Such a Fun Age - Kiley Reid - E-Book

Such a Fun Age E-Book

Kiley Reid

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Beschreibung

»Eine extrem komische, unbequeme und unbedingt lesenswerte Geschichte über Rassismus und Klassenunterschiede.« TIME Nominiert für den Booker Prize Alix Chamberlain ist eine Frau, die bekommt, was sie will, und die ihr Geld damit verdient, anderen Frauen genau das beizubringen. Als ihrer Babysitterin Emira Kidnapping vorgeworfen wird, weil sie sich kurz vor Mitternacht mit Alix' weißer Tochter in einem Supermarkt aufhält, ist Alix schockiert und will den Vorfall wiedergutmachen. Doch Emira hat andere Sorgen: Kurz vor ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag hat sie immer noch keinen richtigen Job, sie ist ständig pleite und misstrauisch gegenüber Alix' Wunsch zu helfen. Je verzweifelter Alix Emira zu einem Teil ihrer Familie machen will, desto mehr verrennt sie sich. Dann geht ein Video online und stellt alles in Frage, was sie zu wissen glaubten: über sich selbst, einander, und die komplexe Dynamik von Privilegien. »Reid erkundet das weiße Gewissen in Zeiten von Black Lives Matter und erzählt vom Scheitern guter Absichten.« The New Yorker »Ein messerscharfes Debüt über Armut, Privilegien und Rassismus.« The Guardian

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Such a Fun Age

Die Autorin

KILEY REID, 1984 in Los Angeles geboren, unterrichtete Creative Writing und veröffentlicht ihre Erzählungen in verschiedenen Zeitschriften. Ihr Debütroman Such a Fun Age schaffte es auf Anhieb auf Platz 3 der New York Times-Bestsellerliste und wurde für den Booker Prize nominiert. Corinna Vierkant übersetzt Kinderbücher und Romane für Erwachsene aus dem Englischen. Sie lebt und arbeitet in München.

Das Buch

Als Emira Tucker von einem Wachmann im Supermarkt verdächtigt wird, das weiße Kind, das sie babysittet, entführt zu haben, kommt es zu einem Tumult. Kunden mischen sich ein, ergreifen Partei, jemand filmt das Ganze. Emira ist wütend und fühlt sich gedemütigt. Alix, die Mutter des kleinen Mädchens, ist schockiert von »der Sache mit dem Supermarkt« und beschließt, Emira zu helfen. Doch Emira sind Alix’ gute Absichten herzlich egal. Sie hat keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anfangen soll und möchte sich ganz sicher nicht von Alix zu einem »ihrer Projekte« machen lassen. Plötzlich geht das Video aus dem Supermarkt viral und bringt unangenehme Wahrheiten ans Licht …

Kiley Reid

Such a Fun Age

Roman

Aus dem Amerikanischen von Corinna Vierkant

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein.de

ISBN 978-3-8437-2523-1 © der deutschsprachigen Ausgabe by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2021 © 2019 by Kiley Reid Inc. Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, nach einer Vorlage © Greg Heinimann / Bloomsbury Circus; Umschlagmotiv: © Greg Heinimann Autorenfoto: © David Goddard E-Book Konvertierung powered by pepyrus.com Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

Titelei

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil eins 

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Teil zwei 

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Teil drei 

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

 Teil vier 

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Anhang

Danksagung

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil eins

Widmung

Für Patricia Adeline Olivier

Motto

»Natürlich fiebern wir auf Geburtstage hin. Oder auch einfach auf ein Eis. Meine Tochter muss es sich verdienen. Gestern haben wir ihr ein Eis versprochen, aber kurz darauf hat sie sich schrecklich aufgeführt, also sagte ich: ›Dann tut’s mir leid, Eis gibt’s nur für brave Mädchen. Und du warst heute nicht brav. Vielleicht morgen.‹«

Rachel Sherman, Uneasy Street: The Anxieties of Affluence

Teil eins 

Eins

Als Mrs Chamberlain an jenem Abend anrief, verstand Emira nur Satzfetzen: »… mit Briar aus dem Haus gehen …«, und »… zahlen Ihnen das Doppelte«.

In der Wohnung, in der Emira zusammen mit ihren Freundinnen Zara, Josefa und Shaunie stand, drängten sich die Partygäste dicht an dicht, und einer von ihnen grölte: »Das ist mein Lied!« Es war ein Samstagabend im September, und Shaunies sechsundzwanzigster Geburtstag neigte sich dem Ende zu. Emira stellte den Ton ihres Handys lauter und bat Mrs Chamberlain zu wiederholen.

»Wäre es möglich, dass Sie eine Weile mit Briar in den Supermarkt gehen?«, fragte Mrs Chamberlain. »Es tut mir leid, dass ich anrufe. Ich weiß, es ist spät.«

Es war schwer zu begreifen, wie Emiras Babysitterjob (eine Welt aus hochpreisigen Stramplern, bunten Stecktürmen, Feuchttüchern und unterteilten Tellern) in ihren Partyabend mit lauter Musik, engen Kleidern, Lippenstift und roten Plastikbechern einbrechen konnte, aber es war wirklich Mrs Chamberlain, die um 22:51 Uhr anrief und auf ein Ja von Emira wartete. Unter dem Einfluss von zwei starken Longdrinks wirkte die Überlappung dieser beiden Welten beinahe komisch, weitaus weniger lustig war dagegen Emiras Kontostand: alles in allem neunundsiebzig Dollar, sechzehn Cent. Nach einem Abend mit teurem Essen, einigen Getränken und einem großzügigen Gemeinschaftsgeschenk für das Geburtstagskind konnte Emira Tucker das Geld gebrauchen.

»Moment«, sagte sie. Sie stellte ihren Becher auf den Couchtisch und presste sich den Mittelfinger aufs andere Ohr. »Sie wollen, dass ich Briar jetzt auf der Stelle nehme?«

Hinter dem Couchtisch lehnte Shaunie den Kopf an Josefas Schulter und lallte: »Heißt das, ich bin alt? Bin ich mit sechsundzwanzig alt?« Josefa schob sie von sich. »Hör bloß auf, Shaunie.« Neben Emira zupfte Zara ihren verdrehten BH-Träger zurecht. »Uhhh, deine Chefin?«, raunte sie und verzog das Gesicht.

»Peter hat versehentlich … wir hatten hier einen Vorfall mit einem zerbrochenen Fenster, und … ich will Briar einfach aus dem Haus haben.« Mrs Chamberlain sprach ruhig und merkwürdig betont, wie eine Hebamme, die eine Gebärende anweist: Okay, Mama, Zeit zu pressen. »Tut mir wirklich leid, dass ich so spät anrufe. Ich will nur nicht, dass sie die Polizei bei uns sieht.«

»Oh, wow. Okay, aber … Mrs Chamberlain?« Emira setzte sich auf die Sofakante. Neben ihr begannen zwei Mädchen zu tanzen. Links von Emira öffnete sich die Tür zu Shaunies Wohnung, und vier Typen kamen mit lautem »Yeah!« herein.

»Jesus«, sagte Zara. »Diese Nigga haben es echt nötig.«

»Ich sehe gerade nicht besonders nach Babysitterin aus«, warnte Emira. »Ich bin auf dem Geburtstag einer Freundin.«

»Ach du lieber Gott. Tut mir leid. Dann kommen Sie natürlich nicht …«

»Nein, nein, das meine ich nicht«, sagte Emira lauter. »Ich kann gehen. Ich wollte nur sagen, dass ich High Heels trage und … ein bisschen was getrunken habe. Wenn das okay ist?«

Baby Catherine, fünf Monate alt und die Jüngste der Familie Chamberlain, heulte in den Hörer. »Kannst du sie mal nehmen, Peter?«, sagte Mrs Chamberlain, vom Hörer abgewandt, und dann, wieder lauter: »Emira, es ist mir gleich, wie Sie aussehen. Ich zahle Ihnen das Taxi zu uns und das Taxi nach Hause.«

Emira steckte ihr Handy in ihre Umhängetasche und vergewisserte sich, dass sie alles beisammenhatte.

»Du gehst babysitten?«, fragte Josefa, als sie aufstand und sich von ihren Freundinnen verabschiedete. »Soll das ein Witz sein?«

»Mädels … hört zu. Ich brauche keinen Babysitter«, wehrte Shaunie ab. Sie bemühte sich, die Augen offen zu halten, doch auf einer Seite gelang es nur zur Hälfte.

Josefa ließ nicht locker: »Was für eine Mutter bestellt um diese Uhrzeit einen Babysitter?«

Emira hatte keine Lust, sich zu erklären. »Ich brauch die Kohle«, sagte sie achselzuckend. Und obwohl es unwahrscheinlich war, fügte sie hinzu: »Aber ich komme zurück, sobald ich fertig bin.«

Zara stupste sie mit dem Ellbogen an. »Ich komm mit.«

Gott sei Dank, dachte Emira, doch laut sagte sie nur: »Okay, cool.«

Die beiden Mädchen leerten ihre Becher, während Josefa die Arme verschränkte. »Ich fass es nicht, dass ihr einfach so von Shaunies Party verschwindet.«

Emira grinste. »Ich glaub, Shaunie macht gleich selbst ’nen Abgang«, erklärte sie mit Blick auf die Gastgeberin, die sich zu Boden sinken ließ und verkündete, ein kurzes Nickerchen zu machen.

Emira und Zara liefen die Treppen hinunter, und während sie auf dem spärlich beleuchteten Gehweg auf ein Uber warteten, überschlug Emira im Kopf: Sechzehn mal zwei … plus Geld fürs Taxi … Oh yes!

Als sie bei den Chamberlains ankamen, heulte Catherine noch immer, und schon auf den Stufen zur Veranda entdeckte Emira ein kleines gezacktes Loch in einem Fenster, an dem etwas Glibberiges herablief. Mrs Chamberlain stand am Treppenabsatz in der Tür und band Briars glänzend blondes Haar zu einem Pferdeschwanz. Sie dankte Emira, begrüßte Zara mit ihrem Standardsatz (»Hallo, Zara, schön, Sie mal wieder zu sehen«) und erklärte Briar: »Du gehst heute noch mal mit den großen Mädels raus.«

Briar nahm Emiras Hand. »Erst war Schlafenszeit«, sagte sie, »und jetzt doch nicht.« Zusammen gingen sie die Stufen hinunter und die drei Straßen zu Market Depot, wobei sich Briar mehrfach bewundernd über Zaras Schuhe äußerte – ein offensichtlicher, aber erfolgloser Versuch, sie anprobieren zu dürfen.

Bei Market Depot gab es Suppenfonds, Trüffelbutter, eine Smoothie-Station, die gegenwärtig unbeleuchtet war, und ein breites Sortiment an Nüssen in Schütten. Der Supermarkt war hell erleuchtet und leer, nur die Expresskasse war besetzt. Bei den Trockenfrüchten hielt Zara ihren Kleidersaum fest und bückte sich in ihren hochhackigen Schuhen nach einer Packung Joghurtrosinen. »Ernsthaft … acht Dollar?« Schnell stellte sie die Packung zurück und richtete sich wieder auf. »Shit. Das ist ein Reiche-Leute-Laden.«

»Ach was«, raunte ihr Emira zu, mit Briar im Arm. »Es ist ja auch ein Reiche-Leute-Kind.«

»Ich will dis.« Briar streckte die Hände nach den kupferfarbenen Creolen aus, die von Zaras Ohren baumelten.

Emira trat näher. »Wie sagt man?«

»Bitte, ich will dis, Mira, bitte.«

Zara riss die Augen auf. »Warum ist ihre Stimme immer so heiser und süß?«

»Mach lieber deine Haare zur Seite«, warnte Emira. »Nicht, dass sie dran zieht.«

Zara strich sich ihre langen Braids – einige von ihnen weißblond gefärbt – über die Schulter und hielt Briar den Ohrring hin. »Nächstes Wochenende bekomme ich Twists. Meine Cousine kennt jemanden, der mir das macht. Hallo, Miss Briar, Sie dürfen sie anfassen.«

Zaras Handy summte. Sie zog es aus der Tasche und tippte, den Kopf in Briars Richtung geneigt, die sanft an ihrem Ohr zupfte.

»Läuft die Party noch?«, erkundigte sich Emira.

»Ha!« Zara legte den Kopf in den Nacken. »Shaunie hat in einen Blumentopf gekotzt, und Josefa ist sturzbesoffen. Wie lang musst du bleiben?«

»Keine Ahnung.« Emira stellte Briar auf dem Boden ab. »Schon noch ’ne Weile. Unsere Kleine hier kann sich stundenlang mit den Nüssen vergnügen.«

»Mira wird reich, Mira wird reich …«, sang Zara und tanzte durch den Gang mit den Tiefkühlregalen. Emira und Briar folgten ihr, als sie die Hände auf die Knie legte und im Spiegel der Glastüren wippte, mit durchscheinenden Eiscreme-Logos auf den Oberschenkeln. Wieder summte ihr Handy. »Oh mein Gott, hab ich diesem Typen bei Shaunie meine Nummer gegeben?« Zara starrte auf ihr Handy. »Krass, der will echt was von mir.«

»Du tanzt.« Briar deutete auf Zara und nuckelte an ihren Fingern. »Du tanzt, nur ohne Musik.«

»Willst du Musik?« Zaras Daumen begannen über das Display zu scrollen. »Ich such uns was, aber du musst auch tanzen.«

»Keine anstößigen Texte«, bat Emira. »Die feuern mich, wenn sie sich was merkt.«

Zara winkte ab. »Keine Sorge, ich hab alles unter Kontrolle.«

Sekunden später plärrte Zaras Handy los, und sie zuckte zusammen. »Sorry!«, sagte sie und stellte leiser. Synthesizerklänge waberten durch den Gang, Whitney Houston setzte ein, und Zara wiegte die Hüften. Briar hüpfte auf und ab und hielt ihre weichen Ellbogen umfasst, und Emira lehnte sich an eine Tür, hinter der gewachste Kartons mit tiefgekühlten Frühstückswürsten und Waffeln schimmerten.

Briar Chamberlain war kein einfältiges Kind. Sie kreischte nicht los, sobald sie einen Ballon sah, und wirkte eher besorgt als begeistert, wenn sich ein Clown auf den Boden warf oder seine Finger in Brand steckte. Auf Geburtstagsfeiern und beim Ballett wurde Briar sichtlich nervös, wenn sie zum Mitmachen aufgefordert wurde, und oftmals sah sie Emira dann mit gehetzten blauen Augen an, in denen stand: Muss ich das wirklich tun? Ist das wirklich nötig? Deshalb positionierte sich Emira nun, als Briar bereitwillig mit Zara zu dem 80er-Jahre-Hit tanzte, etwas abseits, um ihr einen Ausstieg aus der Situation zu ermöglichen. Briar sollte sehen, dass sie jederzeit aufhören konnte, auch wenn Emira innerlich jubelte. Denn im Moment wurde sie mit zweiunddreißig Dollar in der Stunde dafür bezahlt, mit ihrer besten Freundin und dem ihr liebsten Kind auf der Welt in einem Supermarkt zu tanzen.

»Hoppla!«, staunte Zara, als Briar immer wilder hopste. »Okay, Briar, nicht schlecht.«

Briar sah Emira an. »Jetzt du auch, Mira.«

Also fing auch Emira an zu tanzen, während Zara »I wanna feel the heat with somebody« mitsang. Sie ließ Briar eine Pirouette drehen und hielt sie mit überkreuzten Armen vor der Brust, als eine Kundin in den Gang kam. Erleichtert stellte Emira fest, dass es eine Frau mittleren Alters mit grauem Kurzhaarschnitt, sportlichen Leggins und einem T-Shirt mit der Aufschrift St. Paul’s Pumpkinfest 5K war. Sie sah eindeutig aus, als hätte sie auch schon mal mit dem einen oder anderen Kind getanzt, also fuhr Emira fort. Die Frau legte eine Packung Eis in ihren Korb und lächelte ihnen zu.

Briar rief: »Du tanzt wie Mama!«

Als der Song zum letzten Mal die Tonart wechselte, bog ein Einkaufswagen in den Gang, geschoben von einem großen jungen Mann mit einem Penn-State-University-Shirt. Er hatte einen süßen verschlafenen Blick, aber Emira steckte zu tief in ihrer Choreografie und konnte nicht pausieren, ohne allzu interessiert an ihm zu wirken. Sie wiegte sich im Dougie-Schritt und bemerkte Bananen in seinem Wagen. Sie fegte imaginären Staub von den Schultern, er griff nach einer Packung Tiefkühlgemüse. Dann war der Song zu Ende, und Zara forderte Briar auf, sich zu verbeugen. Der Mann klatschte viermal lautlos in ihre Richtung und verschwand aus dem Gang. Emira rückte ihren Rock zurecht.

»Wow, du hast mich ins Schwitzen gebracht.« Zara beugte sich zu Briar hinunter. »Einmal abklatschen, bitte. So ist es recht. Genug für mich.«

»Du gehst?«, fragte Emira.

Zara tippte schon wieder manisch auf ihrem Handy herum. »Könnte sein, dass heute Nacht noch einer Glück hat.«

Emira schob ihr langes schwarzes Haar über die Schulter. »Hey, es ist deine Sache, aber dieser Typ ist wirklich weiß.«

Zara knuffte sie. »Wir haben 2015, Emira! Yes, we can!«

»Ach ja?«

»Aber danke fürs Taxi. Bis bald, Schwester.«

Zara kitzelte Briar noch einmal am Hals, dann wandte sie sich zum Gehen. Als das Klicken ihrer Absätze in Richtung Ausgang verhallte, wirkte der Market Depot plötzlich sehr weiß und sehr ruhig.

Briar hatte erst verstanden, dass Zara ging, als sie schon außer Sicht war. »Deine Freundin«, sagte sie und deutete ins Leere. Ihre Schneidezähne ragten über die Unterlippe.

»Sie geht schlafen«, erklärte Emira. »Willst du die Nüsse anschauen?«

»Ich hab Schlafenszeit.« Briar hielt Emiras Hand und machte einen Hüpfer auf den glänzenden Fliesen. »Schlafen wir hier?«

»Nein«, sagte Emira. »Wir bleiben nur noch ein bisschen.«

»Ich will … ich will die Tees schnuppern.«

Briar war es immer wichtig, die Abfolge bevorstehender Ereignisse zu kennen, also erklärte Emira, dass sie erst die Nüsse anschauen und dann an den Tees riechen würden. Doch sie wurde unterbrochen. »Entschuldigung, Ma’am«, sprach jemand sie an, und auf die Worte folgten Schritte. Als sie sich umdrehte, blickte sie auf eine funkelnde goldene Sicherheitsdienst-Marke. Oben stand Public Safety, darunter Philadelphia.

Briar deutete auf sein Gesicht. »Das«, stellte sie fest, »ist nicht der Briefträger.«

Emira schluckte und hörte sich sagen: »Oh, hallo.«

Der Wachmann stand vor ihr und hakte die Daumen in die Gürtelschlaufen, grüßte aber nicht zurück.

Emira fasste sich ans Haar. »Schließen Sie etwa schon?« Sie wusste, dass dieser Supermarkt noch eine Dreiviertelstunde lang geöffnet hatte – am Wochenende war Market Depot bis Mitternacht offen, immer sauber, die Regale voll bestückt –, aber sie wollte, dass der Wachmann hörte, wie gewählt sie sich ausdrückte. Schräg hinter seinen dunklen Koteletten bemerkte sie noch ein weiteres Gesicht. Am Ende des Gangs stand die sportliche, grauhaarige Frau, die so gerührt von Briars Tanz gewirkt hatte, und verschränkte die Arme. Ihren Einkaufskorb hatte sie vor den Füßen abgestellt.

»Ma’am«, wiederholte der Wachmann. Emira sah seinen großen Mund und die kleinen Augen. Er sah aus wie ein Familienmensch, einer von jenen Männern, die freie Tage im Kreis der Lieben verbringen, von morgens bis abends, und selten die Anrede »Ma’am« verwenden. »Es ist sehr spät für ein so kleines Mädchen. Ist das Ihr Kind?«

»Nein.« Emira lachte. »Ich bin ihre Babysitterin.«

»Tja, also … bei allem Respekt, Sie sehen nicht aus, als würden Sie babysitten.«

Emiras Mund verformte sich, als hätte sie etwas zu Heißes geschluckt. Ihr Blick fiel auf ihre verzerrte Spiegelung in einer der Kühlfachtüren, und sie sah sich in ihrer Gesamtheit. Die vollen braunen Lippen, die kleine Nase, die hohe Stirn unter einem schwarzen Pony – all das war kaum zu erkennen. Ihr schwarzer Rock, das hautenge Top mit V-Ausschnitt, der dunkle Eyeliner, nichts davon wollte in den dicken Scheiben Gestalt annehmen. Zu sehen war nur etwas sehr Dunkles, Hageres und ein kleiner blonder Haarschopf, der zu Briar Chamberlain gehörte.

»Okay.« Sie stieß die Luft aus. »Ich bin ihre Babysitterin, ihre Mutter hat angerufen, weil …«

»Hallo, es tut mir leid, ich dachte nur … hallo.« Vom Ende des Gangs kam die Frau auf sie zu, und ihre ausgetretenen Tennisschuhe quietschten auf dem gefliesten Boden. Sie legte die Hand auf die Brust. »Ich bin Mutter. Als ich hörte, wie die Kleine sagte, sie sei nicht bei ihrer Mom, bin ich ein bisschen nervös geworden, weil es so spät ist.«

Emira fasste die Frau ins Auge und hätte beinahe gelacht. Es war kindisch, aber sie konnte nichts anderes denken als: Du hast mich allen Ernstes angeschwärzt?

»Wo …«, Briar deutete über den Gang, »wo gehen die Türen hin?«

»Sekunde, Bri. Okay …« Emira holte Luft. »Ich bin ihre Babysitterin. Ihre Mutter hat mich gebeten, mit ihr in den Supermarkt zu gehen, weil es bei ihr zu Hause einen Notfall gab. Sie wohnen drei Straßen von hier entfernt.« Sie spürte, wie sich die Haut in ihrem Nacken zusammenzog. »Wir wollten nur die Nüsse anschauen. Aber natürlich fassen wir sie nicht an. Wir sind zurzeit nur große Nussfans, deshalb …«

Die Nasenflügel des Wachmanns weiteten sich kurz, dann nickte er, als hätte man ihm eine Frage gestellt. »Haben Sie heute Abend schon getrunken, Ma’am?«

Emira schloss den Mund und trat einen Schritt zurück. Neben dem Wachmann zuckte die Frau zusammen und sagte: »Ach du lieber Gott.«

Von ihrem neuen Standpunkt aus blickte Emira in die Geflügel- und Fleischabteilung. Dort stand der Mann mit dem Collegeshirt und lauschte gebannt ihrer Unterhaltung. Plötzlich sah sie sich nicht nur mit verdeckten Anschuldigungen konfrontiert, sondern fühlte sich auch zutiefst erniedrigt, als hätte man sie lautstark darauf hingewiesen, dass ihr Name nicht auf der Gästeliste stand. »Wissen Sie was?«, sagte sie. »Alles gut. Dann gehen wir eben.«

»Warten Sie.« Der Wachmann hob die Hand. »Ich kann Sie nicht gehen lassen, weil es hier um ein Kind geht.«

»Aber im Moment ist sie mein Kind.« Wieder lachte Emira. »Ich bin ihre Babysitterin. Oder praktisch ihre Nanny …« Das war gelogen, aber Emira wollte andeuten, dass es einen schriftlichen Vertrag gab, der sie mit Briar verband.

»Hallo, meine Süße.« Die Frau bückte sich und stützte die Hände auf die Knie. »Weißt du, wo deine Mami ist?«

»Ihre Mutter ist zu Hause.« Emira tippte sich ans Schlüsselbein. »Sprechen Sie doch einfach mit mir.«

»Dann wollen Sie sagen«, hielt der Wachmann fest, »dass Sie von irgendeiner Frau drei Straßen weiter um diese Uhrzeit gebeten wurden, auf ihr Kind aufzupassen?«

»Verdammt, nein. Das habe ich nicht gesagt. Ich bin ihre Nanny.«

»Vor ein paar Minuten war noch eine zweite junge Frau dabei«, wandte sich die grauhaarige Kundin nun an den Wachmann. »Ich glaube, sie ist gerade gegangen.« Emira fiel beinahe die Kinnlade herunter. Ihre Anwesenheit schien auf einmal wie ausgelöscht. Sie hatte den Impuls, den Arm zu heben, wie um einer Freundin im Gedränge zu winken und zu sagen: Hallo, hier bin ich. Die Frau schüttelte den Kopf. »Sie haben ziemlich, na ja, aufreizend getanzt. Da dachte ich, okay, da stimmt doch was nicht.«

»Ähm«, sagte Emira, und ihre Stimme wurde höher. »Ist das Ihr Ernst?« Briar nieste seitlich an ihr Bein. Der Typ mit dem Collegeshirt kam in Sicht. Er hielt sein Handy vor der Brust und filmte ihre Unterhaltung.

»Oh, mein Gott!«, rief Emira und hielt sich ihre Finger mit dem zerkratzten schwarzen Nagellack vors Gesicht, als wäre sie versehentlich in ein Gruppenfoto gelaufen. »Kannst du damit aufhören?«

»Ich glaube, es könnte nützlich für dich sein, wenn ich das dokumentiere«, sagte er. »Soll ich die Polizei rufen?«

Emira ließ den Arm wieder fallen. »Wozu?«

»Hey, großes Mädchen.« Der Wachmann kniete sich vor Briar und fragte sie in sanftem Ton: »Wer ist das?«

»Liebes«, sagte die Frau leise. »Ist das deine Freundin?«

Emira hätte Briar gerne hochgenommen. Vielleicht fiel es Briar leichter, ihren Namen zu sagen, wenn sie ihr Gesicht sah? Aber Emira dachte an ihren knappen Rock, und jetzt wurde das Ganze auch noch gefilmt. Mit einem Mal lag ihr Schicksal in den Händen eines Kindes, das Brokkoli für kleine Bäume hielt und glaubte, man könnte sich verstecken, indem man sich die Decke über den Kopf zog.

Emira hielt die Luft an, während Briar an ihrem Finger nuckelte. »Mir«, sagte sie schließlich, und Emira atmete auf.

Aber der Wachmann sagte: »Nicht du, mein Schatz. Deine Freundin. Wie heißt sie?«

»Mir!«, schrie Briar.

»Das ist mein Name«, erklärte Emira. »Ich heiße Emira.«

»Können Sie das buchstabieren?«, fragte der Wachmann.

»Hey, hey, hey.« Der Typ mit dem Handy versuchte, Emiras Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Du musst dich nicht ausweisen, selbst wenn sie dich dazu auffordern. Das ist Gesetz in Pennsylvania.«

»Ich kenne meine Rechte, okay?«, erwiderte Emira.

»Sir?« Der Wachmann richtete sich auf und drehte sich um. »Sie haben kein Recht, sich bei der Klärung einer Straftat einzumischen.«

»Sekunde mal«, rief Emira. »Bei einer Straftat?« Es war, als hätte man ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Das Blut schoss in ihren Kopf und rauschte in ihren Ohren. Sie nahm Briar auf den Arm, verschaffte sich einen festen Stand und warf das Haar zurück. »Was denn für eine Straftat? Ich arbeite. Das hier ist mein Job, und ich wette, ich verdiene mehr als Sie. Wir wollten uns die Nüsse ansehen. Wollen Sie uns dafür verhaften, oder können wir gehen?« Sie hielt Briars Ohren zu, während sie sprach, und Briar schob die Finger in ihren V-Ausschnitt.

Wieder hob die Kundin die Hand vor den Mund, diesmal sagte sie: »Oh Mann, oh Mist.«

»Ma’am.« Der Wachmann nahm die gleiche breitbeinige Haltung ein wie Emira. »Sie werden festgehalten und vernommen, weil hier das Wohl eines Kindes gefährdet ist. Bitte lassen Sie das Mädchen herunter …«

»Okay, wissen Sie was?« Emiras linker Fußknöchel zitterte, als sie ihr Handy aus der Tasche zog. »Ich sage ihrem Vater, er soll kommen. Er ist ein alter weißer Mann, das wird hier sicher alle beruhigen.«

»Sie müssen sich beruhigen, Ma’am«, sagte der Wachmann und blockte sie mit erhobenen Händen ab, um sich erneut an Briar zu wenden. »Okay, Liebes, wie alt bist du?«

Emira tippte die ersten vier Buchstaben von Peter Chamberlain in ihr Handy und klickte auf seine blau aufleuchtende Nummer. Sie spürte, wie ihr Herz raste, dort, wo Briars Hand lag.

»Wie alt bist du?«, fragte die Kundin. »Zwei? Drei?« Und an den Wachmann gewandt: »Vermutlich um die zwei.«

»Sie ist fast drei«, schnaubte Emira.

»Ma’am?« Der Wachmann hielt ihr den Zeigefinger vors Gesicht. »Ich spreche mit dem Kind.«

»Okay, klar. Ist ja auch viel besser. Sieh mich an, Bibi.« Emira rang sich ein Lächeln ab und wippte Briar auf der Hüfte. »Wie alt bist du?«

»Eins, zwei, dei, vier, fümf.«

»Und wie alt bin ich?«

»Alles Gute zum Geburftag!«

Emira sah den Wachmann an. »Alles klar?« Ihr Handy hörte auf zu tuten. »Mr Chamberlain?« Es klickte, aber sie hörte keine Stimme. »Hier ist Emira, hallo? Hören Sie mich?«

»Ich möchte mit dem Vater sprechen.« Der Wachmann streckte die Hand nach ihrem Handy aus.

»Was soll der Scheiß? Fassen Sie mich nicht an!« Emira wandte sich ab. Briar keuchte erschrocken auf und drückte sich Emiras schwarzes synthetisches Haar an die Brust, als hielte sie einen Rosenkranz.

»Rühren Sie sie nicht an«, warnte der Penn-State-Typ. »Sie leistet keinen Widerstand. Sie ruft den Vater an.«

»Ma’am, ich fordere Sie auf, mir freundlicherweise das Handy zu geben.«

»Hey, Mann, Sie können ihr doch nicht das Handy abnehmen.«

Der Wachmann wirbelte mit ausgestreckter Hand herum und brüllte: »Treten Sie zurück, Sir!«

Mit dem Handy am Ohr und Briars Fingern im Haar schrie Emira: »Sie sind nicht mal ein echter Cop, also treten Sie gefälligst zurück, Mann!« Danach sah sie zu, wie sich sein Gesicht verwandelte. In seinen Augen stand: Jetzt haben Sie sich verraten. Ich weiß genau, wer Sie sind. Emira hielt den Atem an, während er Verstärkung anforderte.

Aus dem Handy kam: »Emira?« Und nach einer Pause: »Hallo?«

»Mr Chamberlain? Können Sie bitte in den Market Depot kommen?« Und mit der gleichen gefassten Dringlichkeit, mit der ihr Abend begonnen hatte, erklärte sie: »Sie glauben, ich hätte Briar entführt. Können Sie sich bitte beeilen?« Mr Chamberlain stammelte etwas zwischen »Was« und »Oh Gott« und schließlich: »Ich komme sofort.«

Emira hatte nicht damit gerechnet, dass die hitzigen Anschuldigungen angenehmer sein könnten als die Stille, die als Nächstes eintrat. Zu fünft standen sie da, unverhältnismäßig aufgebracht, und warteten darauf, wer wohl den Sieg davontragen würde. Während Emira starr zu Boden blickte, tätschelte Briar das Haar auf ihren Schultern. »Dis fühlt sich an wie bei meinem Pferdchen.« Emira wippte sie auf der Hüfte. »Ja, und es war sehr teuer. Also pass bitte auf.« Schließlich glitt die automatische Tür auf, und im nächsten Moment kam Mr Chamberlain durch den Gang mit den Cerealien auf sie zu. Briar streckte den Finger aus. »Da ist Dada.«

Mr Chamberlain hatte kleine Schweißperlen auf der Nase, als wäre er den ganzen Weg gerannt, und legte eine Hand auf Emiras Schulter. »Was ist hier los?«

Zur Antwort streckte sie ihm seine Tochter entgegen. Die Kundin trat einen Schritt zurück. »Okay, gut. Den Rest überlasse ich Ihnen.« Der Wachmann begann zu erklären und sich zu entschuldigen. Er nahm die Kappe ab, als die Verstärkung ankam.

Emira wartete nicht, bis Mr Chamberlain die Wachleute darüber belehrt hatte, wie lange er schon Kunde in diesem Laden sei, dass man Leute nicht grundlos festhalten könne oder wie anmaßend es sei, seine elterlichen Entscheidungen infrage zu stellen. Stattdessen flüsterte sie: »Bis morgen.«

»Warten Sie, Emira«, sagte er. »Sie bekommen noch Geld.«

Sie winkte mit beiden Händen ab. »Ich werde freitags bezahlt. Wir sehen uns an deinem Geburtstag, Bri.« Aber Briar schlief schon halb an Mr Chamberlains Schulter.

Draußen joggte Emira um die Ecke, in die entgegengesetzte Richtung von Briars Zuhause. Dann hielt sie an. Sie stand vor einer vergitterten Bäckerei mit einer Auslage voller Cupcakes. In ihren zitternden Händen hielt sie noch immer das Handy, aber sie konnte sich bei niemandem melden. Sie strich ihren Rock glatt, atmete durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus und scrollte sich durch Hunderte von Songs.

»Hey, hey, hey.« Der Typ mit dem Collegeshirt erschien an der Straßenecke und kam auf sie zu. »Alles okay bei dir?«

Emira zog traurig die Schultern ein, als wüsste sie es selbst nicht. Sie biss sich in die Wange.

»Hör zu, das war echt scheiße da drin«, sagte er. »Ich hab alles gefilmt. An deiner Stelle würde ich damit zu einem Nachrichtensender gehen, dann kannst du …«

»Puh! Nein«, wehrte sie ab. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Bloß nicht, aber … trotzdem danke.«

Er zögerte und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne. »Okay, der Typ war ein astreiner Wichser dir gegenüber. Willst du denn nicht, dass er gefeuert wird?«

Emira lachte auf. »Wozu?« Sie steckte ihr Handy in die Tasche. »Damit er zum nächsten Supermarkt läuft und sich den nächsten Idiotenjob für neun Dollar die Stunde holt? Ich bitte dich. Außerdem will ich nicht, dass jemand meinen Namen googelt und mich angetrunken mit einem fremden Kind im Arm in einem beschissenen Supermarkt am Washington Square findet.«

Der junge Mann seufzte und hob ergeben die Hand. Unter dem anderen Arm hielt er eine Papiertüte von Market Depot. »Ich meine, das Mindeste wäre, dass sie dich ein Jahr lang umsonst einkaufen lassen.«

»Toll, ich brauch aber keinen Kombucha und den ganzen Scheiß.«

Er lachte. »Na gut.«

»Zeig mir dein Handy.« Emira hielt die Hand auf. »Du musst die Aufnahme löschen.«

»Bist du sicher?«, fragte er behutsam. »Ganz im Ernst. Du könntest darüber schreiben, so etwas kommt definitiv in die Zeitung.«

»Ich kann nicht schreiben.« Emira winkte ab. »Und ich traue dem Internet nicht, also gib her.«

»Sekunde, wie wär’s damit?« Er holte sein Handy raus. »Es ist deine Angelegenheit, und natürlich lösche ich den Film. Aber wenn ich ihn dir vorher maile, kannst du es dir noch mal überlegen.«

»Das wird nicht passieren.«

»Nur für alle Fälle … hier. Gib deine Adresse ein.«

Weil es ihr leichter schien, ihre E-Mail-Adresse rauszurücken, als ihn vom Gegenteil zu überzeugen, begann Emira zu tippen. Doch dann las sie [email protected] in der Von-Zeile und hielt inne. »Moment – Kelley? Wer soll das denn sein?«

Er blinzelte. »Das bin ich.«

»Oh.« Sie tippte zu Ende und sah dann auf. »Ernsthaft?«

»Schon gut.« Er nahm sein Handy zurück. »Ich hab die Schule überlebt, du kannst mich also nicht verletzen.«

Emira lächelte. »Kein Wunder, dass du hier einkaufst.«

»Hey, ich bin nur ganz selten hier.« Er lachte. »Aber mach mich nur fertig. Ich hab zwei Sorten Kombucha in dieser Tüte.«

»A-ha. Hast du den Film gelöscht?«

»Alles weg.« Er drehte ihr das Handy hin und scrollte zurück. Das letzte Foto zeigte einen Mann mit einem Post-it auf der Stirn. Sie konnte nicht lesen, was darauf stand.

»Gut.« Emira löste eine Haarsträhne, die sich an ihrem Lipgloss verfangen hatte, und lächelte ihn traurig an. »Okay. Dann mal gute Nacht.«

»Okay, ja, gute Nacht, pass auf dich auf.« Der abrupte Abschied überraschte ihn sichtlich, aber das war Emira egal. Auf dem Weg zur Bahn schrieb sie Zara: Komm zu mir, wenn du fertig bist.

Emira hätte ein Taxi nehmen können – Mrs Chamberlain würde es bezahlen –, aber sie behielt lieber die zwanzig Dollar und fuhr mit der Bahn nach Kensington.

Kurz nach eins klingelte Zara an ihrer Tür.

»Ich kapier’s nicht.« Zara hob ratlos die Hände. Sie saß auf der Toilette in Emiras Bad und suchte Emiras Blick im Spiegel. »Seit wann gilt der Running Man als aufreizend?«

»Keine Ahnung.« Emira stand am Waschbecken und schminkte sich ab. »Aber wir haben darüber gesprochen.« Sie zuckte entschuldigend die Achseln. »Und alle waren sich einig, dass ich besser tanze als du.«

Zara rollte die Augen.

»Das war kein Wettbewerb«, nahm Emira einen zweiten Anlauf. »Aber ich habe eben einfach gewonnen.«

»Scheiße, Emira«, sagte Zara. »Das hätte böse enden können.«

Emira lachte. »Alles gut.« Doch dann drückte sie den Handrücken vor den Mund und fing leise an zu schluchzen.

Zwei

In den Jahren von 2001 bis 2004 verschickte Alix Chamberlain über einhundert Briefe und erhielt Werbeartikel im Wert von über neunhundert Dollar. Unter den kostenlosen Produkten waren Bohnenkaffee, Sportriegel, Make-up-Proben, Duftkerzen, Klebepads für Poster in ihrem Studentenzimmer, Zeitschriftenabos, Sonnencremes und Gesichtsmasken, die Alix mit ihren Zimmergenossinnen und den Mädchen auf ihrem Stockwerk teilte. In ihrem zweiten und dritten Jahr an der New York University – sie studierte Marketing im Haupt- und Finanzwesen im Nebenfach – schrieb Alix Produktrezensionen für eine Studentenzeitung. Im letzten Jahr kehrte sie der Zeitung den Rücken und absolvierte stattdessen ein Praktikum in der Beauty-Sparte einer kleinen Zeitschrift, aber sie hörte dabei nie auf, Briefe zu schreiben. Auf weichen, hochwertigen Briefbögen bat Alix in verschnörkelter Handschrift um die Produkte, die sie haben wollte, und es kam nur noch selten vor, dass man ihr etwas ausschlug.

In den folgenden vier Jahren schrieb Alix an Ray-Ban, Conan O’Brien, den Scholastic-Verlag, Keurig-Kaffeeautomaten, Sportmoden Lululemon, die Luxushotelkette The W Hotel, Smartwater und Hunderte mehr. Meistens lobte sie die Produkte in ihren Anfragen, doch oft enthielten sie auch taktvolle Kritik und Verbesserungsvorschläge. Alix hatte ein Geschick für qualitativ hochwertige Fotos, die sie von den kostenfreien Produkten aufnahm und zusammen mit den Bewertungen auf ihrem Blog postete. Sie hatte ihr Projekt aus einer Laune heraus begonnen, aber es bescherte ihr immer mehr Follower. In dieser Zeit begegnete sie Peter Chamberlain.

Alix traf Peter mit fünfundzwanzig in einer Bar, und wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie zugegeben, dass sie ihn für viel größer gehalten hatte, bis er am Ende ihrer Unterhaltung aufstand. Aber er war nicht nur ähnlich groß wie sie, er passte auch charakterlich gut zu ihr. Er hatte ein paar charmante Gewohnheiten, die er jedoch nicht zur Schau stellte, wie sein Wasser mit Minze zu trinken und unauffällig dreißig Prozent Trinkgeld zu geben. Aber am besten gefiel Alix, dass er ihr Hobby wie einen richtigen Job behandelte. Sie selbst beschrieb ihr Projekt auf eher abwertende Art: »Na ja, ich schreibe Briefe und Bewertungen und habe da so einen Blog … aber es ist nur was ganz Kleines, nichts Besonderes«, doch Peter forderte sie auf, es noch einmal neu und als etwas Großes zu beschreiben. Peter kam aus dem Norden von New York State und war erst Journalist und dann Nachrichtensprecher geworden. Er war acht Jahre älter als Alix, daran gewöhnt, geschminkt vor einer Kamera zu stehen, und überzeugt davon, dass man sich seine eigene Marke aufbauen musste. Als Alix Peter mit achtundzwanzig heiratete, kamen die kleinen Andenken für die Gäste, der Weißwein und ihre Brautschuhe kostenlos per Post, nachdem sie in formvollendeten Briefen darum gebeten und glühende Rezensionen in Aussicht gestellt hatte. Während ihrer Hochzeitsreise auf Santorini half ihr Peter beim Verfassen der Lobeshymnen.

Alix arbeitete im Hochschulmarketing am Hunter College, als eine befreundete Englischlehrerin an der Columbia Grammar and Prep sie darum bat, in einer ihrer Klassen einen Bewerbungsworkshop zu halten. Unter den Teilnehmerinnen war die siebzehnjährige Lucie, eine Abschlussschülerin mit überirdisch weißen Zähnen, hellrosa Haar und sechsunddreißigtausend Followern auf Instagram. Drei Monate nach dem Workshop postete sie ein Foto der Bewerbung, die sie zusammen mit Alix entworfen hatte, neben den Zulassungsbescheiden der UC Irvine, der UC Santa Barbara, der Fordham University in New York und des Emerson College in Boston. All diese Zusagen verdanke ich Alix, stand unter den Bildern. Bei der Hälfte dieser Unis hätte ich mich nie beworben, hätte sie mir nicht zu dieser hammermäßigen Bewerbung verholfen. #traudichzufragen #writealetter #LetHer. Lucies Post wurde über 1700-mal gelikt, und Alix Chamberlain wurde über Nacht zu einer Marke. Ihre Begeisterung für kostenlose Testprodukte verwandelte sich übergangslos in eine Philosophie über Frauen, die sich Gehör verschaffen und die Kommunikation auf das Wesentliche zurückführen. Mitten in der Nacht taufte Alix ihren Instagram-Namen in #LetHerSpeak um. Peter riet ihr dazu, ihrer Website ein neues Image zu verpassen und ihn nicht zu vergessen, wenn sie berühmt wäre.

Noch vor ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag kündigte Alix am Hunter College und konzentrierte sich ganz auf ihre Bewerbungsworkshops, die sie an Resozialisierungseinrichtungen, in studentischen Verbindungshäusern und auf Tagungen für Führungskräfte und abendlichen Networking-Events anbot. Schülerinnen schrieben sich auf Hochschulmessen für ihre Kurse ein, und in ihrem Posteingang sammelten sich Mails mit dem Betreff Danke! und Ich bin drin!. Außerdem nahm eine Papeterie zu Alix Kontakt auf, um sie für die Mitgestaltung einer neuen Linie von Büromaterial zu gewinnen, angepasst an die Bedürfnisse von Frauen. Das Papier war elfenbeinfarben, die Füllfederhalter dunkelblau, und Alix schrieb ein zweites Mal seit ihrem Uniabschluss für eine Zeitschrift, diesmal für die Teen Vogue. Dabei erwiesen sich auch ihre großen blauen Augen und die bemerkenswert langen Beine als förderlich. Auf ihrer neuen Website erschien sie unter Über mich mit einem Bild, auf dem sie lachend an einer Schreibtischkante lehnte, zwei überquellende Postkörbe zu ihren Füßen, das volle, sandfarbene Haar zu einem charmant verrutschten Knäuel auf dem Kopf aufgesteckt.

Peter glaubte an sie, daran hatte sich nichts geändert, und der Erfolg ihrer Arbeit ließ sich an den freundlichen Beurteilungen messen, die ihre neuen Praktikantinnen für ihren Blog verwalteten und fotografierten. Trotzdem erschrak Alix immer wieder darüber, welches Vertrauen Organisationen in ihre Kompetenzen setzten. Sie wurde zu Foren eingeladen, um mit den Inhaberinnen kleiner Unternehmen über Themen wie »Begegnungszonen am Arbeitsplatz« und »Neue Führungskräfte für kreativen Wandel« zu diskutieren. Sie wirkte an einem feministischen Podcast über eine nachhaltige Unternehmenskultur für Frauen in der Technik- und Maschinenbausparte mit. Und einmal sprach sie bei einem Workshop mit dem Titel »Ergreifen Sie die Initiative« in einem Hörsaal vor zweihundert Singlefrauen, die Sekt aus durchsichtigen Plastikbechern tranken. Alix liebte es, Briefe zu schreiben, und wusste, dass sie ein Talent dafür besaß, aber es waren das Vertrauen und die Begeisterung der Leute um sie herum, die die Idee hinter LetHerSpeak zur Blüte brachten.