Sturmvögel - Manuela Golz - E-Book
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Manuela Golz

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Beschreibung

Emmys Leben umspannt fast ein ganzes Jahrhundert. Ihre Kindheit auf einer kleinen Nordseeinsel ist geprägt von Ebbe und Flut und von ihrer verbitterten Großmutter Alma, die Schulpflicht für Unsinn hält. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, ist Emmys Schullaufbahn ohnehin beendet, noch bevor sie richtig begonnen hat. Alles, was ihr bleibt, ist ein Leben als Dienstmädchen im Tollhaus der Zwanzigerjahre: Berlin. Schnell lernt sie Hauke, einen Sohn aus reichem Hause, kennen. Der »eingebildete Fatzke« zeigt ihr das Leben und so einiges mehr. Es folgen drei Kinder und die harten Jahre des Zweiten Weltkriegs. Doch Emmy bietet dem Schicksal die Stirn und verliert nie den Humor – und jetzt, im reifen Alter von sechsundachtzig, schon gar nicht. Bis ihre erwachsenen Kinder auf mysteriöse Aktenordner im Keller stoßen, und zu ahnen beginnen, dass Emmy womöglich nie das naive Mädchen von der Insel gewesen ist, für das sie immer gehalten wurde. Könnte es tatsächlich sein, dass ihre Mutter auf einem Vermögen sitzt? Die beiden Ältesten lassen bereits die Sektkorken knallen. Aber noch hat Emmy ein Wörtchen mitzureden.

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Seitenzahl: 385

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Emmys Leben umspannt fast ein ganzes Jahrhundert. Ihre Kindheit auf einer kleinen Nordseeinsel ist geprägt von Ebbe und Flut und von ihrer verbitterten Großmutter Alma, die Schulpflicht für Unsinn hält. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, ist Emmys Schullaufbahn ohnehin beendet, noch bevor sie richtig begonnen hat. Alles, was ihr bleibt, ist ein Leben als Dienstmädchen im Tollhaus der Zwanzigerjahre: Berlin. Schnell lernt sie Hauke, einen Sohn aus reichem Hause, kennen. Der »eingebildete Fatzke« zeigt ihr das Leben und so einiges mehr. Es folgen drei Kinder und die harten Jahre des Zweiten Weltkriegs. Doch Emmy bietet dem Schicksal die Stirn und verliert nie den Humor – und jetzt, im reifen Alter von sechsundachtzig, schon gar nicht. Bis ihre erwachsenen Kinder auf mysteriöse Aktenordner im Keller stoßen, und zu ahnen beginnen, dass Emmy womöglich nie das naive Mädchen von der Insel gewesen ist, für das sie immer gehalten wurde. Könnte es tatsächlich sein, dass ihre Mutter auf einem Vermögen sitzt? Die beiden Ältesten lassen bereits die Sektkorken knallen. Aber noch hat Emmy ein Wörtchen mitzureden …

© Lena Fingerle

Manuela Golz, geboren 1965, studierte Germanistik, Erziehungswissenschaften und Psychologie. Sie lebt in Berlin und arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als Psychotherapeutin. 2006 debütierte sie mit ›Ferien bei den Hottentotten‹ als Autorin. Ihr neuer Roman ›Sturmvögel‹ ist vom Leben ihrer Großmutter Emmy inspiriert.

Manuela Golz

STURMVÖGEL

Roman

eBook 2021

© 2021 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagmotive: © Fotosearch/Clip Art und

© Universal History Archive/UIG/Bridgeman Images

Satz: Fagott, Ffm

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-8321-7076-9

www.dumont-buchverlag.de

Für meine Mutter.

1

APRIL 1994

Sie war unendlich dankbar für ihr Leben. Dass es so lang schon dauerte, grenzte für sie an ein Wunder.

Emmy saß auf ihrem Balkon und beobachtete zwei Elstern, die sich gegenseitig das Nistmaterial klauten. Wenn ihr so weitermacht, wird keine von euch fertig. Wie viel schlauer waren da doch die Kohlmeisen, die in das Vogelhäuschen ein- und ausflogen, das sie auf einem ihrer Blumenkästen platziert hatte. Sie bewunderte die kleinen Tiere für ihre Fähigkeit, im rechten Moment die Flügel anzulegen, um dann mit einem ploppenden Geräusch im Haus zu verschwinden.

Die Sonne war bereits erstaunlich warm, und Emmy dachte: Was wäre, wenn wir unser Leben nicht in Jahren, sondern in Sommern zählten? Sie hatte sechsundachtzig Sommer erleben dürfen.

Kein Jahr verging, in dem nicht Freunde, Bekannte oder Nachbarn starben, viele jünger als Emmy. Wenn ich noch lange lebe, bin ich auf meiner eigenen Beerdigung alleine. Sie spürte, dass auch ihre Kräfte immer mehr nachließen. Das Treppensteigen fiel ihr zunehmend schwer, spätestens im ersten Stock pfiff sie wie eine Dampflok. Die Nächte waren kurz, ihr Schlaf zersplitterte in unzählige kleine Abschnitte. Immer öfter fielen ihr tagsüber vor Müdigkeit einfach die Augen zu. Sie schlief dann wenige Minuten, die aber tief und fest. Sie wusste, dass sich ihre älteste Tochter Hilde über diese kleinen Absenzen ärgerte. »Das machst du doch mit Absicht, Mama. Nur um mir zu zeigen, wie sehr ich dich langweile«, hatte Hilde neulich zu ihr gesagt.

Emmy lebte so, wie sie es wollte. Sie liebte ihre Zweizimmerwohnung in Tegel, die nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert ihr Zuhause war, und ließ sich von niemandem Vorschriften machen. Sie hörte Radio, telefonierte mit ihrer Freundin Marianne in München oder löste Kreuzworträtsel, so gut es ihre Sehkraft noch zuließ. Dann war der Eckzahn des Keilers auch mal ein Eckzahn des Kellners, und Emmy wunderte sich über die Frage. In der Regel nahm sie es aber mit den Lösungen ohnehin nicht so genau. Ein GNU verwandelte sich in ein GNA, damit der PFAU wieder passte, und die Großmacht mit drei Buchstaben hieß dann eben UFA. Im Winter zog sie des Öfteren das Nachthemd nicht aus, zerrte ihre Federbettdecke zur Wohnzimmercouch, machte es sich vor der weit geöffneten Balkontür gemütlich und wartete geduldig auf Besuch am Futterhaus.

Emmy schlürfte an solchen Lottertagen Herva mit Mosel, biss Käse vom Stück ab, spuckte Mandarinenkerne auf den Balkon, und zum Abend genoss sie eine Tafel Schogetten-Schokolade. Stück für Stück langsam gelutscht, nicht gekaut.

Emmys Tochter Hilde unternahm alles, damit ihre Mutter sich wohlfühlte. Sie versorgte Emmy mit Vitaminpillen, beheizbaren Hausschuhen, Knoblauchkapseln, Spurenelementen aus dem Reformhaus, Kirschkernkissen und unzähligen Flaschen Doppelherz.

»Glaubst du, der Sensenmann macht wegen der Knoblauchkapseln einen Bogen um mich?«

»Mama, Knoblauchkapseln riechen nicht.«

»Zum Glück, dann wird meine Abholung daran nicht scheitern«, sagte Emmy mit einem Augenzwinkern.

Hilde fand das überhaupt nicht komisch. »Was soll das heißen, ›meine Abholung‹? Darüber macht man keine Witze.«

»Das ist auch kein Witz. Das ist ganz normal. Irgendwann geht jedes Leben zu Ende. Auch meins.«

»Aber Mama, ich brauche dich doch.«

»Hilde, du bist über sechzig. So langsam solltest du dir deine Schuhe selber zubinden können«, hatte sie ihrer Tochter lachend entgegnet.

»Könntest du bitte aufhören, dich über mich lustig zu machen?«

Emmy legte Hilde beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Ja, ja, ist ja schon gut, Kind.«

Seit sie vor ein paar Wochen bewusstlos in einem Bushäuschen gefunden worden war, sorgte Hilde sich noch mehr. Sofort hatte sie die Beziehungen ihres Mannes spielen lassen und Emmy einen Termin im Klinikum Steglitz bei dem berühmten Professor Mattheis besorgt.

»Warum soll ich meine kostbare Zeit bei einem Arzt verschwenden?«, fragte Emmy.

»Andere wären froh, wenn sie zu Professor Mattheis könnten.«

»Ich bin aber nicht andere.«

»Mama, er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet und wird herausfinden, was mit dir ist!«

»Das ist sehr schön für ihn, aber du weißt doch: Einem Arzt begegne ich lieber erst mit den Füßen voran.«

»Jetzt stell dich nicht so an. Es gibt Patienten, die würden sich alle zehn Finger nach einem Termin bei Professor Mattheis lecken«, sagte Hilde ungeduldig.

»Mein Gott, wie arm muss deren Leben sein, wenn sie sich die Finger nach einem Arzttermin lecken! Mir fiele da Besseres ein. Ein Kännchen Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte zum Beispiel.«

»Kannst du nicht einmal mir zuliebe etwas tun?«

Am nächsten Morgen hatte Emmy mit Marianne telefoniert und sich über Hildes Fürsorge beklagt. Schließlich hatte sie nachgegeben und alle Untersuchungen über sich ergehen lassen, damit Hilde beruhigt war. Und obwohl Emmy Kassenpatientin war, hatte es Hilde tatsächlich geschafft, dass der Herr Professor die Abschlussbesprechung persönlich vornehmen sollte.

Heute nun war es so weit. Emmy fuhr zum vereinbarten Termin ins Krankenhaus. In dem langen Flur vor dem Sprechzimmer von Professor Mattheis, zu dem eine Schwester sie geführt hatte, war es erstaunlich ruhig. An dem einen Ende gab es eine Milchglasscheibe, hinter der ab und zu ein Schatten vorbeihuschte, an dem anderen einen Fahrstuhl und rechts daneben eine Klarglastür, durch die man direkt in den Treppenflur blicken konnte. Für Deppen waren an der Wand und an der Tür zur Sicherheit Hinweisschilder angebracht. Treppe und noch mal Treppe.

Emmy setzte sich auf einen der wenigen Stühle, als die Klarglastür geöffnet wurde. Ein junger Mann kam heraus und lief hastig den Flur entlang. Ohne dass Emmy auch nur ein Wort gesagt hätte, hob er die Hand, rief mit dem Rücken zu ihr: »Ich bin gleich bei Ihnen«, und verschwand in seinem Zimmer.

An der Wand neben der Tür zum Sprechzimmer hing ein Bild. Mit etwas Fantasie konnte Emmy in der oberen Hälfte fliegende Goldfische und blutrote Möwen mit Raketenantrieb erkennen, die auf eine blaue Sonne zuschossen. Die Farbkombinationen ließen ihre Netzhaut vibrieren. Drei breite Streifen liefen diagonal über das Bild. Daneben war ein Pappschildchen angebracht. Titel: In mir. Emmy dachte: In mir nicht.

Die Tür ging auf, und Emmy wurde hereingerufen. Bis sie sich erhoben und die Tür hinter sich geschlossen hatte, saß der junge Mann schon wieder an seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz«, sagte er, ohne Emmy auch nur anzusehen. Sie musterte, noch immer stehend, ihr Gegenüber. Er war wirklich auffallend jung, starrte auf einen Monitor und tippte ab und zu auf die Tastatur. Ausdruckslose blassgrüne Augen fanden sich in einem leicht asymmetrischen Milchgesicht wieder.

»Ist Professor Mattheis nicht da?«, fragte Emmy.

»Ich bin Professor Mattheis.«

Emmy lachte kurz auf.

»Was ist daran so lustig?«, fragte er, die Augen weiter auf seinen Bildschirm gerichtet.

»Entschuldigung, aber ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.«

Zum ersten Mal sah er auf. »Was meinen Sie mit anders?«

»Älter, deutlich älter.«

Er musterte sie verständnislos. »Ich bin fast vierzig, Frau Seidlitz.«

»Genau das meine ich. Außerdem dachte ich, ein Professor sei zuvorkommend, höflich und zeige Respekt vor dem Alter.« Er wollte zu einer Erwiderung ansetzen, aber Emmy schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Wissen Sie, junger Mann, vielleicht habe ich zu viele Filme über Ferdinand Sauerbruch gesehen, aber ich bin es zum Beispiel gewohnt, dass man ›Guten Tag‹ sagt.«

Auf dem Gesicht des Arztes zeichnete sich echte Überraschung ab. »Habe ich das denn nicht?«

»Nein. Sie haben nur ›Frau Seidlitz‹ gerufen.«

»Da war ich wohl in Gedanken«, sagte Professor Mattheis entschuldigend.

»Dann hoffe ich, dass Ihre Gedanken wenigstens jetzt bei mir sind«, sagte Emmy und dachte: Unvorstellbar, wie ein so junger Mensch mich verstehen soll. Seine Ausstrahlung glich der einer namenlosen vorbeihuschenden Feldmaus irgendwo am Wegesrand. Emmy nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Professor Mattheis öffnete ihre Krankenakte und besah sich die Befunde.

Auf dem Fensterbrett stand eine Yuccapalme, die völlig vertrocknet war, da sie über der Heizungslüftung ihr Dasein fristen musste. Vermutlich war sie im Winter von unten verbrannt. Hoffentlich geht der mit Patienten anders um, dachte Emmy und sah voller Mitleid auf die verstorbene Pflanze. Woher nahmen die Menschen eigentlich das Vertrauen in die Ärzteschaft? Emmy würde dem Herrn Professor nicht mal einen Kaktus anvertrauen.

»Also, Frau Seidlitz. Es ist so, wie wir schon anhand des ersten EKGs befürchtet haben …«

»Wieso wir?«, sagte Emmy. »Ich habe nichts befürchtet. Wer nach zwei Weltkriegen auf das siebenundachtzigste Lebensjahr hinschwankt, dem ist die Furcht abhandengekommen.« Aber nett, dass dieser Grünschnabel etwas befürchtet haben will, dachte sie, auch wenn das in Anbetracht seiner schlechten Manieren kaum zu glauben war.

Professor Mattheis räusperte sich. »Das Langzeit-EKG bestätigt, dass sie eine ausgeprägte Sinusbradykardie haben. Der QRS-Komplex ist sehr schmal. Die Frequenz oft nur um vierzig, sodass der AV-Knoten einspringen muss. Es finden sich auch supraventrikuläre Extrasystolen. Ist Ihnen manchmal schwindelig oder bekommen Sie schwer Luft?«

»Beides muss ich mit Ja beantworten«, sagte Emmy, die außer ›Schwindel‹ und ›schwer Luft bekommen‹ kein Wort verstanden hatte.

»Die Indikation für einen Pacemaker besteht.«

»Für einen was?«

»Pacemaker. Einen Schrittmacher.« Professor Mattheis sortierte die losen Zettel wieder in die Krankenakte. Dann klappte er einen großen Terminkalender auf. Blätterte vor und zurück und tippte schließlich mit dem Zeigefinger auf ein Datum. »Hier. Termin in zwei Wochen. Stationär. Drei Tage«, sagte er.

Meine Güte, der kann keine ganzen Sätze reden, dachte Emmy. »Was habe ich denn nun?«, fragte sie ungeduldig.

»Wie ich schon sagte, eine ausgeprägte Sinusbradykardie«, wiederholte Professor Mattheis und zog einen Stift aus der Brusttasche seines Arztkittels, um den Termin einzutragen.

»Herrgott, woher soll ich denn wissen, was eine Sinusirgendwas ist?« Emmys Ton war gereizt.

Professor Mattheis blickte von seinen Unterlagen auf und sah sie irritiert an. »Ich dachte, mein Kollege vom Langzeit-EKG hat Ihnen das bereits erklärt.«

»Nein, hat er nicht. Der war ja genauso mundfaul wie Sie. Das scheint ein Auswahlkriterium für die Anstellung in diesem Haus zu sein: Möglichst wenig sprechen, schon gar nicht mit den Patienten.«

Mattheis schüttelte den Kopf. »Also bitte, Frau Seidlitz, jetzt übertreiben Sie aber.« Er klappte noch einmal Emmys Krankenakte auf, holte den EKG-Streifen heraus und fuhr mit seinem Montblanc-Kugelschreiber über eine gezackte Linie. »Ihr Herz schlägt zu langsam – hier können Sie es sehen. Das ist so, als ob Ihr Auto statt auf sechs nur noch auf zwei Zylindern läuft«, erklärte er.

»Ich bin ja auch schon lange im Verkehr und weit gefahren, um im Bild zu bleiben. Ist es nicht normal, dass der Motor nachlässt?«

Er deutete ein Lächeln an. »Schon. Aber man kann etwas dagegen tun. Einen Schrittmacher einsetzen. Immer wenn das Herz zu langsam wird, gibt er einen Impuls, und es schlägt wieder so, wie es soll.«

Emmy lächelte. »Junger Mann, woran soll ich denn sterben, wenn mein Herz nicht einfach stehenbleiben darf? Ich bin fast siebenundachtzig Jahre alt und hatte ein gutes Leben. So wie alle Menschen mit Höhen und Tiefen, aber insgesamt doch ein wirklich gutes. Ich habe das Gefühl, am Ende eines langen Weges wohlbehalten angekommen zu sein. Was will ich denn noch?«

Mattheis legte den Kopf schief und zog die Augenbrauen zusammen. »Geht es Ihnen nicht gut? Sie wirken doch insgesamt sehr rüstig und geistig rege. Sind Sie des Lebens überdrüssig?«

»Wenn Sie mich so fragen: ja. Es ist nicht so, dass ich sterben will, ich bin mir allerdings sicher, es ist eine biologische Notwendigkeit. Es liegt in der Natur der Sache. Aber der Frühling ist keine schöne Zeit zum Sterben.«

»Aha. Welche Jahreszeit wäre denn besser?«

»Der Winter. Da sind die dunklen Nächte lang. Man verliert nicht so viel vom Tag. Verstehen Sie, was ich meine?«

Professor Mattheis musterte Emmy nachdenklich.

»Was ist? Wächst mir gerade ein drittes Auge, oder warum gucken Sie so komisch?«

»Sie wollen im Winter sterben?«

Emmy zuckte leicht mit den Schultern. »Ja, warum nicht?«

Der Arzt sah sie lange an.

»Sagen Sie mal, versuchen Sie meine Gedanken zu lesen? Sprechen Sie jetzt gar nicht mehr mit mir?«

»Doch, doch, Frau Seidlitz. Ich überlege nur, ob ich Sie einem anderen Facharzt vorstellen sollte.«

»Noch so einem Wunderknaben, wie Sie es sind?« Sie lächelte.

»Nein, nein. Der Kollege geht bald in Rente. Er ist sehr erfahren.«

»Aha. Und wer soll das sein?«

»Professor Doktor Gotthilf von Sack.«

Emmy lachte auf. »Der Mann heißt Gotthilf von Sack? Das denken Sie sich jetzt aus, oder?«

Das junge Gesicht des Arztes zeigte keine Regung. »Nein. Herr von Sack ist Psychiater«, erklärte er.

Emmy grinste. »So sehen Sie mich, ich brauche einen Seelenklempner? Ich schmeiß mich weg. Vielleicht sterbe ich auch auf der Stelle, weil ich mich gleich totlache.«

»Doktor von Sack hört Ihnen zu.«

»Richtig, Zuhören ist ja nicht gerade Ihr Gebiet. Sie sind mehr fürs Anpacken, Operieren.«

Mattheis hob beschwichtigend die Hände. »Ich bitte Sie, Frau Seidlitz, das ist ein Routineeingriff. Wir setzen Ihnen den Schrittmacher ein, und Sie können damit hundert Jahre alt werden.«

»Um Himmels willen, wozu? Was sollen mir die nächsten dreizehn Jahre noch bringen, was ich nicht schon erlebt habe?«

»Wollen Sie denn nicht sehen, wie Ihre Enkelkinder aufwachsen?«, fragte Mattheis.

»Die sind fast so alt wie Sie.«

Der Arzt runzelte die Stirn. »Und Ihre Urenkel?«

»Habe ich nicht.«

Professor Mattheis unternahm einen letzten Versuch: »Frau Seidlitz, so ein Schrittmacher stört Sie nicht. Sie werden gar nicht merken, dass er da ist. Aber er sorgt dafür, dass Ihr Herz wieder ganz normal schlägt. Es wäre ein Leichtes, Sie zu retten.«

Emmy sah ihn fragend an. »Retten? Wovor?«

»Vor dem Tod«, sagte Mattheis. Emmy lachte erneut auf. Der Herr Professor war offensichtlich größenwahnsinnig. Ein Verrückter im Gewand eines Arztes. Er wollte sie vor dem Tod retten. Ewiges Leben, das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Andere Patienten wären froh, wenn ich ihnen eine so gute Nachricht überbringen würde«, sagte Professor Mattheis fast schon flehentlich.

Emmy lächelte. »Dann überbringen Sie die guten Nachrichten mal anderen.« Sie erhob sich.

Der Arzt seufzte konsterniert. »Ich will Ihnen doch nur helfen, Frau Seidlitz.«

»Das glaube ich Ihnen gern. Aber wo steht, dass ich Ihre Hilfe annehmen muss?«

Emmy ging zur Tür, drückte die Klinke herunter und drehte sich noch einmal um. »Helfen Sie lieber Ihren Pflanzen, Herr Professor, die haben es nötiger als ich.« Damit verließ sie das Zimmer.

2

DEZEMBER 1911

Emmy erinnerte sich noch gut an den alten Inselarzt aus ihrer Kindheit. Er hatte nach Kampfer gerochen, konnte streng tun und war doch sanft und weise. Wie alle Kinder fürchtete Emmy den Holzspatel in ihrem Mund, aus Angst, sich übergeben zu müssen. Unendlich viele Aaas wurden dem Arzt aus kirschrot entzündeten Hälsen entgegengewürgt. Er kannte die Menschen, ihre Familien, ihre Sorgen und Nöte. Er schiente gebrochene Beine und empfahl, in Kräutersud getränkte Tücher auf Wunden zu legen. Er riet zu mehr Obst und Gemüse, warnte vor zu viel Sauerkraut und verbot den Matrosen Rumgenuss vor dem Löschen der Fracht. Er ließ Leinentücher auf die Strohbetten legen und forderte, den Rauch des Küchenofens nicht durch das ganze Haus ziehen zu lassen. Er verteilte Salbeipastillen und Fencheltee. Die wichtigste Medizin des alten Arztes aber waren Zuhören, Trösten und die liebevolle Mahnung. Ansonsten wollte er möglichst wenig in natürliche Heilungsprozesse eingreifen. Und er kümmerte sich um Blessuren, die sich die Männer beim Streit um ein Weib zugefügt hatten. Er selbst hatte weder Frau noch Kinder, weil er Tag und Nacht mit dem Leiterwagen oder zu Fuß unterwegs war, um seine Patienten zu versorgen und auf den Pfad der Tugend zu bringen. Der Inselarzt war immer im Dienst. Außer am Heiligen Abend. Da saß er allein in seiner Praxis, trank Rum und aß sich durch Berge von Zuckerkeksen und braunem Kuchen, die er geschenkt bekommen hatte. Wie sehr hatte sich die Welt doch verändert.

Emmys Familie lebte schon seit Menschengedenken auf der kleinen Nordseeinsel. Ihr Vater hatte den Hof geerbt, besaß Vieh und etwas Land, und sie litten keinen Hunger. Doch nur gelegentlich konnten sie sich etwas leisten, was über die bloße Sicherung des täglichen Lebens hinausging. Weihnachten war so eine seltene Ausnahme, und das erste Fest, an das Emmy sich erinnern konnte, war das im Jahr 1911. Damals war sie vier Jahre alt und durfte ihren Vater zum ersten Mal hinunter zum Hafen begleiten. Der Hafen – das war für die Kinder ein sagenumwobener Ort, an dem alles möglich zu sein schien und in den ein Mädchen wie Emmy normalerweise keinen Einlass fand. Aber an besonderen Tagen wurde eine Ausnahme gemacht, und Weihnachten war ein besonderer Tag. Emmy wusste noch genau, wie aufgeregt sie schon am frühen Morgen gewesen war.

»Pack dich warm ein, mein Mädchen«, hatte ihr Vater gesagt, die Pfeife im Mundwinkel, denn ein waschechter Insulaner ging nie ohne seine Pfeife aus dem Haus.

Als sie aufbrachen, stand der Mond auf halb und kündigte eine Nipptide an, die eine schwache Flut bringen würde. Die Wanderung war ein großer Spaß, weil die Gräben entlang der Polder zugefroren waren. Ihr Vater hatte ein paar alte Holzpantinen gefettet, mit denen Emmy weite Strecken über das Eis schlittern konnte. So war ihr auch nicht kalt, als sie im einsetzenden Schneetreiben nach einer guten Stunde am Deich vor dem Hafen ankamen. Beim Anblick eines Dampfschiffes blieb Emmy auf der Deichkrone wie angewurzelt stehen.

»Das Ding ist ja fast so hoch wie unser Haus«, sagte sie ehrfürchtig.

»Das Ding ist ein Schiff«, sagte Andries, der ebenfalls stehen geblieben war.

»Aber wo sind die Segel?«, fragte Emmy und betrachtete den Fremdling am Pier. Auf den blauen Fliesen zu Hause im Pesel, der guten Stube, hatten die Schiffe alle große weiße Segel.

»Die Dampfer haben keine Segel mehr«, erklärte ihr Vater. Wie so viele Männer der Insel war Andries als Walfänger auf gewaltigen Dreimastern unterwegs und noch immer nicht überzeugt von den dampfbetriebenen Schiffen. Umso erstaunter war er, dass sie inzwischen sogar über den großen Teich bis nach Amerika fahren konnten.

Andries und Emmy gingen hinunter zum Holzanleger. Doch am Schiff durfte Emmy nicht weiter. Ein Weib an Bord, egal wie alt, duldeten die Seeleute nicht – auch nicht an Weihnachten.

»Warte hier«, sagte Andries. Er ging über den breiten Landgang, der mit Tauen verzurrt war, um mit dem Hafenmeister zu sprechen, der gerade die Ladezettel verteilte. Der Blaue Peter war bereits gehisst, ein weithin sichtbares Signal für das baldige Auslaufen des Schiffes. Eine Gruppe von Kohlentrimmern kam Andries entgegen, ihre Gesichter und Hände glänzten schwarz. Sie hatten tonnenweise Kohlen aus den fensterlosen Bunkern des Schiffes zum Heizkessel befördert.

Nach einer Weile kehrte Andries zurück zu seiner Tochter. Auf seiner rechten Schulter trug er eine kleine Holzkiste, die er mit einer Hand abstützte, in der anderen Hand hielt er ein Netz, darin ein Scheit aus Eschenholz – den Julklotz.

»Auf geht’s«, sagte Andries und ging mit großen Schritten voran. Doch Emmy konnte sich von dem Schauspiel im Hafen nicht abwenden. Schubkarre um Schubkarre wurde über den Steg gerollt und Waren mit Seilwinden gelöscht. Dampf keuchte in mächtigen Stößen aus dem Schiff hervor, Stimmengewirr waberte über den Steg. Leiterwagen standen bereit, um die Waren aufzuladen, und ein hölzerner Hebekran drehte sich wie von Geisterhand. Der Liegeplatz auf der anderen Seite des kleinen Hafens war mit einem flachen Zweimaster, dem sogenannten Schmackschiff belegt, das die Seeleute der Insel spätestens im Februar wieder nach Amsterdam bringen würde, von wo aus sie auf große Fahrt gingen.

»Emmy! Nun komm!«, rief ihr Vater. Sie rannte ihm hinterher, und als sie an der Kurve zum Hafentor angekommen waren, schoben die Kohlentrimmer von eben ein schwarzes Ungetüm auf vier Rädern an ihnen vorbei Richtung Anleger. In dem stählernen Ungeheuer saß ein Mann und drehte an einem Rad.

Emmy machte große Augen. »Was ist das?«, fragte sie.

»Ein Automobil.«

»Automobil«, wiederholte Emmy leise und sah den Männern nach. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. »Und was kann das?«

»Es kann alleine fahren«, sagte Andries.

»Alleine?«, fragte Emmy ungläubig. »Woher weiß es dann, wo es hinmuss?«

Ihr Vater lächelte. »Das weiß das Automobil nicht. Der Mann, der drinsitzt, weiß es hoffentlich. Er dreht an dem Lenkrad, und dann richten sich die Reifen in die Richtung aus, in die der Fahrer will.«

Das war bestimmt wieder Seemannsgarn. Schließlich dachte ihr Vater sich dauernd Geschichten aus. Trotzdem überlegte Emmy, wie sich etwas ohne Zügel oder Sterzen in die richtige Richtung bewegen ließ.

Sie folgte ihrem Vater. Andries hob seine Tochter über einen Zaun auf den Polder, über den sie gekommen waren, schweigend gingen sie nebeneinander her. Erst als der Hof in Sichtweite kam, fragte Emmy: »Wofür braucht man ein Automobil?«

»Ich weiß auch nicht, wofür das gut sein soll«, brummte ihr Vater. »Sie haben das Ding letztes Jahr auf unsere Insel geschafft, aber scheinbar ist es zu nichts nutze, deshalb bringen sie es wieder aufs Festland zurück. Ich kenne niemanden, der ein Automobil braucht. Nicht mal eine Pflugfurche kann man damit ziehen! Das Teil ist viel zu schwer, damit kommst du über kein Marschland, selbst in abgetrockneten Poldern versinkt es. Es kann keine Gräben überqueren, du kannst keine große Menge Torf laden oder ein krankes Tier transportieren – die Ladeluken sind für all das viel zu klein. Das ist wieder so eine neue Erfindung, die sich nicht halten wird.« Andries hielt inne. Er hatte schon einmal danebengelegen, was die Zukunft der Dampfschiffe anging. Er räusperte sich. »Vielleicht taugt es für die Stadt. Aber für hier sicher nicht.«

Emmy nickte und war davon überzeugt, zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben ein Automobil gesehen zu haben.

Andries war zufrieden. Er hatte dem Hafenmeister neben dem geweihten Julklotz heute noch eine Zuckertüte, Mehl und Pflaumen abkaufen können. Wie alle Mütter stellte auch Emmys Mutter Janne zur Feier des Tages heimlich eine Untertasse mit braunem Kuchen auf die Fensterbank und behauptete, das Christkind hätte ihn gebracht. Ein Höhepunkt für die Kinder war es, wenn in dem Kuchen eine Pflaume steckte, süß und weich. Rieke, Emmys kleine Schwester, konnte nicht genug davon bekommen.

Emmy liebte vor allem den Kenkenbuum, das Holzgestell mit den immergrünen Efeuzweigen, die für die Hoffnung standen, das kommende Frühjahr möge gut werden. Dass der Kenkenbuum nur ein Ersatz für einen echten Tannenbaum war, den es auf der Insel nicht gab, lernte Emmy erst sehr viel später.

Am Abend saßen alle zusammen bei Kaffee und Zuckerkeksen, und dem Hauskobold, falls er noch existierte, stellte man zur Sicherheit eine kleine Schüssel mit süßem Brei auf den Dachboden. Man ging nicht in die Kirche, es gab keine Messen an Heiligabend. Stattdessen entzündete Emmys Vater den Julklotz, der bis zum Dreikönigstag im Kamin blieb. Dann wurde seine Asche über die Felder verstreut. Auch das sollte Glück bringen und Freya, die Göttin der Liebe und Fruchtbarkeit, gnädig stimmen. Es schien zu helfen: Im Durchschnitt brachte eine Frau auf der Insel sechs Kinder zur Welt. Andries und Janne hatten zwei, das dritte war unterwegs. Ein kleiner Rest vom Julklotz musste übrig bleiben, um damit im nächsten Jahr den neuen zu entzünden, und immer so weiter.

Wichtig am Heiligen Abend war vor allem, dass mit Einbruch der Dämmerung Ruhe einkehrte. Wenn sich die Dunkelheit vollständig über das Haus, die Felder und das Meer gelegt hatte, wurde nur noch geflüstert. Und irgendwann, wenn die Ruhe zur absoluten Stille geworden war und diese besondere Stille ein Innehalten gebot, dann entzündeten sie Kerzen am Kenkenbuum und der Vater flüsterte: »Nü as at halig.« Nun ist es heilig. Andächtig sahen sie den Kerzen beim Brennen zu. Es fühlte sich an, als könnten alle Wunden in dieser Stunde heilen.

3

APRIL 1994

Hilde drückte die oberste Kurzwahltaste auf ihrem Telefon. Hier hatte sie Emmys Nummer gespeichert, nicht etwa die Büronummer ihres Mannes oder die ihres ältesten Sohnes, nein, dieser exponierte Platz gehörte ihrer Mutter. Sie war jetzt ihr Sorgenkind, wer kümmerte sich denn sonst um sie? Ihre Geschwister waren ja immer ach so beschäftigt und taten, als sei es ohnehin selbstverständlich, dass sie, die Älteste, diese Rolle übernahm. Otto dachte häufig an seine Mutter, hatte aber nur selten Zeit für sie, weil er immer weiß Gott was zu tun hatte, und Tessa besuchte sie zwar regelmäßig, tat aber keinen einzigen Handschlag in ihrem Haushalt.

Nur weil sie nicht berufstätig war, schienen Otto und Tessa wie selbstverständlich davon auszugehen, dass Hilde die Zeit hatte, sich um alles zu kümmern. Vielleicht war es aber auch ein Fehler gewesen, damals in die Poesiealben zu schreiben: »Papa, Mama ehren, das ist meine Pflicht, vergess’ es für mein Lebtag nicht.«

Emmy hob nicht ab. Wo steckte sie nur? Der Termin bei Professor Mattheis war doch schon am Vormittag gewesen, sie müsste längst wieder zu Hause sein. Hilde wollte am liebsten den Tagesablauf ihrer Mutter genau kennen, wissen, was sie gerade machte, wie sie schlief, was sie aß und ob sie auch genug trank. Sie hatte vorgeschlagen, dass Emmy sich jeden Morgen und jeden Abend telefonisch bei ihr meldete, was diese jedoch mit den Worten ablehnte: »Jetzt ist aber mal gut. Ich bin doch nicht dein Kind, ich bin deine Mutter.«

Schließlich sprang der Anrufbeantworter an: »Bin nicht da. Wer will, kann was sagen. Bitte nur Gutes.«

»Hallo Mama, ich bin’s, Hilde. Geht’s dir gut? Was hat Professor Mattheis gesagt? Hat er Blut abgenommen? Hat er was von Medikamenten gesagt? Bitte ruf zurück. Ich hab dich lieb.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, ging Hilde ins Wohnzimmer, rückte die Sofakissen zurecht, versetzte jedem Kissen einen Handkantenschlag und brachte eine Vase mit Blumen in die Küche, um sie zu entsorgen. Günter hatte ihr den Strauß per Fleurop geschickt. Ein langweiliges Potpourri aus Nelken, Freesien und stinkenden Hyazinthen. Auf dem beigefügten Klappkärtchen hatte er ausrichten lassen: »Alles Gute, mein Schatz, dein Günni.« Bis zuletzt hatte sie gehofft, ihr Mann würde seine Geschäftsreise nach New York ein paar Tage früher beenden, um an ihrem vierzigsten Hochzeitstag, der auch gleichzeitig ihr einundsechzigster Geburtstag war, bei ihr zu sein. Aber er war nicht gekommen. Für Günter war der Termin ganz unerwartet vom Himmel gefallen.

»Was, vierzig Jahre ist das schon her?«, hatte er am Telefon gesagt. »Donnerwetter, wie die Zeit vergeht. Schatz, das feiern wir nach!«

Hilde knickte den Strauß in der Mitte und stopfte ihn in den Mülleimer. Na ja, wenigstens dachte er inzwischen an echte Blumen. Früher hatte sie morgens oft nur einen Zwanzigmarkschein am Alibert-Schrank gefunden, daneben mit einem Wachsmalstift der Kinder über die gesamte Spiegelfläche geschrieben: Für Blumen, Mausi. Sie hatte jedes Mal fast eine halbe Flasche Glasklar gebraucht, bis sie den Spiegel wieder sauber hatte.

Das Telefon klingelte. Das wird Mama sein, dachte sie und eilte zur Ladestation. Sie nahm ab. »Hallo? Mama?«

»Jawohl. Ich melde gehorsamst, alles ist gut, Kind«, sagte Emmy, ihre Stimme klang belustigt.

»Sie haben also nichts gefunden?«

»Nein, der Professor hat gesagt, dass alles in Ordnung ist und ich noch viele Jahre vor mir habe.«

»Das heißt, er will gar nichts unternehmen? Keine Tabletten?«

»Auch keine Tabletten.«

Obwohl ihre Mutter sie nicht sehen konnte, schüttelte Hilde missbilligend den Kopf. »Und warum bist du dann ohnmächtig geworden?«

»Das war offenbar nur ein kleines Unwohlsein, Erschöpfung, davon stirbt man nicht«, sagte Emmy.

»Ich mache mir trotzdem Sorgen, schließlich …«

»Nein, meine Große. Sorge dich nicht, alles ist gut«, unterbrach Emmy sie, ehe sie weitersprechen konnte. »Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht. – Apropos Unkraut, ist Günter eigentlich schon wieder zurück?«

Hilde konnte über den Witz ihrer Mutter nur müde lächeln. Emmy hatte noch nie viel von Günter gehalten, aber was sollte sie tun? Sie war auch nach vierzig gemeinsamen Jahren noch glücklich mit ihm. Mal mehr, mal weniger. Er gab ihr, wonach sie gesucht hatte: ein schönes Heim, ein sicheres Leben und zwei wohlgeratene Söhne. Und Günter hatte ihr in all den Jahren die Welt gezeigt. Paris, Rom, Bangkok, Australien, die Karibik und nicht zu vergessen Tokio!

Aber Emmy fand es grundfalsch, dass Hilde ihr Auskommen frühzeitig an einen Mann hängte. »Das musst du doch heutzutage nicht mehr. Kinder kannst du auch später noch bekommen. Lern erst mal irgendwas Schönes, von mir aus studiere. Du kannst dich frei gegen eine unbezahlte Stelle als Hauswirtschafterin entscheiden«, hatte sie mit einem Augenzwinkern gesagt.

Hilde aber hatte gegen die traditionelle Rollenverteilung nichts einzuwenden. »Ich mag es, einen Haushalt zu führen, und ich koche gerne.«

»In einer solchen Ehe bist du nie wirklich frei, mein Kind«, hatte Emmy ihre Tochter gewarnt.

Doch die hatte nur erwidert: »Wenn jeder die Rolle ausfüllt, die ihm zugedacht ist, dann werden beide glücklich. Außerdem will ich mir etwas leisten können. Wie soll das gehen ohne Ehemann?« Hilde wollte ganz sicher nicht so leben wie ihre Mutter, in zwei kleinen Zimmern in Berlin Tegel und mit einem kargen Gehalt, durch eine winzige Witwenrente aufgestockt. Sie wollte jemand sein, sich wichtig fühlen, wollte an der Seite eines einflussreichen Mannes stehen. Sie war in ihrer Familie das erste Mädchen mit Abitur, das reichte ihr, das war eine Leistung, die ihr niemand nehmen konnte.

Emmy war damals unglaublich stolz auf ihre Tochter gewesen und hatte versucht, sie in eine Ausbildung, einen Beruf zu bringen. Aber Hildes Plan stand fest: »Ich werde heiraten und Kinder bekommen. Dafür brauche ich keine Ausbildung. Die Fürsorge und die bedingungslose Liebe einer Mutter trägt man von Natur aus in sich«, hatte sie frohlockt. Außerdem war sie der festen Überzeugung, dass hinter jedem starken Mann eine starke Frau stand, und diese starke Frau wollte sie sein. Und so kam es, dass Hilde an ihrem 21. Geburtstag den ältesten Sohn des Baustoffhändlers Eduard Heinke ehelichte.

Ihre Mutter hatte ja keine Ahnung. Was für eine sensationelle Partie! Günter war gut aussehend, hatte Charme und Witz und trug sie auf Händen. Hilde wusste noch genau, wie ihre Freundinnen vor Neid fast geplatzt waren, als Günter ihr erlaubte, den Führerschein zu machen, und ihr auch noch gestattete, in seinem himmelblauen VW-Käfer durch die Gegend zu fahren. Es fühlte sich so leicht an, so frei. Freier als ein Leben als Jungfer es je hätte sein können. Die Jungs waren zur Welt gekommen, und sie konnte sich als Vollzeitmutter voll und ganz auf deren Erziehung konzentrieren, war immer für sie da und hatte ihnen einen guten Start ins Leben ermöglicht. Beide waren heute erfolgreiche Geschäftsleute im Ausland. Hilde und ihr Mann hatten noch immer Sex miteinander, und sie besaß eine goldene Kreditkarte, mit der sie einkaufen konnte, was ihr Herz begehrte. In der Feinschmeckerabteilung vom KaDeWe begrüßte man sie mit Namen, und dem Weinhändler traten Freudentränen in die Augen, wenn Hilde sich seinem Laden nur näherte. Sie hatte es fast geschafft. Sie war glücklich und hoffte, dass ihr Schwiegervater nicht noch das ganze Erbe in seiner Seniorenresidenz im Grunewald verjubelte. Dann würden bald ihre Namen für die Wohnung im noblen Westend an erster Stelle im Grundbuch stehen. Genau dieses Leben war ihr Traum. Was war falsch daran?

»Nein, Günter ist noch in New York, Mama.«

»Sag mal, Hilde, warst du in meinem Keller?«, wechselte Emmy plötzlich das Thema.

Hilde schluckte. Ja, sie war im Keller gewesen. Ohne ihrer Mutter vorher Bescheid zu sagen. Sie schwieg.

»Hilde?«

Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede. Sie hatte sich eigentlich nur einen Überblick verschaffen wollen, damit sie und ihre Geschwister im Falle eines Falles nicht überrascht wurden. Schließlich bestand Mutters Keller aus einem Ober- und einem Unterkeller, in denen sich vortrefflich Unmengen nutzloses Zeug ansammeln ließen. Hilde kannte einige Beispiele von alten Menschen, bei denen das Ausmisten des Kellers länger gedauert hatte, als die Wohnungsauflösung selbst. Was sollte sie ihrer Mutter also sagen? Wir räumen schon mal auf, damit wir nach deinem Ableben nicht so viel zu tun haben?

»Hallo, Kind, bist du noch dran?«

»Ja.« Hilde räusperte sich. »Ich … Ich habe die Gartenbänke gesucht.«

»Die Gartenbänke?«, wiederholte Emmy erstaunt. »Und was willst du damit? Die stehen außerdem gut sichtbar im oberen Keller. Ich habe aber den Eindruck, dass jemand ganz unten war. Die Klappe zur unteren Treppe war freigeräumt.«

»Mama, warum gehst du noch immer da runter? Was ist, wenn du fällst und dir etwas brich…«

»Ach, papperlapapp!«, unterbrach sie Emmy. »Lenk nicht ab. Was hast du in meinem Keller zu suchen?«

Hilde biss sich auf die Lippen. Sie wusste ja, dass ihre Mutter es nicht leiden konnte, wenn jemand sich ungefragt in ihre Angelegenheiten einmischte. »Kann sein, dass ich die Klappe kurz angehoben habe. Wenn ich schon mal da unten war«, sagte sie kleinlaut.

»Ich wüsste nicht, was dich mein Keller angeht«, wies Emmy sie scharf zurecht. »Ich bin alt, aber nicht senil. Wenn du was suchst, kannst du mich gefälligst vorher fragen.«

Ihre Mutter war hörbar aufgebracht. Konnte sie es jetzt noch wagen, sie auf den überraschenden Fund anzusprechen?

»Sag mal, Mama …«

»Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich möchte nicht, dass du in meinen Sachen rumwühlst, egal, wo sie stehen. Hast du mich verstanden?«

»Ich habe nicht rumgewühlt! Und selbst wenn – das fiele doch gar nicht auf. Da unten sieht es aus wie bei Hempels unterm Sofa«, protestierte Hilde schwach.

Das ist ja auch kein Wohnraum, sondern ein Keller, dachte Emmy und schwieg.

Hilde fragte sich: Was, wenn Mutter die Ordner da unten vergessen hat? Sie hatte auf einem Regal ein paar Aktenordner entdeckt und wahllos einen herausgezogen, auf dem »Potsdam« stand. Sie hatte den Ordner geöffnet, und zuerst geglaubt, den Ausschnitt eines Schnittmusterbogens vor sich zu haben. Aber inzwischen war ihr klar, dass es sich um ein Stück Flurkarte handelte. Dazu fand sie einen Grundbucheintrag und einen vergilbten Kaufvertrag. Warum lag das hier unten? Was hatten diese Unterlagen zu bedeuten?

»Mama, wenn das alles unnützes Zeug ist, dann könnten wir, also Tessa, Otto und ich doch eigentlich mal ausmisten …«

»Da wird nichts ausgemistet, schon gar nicht ohne mich!«

»Natürlich, du bist auch dabei«, sagte Hilde versöhnlich. »Vielleicht könnten wir alle zusammen für Ordnung sorgen. Otto kennt sich doch aus mit … Trödel.«

»Gut«, brummte Emmy. »Ich denke darüber nach. Da hat sich über die Jahre tatsächlich einiges angesammelt. Steht da nicht auch noch diese alte Kommode?«

»Ich glaube, ja, Mama. So genau habe ich nicht hingeschaut.«

Emmys Ärger schien zu verfliegen, und Hilde atmete erleichtert aus. Was, wenn ihre Mutter tatsächlich davon ausging, dass sich da unten nur unnützes Zeug stapelte? Wenn sie nichts von den Ordnern wusste und sie einen ungehobenen Schatz bargen? Bei ihrer schmalen Schulbildung hatte Emmy doch gar nicht die intellektuellen Fähigkeiten, derart komplexe Dinge zu verstehen. Jemand musste Licht ins Dunkel bringen.

4

APRIL 1914

Als Andries Peterson entschied, seine älteste Tochter nach Ostern einschulen zu lassen, war das für Emmys Großmutter der Anfang vom Ende. Alma hielt nichts von dem neuen Schulhaus, das sie im vergangenen Jahr mit großem Gedöns eröffnet hatten. Es führte nur dazu, dass die preußische Schulpflicht auch auf ihrer Insel Einzug hielt und die Kinder den Eltern vom Feld weggerissen wurden. Wenn die Väter auf dem Meer waren, wurde doch jede helfende Hand gebraucht. Was sollte ein Weib mit Geografie und Weltgeschichte anfangen? Hatte die Kuh Koliken, half es nicht, wenn man wusste, wo Frankfurt lag.

Janne hielt es für eine richtige Entscheidung, Emmy zur Schule zu schicken. Alma hingegen beugte sich nur widerwillig der Anordnung ihres Sohnes, dafür Sorge zu tragen, dass Emmy so oft wie möglich den Unterricht besuchen konnte. Aber in fünf Jahren wäre der Spuk ohnehin vorbei, dann würde man für Emmy einen Verlobten bestimmen und sie vernünftig auf die Ehe vorbereiten.

Seit die kleine Nordseeinsel nicht mehr zu Dänemark, sondern zu Preußen gehörte, also seit über vierzig Jahren, hatte es zahlreiche vergebliche Versuche gegeben, ein Schulgebäude zu errichten; bis sich schließlich auf einer Gemeindeversammlung eine hauchdünne Mehrheit dafür entschied. Auch Emmys Vater war kein Freund der Preußen, aber er glaubte, dass es sinnvoll war, den Kindern einen Schulbesuch zu ermöglichen. Ansonsten glaubte er ehrfürchtig an das Schicksal, dem niemand entrinnen konnte.

Andries gehörte zu den letzten Walfängern der Insel. Mehr als hundert Jahre lag die Blütezeit des Walfangs zurück, und nur noch wenige Männer fuhren hoch bis nach Spitzbergen. Kam er von einer Seefahrt zurück, trug Andries einen langen Bart. Emmy liebte es, ihm mit ihren kleinen Fingern winzige Zöpfchen hineinzuflechten. Wenn er zu Hause war, diente Andries seinen drei größeren Mädchen, unter den strengen Augen seiner Mutter und den sanftmütigen seiner Frau, als Kletterbaum, Geschichtenerzähler und liebevoller Lehrer in einem.

Am schönsten war es für Emmy aber immer am Meer. Da hatte sie ihren Vater ganz für sich allein, denn Rieke, Tille und die Lütte waren noch zu klein und durften nicht mit. Auf dem Weg sang er raue Seemannslieder und wiederholte stets: »Singen ist gesund, mein Kind. Merk dir das.«

Gemeinsam suchten sie Muscheln, und Andries zeigte Emmy, wie man sie mit einem scharfen Messer öffnete. »Immer vom Körper wegziehen.« Sie befestigten die Muscheln an einem Stein, mit einer Schnur, an deren oberes Ende eine Schlaufe gebunden wurde, die Andries um Emmys Daumen legte. Dann durfte sie die Stein-Angel am Steg vorsichtig ins Wasser lassen. Gespannt sah sie dem Stein beim Sinken zu.

»Und jetzt?«, fragte sie, sobald er unter der Wasseroberfläche nicht mehr zu sehen war.

»Warte. Du musst Geduld haben. Lass den Daumen ganz locker auf dem Zeigefinger liegen. Irgendwann wird er sich bewegen.«

»Aber wann?«

»Wenn es an der Zeit ist.«

So saßen sie dicht an dicht. Während Andries seine Pfeife rauchte und aufs Meer hinaussah, starrte Emmy gebannt auf ihre Hand. Es dauerte nicht lange, bis die Schnur kaum merklich vibrierte, sich die Schlaufe wie von Zauberhand zuzog und Emmys Daumen bewegte.

»Vater, schau!«, rief sie aufgeregt.

»Ganz ruhig. Jetzt ziehst du mit der anderen Hand langsam die Schnur hoch. Langsam!«

Vorsichtig holte sie die Angel ein. Sie staunte nicht schlecht. Ein fetter Krebs hatte es sich auf dem Stein gemütlich gemacht und fraß das Muschelfleisch. Gebannt sah Emmy dem imposanten Schalentier dabei zu. »Der hat aber Hunger. Haben wir noch eine Muschel für ihn?«

»Du sollst ihn nicht ernähren, du sollst ihn fangen«, sagte Andries lächelnd.

»Das habe ich ja getan. Ihn gefangen. Haben wir nun noch eine Muschel für ihn?«, wiederholte Emmy und sah sich suchend um. Andries musste lachen. Offensichtlich hatte seine Tochter den Sinn des Angelns noch nicht ganz verstanden.

Auf dem letzten Stück Weg nach Hause trug Andries Emmy meist auf den Schultern.

»Du hast doch Beine, warum läufst du nicht?«, rief ihre Großmutter ihr zornig entgegen.

»Hier oben sehe ich mehr«, gab Emmy ungerührt zurück.

Alma schüttelte den Kopf. »Gott im Himmel, es wird nicht gut enden mit diesem Kind!«

Kurz vor Ostern erlaubte Emmys Vater ihr, gegen alle Widerstände, das Vorderdeck eines Schiffes zu betreten. Längst hatte Andries sich damit abgefunden, dass Janne ihm bislang keinen Sohn geschenkt hatte. Die Tradition sah vor, dass der Erstgeborene zwischen seinem sechsten und siebten Geburtstag ein Schiff betrat. Sein Erstgeborener war nun mal ein Mädchen. Auch das war eben Schicksal.

»Junge, du musst dich nicht wundern, wenn sich am Ende kein Mann für Emmy findet«, mahnte Alma eines Abends, während sie am Spinnrad saß. Andries saß am Tisch und war dabei, getrocknete Aalhaut mit Schmalz einzufetten, um sie zäh und gleichzeitig geschmeidig zu machen. So konnte er sie als Verbindungsriemen zwischen Stiel und Schlagholz am Dreschflegel verwenden.

»Wenn du ihr einen aussuchst, wird es schwierig, da magst du recht haben, Mutter.«

Alma musterte ihren Sohn mit zusammengekniffenen Lippen, bevor sie fragte: »Was soll das heißen?«

»Emmy wird schon den Richtigen finden.«

»Du willst doch nicht allen Ernstes ihr die Wahl überlassen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wir können ihr mit Rat zur Seite stehen, wenn es an der Zeit ist. Aber ich denke, es ist besser, wenn ein Paar sich von allein findet.«

»Na, so weit kommt es noch«, sagte Alma empört und versetzte dem Spinnrad einen weiteren Schwung.

Andries betrachtete seine Mutter einen Moment lang schweigend. Dann sagte er: »Ich darf dich daran erinnern, dass ich es mit Janne ebenso gehalten habe. Und unsere Ehe ist gut, wir lieben und achten einander, und Janne ist die treueste Gefährtin, die ich mir wünschen könnte. Auch wenn du sie anfangs abgelehnt hast.«

Alma verdrehte die Augen. Liebe. »Wenn alle aus Liebe heiraten würden, wären die Gehöfte klein und die Herden mickrig.«

»Es ist wichtig, dass Emmy zur Schule geht. Ein kluger Mann wird das zu schätzen wissen«, sagte Andries, setzte sich auf den hüfthoch gemauerten Rand des Ofens und begann, seine Pfeife zu stopfen.

»Aber doch nicht, wenn sie klüger ist als er! Ich kenne keinen Mann, der eine Frau haben will, die lesen und schreiben kann.«

»Vielleicht kennst du nur die falschen Männer, Großmutter«, rief Emmy, die in einer Ecke gelauscht hatte.

»Du freches Ding!« Mit jeder Silbe wurde Almas Stimme schriller. »Raus mit dir, wenn Erwachsene sich unterhalten!«

Doch Andries winkte seine Tochter zu sich heran und hob sie auf seinen Schoß. »Ich glaube, Bildung ist etwas Gutes. Sie macht die Menschen mündig«, sagte er, ohne Emmy für ihre Bemerkung zurechtzuweisen.

Alma seufzte resigniert. »Wozu die Mädchen? Das ist vielleicht was für Städter, aber doch nicht hier auf dem Land … Ich verstehe diese Welt nicht mehr.«

»Gerade die Mädchen müssen viel nachholen«, sagte Andries und streichelte Emmy liebevoll übers Haar.

»Unsinn! Disziplin und Gehorsam sind deren oberste Pflicht. Das fällt deiner Tochter ja jetzt schon schwer. Kein Wunder, wenn du sie so verzärtelst.«

»Sie hört, wenn man ihr etwas sagt. Meistens jedenfalls, nicht wahr, Emmy?«

Doch bevor Emmy etwas entgegnen konnte, lachte Alma höhnisch auf. »Auf dich und Janne hört sie vielleicht. Auf meine Anweisungen pfeift sie.«

»Deine Anweisungen sind ja auch komisch«, sagte Emmy, hüpfte vom Schoß ihres Vaters und rannte kichernd hinaus.

Alma sah ihrer Enkelin kopfschüttelnd hinterher. Dann sagte sie streng: »Du lässt ihr zu viel durchgehen, mein Sohn.«

»Kann sein«, sagte Andries, stand auf und suchte im Ofen nach einem Hölzchen, mit dem er seine Pfeife entzünden konnte.

Wenige Tage nach Ostern war es endlich so weit. Janne hatte dem ersten Schultag fast so aufgeregt entgegengefiebert wie ihre Tochter. Sie verstand nicht, warum Alma sich an die Traditionen klammerte. Vielleicht machte der alten Frau das Neue einfach Angst, vielleicht war sie auch neidisch, denn Alma konnte weder lesen noch schreiben. Janne ließ es sich nicht nehmen, Emmy zur Schule zu begleiten. Es war ein strammer Fußmarsch von gut einer Stunde über Feld und Wiesen bis ans andere Ende der Insel. Alma hatte nur den Kopf geschüttelt. Die Mutter begleitete ihre sechsjährige Tochter über die Insel. Das ist Affenliebe, dachte sie.

»Du sollst mir nur eines schwören«, sagte Janne, während Emmy neben ihr herlief. »Du musst auch an Schultagen mit Rieke zu den Gräben gehen. Alleine schafft sie das noch nicht.«

Emmy nickte. Das hätte ihre Mutter nicht extra sagen müssen. Die Tiere gingen vor. Sie waren ihrer aller Lebensversicherung. »Das ist doch klar, Mama.«

»Je nach Tide auch am Mittag. Lieber die Schule versäumen, als ein Schaf verlieren«, mahnte Janne.

»Ja doch«, sagte Emmy. Rieke war erst fünf, und gemeinsam mussten sie den Schafen helfen, wenn sie im Schlamm feststeckten, zur Seite kippten und sich nicht mehr aus eigener Kraft retten konnten. Graben für Graben mussten sie tagtäglich absuchen, um zu verhindern, dass hilflose Tiere verendeten.

Vor dem Schulgebäude beugte sich Janne zu ihrer Tochter herunter, steckte ihr einen Zuckerkeks zu und sagte: »So, und nun mach was draus.«

»Danke«, sagte Emmy, die Wangen von Wind und Wetter gerötet, gab ihrer Mutter einen Kuss und betrat andächtig die Schule.

Die älteren Kinder saßen in hölzernen Schulbänken, in denen sich Aussparungen für die Tintenfässer befanden. Der Lehrer stand an einem Katheder, klemmte sich sein Monokel vor das Auge und sah von oben auf die Schüler herab.

Gleich am ersten Tag lernten sie fünf Buchstaben. A, E, I, O und U. Im Rechnen stellte der Lehrer die Zahlen von 1 bis 5 vor und ließ die neuen Schulkinder Summen bilden. Zwei Äpfel und ein Apfel ergaben mithilfe von Daumen, Zeige- und Mittelfinger drei Äpfel. Emmy platzte fast vor Stolz, als der Lehrer ihr bedeutete, dass drei die richtige Lösung war. Nur dass Dörtje, die neben ihr saß, eine eigene Schiefertafel mit Holzumrandung auf den Tisch legte und dazu auch noch eine kleine Dose für das Schwämmchen, versetzte Emmy einen Stich. Was hätte sie alles für eine eigene Tafel mit einem Schwämmchen gegeben!

Auf dem Weg nach Hause dachte Emmy über den riesigen Globus nach, der vorne beim Lehrerpult stand. Zu gern hätte sie ihn wenigstens einmal gedreht, um zu sehen, wie viel Platz ihre Insel darauf einnahm. So weit, wie sie gehen musste, war es bestimmt ein großes Stück – vielleicht gar die halbe Weltkugel? Aber an den Globus durften nur die älteren Schüler treten und auch nur, wenn sie aufgerufen wurden. Für den nächsten Tag nahm Emmy sich vor, den Lehrer trotzdem zu fragen. Als sie den Hof erreichte, sah sie ihren Vater und ihre Mutter davor auf einem Baumstamm sitzen, Andries wie immer mit einer Pfeife im Mundwinkel. Den Stamm hatte er im letzten Winter mit dem Ackergaul aus dem Meer gezogen, ein Luxus auf der baumarmen Insel. Nach und nach hobelte Andries feine Stücke als Anzünder für den Bilegger ab, damit die Ditten besser Feuer fangen konnten.

Emmy rannte zu ihren Eltern und erzählte atemlos von Buchstaben und Zahlen, von dem riesigen Globus und von Dörtjes Schiefertafel.