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Ein, mit einem Hammer erschlagener junger Mann. Eine Frau, im akut psychotischen Ausnahmezustand. Ein bewusstloser Infarktpatient. Dieses Szenario bietet sich den Beamten des LKA – Wiesbaden und dem Notarzt-Team. Kein Hinweis auf ein Motiv oder einen Täter. Beide Zeugen sind tagelang nicht vernehmbar. Über die Rettungsassistentin Martina, die den Ermordeten, Sir Toby, flüchtig kennt, gewinnt die Polizei Einsicht in die Strukturen einer Organisation, die sich Sturmvogel 2 nennt und deren Chef jener Sir Toby ist. Er, ein Junkee mit schwerer narzisstischer Verhaltensstörung, führt diese Bande von Kleinkriminellen und Drogenabhängigen. Demütigungen, Gewalt und Feindseligkeiten bis hin zum Mord herrschen in diesem Milieu. Durch akribische Ermittlungsarbeit gelingt es der Polizei, drei bisher ungeklärte Morde aus der Vergangenheit dieser Organisation nachzuweisen. Erst nach einer späten Zeugenaussage werden Täter und Tatmotiv erkennbar.
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Seitenzahl: 190
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Um dem Roman Authentizität zu verleihen werden neben einigen medizinischen Ausdrücken auch Begriffe aus dem Jargon der Drogenszene verwendet. Letztere unterliegen einem schnellen Wandel und können bereits nach wenigen Monaten schon als veraltet gelten.
Da sich diese Ausdrücke dem Leser nicht von allein erschließen, wurden sie vollständig im Text durch Kursivierung hervorgehoben.
Ausdrücke, die entweder nicht im Text direkt erläutert werden oder sich nicht von allein aus dem Kontext verstehen lassen sind in einem Glossar am Ende des Buches wiedergegeben.
Handlung und Personen sind frei erfunden.
Sturmvogels Tod
An einem Freitag im Hochsommer. Der Tag beginnt schon mit 18 Grad kurz nach 5:00 Uhr, als die Besatzung des Notarztwagens vom Einsatz in die Klinik zurückkommt.
Bevor sie sich wieder einsatzbereit bei der Leitstelle melden, wollen die drei Männer zuerst einmal duschen und die stark verschmutzte Kleidung wechseln. Bei ihrem letzten Einsatz in einem durch Brand zerstörten Einfamilienhaus konnten sie nur noch die bereits verkohlten Leichen zweier Erwachsener und die eines Kindes vorfinden. Kein Fall für das Rettungsteam.
„Das war bei aller Tragik und Traurigkeit doch wieder einmal ein völlig unsinniger Notarzt-Einsatz“, stellt Dr. Augustin fest und macht auch keinen Hehl daraus, dies dem leitenden Wehrführer der Berufsfeuerwehr in einem unüberhörbar vorwurfsvollen Ton mitzuteilen.
Schon öfter, kam es in den letzten Jahren zu solchen Scharmützeln zwischen Feuerwehr und Notärzten.
Augustin ist gerade im Begriff, die Schuhe zu binden, als der Notfallmelder ihn mit seinem grässlichen Signalton veranlasst, seine Tätigkeit noch weiter zu beschleunigen. Auf dem Weg zum NAW, den er im Laufschritt zurücklegt, hört er aus dem Melder: Einsatzort und Lage der Dinge.
„ Leitstelle an RK- 83-2
Einsatz NAW. Das geht nach Brenner Allee Nummer 37 A.
Der Name Berghaus.
Verdacht auf Exitus.
Feuerwehr und Polizei sind vor Ort.
Anfahrt mit Sondersignal!“
Noch bevor Augustin am NAW ankommt, läuft der Motor schon mit einer erhöhten Drehzahl.
Beide Rettungsassistenten sind bereits an Bord.
Die Routine, auch in dieser Phase der höchsten Anspannung hilft den Dreien. Schon beim routiniert zügigen Start mit dem schweren NAW, schaltet Thomas der Fahrer, die akustischen und auch die optischen Sondersignale ein.
Volker, der zweite Rettungsassistent, hat schon den Hörer des Funkgerätes in der Hand und meldet der Leitstelle:
„RK 83-2 an Leitstelle,
Arzt an Bord
fahren Brenner Allee 37 A.
Gibt es Probleme bei der Anfahrt?“ Aus dem Lautsprecher vernimmt man eine blecherne Stimme:
„RK- 83-2, fahren Sie Bahnhofstraße, danach die zweite rechts abbiegen, das ist die Odenwaldstraße, diese bis zum Ende, dann wieder rechts, dann kommen Sie in die Brenner Allee.“
„Verstanden, Ende!“, bestätigt Volker. Obwohl sie über ihren Bordrechner eine Datenfunkübertragung mit GPS Navigation und Anfahrt erhalten, hält der Rettungsassistent gerne noch am Sprechkontakt mit der Leitstelle fest.
Er hat halt seine Erfahrung.
Augustin blickt auf die Armbanduhr und sagt in nüchternem Ton:
„Es ist jetzt 07.19 Uhr.“
Jeder im Team weiß, was er damit meint.
„Scheißwetter zum Reanimieren“, bemerkt der Fahrer trocken, denn bei solchen Hochsommer Temperaturen sind die Wiederbelebungserfolge sehr schlecht.
„Beinahe wäre ich noch ohne Schuhe mitgefahren.
Wieso habt ihr uns schon so früh frei gemeldet?“, versucht Augustin die Anspannung etwas aufzulockern.
Thomas, der Fahrer, wird jetzt leicht nervös.
Vor dem Bahnhof sind alle vier Fahrspuren komplett zu und da muss er mit seiner drei Tonnen schweren Kiste durch, wie er seinen RTW öfter nennt. Die Presslufthörner mit ihrer immensen Lautstärke, in Verbindung mit den Räumlampen, schneiden wie ein Skalpell einen Weg durch die eigentlich undurchdringlich erscheinende, fast unbewegliche Blechmasse.
Thomas jagt den Motor in allen Gängen bis aufs Letzte hoch. Die Odenwaldstraße ist glücklicherweise wenig befahren, aber dummerweise gilt hier eine rechts vor links Regelung und insgesamt gibt es sieben Nebenstraßen, die hier kreuzen, sodass sie die Fanfaren in voller Lautstärke weiterhin betreiben müssen.
„Eigenschutz geht vor! Das muss ich Dir nicht sagen“, schleudert Augustin dem Fahrer entgegen.
Genau 7.24 Uhr verlassen sie die Odenwaldstraße und biegen in die Brennerallee ein. Schon nach zweihundert Metern sehen sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite zwei Polizeiwagen und ein Fahrzeug der Feuerwehr. Eine Polizeibeamtin postiert sich auf der Straßenmitte und winkt den NAW in die Hofeinfahrt.
Volker nimmt den Hörer des Funkgerätes und nach einem kurzen Knacken meldet er der Leitstelle: „RK-83-2 – E. erreicht.“
Es ist mittlerweile 7.26 Uhr, als sie das Fahrzeug verlassen. Thomas schultert das Lifepack - ein tragbares EKG mit Defibrillator.
Volker hat den großen Notfall-Koffer schon aus der Halterung gezogen und alle drei laufen zum Hauseingang, vor dem ein weiterer Polizist in Uniform steht.
Als Augustin in den Flur eintritt, kommt ihm ein Polizist in Zivil entgegen.
„KHK Küster – dort hinten –zweite Tür rechts!“ Dabei streckt er ziemlich auffällig dem Notarzt seine Hand entgegen und drückt sich in dem engen Flur fest mit dem Rücken an die Wand, sodass die beiden Rettungsassistenten, bepackt mit ihrem Equipment, zügig an den Ort des Geschehens kommen.
Augustin ist sofort hinter ihnen, als sie in das Schlafzimmer kommen.
Hier schockieren sie Bilder, die ihnen auch noch nach Jahren nicht mehr aus dem Kopf gehen werden. Das wissen alle, die sich in diesem Raum befinden.
Bei aller Inhomogenität bilden sie doch eine starke Einheit, da das Unglaubliche, das Unvorstellbare, das auch nicht Begreifbare und schwer Beschreibbare, was sie hier sehen , eine Realitätskonfrontation darstellt, der sie sich wieder einmal ausweglos stellen müssen.
Ihre Sprache ist klar und deutlich.
Für nichtssagende, alberne Schnörkel haben sie weder Zeit noch Sinn.
Augustin erfasst sofort die Situation und er weiß, dass er schnell, jedoch nicht hektisch entscheiden muss.
Er darf jetzt keine Fehler machen, denn bei aller Unübersichtlichkeit in diesem engen Raum, der nahezu überfüllt ist von Feuerwehrleuten, Polizisten und nun auch noch dem Rettungsteam, sind seine Entscheidungen die wirklich Tragenden.
Eine Frau, Anfang vierzig, so schätzt er, liegt mit dem Rücken auf dem Bett. Die Augen sind weit aufgerissen, der Blick ist starr zur Decke gerichtet, die Haut ist schweißig. Das Bettlaken hat sie mit beiden Händen fest umklammert und bis zum Kinn gezogen. Ein permanentes, feines Muskelzittern besteht an allen Extremitäten. Die Füße liegen frei und schlagen in hoher Frequenz gegeneinander.
Unverständliche, halblaute Wortfetzen wechseln mit einem Schluchzen. Die Frau ist nicht ansprechbar, stellt Augustin sofort fest. Sie befindet sich in einem schweren psychogenen Ausnahmezustand. Sein erster Griff, wie immer, ist die Hand zum Puls der Patientin. Schnell kann er feststellen:
„Ok, sie ist kreislaufstabil, zu ihr später“, sagt Augustin laut in den Raum und wendet sich um, um nach dem Mann, wahrscheinlich ihrem Ehemann, zu sehen. Der etwa Fünfzigjährige, reichlich übergewichtige, liegt schräg vor dem Bettende, kaltschweißig, beide Pupillen weit, schwache, oberflächliche Atmung, tief bewusstlos. Die peripheren Pulse sind nur noch schwach tastbar.
Ohne dass Augustin etwas anordnen muss, haben die beiden Rettungsassistenten bereits den Oberkörper des Mannes entblößt und das Notfall- EKG angeschlossen.
Augustin hat bereits einen venösen Zugang an den linken Handrücken gelegt.
Im EKG sieht man eine massive Bradykardie mit einer Frequenz um die vierzig Schläge pro Minute. Dann wechselt die Frequenz auf fünfzig und siebenundfünfzig. Der Mann kommt etwas zu Bewusstsein und wird unruhig.
„Die Sauerstoffsättigung liegt unter neunzig.
Der BZ liegt bei 132 “ sagt Thomas, der erste Rettungsassistent, und blickt Augustin fragend an, dabei zeigt er auf das Intubationsbesteck
„Noch nicht, zuerst Sauerstoff. Vier Liter über die Maske und Atropin 0,5- eine Ampulle i.v.
Vielleicht kommt er ja auch damit schon.“ Augustins Anweisungen sind knapp und klar.
Er sieht jetzt, dass sie sich mit dem Mann intensiver beschäftigen müssen, während die Frau weiterhin in ihrer schweren psychischen Dekompensation dahinzittert.
Er kann jetzt nicht länger allein die Lage unter Kontrolle halten, obwohl zwei Feuerwehrmänner versuchen, durch ihren Händekontakt der Frau irgendwie beizustehen.
Daher ruft er laut in den Flur hinaus, dort, wo die Polizisten warten:
„Wir brauchen dringend ein zweites Notarzt Team! Geben Sie als Grund an: Schwere, akute, psychische Dekompensation.“
Augustin kontrolliert mit einem Auge den EKG-Monitor des Mannes, mit dem anderen Auge sieht er zu der Frau, und hat gleichzeitig die Hand am Puls des Patienten.
Im Kopf beginnt die Planung der kommenden Minuten, damit es hier nicht noch zum Chaos kommt, denn da liegt ja noch eine Person, um die er sich auch noch kümmern sollte. Aber ein kurzer Blick genügt, um festzustellen, dass der junge Mann tot ist.
Langsam pendelt sich bei seinem Patienten der Puls bei 57 pro Minute ein.
„Der Blutdruck ist jetzt gerade einmal 100 mm Hg systolisch“, meldet der zweite Rettungsassistent und kurz danach verschwindet er nach draußen, um die Trage aus dem RTW zu holen.
Ein Polizist hilft ihm, und als sie den Mann für den Transport auf die Trage heben wollen, trifft das zweite Notarzt-Team ein.
„Mensch Klaus, was ist denn hier los?“, wird Augustin von dem zweiten Notarzt begrüßt.
Augustin zeigt nur auf die Frau im Bett und bemerkt trocken:
„Um die musst Du dich kümmern.“
Als seine beiden Rettungsassistenten ins Schlafzimmer stürzen und sich der dritten Person nähern, dreht sich die junge Rettungsassistentin sofort um und stolpert aus dem Haus.
Unterwegs erbricht sie schon mehrfach und hängt dann vornübergebeugt am Treppengeländer, das sie fest umklammert. Erst nach mehrfachen Würgereizen kann sie sich wieder sammeln. Sie schüttelt sich kurz, fährt sich mit ihren Fingern durch das rotbraun gefärbte mittellange Haar, räuspert sich, atmet zweidreimal tief ein und aus, dann geht sie wieder mit festen Schritten ins Haus.
Unterwegs begegnet ihr das erste Rettungsteam, das den Mann auf der Trage zum RTW transportiert.
„Geht´s wieder?“, fragt Augustin kurz. Die Assistentin nickt nur und verschwindet ins Schlafzimmer.
Während die beiden Rettungsassistenten den Mann in den RTW einladen, kommt Küster auf Dr. Augustin zu und fragt ganz kurz und bestimmend:
„Was ist mit Berghaus?
Wird er durchkommen?“
Augustin versucht ruhig zu antworten, obwohl er jetzt unter starkem Stress steht.
„Nun ja, offenbar hat er einen Herzinfarkt erlitten, der insbesondere sein Herz-Reizleitungssystem betroffen hat. Sein Herzschlag ist daher sehr niedrig und hat zur Bewusstlosigkeit geführt, da hierunter der Blutfluss extrem leidet. Wir werden ihm vielleicht einen passageren Herzschrittmacher legen müssen, danach muss man abwarten wie die Sache ausgeht.
Was mit seiner Frau wird, so fragen Sie den Kollegen Kesselheim, der sie im Moment noch behandelt. Und für den jungen Mann kam sicherlich jede Hilfe zu spät.
Das ist etwas für die Forensik. Ich denke, bereits der erste Hieb war schon tödlich. Aber wenn Sie Fragen haben, Sie finden mich in der II. Medizinischen Klinik der St. Christopheros Kliniken. Mein Name ist Dr.
Klaus Augustin.“ Daraufhin verschwindet er im RTW, und das Fahrzeug verlässt in schonender Fahrweise den Hof des Grundstücks. Als sie in die Brenner Allee einbiegen, hat ein Polizist schon mehrere Autos gestoppt, sodass sie zügig in den Verkehr einfädeln können.
Mit Sondersignal entfernt sich der Notarztwagen und windet sich gekonnt wie eine Äskulap-Natter durch das Dickicht der undurchdringlich erscheinenden Blechlawinen.
*
Im Schlafzimmer der Familie Berghaus gerät die Situation fast außer Kontrolle. Kesselheim, ein ebenfalls erfahrener Notarzt, versucht zunächst die Frau verbal zu beruhigen, was aber absolut keine Wirkung zeigt, worauf er über einen venösen Zugang, den er schon kurz nach dem Eintreffen gelegt hat, ihr 5 mg Midazolam langsam intravenös und fraktioniert verabreicht. Kurz danach wird die Frau ruhiger und fällt in einen somnolenten Zustand, der unbeabsichtigt innerhalb kurzer Zeit zu einem Atemstillstand führt.
Kesselheim erkennt sofort die Brisanz der Situation und entschließt sich zu einer Maskenbeatmung. Er weiß um solche Komplikationen und handelt dementsprechend korrekt und ohne Hektik.
Die junge Rettungsassistentin wird wieder nervös und hektisch, sodass Kesselheim, ein sonst eher ruhiger Mensch, sie laut anfährt:
„Jetzt reiß dich doch endlich mal zusammen! Der Tag hat doch gerade erst begonnen. Und wie willst du den(!) denn überstehen? Wir müssen da alle durch.
Ob uns das gefällt oder nicht.“
Kurz danach kommt aus beiden Mündern fast gleichzeitig ein:
„Entschuldigung!“
Kesselheim hat seinem „Entschuldigung“ noch einen Satz hinzugefügt, der ihn dann wieder angenehm menschlich erscheinen lässt:
„Ich wollte da eben nicht so grob zu dir sein“, ergänzt er mit einem kleinen Lächeln der Rothaarigen gegenüber, die er ja eigentlich ganz nett findet. Er fasst sie am Arm und zieht sie etwas zu sich:
„Ich weiß, dass Du die Maskenbeatmung sehr gut beherrschst, deswegen wirst Du jetzt weiter beatmen.
Und jetzt muss ich mal nach dem jungen Mann dort hinten schauen.“
Dabei zeigt er auf den leblosen Körper des Mannes, ungefähr in Zimmermitte, den die Feuerwehr mit einem weißen Einmal-Tuch abgedeckt hat. Die Assistentin ist intensiv mit der richtigen Beatmung beschäftigt, sodass sie sich nicht noch einmal den Anblick des jungen Mannes zumuten muss.
Einer der Polizisten hebt langsam das Tuch vom Kopf des Toten.
Ungefähr in Schädelmitte steckt, mit der Spitze eingedrungen, ein Lattenhammer, wie ihn Zimmerleute und Dachdecker verwenden. Die Spitze ist bis zum Stiel tief eingeschlagen. Um die Penetrationsstelle finden sich mehrere unterschiedlich große Knochenfragmente und wenig Hirnmasse. Als Kesselheim den Kopf zur Seite drehen will, fertigt einer der Polizisten zwei Fotoaufnahmen an.
Dann drehen sie den Kopf des Toten auf die rechte Seite. Was sich ihnen hier bietet, jagt einen der jungen Kriminalkommissare, ebenso wie kurz zuvor die Rettungsassistentin, aus dem Haus. Unterwegs hört man ein lautes Würgen und Husten.
Über dem linken Auge des Toten erkennt man einen etwa vier mal vier Zentimeter großen, tiefen Knochendefekt in der Schädelkalotte. Es ist reichlich Hirnmasse ausgetreten. Das linke Auge liegt außerhalb der Augenhöhle auf dem Wangenknochen.
Der Polizist fertigt auch hiervon zwei Fotos an.
Alles läuft ab, ohne dass ein Wort gesprochen wird.
Der Leichnam wird wieder zugedeckt und Kesselheim begibt sich zur Rettungsassistentin.
„Du – ich wollte Dir eben wirklich nicht wehtun, verzeih mir bitte“, entschuldigt er sich zum zweiten Mal.
„Aber du siehst ja, auch Kripo-Beamte können mal kotzen.“
Stephan, der zweite Rettungsassistent meldet kurz und trocken:
„Sauersoff-Sättigung jetzt 97%
RR 110 / 70
Puls 98 „
„ Nimm mal die Maske weg und sehen wir mal, inwieweit sie wieder spontan atmet“, wendet sich Kesselheim an Martina, die rothaarige Rettungsassistentin.
Die Frau atmet wieder in einer fast normalen Atemlage. Die nicht abfallende Sauerstoff-Sättigung lässt Kesselheim und das Team aufatmen, aber der akute psychotische Zustand hat sich jetzt in einen psychogenen Stupor gewandelt. Dieser dissoziative Stupor hat zu einem wach ähnlichen Zustandsbild geführt. Die Frau blickt weiterhin mit weit geöffneten Augen zur Decke, aber es kommen keine verbalen Äußerungen, sie reagiert nicht auf Ansprache, alle Extremitäten hängen jetzt regungslos herab. Kesselheim entschließt sich für den sofortigen Transport in die Klinik. Als sie die Frau auf die Trage legen und dabei das Bettlaken gegen das Einmallaken des RTW tauschen wollen, gibt die Rettungsassistentin, begleitet von einem leichten Räuspern, Kesselheim einen kleinen Stoß und zeigt dabei auf den Körper der Frau:
„Sieh dir das an! Das sind doch Spuren eines Kampfes, mit Kratzspuren, und ihr Slip ist ziemlich zerrissen, ebenso ihr BH.“
Mehr an Kleidung trägt die Frau nicht.
Kesselheim sieht sich den Körper der Frau jetzt genauer an, dann ruft er in den Flur hinaus:
„Hier müsst ihr unbedingt noch eine Foto-Dokumentation machen!“
Sofort erscheint wieder der Polizeibeamte mit seiner Kamera und schießt jetzt mehrere Fotos, darunter sind auch drei Nahaufnahmen.
Küster hat offenbar mitbekommen, dass da irgendetwas im Busch ist, wie er gerne Nachforschungen umschreibt. Zügig kommt er in das Schlafzimmer und schaut sich ebenfalls die Frau genau an.
„Was denken Sie? Kann sie eine Aussage machen? Und wann?“
Dabei schaut Küster den Notarzt fragend an.
„Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Sie sehen ja selbst, wie stark traumatisiert diese arme Person ist.
Körperlich, aber viel mehr noch psychisch. Die Frau befindet sich in einem akut psychotischen Zustand.
Wann und auch wie sie wieder aus diesem herauskommen wird, kann Ihnen niemand vorhersagen. Wir bringen sie jetzt in die Klinik.“
„In welche Klinik?“,
fragt Küster.
„St. Christopheros Kliniken, Psychiatrie“, gibt Kesselheim kurz zur Antwort, dann ergänzt er aber noch:
„Wir müssen uns beeilen. Und zu dem toten jungen Mann, nun ja, der ist etwas für die Gerichtsmediziner, da können wir nichts tun. Wenn Sie Fragen haben, Sie finden mich in der Klinik.“
„Vielen Dank. Ich weiß, Ihr Name ist Dr.Kesselstein“, gibt Küster zur Antwort.
„Ist mir auch egal, ob Kesselstein oder Kesselheim, er wird mich schon finden“,
sagt Kesselheim zur Rothaarigen, während sie in den NAW einsteigen. Er will nicht noch unnötige Zeit mit Namenskorrekturen verschwenden. In schonender Fahrt, aber mit Sondersignal, verlässt auch der zweite NAW den Ort der Tragödie.
Die Rettungsassistentin kämpft sich mit dem schweren NAW geschickt durch den jetzt stark angeschwollenen Morgenverkehr. Hin und wieder kommt ihr doch ein ziemlich derber Fluch über ihre schmalen Lippen, die sie aber mit einem diskreten Rouge etwas pointiert hat.
„Ganz zu wenig Frau, das muss ja auch nicht sein“, sagt sie sich-.
Kurz danach fährt der Leichenwagen der Gerichtsmedizin in den Hof des Hauses in der Brenner Allee 37 A . Sie parken den Wagen rückwärts ein, um den mittlerweile etwa zwanzig Schaulustigen, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eingefunden haben, nicht noch mehr an Spektakulum zu bieten.
Den zwei Bediensteten, in ihren grauen Kitteln, verleihen deren steifen Schirmmützen einen seriösen und offiziellen Touch. Sie unterstreichen zudem ihr Auftreten als Repräsentanten unbewegter Leichenkutscher. Kurz nach ihrer Ankunft verschwinden sie mit einem Transportsarg im Haus. Einige Minuten später beladen sie ihren dunkelgrauen Kastenwagen mit dem Leichnam und fahren mit unverändert eingerosteter Miene, so wie sie gekommen sind, auch wieder davon .
Viel gesprochen haben die beiden nicht außer, „Guten Morgen und Auf Wiedersehen.“
„Lieber mal nicht so schnell“, gibt einer der Polizisten ihnen noch als Antwort mit.
Die beiden Stoiker nehmen den Ausspruch offenbar gar nicht zur Kenntnis. Wahrscheinlich haben sie den Satz schon x-mal gehört.
*
Im Haus bleiben KHK Küster und sein Oberkommissar Schneider zurück, um die Arbeiten der KTU zu überwachen und um Erkenntnisse über den eigentlichen Tathergang zu erfahren.
„Was haben wir?“, beginnt Küster seine Anrede an Schneider und den Leiter der KTU. Dabei klingt das Ganze eher wie ein Selbstgespräch, denn er blickt dabei keinen der Umherstehenden an. Vielmehr geht er im Flur auf und ab, blickt zu Boden und entfernt permanent kleine Borken abwechselnd aus jedem Nasenloch, die er dann als kleine gerollte Kügelchen auf den Boden fallen lässt.
Diese ziemlich unappetitliche Angewohnheit seines Chefs kennt Schneider schon seit Jahren, und er weiß, dass er sich dabei ganz ins Grübeln und Nachdenken verstiegen hat und nebenbei seine Umgebung, wenn überhaupt, nur oberflächlich wahrnimmt.
Die Leute von der KTU haben es sich mittlerweile abgewöhnt, ihn immer wieder daraufhin anzusprechen, dass er fast an jedem Tatort seine persönliche DNA in Form kleiner Kügelchen hinterlässt. Ein einziges Mal konnten sie einen Mittäter überführen, der ebenfalls diese Angewohnheit hatte, als dieser Schmiere bei einem Einbruch stand. Zunächst hatte man diese Kügelchen nicht untersuchen wollen, da man glaubte, es seien „Küster´s DNA - Kugeln. Aber als dieser beteuerte, diesen Platz nicht betreten zu haben, kam man dem schon über die DNA bekannten Täter schnell auf die Spur.
Da Küster, ansonsten ein sehr ruhiger und anständiger Mensch, mit guten Manieren ausgestattet, verzeihen ihm alle, die ihn kennen, diese exotische Begleitform der Konzentration.
Küsters Erscheinungsbild als KHK passt seltsamerweise in die Vorstellung von Liebhabern guter Kriminalfilme. Mit Anfang Fünfzig hat er einen leichten Bauchansatz, den er noch ohne größere Einklemmungen in eine dunkelblaue Hose zwängt. Darüber trägt er heute einen dünnen, hellblauen Leinensakko, den er natürlich bei diesen Temperaturen nicht zugeknöpft hat, ebenso trägt er das weiße Hemd offen und ohne Krawatte. Sein ziemlich würfelförmiger Kopf wirkt durch die Brille mit ihrer rechteckigen Form noch eckiger und nahezu kastenförmig.
Als Schneider ihn noch nicht näher kannte und anfänglich einige Probleme mit ihm hatte, wollte er einmal eine witzige Bemerkung über seinen Chef machen, indem er behauptete, dass man in diesen würfelförmigen Kopf einen Computer eingebaut habe.
Dieses Bonmot fand nicht die gewünschte Resonanz, die sich Schneider erhofft hatte. Man sagte ihm sogar nach, dass er damals offensichtlich Hohn mit Humor verwechselt habe.
Es hat lange gedauert, bis man den Hofnarren wie er gelegentlich hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, wieder akzeptierte. Mittlerweile ist Schneider von der Intelligenz und Weitsicht seines Chefs absolut überzeugt, und das äußert sich in einer Solidarität zu ihm, die man als eine wahre Nibelungentreue bezeichnen muss.
An diesem albernen Vergleich von damals nagt der KOK manchmal heute noch.
Küster, nachdenklich auf und abgehend, beginnt seine vorläufige Zusammenfassung:
„ Wir haben hier einen toten jungen Mann, dessen Identität wir noch nicht kennen, der möglicherweise hier eingedrungen ist.
Wir haben einen möglichen Zeugen oder vielleicht auch Tatverdächtigen, der noch nicht ansprechbar ist und von dem wir weder wissen, wann wir ihn befragen können und ob er überhaupt seinen Herzinfarkt überlebt. Dann haben wir eine Frau, offenbar ein Opfer und auch Zeugin, die sich in einem schweren posttraumatischen, psychogenen Ausnahmezustand befindet. Auch hier können wir davon ausgehen, dass auch aus dieser Richtung so schnell keine Erkenntnisse zu erwarten sind.
Alles in allem, sehr, sehr dünn, und wir suchen nach einem Täter. Aus dem Mitschnitt des Telefonats des Passanten, der uns alarmiert hat, weiß man nur, dass er laute Schreie und Hilferufe aus dem Haus gehört habe.
Gesehen habe der Mann angeblich nichts.“
„Wir versuchen die Person ausfindig zu machen und werden sie dann dazu befragen. Vielleicht hat er doch noch etwas wahrgenommen, was er aber anfangs nicht richtig zuordnen konnte. Man wird sehen“, wirft Schneider dazwischen.
„Dann sollten wir alle Nachbarn im Umkreis von etwa einhundert Metern nach der Familie befragen. Wir wissen noch nicht einmal, ob es Angehörige gibt oder Freunde. Darum sollten Sie sich mit Ihren Leuten kümmern.“
Dabei sieht Küster den Kommissar der Schutzpolizei an.
„Und wir beide gehen jetzt einmal gründlich durchs Haus, ohne dass wir die Spurensicherer dabei viel stören wollen.“
Dabei nimmt Küster seinen Assistenten Schneider kurz am Arm. Ein Bild ziemlicher Gegensätze.
Küster mit seinen 1,70 m und stabiler Statur, dazu sein kräftiges, dichtes und etwa fünf Zentimeter langes Haar, bildet optisch einen ausgesprochenen Gegenpol zu seinem Assistenten, der ihn um mindestens zwei Kopflängen überragt.
Der dreiunddreißigjährige, drahtig und durchtrainierte Oberkommissar Schneider sieht aus wie eine Sehne.
So hat ihn mal die zweite Kriminaloberkommissarin Ulrike Stein, die alle nur Uli nennen, kurz beschrieben.
Sie hat übrigens Recht.
Schneider hat im Gegensatz zu Küster einen eher schmalen Kopf, den er sich täglich komplett glatt rasiert, aber dabei schlichtweg die Rasur des Bartes vergisst, was ihm die Kollegen hin und wieder sagen.
Aber daran hat sich der Hobby Triathlet mittlerweile gewöhnt.
Zimmer für Zimmer inspizieren die beiden das gesamte Haus, dabei stellen sie wiederholt fest, wie gut ihre Zusammenarbeit ist. Schneider kann nicht umhin, zum x-ten Mal zu sagen:
„Chef, ist es nicht wunderbar, wir betrachten den Tatort immer aus zwei verschiedenen Höhen, und dabei sehen wir Dinge ganz schön unterschiedlich.“
Küster kennt den Spruch nun schon zur Genüge.
Früher hat er ihn noch mit ja bestätigt.
Seit einem Jahr nickt er nur noch. Er hat es ja begriffen und sich in der Vergangenheit hinreichend bei diesem Zwei Meter Leuchtturm bedankt, dass durch seine Vogelperspektive manch wichtige Erkenntnisse ans Tageslicht kamen. Übrigens heißt es nicht unbedingt, dass dieser Leuchtturm auch gleichbedeutend ist mit sinnhafter Erleuchtung.
Davon kann Küster ein Lied singen.