochter sie hat. Wegen ihrer eigenen traumatischen Kindheit fällt es ihr nur einfach schwer, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen – die vielen Heime und Pflegefamilien, die sie durchlaufen musste.« Sie zögerte kurz, ehe sie fortfuhr. »Vermutlich kenne ich die Antwort bereits, aber hat sie denn vor, heute hier zu erscheinen?«

»Natürlich wird Mum nicht kommen. Ja, sie hatte eine schreckliche Kindheit, aber gibt ihr das automatisch das Recht, eine furchtbare Mutter zu sein? Und warum zeigt sie dann nicht mehr Interesse an meiner Arbeit?«, gab Elizabeth zurück. »Aber jetzt hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, weshalb ich dieses Angebot mit Currawong Manor angenommen habe. Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du mich fährst. Und woher willst du eigentlich wissen, dass ich nicht bloß deshalb zugesagt habe, weil sie Nick Cash als Autor gewinnen konnten?«

»Begeistert bin ich ja nicht gerade, dich da oben in den Bergen mit diesem Nick Cash allein zu lassen«, erwiderte Fleur. »Er soll schon ein ziemlicher Frauenheld sein.«

»Du bist ja genauso schlimm wie Lois.« Elizabeth zog eine Grimasse. »Ich werde mich in seiner Gegenwart gerade noch beherrschen können. Übrigens hab ich ihn mal bei einer Filmpremiere fotografiert, als er noch mit diesem Seifenopern-Starlet Elsa Varino verheiratet war. Ich finde ihn jedenfalls ziemlich sexy, aber ich hatte ja schon immer ein Faible für Männer in Leder.«

Elizabeth war tatsächlich hocherfreut gewesen, als sie herausgefunden hatte, dass Nick Cash mit ihr an Flowers of the Ruins arbeiten würde. Inzwischen schrieb er hauptberuflich Bücher über wahre Kriminalfälle, aber in den Siebzigern hatte er in einer ihrer Lieblingsbands gespielt.

Durch die nasse Windschutzscheibe betrachtet waren die Trauergäste nur verschwommene schwarze Schemen im grauen Zwielicht des Winternachmittags, die ihre Schirme ausschüttelten, bevor sie die Kirche betraten. »Bist du immer noch traurig, dass du Kitty nicht mehr kennengelernt hast?«

Elizabeth schüttelte den Kopf, da sie Fleur nicht noch mit weiteren emotionalen Dramen belasten wollte.

»Du darfst dir deswegen keine Vorwürfe machen«, verkündete Fleur in ihrer pragmatischen Art. »Woher hättest du denn wissen sollen, dass die arme Frau bald stirbt. Du hattest so viel um die Ohren mit der Ausstellung und diesem verdammten Verriss von Jeremy Morrison.«

Seit Holly ihr telefonisch die Nachricht von Kittys Tod überbracht hatte, bereute Elizabeth, dass sie Kitty nicht aufgesucht hatte, als sie noch Gelegenheit dazu gehabt hatte. Doch die bösartigen Reaktionen auf ihre Ausstellung hatten sie dermaßen belastet, dass sie kaum in der Lage gewesen war, zu essen oder zu schlafen. Als Kitty während dieser Zeit unerwartet Kontakt zu ihr aufgenommen hatte, weil sie »mit Ruperts Enkeltochter etwas von großer Wichtigkeit besprechen wollte«, hatte sie die alte Dame vertröstet. Nun wetteiferte das Bedauern darüber mit ihrem sonstigen Stress, wenn es darum ging, Elizabeth den Schlaf zu rauben. Mit Kittys Tod war eine weitere Verbindung zur Vergangenheit und zu ihrem Großvater unwiderruflich zerrissen, und so freute sie sich umso mehr darauf, Ginger Lawson, die ehemals Dritte im Bunde, endlich kennenzulernen und mit ihr an diesem Buch zu arbeiten.

»Lass gut sein, Liz«, beharrte Fleur. »Kitty hätte dir vermutlich sowieso nichts Wesentliches zu erzählen gehabt. Und da du es jetzt nie erfahren wirst, vergisst du es am besten einfach.«

»Trotzdem ist es irgendwie erschütternd, wenn man sich überlegt, dass die bezaubernde Blondine von damals, die Rupert wie besessen gemalt und fotografiert hat, am Ende in einem Backpacker Hostel gestorben ist.«

»Keiner von uns kommt lebend hier raus«, scherzte Fleur. »Und Kitty hatte immerhin ein langes, erfülltes Leben, im Gegensatz zu Shalimar Partridge …«

Elizabeth war immer wieder überrascht, wie viele Menschen sich an den Fall Partridge erinnerten. Er schien ins Gedächtnis der Australier ebenso tief eingebrannt zu sein wie das Verschwinden der Beaumont-Kinder oder der Mord an Graeme Thorne. Selbst Menschen mit wenig Interesse an Kunst erinnerten sich dunkel an den Namen Rupert Partridge. Dabei warfen sie Rupert oft mit seinem Zeitgenossen Norman Lindsay in einen Topf, der ebenfalls in den Blue Mountains gelebt und gearbeitet hatte. Sie sagten Dinge wie: »War das nicht der Teufelsanbeter, der seine Tochter umgebracht hat?«

»Hat der nicht immer Orgien mit Aktmodellen gefeiert?«

»War das nicht der aus Verführung der Sirenen mit Elle Macpherson?« Trotzdem waren den Leuten einige von Ruperts eher kontroversen Werken zumindest vage bekannt. Dazu gehörten zum Beispiel Trollop, Pigs of War oder Bones of the Flower Men.

Durch den Regen hindurch erspähte Elizabeth die große, blonde, elegante Holly Shaw mit ihrem Ehemann Bob, der neben ihr her trottete. »Da sind die Shaws. Lass uns schnell rüberlaufen.«

Holly, die Elizabeths Interesse an der australischen Kunst der vierziger Jahre teilte, war zwar in den Blue Mountains geboren worden, aber als Kind mit ihren Eltern nach England ausgewandert. Später hatte sie viele Jahre lang eine kleine Galerie in London betrieben. Nachdem ihr Sohn flügge geworden war, war sie mit ihrem Mann nach »Down Under« zurückgekehrt und hatte über einen Bekannten erfahren, dass Currawong Manor zum Verkauf stand.

Seither versuchte Holly, ihre Investition zu Geld zu machen, indem sie für Ruperts Kunst warb. Inspiriert durch die erfolgreiche Vermarktung von Norman Lindsays ehemaligem Wohnsitz weiter unten in den Bergen, wollte sie das Anwesen nun nach einem ähnlichen Prinzip präsentieren. Sie hatte kleine Hütten im Stil des Haupthauses errichten lassen, die sie »Nester« nannte und in denen sie Residenzen für Künstler, Schriftsteller und Kunsthandwerker anbot.

Als Holly sich bei Elizabeth gemeldet und sie eingeladen hatte, eine Weile in einem solchen Nest zu wohnen, hatte diese nicht widerstehen können, obwohl sie wusste, wie wütend ihre Mutter darüber sein würde, dass sie »in der schmutzigen Vergangenheit herumwühlte«.

Nur wenige Wochen später hatte Holly ihr berichtet, dass Ginger Lawson Elizabeth außerdem als offizielle Fotografin für das geplante Buch engagieren wollte. Holly selbst war von der Idee, Rupert Partridges Enkelin die Fotoaufnahmen dafür machen zu lassen, sofort hellauf begeistert gewesen, als Ginger ihr diesen Vorschlag unterbreitete. Wenigstens das war ein wenig Balsam für Elizabeths angeschlagenes Ego.

Elizabeth hatte die Shaws in der Art Gallery of New South Wales in Sydney getroffen und mit wachsender Begeisterung Hollys Vision von Currawong Manor gelauscht. Ganz offensichtlich teilten sie den Wunsch, den Ruf ihres Großvaters wiederherzustellen und Rupert Partridge zwischen den anerkannteren Künstlergrößen wie Arthur Boyd, Sidney Nolan und Albert Tucker eingereiht zu sehen. Ihre Mutter würde zweifellos die Nase rümpfen, dass eine Engländerin Ruperts Kunst so sehr schätzte, aber Elizabeth war gerührt von Hollys Leidenschaft für ihren Großvater und alles, was mit ihm zu tun hatte.

Hier vor der Kirche wirkte Holly immer noch genauso sympathisch wie bei ihrem ersten Treffen – und ebenso schick in ihren schwarzen High Heels, einem schwarzen Trenchcoat und einem langen gelb-schwarzen Schal. Elizabeth, die normalerweise immer eine gewisse Distanz zwischen sich und ihren Mitmenschen verspürte (Berufskrankheit aller Fotografen, pflegte sie zu scherzen), fühlte sich zu der quirligen Frau sofort hingezogen.

»Da sind Sie ja! Willkommen in unserem wunderbaren Mount-Bellwood-Wetter.« Holly umarmte und küsste Elizabeth und Fleur auf eine ganz und gar unenglische Weise. »So was von kalt und ungemütlich. Gerade hab ich noch zu Bob gesagt, wie gut, dass wir unsere Thermowäsche aus England mitgebracht haben. Sie müssen Fleur sein, wie schön, Sie kennenzulernen. Bob, glotz die hinreißende Fleur nicht so an, sondern mach den Mund zu und gib ihr die Hand. Und jetzt, Mädels, lasst uns schnell in die Kirche gehen, denn Ginger ist bereits da!«

Bob, der ungefähr so wortkarg war wie seine Frau extrovertiert, gab einen undefinierbaren Grunzlaut von sich und wurde von seiner Gattin auf der Suche nach Ginger in die Kirche gezerrt.

Obwohl Elizabeth durch ihre Arbeit schon einigen berühmten Persönlichkeiten begegnet war und sich nur noch selten von ihnen eingeschüchtert fühlte, war sie beim Gedanken daran, Ginger Lawson endlich kennenzulernen, etwas nervös. Während die meisten Kunstsammler entweder Kitty wegen ihrer engelsgleichen Erscheinung oder Wanda wegen ihrer Sinnlichkeit und den gewagten Aktdarstellungen bevorzugten, hatte sich Elizabeth immer am meisten zu den Bildern hingezogen gefühlt, die Ginger zeigten.

Sie hatte Gingers Karriere über die Jahrzehnte hinweg nachverfolgt und wusste deshalb, dass Ginger in den frühen australischen TV‑Seifenopern mitgespielt hatte, bevor sie nach Amerika übergesiedelt war. Mit der Chance, eine der Musen ihres Großvaters sogar vor Ort, auf Currawong Manor, zu fotografieren, ging für Elizabeth ein Traum in Erfüllung. Da Kitty nun so tragisch verstorben war und Wanda in einem Pflegeheim in Sydney lebte, blieb nur Ginger als Modell.

Im vorderen Teil der Kirche drängten sich mehrere Leute um eine Frau, bei der es sich vermutlich um Ginger handelte. Elizabeth betrachtete sie neugierig: Ihre großen, mandelförmigen grünen Augen waren dick von schwarzem Kajal und falschen Wimpern umrahmt, der Teint perfekt geschminkt, die Lippen dunkelrot. An Gingers Ohren baumelten bunte Ohrringe aus Glas und Perlen, und ihre schwarze Designerjacke zierte neben einem farbenfrohen Schal eine übergroße Brosche. Darunter trug sie ein tief ausgeschnittenes Oberteil, das ihren üppigen Busen betonte und ein Stückchen BH mit Leopardenmuster hervorblitzen ließ. Silberne Armreifen und Kettchen baumelten an ihren Handgelenken. Ihr hennarotes Haar hatte Ginger mit funkelnden Kämmen zu einem Knoten hochgesteckt. Mit über siebzig wirkte sie noch genauso dynamisch, elegant und faszinierend wie in den berüchtigten vierziger Jahren.

»Vielen Dank, vielen Dank Ihnen allen, Sie sind zu freundlich. Es ist wunderbar, wieder in Mount Bellwood zu sein.« Ihre durchdringende Stimme veranlasste alle in Hörweite, den Hals zu recken, um herauszufinden, welche wichtige Persönlichkeit da unter ihnen weilte. Es juckte Elizabeth in den Fingern, die Szene zu fotografieren. Ginger glich einem strahlenden Pfau inmitten eines Spatzenschwarms, da alle anderen in gedeckten Trauerfarben gekleidet waren.

»Kommen Sie, wir schnappen sie uns, bevor sie sich hinsetzt!« Holly zog Elizabeth hinter sich her. Ginger drehte sich mit herablassender Miene nach ihnen um, wurde aber ein wenig freundlicher, als sie erkannte, um wen es sich handelte.

»Darf ich die Damen miteinander bekannt machen?«, zwitscherte Holly mit ihrem britischen Akzent. »Ginger, diese junge Dame hier ist Elizabeth Thorrington.« Hollys Blick wanderte etwas hektisch zwischen den beiden Frauen hin und her. Da keine Reaktion kam, fuhr sie leicht nervös fort: »Elizabeth ist die Fotografin für Flowers of the Ruins. Sie wird ihr Nest neben Ihrem haben. Ihre Mutter …«

»Selbstverständlich weiß ich, wer sie ist. Seien Sie nicht albern, Holly!«, dröhnte Ginger. Ihr unverkennbar australischer Singsang ließ die Jahre in den Staaten nur fern erahnen.

Der feste Händedruck, mit dem sie Elizabeth begrüßte, strafte ihr Alter Lügen. Dabei studierte sie aufmerksam Elizabeths Gesicht. »Ruperts Enkelin«, sagte sie. »Ja, ich kann die Ähnlichkeit sehen.«

Völlig unerwartet zog sie plötzlich ein pinkfarbenes Taschentuch heraus und tupfte sich die Augen ab. »Lois’ Tochter, so eine erwachsene, schöne Frau. Ist Ihre Mutter auch da?«

Als Elizabeth den Kopf schüttelte, putzte sich Ginger die Nase und fächelte sich Luft zu, während die Anwesenden ihren übertriebenen Gefühlsausbruch begafften. »Ich habe sie angerufen«, schniefte sie, »aber sie hat sich geweigert, mit mir zu sprechen.«

Dann zeigte Ginger mit einem schwarz behandschuhten Finger auf Fleur, wobei ihre Armreifen und Kettchen klimperten. »Und wer ist Ihre blonde Freundin da?«

Elizabeth war so auf Ginger fixiert gewesen, dass sie Fleur ganz vergessen hatte. Nicht, dass Fleur mit ihren klassisch schönen Zügen und der aufrechten Haltung von all den Jahren beim Ballett lange unbeachtet bleiben könnte. Einige Trauergäste hatten sie bereits neugierig beäugt. Ob es daran lag, dass sie Fleur erkannten, oder ob sie einfach nur ihre Schönheit bewunderten, konnte Elizabeth nicht mit Sicherheit sagen.

»Oh, Verzeihung. Das ist meine Freundin, Fleur Amos. Sie hilft mir beim Einzug ins Nest. Was für ein netter Name für die Cottages, die Holly hat bauen lassen, finden Sie nicht? Eine ausgezeichnete Idee, auf dem Anwesen Künstlerresidenzen anzubieten und damit die Renovierungsarbeiten zu finanzieren.« Verdammt, sie redete zu viel, aber Gingers durchdringender Blick machte sie irgendwie nervös. Täuschte sie sich oder mochte diese Frau sie nicht? Wahrscheinlich war es naiv gewesen zu hoffen, dass die gemeinsame Verbindung zu Rupert irgendwie von Bedeutung wäre. Oder bildete sie sich diese Antipathie vielleicht nur ein? Schließlich war es Gingers Wunsch gewesen, dass sie den Auftrag bekam. Nachdem sie ihrer Mutter von Anfang an offensichtlich nichts hatte recht machen können, war Elizabeth besonders empfindlich, wenn es um die Anerkennung durch andere Frauen ging. Vor allem bei Frauen, die etwas mit Currawong Manor zu tun hatten. Hoffentlich reagierte sie nur gerade etwas überempfindlich, denn sonst würden die nächsten Monate die Hölle werden – als wäre das Leben nicht schon höllisch genug.

»Ich habe Sie vor Jahren einmal im Opera House tanzen sehen, Fleur. Sie waren als Salome so wundervoll sinnlich.« In Gingers Tonfall lag ein Hauch mehr Wärme als zuvor. »Ich habe gelesen, Sie hätten sich zur Ruhe gesetzt, als Sie Ihre Kinder bekamen. Wie schade, dass Sie Ihre Karriere opfern mussten.« Elizabeth spürte, wie Fleur neben ihr stocksteif wurde. Selbst Holly machte bei diesem Kommentar ganz große Augen.

»Und nun müssen Sie mich leider entschuldigen.« Ginger kramte in ihrer Lady-Dior-Handtasche herum und zog einen Rosenkranz heraus. »Ich werde eine Kerze anzünden, mir dann einen Platz suchen und ein Gebet für die arme Kitty sprechen. Was für ein bezauberndes Mädchen sie doch war, unsere Kitty – das perfekte Modell für Rupert und allen eine gute Freundin. Ich sehe ihre blonden Locken und die süßen Grübchen immer noch vor mir. Sie war die Hübscheste von uns allen. Unsere kleine Kitty haben wir alle geliebt. Was für ein erbärmliches Ende für ein solch reizendes Geschöpf. Wenn ich doch nur von ihrem Gemütszustand und ihren finanziellen Sorgen gewusst hätte! Ich hätte ihr doch helfen können.«

Ginger warf einen Blick zurück zum Eingang und verzog abfällig den roten Mund. »Warum allerdings ihre verdammten Kinder sie nicht mehr unterstützt haben, ist mir ein Rätsel. Ganz schön dreist von denen, hier heute ihre verheulten Gesichter zu zeigen!« Sie tupfte sich wieder die Augen ab, und Elizabeth hätte ihr beinahe tröstend die Hand auf den Arm gelegt, wäre sie nicht zu eingeschüchtert gewesen.

»Zuerst die gute Wanda mit Demenz in irgendeinem uralten Pflegeheim. Und dann stirbt Kitty in einem schäbigen Hostel. Nun bin ich gewissermaßen das einzige noch lebende Flower-Mädchen.« Ginger machte eine Pause und fasste sich an die Brust, als genieße sie diese melodramatische Aussage. Die Leute starrten sie nun ganz unverhohlen an, woraufhin sie ihre Bemerkung noch lauter wiederholte: »Ich bin gewissermaßen die einzige noch lebende Blume! Was zum Teufel will die denn hier?« Ihre Stimme wurde einen Ton schärfer. Als Elizabeth sich umdrehte, sah sie eine Frau Mitte sechzig in die Kirche kommen. Sie trug einen glockenförmigen Hut aus schwarzen und violetten Federn über ihren kinnlangen grauen Haaren, dazu eine schwarze Strickjacke und ein wenig schmeichelhaftes, formloses graues Kleid. Sie starrte Ginger mit glasiger, entsetzter Miene an.

»Das ist Miss Sharp, Ginger. Dolly Sharp. Die Tochter der alten Puppenmacherin. An die erinnern Sie sich doch sicherlich?« Holly lächelte und winkte mit den Fingern einen Gruß in Richtung der Frau, die mit versteinerter Miene Ginger anstarrte.

»Wie könnte ich die je vergessen?«, keifte Ginger. »Halten Sie mir dieses Weib bloß vom Leib, sonst vergesse ich mich noch! Und jetzt werde ich eine Kerze anzünden!« Mit diesen Worten stürmte sie davon. Die drei Frauen sahen sich verblüfft an.

»Das tut mir jetzt wirklich leid«, entschuldigte sich Holly ziemlich verwundert. »Es muss an der Beerdigung liegen. Normalerweise ist Ginger wirklich goldig.«

Wir hätten nicht herkommen sollen. Elizabeth dachte an die zornige Reaktion ihrer Mutter, als sie herausfand, dass ihre Tochter Kittys Begräbnis besuchen würde. »Ich werde doch sowieso eine Weile dort wohnen«, hatte Elizabeth argumentiert. »Das ist ein entscheidender Moment für das Buch. Der Tod eines der Flower-Mädchen ist eine wichtige Geschichte, und man hat mir erlaubt, beim anschließenden Leichenschmaus zu fotografieren.«

»Der Tod eines dieser verdammten Weibsbilder ist keine wichtige Geschichte!«, hatte ihre Mutter geschimpft. »Höchstens im völlig verblendeten Kopf einer Narzisstin wie Ginger Lawson, die glaubt, es würde das ganze Land interessieren, dass sie mal ein Jahr lang für irgendeinen drittklassigen Künstler nackt Modell gestanden hat. Du brauchst mich gar nicht, so anzusehen, Elizabeth! Es kümmert mich nicht die Bohne, dass er mein Vater war – nicht, dass er diese Bezeichnung verdient hätte. Er war ein miserabler Künstler, und ich werde auch nichts anderes behaupten, nur damit du zufrieden bist. Kein Schwein interessiert sich für Rupert Partridge außer dir, Ginger und Holly Dingsbums, die mehr Geld als Verstand oder Geschmack hat und von drittklassigen pseudokünstlerischen Mördern besessen ist.«

»Mum, wann kannst du die Vergangenheit endlich ruhen lassen?«, entgegnete Elizabeth. »Mein Großvater mag vielleicht ein Mörder gewesen sein – aber das macht ihn noch lange nicht zu einem drittklassigen Künstler! Du willst das wachsende Interesse an seinem Werk einfach nicht sehen.«

Doch nichts von dem, was Elizabeth je über Rupert sagte, änderte etwas an der Meinung ihrer Mutter. Sie fing dann höchstens an, über die Medien und deren Lügenmärchen herzuziehen. Als Elizabeth es gewagt hatte, ihr von ihrem Auftrag für Flowers of the Ruins zu erzählen, hatte ihre Mutter ihr vorgeworfen, aus der Verwandtschaft mit Rupert Kapital schlagen zu wollen, um ihre eigene Karriere voranzutreiben.

Die Schimpftirade war dann in die übliche Nörgelei übergegangen: Elizabeth würde ihre Karriere an erste Stelle setzen, indem sie für Aufträge so viel herumreiste, während ihre biologische Uhr tickte. Und nun enttäuschte ihre Tochter sie auch noch, indem sie das Angebot eines Aufenthalts auf Currawong Manor annahm. Als Reaktion darauf hätte Elizabeth am liebsten den Kontakt zu ihrer Mutter ganz abgebrochen. In den Bergen würde sie zumindest eine Erholungspause von ihren endlosen Sticheleien genießen können.

Sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart zu lenken. Hier in der beschaulichen Ruhe von Mt Bellwood schien Sydney eine Million Galaxien von dem ganzen Ärger entfernt zu sein.

»Alles okay?« Fleur berührte sanft ihren Arm. Die Sorge im Blick ihrer Freundin drängte Elizabeth dazu, sich zusammenzureißen. Fleur war wie immer völlig gelassen, ganz egal, was um sie herum passierte. Sie war eine gefeierte Ballerina gewesen, bevor sie Mutter zweier gesunder Bilderbuchkinder wurde – dazu hatte sie einen gutaussehenden Ehemann, ein unkonventionelles, schickes Haus am Bondi Beach und ein klassisch schönes Gesicht, passend zu ihrem angenehmen Wesen. Mit all diesen Vorzügen und Annehmlichkeiten ausgestattet war es nicht verwunderlich, dass Fleur eine beneidenswerte Gelassenheit an den Tag legte. Elizabeth fragte sich oft, was ihre Freundin wohl in ihr sah. Vielleicht handelte es sich ja tatsächlich, wie Lois säuerlich angemerkt hatte, um einen Fall von Gegensätzen, die sich anzogen. Fleur war blond, gesellig und optimistisch – Elizabeth hatte schulterlanges braunes Haar und war eher schüchtern, vorsichtig und pessimistisch veranlagt. Das ungleiche Paar hatte sich jedoch schon vor Jahren angefreundet, als Elizabeth noch für die Sydney Daily gearbeitet und Fleur zum ersten Mal fotografiert hatte – anlässlich ihrer Rolle in Coppélia. Und trotz gegensätzlichen Temperaments und unterschiedlicher Herkunft wusste Elizabeth, dass sie sich auf ihre Freundin verlassen konnte.

2. Kapitel

Rauch und Flammen

Die Gäste – eine Mischung aus Einheimischen sowie Freunden und Verwandten von Kitty aus verschiedenen Teilen Australiens – waren in solchen Scharen zur kleinen alten Sandsteinkirche St Rita’s gepilgert, dass viele von ihnen draußen unterm Regenschirm der Lautsprecherübertragung des Gottesdienstes lauschen mussten. Elizabeth, die mit Holly, Bob und Fleur ziemlich weit hinten saß, war frustriert, weil sie keine freie Sicht auf Ginger hatte. Und weil sie während des Gottesdienstes nicht fotografieren konnte. Sie hätte so gerne ihre antike Großformatkamera benutzt, mit der jene verträumten, zeitlosen Bilder entstanden, für die sie bekannt war. Sie hatte zwar ihre Canon dabei, ging aber davon aus, dass es nicht gut ankommen würde, während der Messe Fotos zu machen. Die Steinkirche mit ihren juwelengleichen Buntglasfenstern, den cremefarbenen brennenden Kerzen, der großen blau-weißen Madonnenstatue mit den Wildblumensträußen ringsherum und den flackernden Teelichtern hätte einige schöne Aufnahmen in stimmungsvoller Ausleuchtung möglich gemacht. Elizabeth liebte es, Götterbilder und Madonnen zu fotografieren. Eines ihrer absoluten Lieblingsbilder zeigte einen Hexensabbat in der Innenstadt von Sydney, wo wild aussehende Frauen in einer alten Backsteinkirche nackt um ihren Hexenkessel herumtanzten. Obwohl Elizabeth sich selbst nicht als religiös betrachtete, faszinierten sie die unterschiedlichen Glaubensrichtungen, und sie liebte es, nackte Körper in frommer Pose mit ihrem Objektiv einzufangen. Deshalb waren die Hexen ein solch inspirierendes Shooting gewesen, weil sich Nacktheit mit gläubiger Ekstase gepaart hatte.

Auf dem Altar standen drei gerahmte Bilder von Kitty aus verschiedenen Lebensphasen. Das jüngste Foto war zehn Jahre alt und stammte aus einem Interview in der Kulturbeilage einer Wochenendzeitung. Es zeigte eine faltige Kitty um die sechzig, in der man aber immer noch das sechsjährige weißblonde Mädchen wiedererkannte, das auf der Schwarzweißaufnahme daneben die Hand seines ernst dreinblickenden dunkelhaarigen Vaters hielt. Außerdem gab es noch die Reproduktion eines Gemäldes. Elizabeth sah sofort, dass es sich um Ruperts Porträt von Kitty aus den Vierzigern, Kitty in the Owlbone Woods, handelte. Das junge Modell saß in blauen Satin gehüllt neben zwei spielenden Kätzchen. Man hätte es als ein niedliches Gemälde eines süßen Mädchens ansehen können, wären da nicht die unheilvollen dunklen Striche im Hintergrund gewesen, die Bäume darstellten. Obwohl die Bilder der Owlbone Woods-Serie nie als Ruperts beste Arbeiten betrachtet worden waren, hatte Elizabeth den Kontrast zwischen dem düsteren Wald und Kittys Märchenschönheit stets als gleichermaßen erschreckend wie faszinierend empfunden. Beim näheren Betrachten der Bilder, von denen es fast ein Dutzend gab, entstand immer wieder der Eindruck, als würde ein uraltes Wesen das unschuldige Mädchen heimlich beobachten. Die spindeldürren, hexenarmigen Bäume bildeten vor dem hellblauen Himmel ein filigranes Muster und streckten ihre knorrigen Äste nach Kitty aus, die mit den Katzen spielte. Hastige Farbtupfer in Weiß und Silber glichen Gespenstergesichtern – oder unliebsamen Naturgeistern, die durch Blätter, Rinde und Gestrüpp dem Mädchen mit ihren strengen kugelrunden Augen hinterherspionierten.

Die meisten der Sammler von Rupert Partridges Werken schätzten seine Serie Crossroads, Stems and Sirens oder natürlich Naked Flowers –seine umstritteneren erotischen Aktbilder und Fotografien. Rupert hatte Naked Flowers als seine liebsten Werke bezeichnet, da sie von zwei Künstlerinnen inspiriert waren, die er bewunderte: Florence Henri und Marianne Breslauer, die in den frühen 1920er und 30er Jahren bemerkenswerte erotische Darstellungen geschaffen hatten. Elizabeth war jedoch immer besonders empfänglich gewesen für die dunkleren, geheimnisvolleren Schatten in der Owlbone Woods-Serie.

Nun verrenkte sie sich fast den Hals beim Versuch, Gingers Reaktion auf Kittys Fotos zu beobachten. Ginger hatte alle früheren Bewohner von Currawong Manor überlebt, abgesehen von Wanda im Pflegeheim und Dolly Sharp – wenn man die mitzählen wollte. Nein, nicht alle. Lois, Ruperts Tochter – und Elizabeths Mutter – lebte gesund und munter in Sydney. Was tat ihre Mutter wohl jetzt gerade, um alle Gedanken an ihren Vater, an Currawong Manor und ihre beschmutzte Familiengeschichte zu verdrängen? Lois hatte aus Gründen, die Elizabeth nie ganz verstanden hatte, immer versucht zu verhindern, dass sie sich mit der Vergangenheit beschäftigte. Auch Elizabeths Vater Michael war es nicht erlaubt, über Lois’ Familiengeschichte zu sprechen, und da er ohnehin ein eher in sich gekehrter Mensch war, leistete er dem nur zu gerne Folge. Lois würde sich ablenken, nur um nicht daran denken zu müssen, dass weniger als zwei Stunden Autofahrt entfernt gerade eine weitere Verbindung zu ihrer Vergangenheit eingeäschert wurde.

Kittys Sohn, der aussah, als wäre er etwa Mitte dreißig (Elizabeth entnahm seinen Namen dem ausliegenden Faltblatt zum Ablauf der Trauerfeier: Stewart Hastings), sprach von der Kanzel herab über Kittys Kindheit. Seine sanfte Stimme beschrieb das Leben seiner Mutter als eines von dreizehn Kindern in Katoomba und die Not, die ihre Familie während der Wirtschaftskrise gelitten hatte. Über ihre schillernde Rolle als »Blume« verlor er nicht viele Worte, außer dass Kittys Zeit auf Currawong Manor ihre Karriere als Katalogmodell für Davis Jones angeregt und zu einigen kleineren Rollen in den frühen australischen Fernsehshows geführt hatte. Kitty war bis zum Tod ihres Gatten, Eugene Hastings, glücklich verheiratet gewesen. Sie hatte zwei Kinder und zwei Stiefenkel. Das ist ja alles ganz nett, dachte Elizabeth bei sich, aber es erklärt nicht, weshalb Kitty allein und mittellos in einem schäbigen Hotel gestorben ist. Wo war da dieser Sohn mit seiner weichen Stimme, dem gutgeschnittenen Anzug und der Designerbrille gewesen?

Nachdem Kittys Mahagonisarg hinter einem Samtvorhang verschwunden war, stand Elizabeth etwas unbeholfen neben den Shaws in einem Nebenraum herum, wo sich die Gäste zu einem kleinen Empfang versammelt hatten. Sie holte die Canon aus der Tasche und wünschte sich aufs Neue, sie könnte ihre antike Fachkamera benutzen. Doch Linda war nicht transportabel und auch viel zu sperrig für eine solche Veranstaltung. Es hätte die Trauernden zu sehr abgelenkt, wenn sie immer wieder unter einem Tuch verschwunden wäre, um den Gottesdienst mit Hilfe von Lindas akkordeongleichen Balgen, den Holzrahmen und langen Messingobjektiven festzuhalten.

Elizabeth stellte ihre Kamera scharf und machte ein paar schnelle Aufnahmen von der Menge. Durch eines der großen Buntglas-Erkerfenster fiel auf faszinierende Weise das Licht herein und malte einen Regenbogen auf den abgewetzten Holztisch, der mit Sandwichs und Kuchen beladen war.

»Was für eine gelungene Abschiedsfeier, findest du nicht, Bob?«, wollte Holly von ihrem Gatten wissen. Elizabeth bewunderte ihr markantes, attraktives Gesicht. Holly besaß diesen robusten Teint, der nicht zu altern schien. »Ich hoffe, du stellst mal eine ähnlich erbauliche Show auf die Beine, wenn meine Zeit gekommen ist. Wunderschöner Sarg – wirklich schade, dass der jetzt verbrannt wird. Und dass die Kinder das Geld nicht für sie ausgeben konnten, als sie noch am Leben war. Vielen Dank, meine Liebe –«, sie suchte sich eins der Schinkenbrötchen aus, die ein junges Mädchen auf einer großen Platte herumreichte. »Ich bezweifle stark, dass Kitty zu denen gehört hat, die ihre eigene Beerdigung im Voraus bezahlen, aber ich glaube auch nicht, dass ihre Kinder am Hungertuch nagen. Ganz schön viele Leute sind gekommen. Nicht schlecht für ein Mädchen aus einer Bretterbude in Katoomba! Schon merkwürdig, dass sie zuletzt in dieser lausigen Absteige gehaust hat! Irgendwie kommt mir das einfach falsch vor.« Elizabeth warf ihr einen überraschten Blick zu, da Holly damit ihre eigenen Gedanken laut ausgesprochen hatte. Holly zog ein pinkfarbenes Puderdöschen aus der Tasche, fuhr sich einmal mit der Quaste übers Gesicht und klappte es dann wieder zu. »Davon hat sie auf jeden Fall nichts durchblicken lassen, als sie bei uns zu Besuch war, oder, Bob?«

Bob grunzte eine Erwiderung. Die beiden waren ein seltsames Paar. Bob verfügte über genau zwei unterschiedliche Gesichtsausdrücke: mürrisch und gequält. Er sah aus, als würde er ständig in Gedanken Finanzen durchrechnen und dabei feststellen, dass er sich im Minus befand, während Holly attraktiv, zupackend und lebensfroh war und offensichtlich sowohl Tratsch als auch die Gesellschaft anderer Menschen genoss.

»Haben Sie sie denn in letzter Zeit noch getroffen?«, erkundigte sich Elizabeth und beobachtete nebenbei Fleur, die am anderen Ende des Raums telefonierte. Fleur rief dauernd bei ihrem deutschen Au‑pair-Mädchen an, weil sie sich Sorgen darüber machte, was die Kinder gerade anstellen könnten.

Holly zögerte und sah kurz zu ihrem Mann hinüber, bevor sie antwortete: »Ja, haben wir, aber irgendwie wurden wir nicht so ganz schlau aus ihr. Ich glaube, sie war vom Flowers of the Ruins-Projekt nicht allzu begeistert. Es kam mir so vor, als hätte sie Angst, wir würden damit ihrem Buch Murder at the Manor Konkurrenz machen wollen, dabei ist das schon so lange vergriffen. Am Ende mussten wir sie leider bitten zu gehen. Ich war völlig am Boden zerstört, denn ich hatte mich so darauf gefreut, sie endlich kennenzulernen, aber sie war ganz anders, als ich es erwartet hatte.«

»Kitty und ich wollten uns eigentlich auch noch treffen, kurz bevor sie gestorben ist«, erklärte Elizabeth. »Ich bedaure sehr, dass daraus nun nichts mehr geworden ist. Sie war ein weiteres Verbindungsglied zur Vergangenheit meiner Mutter. Interessanterweise habe ich zuvor jahrelang versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen, aber damals hatte sie kein Interesse daran, mich kennenzulernen. Ich hatte das Gefühl, als wollte sie lieber nicht an ihre Zeit auf Currawong Manor erinnert werden.« Genau wie Mum.

»Seltsame Sache«, meinte Holly. »Aber sie war schon ziemlich komisch, stimmt’s, Bob?« Nach einem weiteren zustimmenden Grunzen von Bob fuhr Holly fort: »Ganz im Vertrauen«, sie senkte die Stimme und sah sich um, »mir hat sie erzählt, sie würde im Fern Falls in Leura wohnen, aber das war offensichtlich gelogen. Die Frau stank. Kein anständiges Hotel hätte sie über die Schwelle gelassen. Es war ganz offensichtlich –« An dieser Stelle brach sie ab, weil sie Ginger entdeckte, die auf ihre Gruppe zusteuerte. »Ich erzähle Ihnen später mehr darüber!«

Bob zwinkerte Elizabeth über seine Tasse hinweg zu, und Elizabeth spürte, wie sie rot wurde vor Freude, dass dieser missmutige, griesgrämige Mann sie offensichtlich akzeptiert hatte.

Ginger näherte sich mit finsterer Miene. »Warum zum Teufel mussten Sie unbedingt die Medien einladen, Holly?«, schimpfte sie und zeigte dabei auf ein junges, etwas ängstlich wirkendes Paar, das am Rand des Raums stand. »Diese Kinderchen dort haben mir eben erklärt, sie kämen von der Mountain Daily, und wollten einen Kommentar von mir. Als wäre ich in der Stimmung für Interviews, wenn meine alte Freundin eingeäschert wird! Und auch Dolly Sharp hat kein Recht darauf, hier zu sein!« Sie wies wütend mit dem Kopf in Richtung des Holztischs mit den Brötchen. Dolly stand dort ganz alleine und wurde von der schnatternden Gästeschar komplett ignoriert.

Gingers Ausbruch schien Holly jedoch völlig kaltzulassen. »Denken Sie an das Buch, Ginger«, erwiderte sie. »Wir brauchen alle Publicity, die wir kriegen können. Jemand von der Australian Lady möchte Sie ebenfalls interviewen, wie ich gestern Abend per Mail erfahren habe. Glauben Sie wirklich, Kitty hätte sich gegen Publicity gewehrt, wenn es umgekehrt wäre und wir heute Sie beerdigt hätten?«

»Gute Frau, jetzt reicht’s aber. Sie sind ja schlimmer als mein Agent!«, zischte Ginger. Sie bedachte das Grüppchen mit einem eisigen Blick. »Ich glaube, ich erspare mir die Häppchen, die Schleimer und den ganzen Scheiß. Ich fahre nach Hause und leere eine Flasche Old Jack im Andenken an Kitty. Die Chancen stehen besser, ihren Geist auf Currawong Manor anzutreffen als bei dieser Farce hier! O Gott, jetzt kommt auch noch dieser Langweiler Patrick Bishop auf uns zu. Ich bin dann mal weg!«

»Ich kann Sie gerne fahren«, bot Bob ihr an, doch Ginger erklärte ihm, sie wolle lieber ein Taxi nehmen. Dann rauschte sie in einer Wolke Chanel No. 5 mit klimpernden Armreifen und wehendem Schal von dannen, wobei sie beinahe einen elegant gekleideten älteren Herrn im schwarzen Smoking über den Haufen rannte. Schlohweiße Locken umrahmten sein faltiges, aber lebhaftes und freundliches Gesicht. Das Trio beobachtete, wie Patrick etwas zu Ginger sagte, worauf sie ihn mit unverhohlener Abneigung betrachtete. Die beiden wechselten einige hitzige Worte, ehe Ginger die Arme mit einer Geste in die Luft warf, die wohl ausdrücken sollte, dass sie mehr als genug hatte – und den Raum verließ.

»Armer alter Patrick«, murmelte Holly lächelnd in ihre Tasse. »Ich könnte schwören, er steht auf dieses alte Knallbonbon. Er redet pausenlos von den Flowers, besonders von Ginger. Allerdings bezweifle ich, dass sie seine Leidenschaft erwidert, armer Kerl. Seine Frau ist vor ein paar Jahren verstorben, und vermutlich ist er einsam. Ich wette, du wüsstest nicht mal, wie man ein Hemd bügelt, wenn ich morgen tot umfallen würde, stimmt’s, Bob?«

Es blieb Elizabeth erspart, Bobs Antwort zu deuten, da in diesem Moment Fleur zurückkam.

»Was ist denn mit Ginger los?«, wollte sie wissen und beschwerte sich dann ausführlich darüber, dass Silke, das Au-pair, mit Kündigung drohte, weil die anderen Au-pairs in ihrer Wohngegend sie ignorierten, und dass Louis, ihr Sohn, sich weigerte, seine Hausaufgaben zu machen. Elizabeth hörte nur mit halbem Ohr zu. Fleurs häusliche Krisen endeten immer auf dieselbe Weise, nämlich indem Fleur nach Hause fuhr, um Silke zu beschwichtigen, ihre Kinder mit Süßigkeiten zu beruhigen und den Tag zu retten. Elizabeth konnte jedoch nur an eines denken: Wie um alles in der Welt soll ich wochenlang diese hysterische Ginger ertragen?

3. Kapitel

Streben und Verlangen

Elizabeth sah aus dem Autofenster, während Fleur durch eine von Bäumen gesäumte Hauptstraße des hübschen historischen Städtchens Mt Bellwood fuhr. Im Gegensatz zu den Städten weiter unten in den Bergen besaß Mt Bellwood immer noch das leicht schäbige Flair von früher. Es gab einen Metzgerladen mit gestreifter Markise, ein Schuh- und Bekleidungsgeschäft »Familienbetrieb seit 1893«, eine Post und eine Polizeiwache, die mit ihren üppigen Geranien und Stiefmütterchen vor den Fenstern aussah wie ein Cottage aus Inspector Barnaby. Am Ende der Straße befand sich ein Antiquitätenhändler mit Schaufensterpuppen und faszinierendem Nippes in der Auslage. Ein Stück weiter gab es eine altmodische Milchbar namens »Land der Leckereien«. Elizabeth fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Mt Bellwood ebenfalls der Gentrifizierung zum Opfer fiel, die, von Sydneys überhöhten Immobilienpreisen angetrieben, unaufhörlich die Berge hinaufkroch. Auf der Straße tummelte sich ein buntes Völkchen. Leute strömten in die Cafés, wo sie Suppe löffelten, heiße Getränke zu sich nahmen, Freunde trafen oder sich mit Proviant versorgten, bevor sie zu einer der zahlreichen Buschwanderungen aufbrachen, die man von hier aus unternehmen konnte.

»Die Leute glauben immer, hier oben wäre es zu kalt«, kommentierte Fleur. »Die lange Fahrt schreckt sie ab, aber mit der neuen Autobahn geht es eigentlich ziemlich schnell. Im Ort selbst wohnen viele Künstler, die sicherlich von der Rupert-Partridge-Geschichte angezogen wurden. Und im Vergleich zu Leura ist es hier richtig billig! Ich würde mir echt gerne ein Wochenendhäuschen hier oben zulegen, aber die Kinder haben einfach immer zu viel vor. Da können wir nicht mal eben wegfahren.« Elizabeth fragte sich, wie es wohl war, wenn man seine Wochenenden um die Bedürfnisse der Kinder herum planen musste. Der leise bohrende Schmerz in ihrem Innern flammte wieder auf, wenn auch nur ganz kurz. Hatte sie zu lange gewartet, um eine Familie zu gründen? Warum hatten ihre Beziehungen nie gehalten? Sie zog einen katastrophalen Mann nach dem anderen an. Was stimmte nicht mit ihr?

Inzwischen fuhren sie an der alten Bahnstrecke entlang, und im Radio lief Händels Messias. Stacheldraht, elektrische Zäune und Warnschilder – Betreten verboten, Privatgrundstück, Unbefugtes Betreten ist strafbar – kündigten die Owlbone Woods an.

»Es ist nur eine Viertelstunde Fahrt von Mt Bellwood bis hierher, aber es kommt mir vor, als wären wir am Ende der Welt. Wie viel abgeschnittener von der Außenwelt muss es sich da erst zu Ruperts Zeiten angefühlt haben? Ich weiß nicht, ob ich gerne hier draußen leben würde. Die ständige Angst vor Buschbränden im Sommer würde mich fertigmachen.« Elizabeth erschauderte beim Anblick der dunklen gezackten Linie der Bäume und Büsche.

»Ich finde es ja immer noch komisch, dass deine Mutter diesen Ort dermaßen meidet.«

»Niemals würde Mum freiwillig hierher zurückkehren«, bestätigte Elizabeth. »Sie wird schon wütend, wenn ich das Anwesen auch nur erwähne. Also habe ich es aufgegeben, sie umstimmen zu wollen. Aber ich fand den Wald bei Ruperts Bildern schon immer irgendwie magisch. Vor Jahren habe ich mal die Mermaid Glen besucht und fand sie zwar unheimlich, aber gleichzeitig auch wunderschön. Ich hoffe, dass ich diesmal Fotos von der Schlucht machen und ihre bedrohliche Atmosphäre einfangen kann.«

Die beiden Frauen hingen einem seltsamen Tagtraum nach, während die Holperstraße in die Apple Blood Lane überging und eine lange Reihe von Eukalyptus-, roten Bloodwood- und Teebäumen die Auffahrt zum Anwesen säumte. Auf einem weißen Schild, an dessen Oberfläche der Zahn der Zeit genagt hatte, stand der Name Currawong Manor. Darunter befand sich ein frischer roter Graffiti-Schriftzug: Die Ruinen.

»Sogar im Bergführer für Touristen ist von den ›Ruinen‹ die Rede«, kommentierte Fleur und hielt kurz an.

»Soweit ich weiß, nennen es die Leute von hier schon seit Jahrzehnten so«, erwiderte Elizabeth. »Nicht nur, weil das Anwesen inzwischen so verfallen ist, sondern weil es Leben ruiniert hat. Über die Tragödie der Familie Partridge weißt du ja schon Bescheid – wie meine Großmutter in der Nacht, als ihre Tochter starb, vom Zug überfahren wurde, wie mein Großvater den Mord an der Kleinen gestand und dafür gehängt wurde. Aber es gibt noch mehr: Ruperts Eltern – meine Urgroßeltern – haben ihren Lieblingssohn im Krieg verloren. Ruperts Mutter Ivy schloss sich daraufhin in einem der Zimmer ein und ging kaum noch nach draußen.«

Elizabeth verstummte, weil sie darüber nachdachte, dass Kittys Tod ebenfalls dem Fluch der Ruinen zugerechnet werden konnte. Auch die Kindheit ihrer eigenen Mutter war traumatisch gewesen: Nach dieser schrecklichen Geschichte kam sie ins Heim und anschließend zu verschiedenen Pflegeeltern. Kein Wunder, dass sie anscheinend nicht in der Lage war, normale Gefühle zu empfinden. Um die vertraute Bitterkeit abzuschütteln, fuhr Elizabeth fort: »Im Grunde ist das doch wie aus einem Groschenroman. Ganz zu Anfang war das Anwesen der geheime Rückzugsort des exzentrischen Pastors Greenman. Das wird übrigens alles in unserem Buch stehen. Die Shaws sind ganz wild drauf, so viel Gothic Drama wie nur möglich reinzupacken.«

Elizabeth musste wieder an Patrick Bishop denken, den Herrn im schwarzen Smoking, mit dem Ginger sich kurz vor ihrem Abgang gestritten hatte. Patrick war ein Einheimischer, den sie für das Buch fotografieren wollte. Holly hatte erzählt, dass er im Kino am Ort mit einem Zylinder auf dem Kopf Klavier spielte, und Elizabeth malte sich bereits aus, was für ein tolles Bild ihre alte Kamera von dieser Szene machen würde. Patrick war außerdem begeisterter Vogelkundler, betrieb das kleine Heimatmuseum und hatte einige Bücher über Mt Bellwood im Eigenverlag herausgebracht. Das Wichtigste war jedoch, dass er damals in den Vierzigern Currawong Manor mehrmals besucht hatte. Holly war in letzter Zeit vollauf damit beschäftigt gewesen, die Leute auszuhorchen, auf der Suche nach Skandalen, Gespenstern und Anekdoten – nicht nur über die Ruinen, sondern auch über Mt Bellwood im Allgemeinen.

»Diese Holly muss ganz schön viel Geld haben, wenn sie sich so ein Projekt wie Currawong Manor aufhalst«, meinte Fleur. »Aber die Leute lieben ja gruselige alte Häuser voller Geheimnisse. Allerdings glaube ich in ihrem Fall nicht, dass sie zu den reinen Spinnern gehört. Also pass bloß auf, Liz, dass sie nicht die Geschichte deiner Familie dazu verwendet, selbst einen Reibach zu machen!«, warnte Fleur ihre Freundin.

»Ich wünschte, meine Familie wäre in der Lage gewesen, das Haus zurückzukaufen, aber Mum hatte kein Interesse daran, und es muss zu viel renoviert werden. Holly und Bob haben offensichtlich mehr Geld als Verstand, aber Holly scheint fest entschlossen zu sein, sowohl die Ruinen als auch Mt Bellwood in ein blühendes Künstlerstädtchen zu verwandeln. Wenigstens liegt ihr der Kunstaspekt am Herzen. Den vorherigen Besitzern waren Rupert und seine Arbeit schnurzpiepegal. Holly hat in London irgendeine Galerie betrieben, die sie und Bob dann zusammen mit ihrer Wohnung verkauft haben, um das Haus hier erwerben zu können. So besessen ist sie inzwischen von Rupert.«

Sie hatten eine halbverfallene Steinmauer mit einem rostigen schmiedeeisernen Tor erreicht, das links und rechts von zwei verwitterten, moosbewachsenen Steinlöwen bewacht wurde. Einem von ihnen fehlte der Kopf.

»Nun, da wären wir also.« Elizabeths Stimme zitterte ein bisschen. »Currawong Manor.«

Am Ende der Auffahrt befand sich ein großes zweistöckiges Natursteinhaus, das von Akazien und Eukalyptusbäumen eingerahmt wurde. Es erinnerte, so wie die Nachmittagssonne den bläulichen Stein zum Leuchten brachte, an ein romantisches englisches Pfarrhaus. Dunkelgrüner Efeu bedeckte einen Großteil der Fassade und wand sich ums Gemäuer herum. Eine strahlend blaue Haustür war freigeschnitten worden. An der linken Seite des Hauses zog sich eine rostige Metalltreppe nach oben, die, wie Elizabeth von ihrem früheren Besuch wusste, ins Nirgendwo führte.

Rings ums Haus lief eine eiserne Veranda, auf der einige Stühle und Holzfässer mit Wildblumen standen. Das Dach aus rötlichen Schieferplatten zierten diverse Brüstungen und sogar zwei seltsam anmutende Türmchen. Mehrere safrangelbe Kamine vervollständigten den fremdartigen Eindruck. Die großen Spitzbogenfenster, die Kästen mit Lavendel und die üppigen Kletterrosen ergaben zusammen mit dem dunklen Efeu vorne ein idyllisches, wenn auch leicht schrulliges Bild.

»Wie schön!«, rief Fleur. »Das wäre der perfekte Ort für ein Hochzeitsfest oder für eine Filmkulisse. Ich kann gut verstehen, weshalb Holly sich in das Haus verliebt hat. Es sieht aus, als käme es direkt aus irgendeinem verwunschenen Märchen. Deine Mutter muss verrückt sein, dass sie es damals nicht behalten hat.«

Sie parkten hinter Bobs rotem Volvo und einem Landrover und stiegen aus. »Es ist schon irgendwie ein magischer Ort, oder?«, bemerkte Elizabeth. »Sogar die Luft riecht verzaubert!« Sie atmete tief ein und betrachtete sehnsüchtig das Haus. Fleur wusste, wie romantisch veranlagt und sensibel Elizabeth war. Sie hatte über die Jahre hinweg miterlebt, wie ihre Freundin unter der Ablehnung ihrer Mutter gelitten hatte. Und auch ihr Vater, Michael, hatte ihr als schwacher, in sich gekehrter Mensch nicht viel Halt und Wärme bieten können.

»Alles daran ist eigentlich so, wie man es nicht unbedingt haben möchte – aber zusammen funktioniert es irgendwie auf wundersame Art. Mum hasst das Haus. Sie sagt, sie bekommt Alpträume davon.« Elizabeth legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Türmen hinauf.

»Was suchst du denn?«, fragte Fleur und öffnete den Kofferraum, um Elizabeths Gepäck aus dem Auto zu holen.

»Die Currawong-Krähen«, antwortete Elizabeth. »Pass mit der roten Tasche auf«, warnte sie. »Da sind meine Linsen drin. Du kennst doch die alte Geschichte, was passiert, wenn sich die Krähen in Scharen auf den Türmen der Ruinen versammeln? Man sagt, das sei ein Vorzeichen für den Tod oder die Geburt eines Hausbewohners. Noch ein Grund, weshalb Mum diesen Ort meidet. Sie hält dieses ganze abergläubische Gerede für wahr.«

»Du nicht?«, fragte Fleur.

Mit zusammengekniffenen Augen studierte Elizabeth weiterhin die Türmchen. »Ich glaube, dass es so etwas wie Energiezentren gibt, an denen negative Dinge passieren können. Bei der Arbeit am Buch The Magic Dirt über das Northern Territory habe ich mich viel mit Aborigines unterhalten. Die haben behauptet, es gäbe Orte, die wir nicht betreten sollten, weil sich dort Tore zu anderen Welten befinden – oder es passieren dort eben einfach schlimme Sachen aufgrund alter Verwünschungen oder weil die Erde von schlechter Magie verunreinigt ist. Hanging Rock in Victoria ist angeblich eine solche Stelle, die wir lieber meiden sollten. Aber dass Krähen den Tod voraussagen? Das müsste ich erst selbst erlebt haben, um es zu glauben.«

Sie wurde von Holly unterbrochen, die ihnen die Haustür öffnete.

»Ich wusste doch, dass ich ein Auto gehört habe! Gerade habe ich zu Bob gesagt, er soll das Teewasser aufsetzen. Hereinspaziert. Willkommen auf Currawong Manor!«

Das Innere des Hauses war ebenso märchenhaft, sonderbar und heruntergekommen wie seine äußere Erscheinung. Die blaue Tür mit dem verblassten Gemälde einer nackten Frau und dem schwarzen gusseisernen Löwenkopfklopfer führte in einen langen schwarzweiß gefliesten Flur, dessen hohe Decke mit aufwendigen Stuckrosetten geschmückt war. Als Elizabeth über die Schwelle trat, spürte sie den Hauch einer Vorahnung über sich hinwegstreichen wie die Berührung einer Feder. Es war Jahre her, seit sie das Haus das letzte Mal betreten hatte – kurz bevor ihre Mutter es verkauft hatte, war sie mit ihr zusammen hergekommen, um einige Sachen abzuholen. Der Tag hatte wegen Lois’ Hysterie ein schlechtes Ende genommen, aber Elizabeth war seither immer in Erinnerung geblieben, wie wunderbar skurril das Haus war.

Holly führte sie in eines der beiden großzügig geschnittenen Wohnzimmer. Beide Räume besaßen immer noch die gotischen Buntglasfenster, die der ursprüngliche Besitzer, Reverend Greenman, von der Londoner Firma Bell & White aus Großbritannien per Schiff hatte herbringen lassen. Der Anblick des Lichts, das in strahlenden Farben ins Zimmer fiel, entlockte Elizabeth einen kleinen Begeisterungsruf. Nach Anweisung des Pastors – und zweifellos inspiriert durch die exotische Kolonie, in die ihr Werk reisen würde – hatten Bell & White ein Fenstermotiv mit einer Frau entworfen, die vermutlich Australien symbolisieren sollte, mit dem Schriftzug Oceania zu ihren Füßen. Naive Blumen, Waratah-Blüten und Eukalyptusblätter bildeten ihren Kopfschmuck und die Dekoration der beiden Seiten. Zu ihren Füßen tummelten sich Schlangen und Schafe, und auch im Arm hielt Oceania eine Menge Schlangen. Gekleidet war sie in die britische Flagge und Schafwolle. Die Strahlen der Spätnachmittagssonne, die durch die Scheiben fielen, schufen bunte Lichtspiele auf Wänden und Böden. Die ehemalige Bibliothek, verkündete Holly, als sie ihre Gäste hineinführte, sei nun das »Rosa Zimmer«. »Bob kann es nicht ausstehen«, verriet sie den beiden Frauen. »Aber Rosa ist meine Lieblingsfarbe, deshalb habe ich darauf bestanden.« Die Wandregale waren zur Hälfte leer. »Viele der Bücher hier hatten angefangen zu schimmeln«, erklärte Holly. »Traurigerweise mussten wir sie alle wegwerfen.«

Elizabeth verspürte ein seltsames Ziehen in der Brust. Das Haus wirkte so verloren, ungeliebt und schäbig. Und es roch tatsächlich nach Moder.

»Eine ganz schöne Müllhalde, was?«, kommentierte Holly fröhlich. »Aber Sie hätten es mal sehen sollen, bevor ich mit der Arbeit angefangen habe. Die vorigen Besitzer haben hier einfach nur ihren ganzen Mist deponiert. Sie haben sich nicht mal die Mühe gemacht, das Gröbste für den Rückumzug nach England einzupacken. Da hab ich mich schon gefragt, ob ihnen vielleicht die Gespenstergeschichten der Einheimischen solche Angst eingejagt haben, dass sie sich nicht mal mehr getraut haben, in Ruhe zu packen! Aber wahrscheinlich hatten die Faulpelze einfach nur keine Lust, ihren ganzen Müll zu entsorgen, und haben ihn mir überlassen. Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Esszimmer. Achtung, Stufe!«

Im Esszimmer herrschte ein noch viel größeres Chaos, denn hier lehnten Leitern an der Wand, die Tapete hing teilweise in Fetzen herunter, und wohin man auch sah, überall stapelten sich Farbeimer, Tüten mit Gipsputz und andere Renovierungsutensilien. »Meine fleißigen Jungs haben sich für heute schon verabschiedet. Ich bin sicher, sie hätten einen Grund gefunden, noch dazubleiben, wenn sie gewusst hätten, dass zwei hübsche junge Damen hier auftauchen. Mal sehen, ob es Bob gelungen ist, das mit dem Tee zu vermasseln.«

Sie ging ihren Gästen voraus den Flur entlang, vorbei an der glänzend polierten Rosenholztreppe, die nach oben in den ersten Stock führte, wo sich ein großes und zwei kleinere Schlafzimmer befanden sowie der Aufgang zu den Türmen. Die große, offene, moderne Küche, deren breite Fensterfront Ruperts altes Steinatelier und den hinteren Garten überblickte, war in einem warmen Cremeton mit lavendelfarbenen Abschlüssen frisch gestrichen. Die geweißelten Schränke und der ausladende Kirschholztisch bildeten zusammen mit dem Porzellanbecken und den hohen Wasserhähnen einen schönen Kontrast.

»Was für eine tolle Küche!«, rief Elizabeth, während sie Hollys Sammlung an Kupfertöpfen, die an Haken baumelten, und die Regale voller blau-weiß gemusterten Geschirrs bewunderte.

»Wir haben die Wand zu einer ehemaligen Mägdekammer rausgeschlagen. Keine einfache Sache hier oben in den Bergen, wo man nie wissen kann, welche Handwerker zuverlässig sind. Das mussten wir nach und nach selbst herausfinden. Aber ich habe darauf bestanden, dass ich eine ähnliche Küche bekomme wie bei mir zu Hause. Das hier ist schließlich der wichtigste Raum im Haus. Früher hätte ich ja das Schlafzimmer so bezeichnet, aber diese Zeiten sind … wenn man vom Teufel spricht … hier kommt Bob. Hast du den Tee erst aus China holen müssen?«

Während Bob Zitronen in Scheiben schnitt und die Tassen aus dem Küchenschrank nahm, bestrich Holly frische Scones mit Butter und kommentierte nebenher die Trauergäste und ihre Kleidung.